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Hugo hatte sein elftes Jahr vollendet. Durch zwei besondere Umstände hervorgerufen, war in der Erziehung des Knaben ein Interregnum eingetreten. Erstens hatte Miß Filpotts plötzlich das Haus verlassen, und zweitens – was weit mehr ins Gewicht fiel – war Hugo rasch hintereinander an Scharlach und Diphtherie erkrankt. Diese bedenklichen Übel, die ihn wochenlang ans Bett gefesselt hielten, erweckten in ihm zugleich mit den Wallungen des Fiebers die Lust an ungezügelter Träumerei.

Aus keinem andern Grunde als aus Angst vor Kinderkrankheiten war der verzärtelte Junge nicht zur Schule geschickt und daheim unterrichtet worden. Trotz der bitteren Erfahrung aber, daß es keinerlei Schutz vor dem Schicksal gebe, blieben die überängstlichen Eltern unentschlossen, wie sich Hugos Erziehungsgang ferner gestalten solle. Eines aber verstand sich von selbst, daß man einige Wochen lang dem blassen, geschwächten Kinde von jeder Art Einwirkung und Unterricht Ruhe lassen müsse. So wurde denn weder ein pädagogisch geschulter Hofmeister, noch auch eine präzise Engländerin zu Miß Filpotts Nachfolge ausersehen, sondern auf ein gewöhnliches Zeitungsangebot hin, das Hugos Mutter angenehm berührte, Fräulein Erna Tappert als Erzieherin aufgenommen. Gegen Fräulein Tappert schien die Tatsache zu sprechen, daß sie eine Mitbürgerin war und in ihrer Zeitungsofferte keine Sprachkundigkeit ins Treffen führen konnte – für sie sprach die bestandene Lehrerinnenprüfung und ihr wunderschönes blondes Haar, das die gnädige Frau gleich bei der Vorstellung entzückte. Man trug damals den Kopf noch nicht geschoren und dick-lastendes Blondhaar galt als das Sinnbild eines vertrauenerweckenden Herzens. So war denn auch in den Augen der Dame Ernas schwerer goldener Knoten ein Beweis verhaltener Tugend, bürgerlicher Wohlanständigkeit und beruhigender Gemütsverfassung.

Fräulein Erna bezog die Stube, die an das Kinderzimmer stieß. Dieses Kinderzimmer war überaus geräumig, hell und in blendendem Weiß gehalten. Der gummibelegte Fußboden, die blitzenden Turngeräte, die mächtige Schulbank und -tafel, die Anordnung der eingebauten Wandkästen, das weiß-geschmeidige Bett, all dies erweckte den Anschein, als hätten sich in diesen Räumen Hygiene, Erziehungskunst und Luxus zusammengefunden, um aus einem gesegneten Kinde einen Vollmenschen ohnegleichen zu modeln.

Man sieht, dieses Haus und seine Herren gehörten zu den Auserwählten, denen die Zeichen der Zeit nicht näherkamen als es für einen ernsthaften Gesprächsstoff notwendig ist. Ihr Schicksal war so gut gedämmt, daß es die Sturmflut nur vom Hörensagen kannte. Der schwere Wermutstropfen der Zeitläufte hatte hundert immer feinere Siebe passiert, ehe er als zerstäubter Duft ins Bewußtsein dieser Glücklichen trat, wo seine Bitterkeit sogleich als edle Gesinnung die Lebensmeinungen würzte.

Miß Filpotts hatte seinerzeit das Kinderzimmer mit ihrem Zögling geteilt. Fräulein Tappert aber erhielt nach einer kurzen Besprechung der Herrschaften ein eigenes Zimmer angewiesen, weil Hugo immerhin elf Jahre alt war und die fortgeschrittene Wissenschaft allerhand Lehren über das frühzeitige Erwachen des Menschen verbreitete. Trotz dieser Maßregel war Hugos Mutter von der Überzeugung durchdrungen, daß jenes von der fortgeschrittenen Wissenschaft angedrohte frühzeitige Erwachen nur das Merkmal der unkultivierten Stände sei und bei ihrem wohlgeratenen Kinde nicht in Betracht käme.

Fräulein Erna Tappert wurde dahin belehrt, daß während der Nacht die Verbindungstür von ihrer Stube zum Kinderzimmer offen stehen müsse, damit Hugo unter Aufsicht bleibe und nicht, wie es einige Male schon geschehen, ganze Nächte mit Lesen verbringe. Während seines langen Krankenlagers nämlich hatte sich der Knabe das übermäßige Lesen angewöhnt. Mit der ausgehungerten Leidenschaft der Lebensleere, unter der die Kinder der Reichen so oft leiden, verschlang er Bücher, gleichviel welcher Art und welchen Inhalts: Klassiker, Schmöker, Zeitschriftenbände, Hackländer, Karl May, Kriegs-, Reise- und Abenteurergeschichten. Durch Bitten, Tränen, Zorn, ja selbst durch Ansteigen der Fieberkurve wußte er sich diese Nahrung von Eltern und Wärtern zu ertrotzen. Es war jedoch eine sonderbare Art von Lektüre, die Hugo trieb. Er verfolgte nicht Seite für Seite den Gang der Erzählungen, die er oft nur zum geringen Teil verstand, er las kreuz und quer in den Büchern. Oft las er nicht einmal, sondern starrte ekstatisch auf die wimmelnden Seiten, oft auch hielt er einen Band lange, mit saugenden Fingern gleichsam, in der Hand, während er die Lider zusammenpreßte. Zwischen den beiden Deckeln des armseligen Dings, das nur ein Buch war, lagen unausschöpfliche Welten, die nur zum kleinsten Teile dem Verfasser angehörten, Welten, die sich Hugo selber immer neu und immer wieder anders erschuf. Der Text, den man nicht schnell genug buchstabieren konnte, diente nur als Sprungbrett für des Knaben innere Bilderflucht, die jede Zeile mit raschen, gespenstischen Phantasiegeschwadern überholte. Jede Seite (starr vorwärtsdrängende Truppenordnung der Worte) war durchflochten von wilden Jagden, Geisterritten, Mordtaten, Aufschreien, Tropenlandschaften, die nicht zum Gelesenen gehörten und aus des kleinen Lesers Seele stiegen, die doch weder Zeit noch Gelegenheit gehabt hatte, all diese ausschweifenden Dinge in sich aufzunehmen, die ihr so verschwenderisch entfieberten.

Miß Filpotts, die unbestechliche Anhängerin eiskalten Wassers, körperlicher Ertüchtigung und starrer Nervenruhe, hatte diese Lesewut gehaßt. Hugo aber spürte mit der feinen Witterung, die Kinder für die persönlichen Antipathien in den Grundsätzen der Erwachsenen haben, daß sich hinter diesem Haß nicht das Wohlwollen der Erzieherin verbarg, sondern eine hochfahrende Verachtung für seinen Lieblingszustand, das Träumen. Erna Tappert hingegen gewann Hugos Sympathie schon in der Minute, da sie ihren Koffer vor seinen Augen auspackte, wobei eine Anzahl von Büchern, ein ganzes Bündel ausgeschnittener Zeitungsromane, zwei Alben mit Photographien und Ansichtskarten und ein Stammbuch voll gepreßter Blumen zum Vorschein kamen. Zudem hatte das Fräulein große, langsame Augen, die keine gefahrbringende Energie verrieten, eine hohe, gar nicht magere Gestalt, die sich ein wenig träge bewegte, was wiederum daraufhin deutete, daß die Turngeräte nicht überanstrengt werden würden. All diese Zeichen erfüllten Hugo mit Zuversicht. Hatte er sich Miß Filpotts gegenüber als ein Gefangener oder Untergebener gefühlt, der sich mit knirschendem Zorn gegen eine hochmütig-eckige Übermacht behaupten mußte, so lernte er in Fräulein Erna ein Wesen kennen, das seine Gleichberechtigung anerkannte, das nachgiebig schien, ja mehr als dies, sich vor seiner männlichen Überlegenheit zu beugen bereit war.

Es war demnach kein Wunder, daß mit Ernas Einzug die Fülle von Streitereien, Anzeigen und Klagen gegen Hugo aufhörte, mit denen die verdrießliche Engländerin die Eltern bedrängt hatte. Dies vor allem: Mama forderte, daß beim Bad und der Morgenwaschung des Knaben die Erzieherin anwesend sei, die Reinigung beaufsichtige und, wenn nötig, selber Hand anlege. Durch diese Anordnung hatte sich Hugo in seinem Stolz erniedrigt gefühlt und jeden Morgen war zu Miß Filpotts Zeiten Streit und Geschrei ausgebrochen. Dies wurde nun mit einem Schlage anders. Ernas weiche Hände verletzten Hugos Stolz nicht; sie waren so wohltuend, noch in den harten Strichen der Badebürste, mit der sie des Knaben Rücken abrieben, blieb die gelassene Milde ihrer Finger fühlbar. So verwandelte sich die Morgenwaschung aus einer verhaßten Zeremonie in einen erwünschten Vorgang. Erwachend lag Hugo im wohligen Bette und freute sich auf Ernas Kommen. Und wenn sie dann eintrat, selber noch nicht angekleidet, ihren blauen Schlafrock übergeworfen, die Haare flüchtig aufgesteckt, sprang Hugo sogleich auf die Beine. Nun krempelte Fräulein Tappert die weiten Ärmel über die morgenfrische Haut ihrer Arme auf und tauchte Schwamm, Bürste und Seife ins Wasser. Hugo aber blinzelte mit gespielt-gleichgültiger Schläfrigkeit und gab dadurch, die Ehre wahrend, den Verzicht auf eigene Betätigung seiner mannhaften Person kund. Er vergaß sogar seinen Abscheu vor kaltem Wasser und zuckte nicht zurück, wenn Erna ihm Hals, Brust und Arme, die er willig darbot, eifrig abschrubbelte. Er sah seinen kleinen, abgemagerten Leib im Spiegel. Erna aber bewegte sich laut atmend um ihn her, sie war ganz verloren in ihrer Arbeit, herrliche Kraft drang aus ihr, die den Knaben von allen Seiten einhüllte wie eine volle duftige Wolke.

Ungetrübte Freundschaft entspann sich zwischen beiden. Erna hatte eine wunderbare Art, den Phantastereien Hugos zuzuhören. Kein Schimmer von Unaufmerksamkeit stand in ihren Augen, kein Fältchen von überlegener Duldung auf ihrem Gesicht, wenn er seine Absonderlichkeiten vor ihr ausbreitete:

»Kennen Sie vielleicht das Theaterstück ›Der böse Geist‹, Fräulein?«

Solche Fragen stellte der Knabe, ohne ein Werk dieses oder ähnlichen Titels selber zu kennen. Es genügte schon, daß ihm in dem Dickicht seiner Lektüre so etwas wie ein böser Geist einmal begegnet war. Ernsthaft verneinte Erna diese Frage. ›Es ist aber doch von Schiller‹, pflegte Hugo festzustellen, ohne an der Wahrheit dieser Behauptung zu zweifeln. Er hatte es ja auch nicht nötig zu zweifeln, denn schon begann er mit leidenschaftlicher Stimme und in tragischer Haltung sinnlos prächtige Worte übereinander zu türmen. Erna verfolgte mit angestrengten Augenbrauen und hingegebener Bewunderung den begeisterten Schwall, aus dem oftmals die Namen griechischer Gottheiten sie anblitzten. Warum sollte dies nicht klassisch sein? Man verstand es ja nicht. Sie empfand dumpf-erstaunt ›Schiller!‹ und ›welch ein Bub!‹ Aber den Elfjährigen erfüllte der Sturm dieser bewußtlos sich selber zeugenden Worte und die Andacht der großen erwachsenen Frau wie ein giftiger Rausch, dem Kopfschmerzen folgten.

Sie selber erzählte ihrem Zögling nur selten von ihrem eigenen Leben; und dann waren es meist belanglose und kurz angebundene Dinge. Fräulein Tappert sprach überhaupt nicht viel. Ihre Schweigsamkeit aber war durchaus verschieden von Miß Filpotts ablehnender Verschlossenheit, die der verachtungsvollen Anmaßung einer Herrenrasse entsprang, die in Dienst gehen muß. Ernas volle, etwas schwerfällige Erscheinung hingegen lebte so ruhig an Hugos Seite, als besäße sie kein eigenes Schicksal und keine anderen Gedanken als ihre kleinen Tagesverrichtungen. In der schönhäutigen Ausdruckslosigkeit ihres Gesichtes aber lag manchmal der erstickte Zug eines Träumers, der nach Worten ringt und stumm bleiben muß. Der Bund zwischen Erzieherin und Kind wurde von den Eltern nur selten gestört. Papa war viel auf Reisen und Mama hatte in sich die Leidenschaft für kunstgewerbliche Arbeiten entdeckt. Sie besaß nun ein Atelier und einen Lebensinhalt.

Es war Frühling. Erna und Hugo machten zweimal des Tages auf Anordnung Mamas ausgiebige Spaziergänge. Die Stadt war jetzt von zahlreichen und bezaubernden Gärten durchbrochen. Erna liebte am meisten die ›Hasenburg‹, jenen Park, der sich mit labyrinthischen Wegen, weiten Rasenflächen, Terrassen, künstlichen Grotten, Springbrunnen, blühenden Heimlichkeiten an die Lehne eines Berges schmiegt. Auch Hugo mochte diesen weitgedehnten Ort gerne, von dessen sich überstufenden Wandelflächen und efeuumklammerten Brüstungen man die dichtgedrängte Stadt bis zu den nebligen Vorbezirken am Horizont betrachten konnte. Der schwere schläfrige Fluß halbierte das altertümliche Gedränge des Zentrums. Die vielen steinernen und eisernen Brücken schwangen verschiedenartige Melodien von Ufer zu Ufer. Die älteste unter ihnen hielt den erstarrten Schmerz ihrer gefesselten Statuengruppen ins braune oder silberne Licht, das sich sekündlich verwandelte. Düsteren Kristalldrüsen glichen diese bewegten Gestalten, die der Druck der Geschichte aus den felsigen Brückenbögen emporgetrieben hatte. Hugos Auge aber hing vor allem an der mächtigen Kuppel des Nationaltheaters, die breit und grün mitten unter dem gotischen Emporstreben der hundert Türme in der Sonne brütete oder die wie ein architektonisches Tiergespenst aus dem Nebel tauchte, den die Stadt gegen Abend immer von sich gab. Er war zwei- oder dreimal schon in dieses Theater mitgenommen worden. Seitdem umlauerte sein Herz das Gebäude, dessen grünspäniger Kuppelsturz Dinge enthielt, die ihn tief entzückten: den pathetisch bemalten Vorhang, die lichterfüllte Wölbung, die Stimmen der Instrumente, den einzigartigen Geruch, aus feinem Staub, Moder, Parfum, Frauen gemischt, und das Zaubergeheimnis der Bühne, das Geheimnis eines unwirklichen Raumes, der den wirklichen schneidet, mächtiger noch als der göttliche Raum den irdischen der Kirche durchdämmert. Allein nicht nur die erhabene Sicht auf die schöne Stadt zeichnete die Hasenburg aus. Sie besaß ja außerdem noch die mysteriöse ›Hungermauer‹, die den blühenden Garten von einer wüsten lehmigen Hochfläche abgrenzte, woher manchmal die militärischen Hornsignale wehten, um mit goldgelb gespreiteten Flügeln einen Augenblick lang über dem Tal der Stadt schweben zu bleiben. Dieses alte traurige Gemäuer war, wenn man den Chroniken glauben durfte, ein geschichtliches Denkmal. Irgend ein mittelalterlicher König hatte es aufführen lassen, um zur Zeit der Hungersnot das Problem der Arbeitslosigkeit auf ebenso harmlose wie märchenhafte Art zu lösen. Wie dem auch immer sei, die Hungermauer bot für Hugos Phantasterei einen schönen Anlaß, und er log der willigen Erna mancherlei von Pest, Krieg, Sturmwiddern, Breschen und nächtlichen Überrumplungen vor. Dies aber gehörte zum Wesen der einzigartigen Stadt: Ein alter Stein irgendwo, ein Holzgeländer, ein Brunnen in einem Hof, eine ausgebrannte Mühle, die man stehen gelassen hatte, ein grauer augenleerer Turm, in dessen Höhlung ein Alteisenhändler sein Warenlager besaß. Ein unverhoffter Durchgang, ein trauerndes Wappentor, in dem ein frecher Bierschank lärmte, greise tagblinde Winkel, die der verlotterten Nacht entgegenlauerten. Nichts, Gerümpel, oft ohne Schönheit, meist ohne Kunst! Aber die Toten huschten über den Stein, die Toten schmiegten sich an das Holzgeländer, die Toten der Jahrhunderte hockten in der ausgebrannten Mühle, die Toten stiegen über die rostigen Eisenstangen, die Toten mischten sich in das Straßengedränge, ein Licht in Händen, das den Tag verfinstert, die Toten verließen diese Stadt nicht. Alter Sandstein, brüchiges Gemäuer nur! Aber auf einmal zitterte im Mittagsstrahl ein kranker Schatten, ein unsagbar blasses, abgezehrtes Bildchen drüber hin, wie aus der Laterna magica unserer Kinderjahre geworfen, die in irgend einer Rumpelkammer vermodert.

Erna freilich war auf den sonnigen Kieswegen dieses Parkes, auf den Bänken und Terrassen nicht so ganz bei der Sache, wie es Hugo schien, sie war sogar recht eingenommen, wenn sie gegen halb fünf Uhr nachmittags den Blick unruhig aussandte. Denn zu dieser Stunde pflegte sich Herr Oberleutnant Zelnik einzustellen. Hugo hatte bereits soviel Wohlgefallen an dem Offizier gefunden, daß auch er eine freudige Regung verspürte, wenn die uniformierte Gestalt, in schmalen Hüften sich wiegend, auf dem Parkwege in der schattenübersprenkelten Ferne sichtbar wurde. Der militärische Glanz wirkte auf ihn wie auf jeden anderen Knaben, er erfüllte ihn mit eigentümlich ehrfürchtigen Schreckgefühlen, die, wenn Zelnik ihn mit einem herablassend näselnden ›Servus‹ begrüßte, in angenehmen Stolz umschlugen. Doch diesem Stolz war das Bewußtsein beigemischt, daß die Vertraulichkeit des Offiziers eine Gabe blieb, nur auf Widerruf verliehen und sogleich zurückziehbar, sollten die Umstände es erfordern. Zelnik erschien trotz aller Liebenswürdigkeit hocherhaben und unerreichlich. Hugo aber – und das unterschied ihn von anderen Jungen – dachte trotz dieser schneidigen Freundschaft nicht daran, nun selber Soldat werden zu wollen. Er verehrte den Glanz des Oberleutnants mit frommem Erschauern, aber er verehrte ihn als etwas Fremdes, dem nachzustreben ihm nicht gebührte. Er liebte es sehr, wenn Zelnik die strammen Ausdrücke des Dienstes in seine Rede flocht. Dann prägte er diese Worte seinem Gedächtnis ein wie etwas Kostbares und Vornehmes, dessen Gebrauch auszeichnet. Der Oberleutnant pflegte in der Unterhaltung mit Erna jeder Bitte das Wörtchen ›gehorsamst‹ anzuhängen. Diese Ritterlichkeit gefiel Hugo ausnehmend gut, und als sie nach und nach verschwand, vermißte er sie.

Eines aber war klar, um vor den Augen dieses strahlenden Mannes zu bestehen, mußte sich Hugo in acht nehmen. Er mußte beweisen (wenn er auch durch Zufall noch unerwachsen und schwächlich war), daß er sich doch wie ein Mann benehmen konnte. Männliches Benehmen aber, was war es denn anderes als höfliche Feinfühligkeit? Hugo verstand es also, das Paar in unauffälliger Weise allein zu lassen, indem er sich – und das war geradezu ein Opfer – am Spiel einiger anderer Jungen beteiligte. Meist aber setzte er sich nur abseits und träumte in die Luft hinein, wenn er sich nicht in ein Buch versenkte, das die fürsorgliche Erna heimlich mitgenommen hatte. Er war auf den fremden Mann nicht eifersüchtig, ganz im Gegenteil, er war stolz auf ihn, er war stolz, daß sein Fräulein Erna gar manche wichtige Angelegenheit flüsternd mit dem Oberleutnant auszutragen hatte, während er selbst sich freiwillig und ohne Neugier wie ein guter Wächter abseits hielt. Er machte sich dabei keine Gedanken über die Angelegenheit, die also eifrig beflüstert wurde, nur die aneinandergedrängte Nähe Zelniks und Ernas, der vom Entzückungshauch beschlagene Aufblick der Frau, ihr unbewußt im Winde spielendes Haar, des Mannes zuckende Nüstern, sein grausam lächelnder Schnurrbart – all das erregte Hugo mit knisternder Ausstrahlung.

Sonntags hatte Fräulein Tappert immer Urlaub. Sie verließ das Haus nach Tisch und kehrte erst um Mitternacht wieder heim. Diese einsamen endlosen Sonntagsnachmittage quälten Hugo mit ihrer Trauer und Langeweile. Selbst die verbissenste Lektüre half ihm nicht darüber hinweg, daß er Erna und Zelnik vermißte. Er sehnte sich danach, von ferne die beiden großen Gestalten auf der grünen Parkbank zu bewundern, hinter der ein roter Rhododendronstrauch sein Rad schlug. Wenn dann spät abends das Fräulein auf leisen Zehen durch sein Zimmer in das ihre schlich, lag er stets wach und rief sie an.

Es war aber ein ganz gewöhnlicher Wochentag, als ihn auf einem der gemeinschaftlichen Spaziergänge Herr Oberleutnant Zelnik am Arm faßte, während Erna Tappert zurückblieb und sich mit blinzelndem Interesse in das lichtzerklirrende Spiel eines Springbrunnens vertiefte, der seine kristallene Palme lockend entfaltete. Zelnik drückte den Arm des Knaben:

»Sie sind ein tapferer kleiner Mann, Hugo, was? Das hab ich längst schon heraus.«

Diese Worte beglückenden Lobes sprach der Offizier zu Hugo, der von seinen Eltern zwar oft sorgende Ängstlichkeit, aber kaum jemals eine Aufmunterung zu hören bekam. Der Knabe sah leichtgeblendet auf den nickelblitzenden Korb des Salonsäbels, der an der Hüfte des Mannes schwankte.

»Also Hugo, merken Sie auf, es ist ein wichtiger Auftrag, den ich Ihnen hiermit erteile ...«

Hugo empfand ein starkes Bedürfnis, den Säbelkorb oder das goldene Portepee zu berühren, das an seiner Seite auf und nieder spielte. Verwegene Lust durchzuckte ihn, als könnte er durch diese Berührung einen wohltuenden Strom zwischen sich und dem prächtig erklirrenden Herrn schließen. Der Oberleutnant fuhr mit geneigter Bedeutsamkeit fort, während sein Schritt sich bemühte, den Schritt des Jungen kameradschaftlich ernst zu nehmen: »Es ist das, ich bitte, eine Sache, die Sie noch nicht ganz verstehen können. Aber, Hugo, nicht nur ein Zivilist, selbst ein Offizier erhält täglich eine Menge von Befehlen, deren Zweck er nicht versteht. Unsereins sagt sich dann: Befehl ist Befehl und Dienst ist Dienst! Die Sache übrigens, um die es sich hier handelt, geschieht einzig und allein im Interesse von Fräulein Erna, wofür wir beide ritterlich einstehen müssen ... Na, da brauch ich Sie ja nicht extra zu belehren.«

Hugo berührte unauffällig das goldene Portepee, ängstlich, als wäre es glühendes Metall. Er machte große Schritte. Zelnik legte seinen Arm um die Schulter des Knaben:

»Es ist unbedingt notwendig, daß Fräulein Erna bei den Verhandlungen anwesend ist, die im Interesse ihrer Zukunft geführt werden. Und jetzt machen Sie die Ohren auf, junger Mann, es sind nämlich geheime Verhandlungen ... Streng reservat ... In der Nacht ... Versteht sich ...« Zelnik blieb stehen und sah Hugo an, als wäre damit mehr als genug gesagt:

»Sie wissen, was das bedeutet, geheime Verhandlungen?« Vor Hugos Augen zogen rasche Traumbänder dahin. Der Oberleutnant seufzte befriedigt:

»No also! Sie verstehen mich, Hugo! Und Sie, niemand anderer als Sie, haben den Auftrag, dafür zu sorgen, daß kein Mensch etwas davon erfährt, wenn Fräulein Erna in der Nacht nicht zu Hause ist. Vor allem Ihre Herren Eltern nicht! Das möchte ich gehorsamst erbeten haben. Sie geloben mir in die Hand, wie das Grab zu schweigen und Fräulein Erna somit vor allen gefahrvollen Weiterungen zu schützen.«

Hugo fühlte, wie seine Hand im Druck der großen Männerrechten hinschmolz. Er hatte geschworen. Erna näherte sich. Der Oberleutnant trat anmutig an ihre Seite:

»Unser Freund Hugo hat den Eid geleistet ...«

Und lächelnd, während er selbstzufrieden mit zwei Fingern den Uniformkragen lockerte:

»Zu Wasser, zu Lande und in den Lüften.«

Am Abend – Hugo lag schon zu Bette – trat Erna, die kein Wort mit ihrem Zögling über diese Sache gewechselt hatte, schön gekleidet und duftend aus ihrem Zimmer. Sie sagte nur:

»Also, ich geh jetzt, Hugo!«

Dabei zog sie seine Hand an ihre Brust und sah ihn bittend an. Ihre Erregung durchschauerte seinen Körper. Dieselbe Szene wiederholte sich in den nächsten Wochen an so manchem Abend. Ehe Fräulein Tappert Hugos Zimmer verließ, waren ihre Wangen von Angst wie von einem scharfen Wind rot und aufgerauht. Und jedesmal sagte sie:

»Also, ich gehe jetzt, Hugo!«

Wie viel lag doch in diesen stummen Worten. Der Junge spürte es und spannte alle Muskeln an, als müsse er jeden Augenblick bereit sein, Erna vor lauernden Feinden zu verteidigen. In solchen Nächten lag er mit brennender Haut schlaflos oder unter einer dünnen Decke unruhigen Dämmerns. Fernunten hallte der Trab nächtlicher Pferdewagen über das Pflaster. Wie das rhythmisch-hohle Glucksen von Wasser aus einer Riesenflasche drang dieser Trab in sein übertreibendes Gehör. Erst wenn die Heimkehrende mit angehaltenem Atem durch sein Zimmer huschte, legte sich ein stolzer Friede über seine Augenlider und die Müdigkeit eines Siegers beschlich ihn mit gerechtem Schlaf. Oft, wenn das geheimnisvolle Ausbleiben sich allzulange hindehnte, konnte Hugo es vor Angst um Erna kaum mehr aushalten. Schreckbilder von Überfall, Mord, Entführung würgten ihn, in denen Erna das Opfer, Zelnik aber keineswegs der Übeltäter war. Alles, was er jemals von Kriminalverbrechen oder Selbstmord gehört und gelesen hatte, jagte in solchen Augenblicken vorüber. Er sah Ernas Körper deutlich vom schmutzigen Fluß immer wieder gegen das alte Wehr geschleudert werden. Gewiß! Der Oberleutnant stand verzweifelt am Kai und blickte nach Rettung aus, dachte aber nicht daran, seinen kakaobraunen Waffenrock mit den roten Artillerieaufschlägen abzuwerfen und ihr nachzuspringen. Man konnte solch eine Tat von einem gestiefelten und gespornten Herrn auch nicht verlangen. Derartiges schickt sich nicht für einen Offizier. Das schrecklichste aber war, daß er, Hugo, sich selber die Schuld an dieser Tragödie geben mußte.

Erklang dann im Morgengrauen Ernas leiser Schritt, so stellte sich Hugo aus einer plötzlichen Scham schlafend. Manchmal aber konnte er sich nicht halten und rief durch die offene Tür:

»Fräulein! Sie können heute ruhig liegen bleiben! Ich werde mich schon selber waschen.«

Fräulein Tappert aber hielt es wie alle Tage. Frischduftend, ohne jegliche Zeichen von Übernächtigkeit, waltete sie kräftig mit Bürste und Schwamm ihres Amtes. Hugo bemerkte, daß die Gefahren der Nacht Ernas Wesen nicht ermüdet, sondern gestrafft hatten. Sie hatte geschwindere, energischere Bewegungen als sonst. Sie glich nach solchen Nächten den edlen Segelbooten, die mit vollem Wind über jene sonnigen Wasserflächen schießen, an deren freudegesegneter Küste Leute wie Hugos Eltern den Sommer verbringen. Keine Abspannung sah er in ihren Zügen, keine Leere auf ihrem Gesicht, nein, es war bis zum Rand gefüllt von einem gereiften inneren Licht, das den Knaben blendete. Er aber wurde immer blasser und magerte ab. Die Eltern zogen Ärzte zu Rat. Man bekämpfte die allgemeine Körperschwäche mit Lebertran, Hämatogen und ähnlichen Bitternissen.

Zwischen den beiden Verschworenen war wie durch festes Übereinkommen niemals die Rede von dem Geheimnis der Nächte. Tag und Nacht blieb zweierlei und wußte nichts voneinander. Mit innig-geneigtem aufmerksamen Ohr hörte Erna zu, wenn Hugo zu deklamieren begann und ihr seinen phantastischen Schiller zum besten gab. Sie lauschte sogar um eine Spur hingebungsvoller als früher. Es schien, als gehöre sie bis zum Nachmittagsspaziergang gänzlich Hugo an; erst dann trat der Oberleutnant in seine Rechte, die der Knabe freudig anerkannte.

Zweimal aber drohte dem nächtlichen Geheimnis ernste Gefahr, die Hugos Tapferkeit und Geistesgegenwart auf die Probe stellte. Eines Abends hatte Hugo Ernas Abwesenheit benutzt und sich schrankenlos in ein Buch verloren. Gott weiß, wie spät es sein mochte, als er Schritte hörte. Er erkannte sogleich: Mama! Blitzschnell riß er den Schalter der Bettlampe aus dem Kontakt und wühlte den Kopf ins Kissen. Mama, die das Licht in Hugos Zimmer bemerkt haben mußte, beugte sich tief über ihn, lauschend, lange. Er atmete gleichmäßig, tief, und zitterte, die Mutter werde ihn anrühren und bemerken, daß ihm der Schweiß aus allen Poren drang. Nach einer Ewigkeit richtete sich Mama auf und rief: »Fräulein Erna!« Da keine Antwort kam, wiederholte sie den Ruf leise, so als habe sie keine andere Absicht mehr, als sich von Ernas festem Schlaf zu überzeugen. Dann strich sie die Decke des Sohnes glatt, aber schon mit achtlosen Händen, gleichsam nur um sich selbst ein wenig konventionelle Mütterlichkeit vorzuspielen, und ging.

Weniger harmlos aber drohte ein anderes Ereignis zu verlaufen.

Einmal war Hugo gegen seinen Willen fest eingeschlafen. Plötzlich fuhr er auf. Seinen ganzen Körper durchströmte die Gewißheit, daß Erna in schwerer Bedrängnis schwebe. Es war wie eine Einreibung mit Äther oder Alkohol. Er sprang aus dem Bette, ratlos, was zu tun sei. Im Zimmer konnte er nicht bleiben, dies war sicher. So öffnete er die Tür und fand sich allein, im Nachthemd, barfuß dem erloschenen Raum seines Vaterhauses gegenüber.

Dieses Haus war einer der kleinen zierlichen Adelspaläste, die der Stadt zum Ruhme gereichen. Hugos Vater hatte ihn vor einigen Jahren gekauft und renoviert, das heißt, die steife Pracht feudaler Jahrhunderte war um einige weißblitzende, kachelbelegte Örtlichkeiten modernen Komforts vermehrt worden.

Hugo überlegte nichts. Es zog ihn zum Haustor, zur Einfahrt hinab. Er mußte, um zur Haupttreppe zu gelangen, die sogenannte ›Galerie‹ durchlaufen. In dieser Galerie standen und hingen Papas ganz einzigartige Schätze. Diesen Kunstschätzen zollte man Ehrfurcht, nicht weil man ihre Schönheit verstand, sondern weil man immer wieder ihren Wert und ihre Seltenheit hatte rühmen hören. Hugo war seit frühester Kindheit mit jedem dieser unvergleichlichen Stücke bekannt, aber gerade deshalb kannte er keines so recht. Denn nichts entfremdet mehr als täglicher Anblick. Er hätte sie kaum herzählen oder beschreiben können, die Bildwerke der väterlichen Galerie. Sie waren trotz ihrer alltäglichen Gegenwart nicht in sein Bewußtsein gedrungen. Das Verbot, sich ihnen zu nähern, die eingetrichterte Schreck-Erkenntnis ihres unermeßlichen Wertes hatte sie so gut wie unsichtbar gemacht. Es schien fast, als hätten all diese Heiligen und Madonnen für die Riesensummen des an ihnen vollzogenen Kunsthandels auch ihre Seele mitverkaufen müssen. Sie machten unglückliche Mienen, wenn das Sonnenlicht durch die Fenster wogte, und freuten sich der Schatten und Dämmerungen, in denen sie ihre Schmach verbergen konnten. Für Hugo trugen sie immer Tarnkappen. In der kurzen Minute jedoch, da er die Galerie in unverständlicher Angst um Erna durcheilte, bekamen sie ein blasses, und man muß es so nennen, ein verworfenes Leben. In dem Raum brannte immer Licht. Dort, diese uralt-zerschmetterte Holzpuppe mit dem ausgemergelten Leichengesicht, welch ein Christus war das? Und weiter links davon der asiatische Götze, der seinen scheußlich gefalteten Bauch betrachtete? Die unermeßlich wertvollen und unermeßlich gottlosen Götter jagten diesem halbnackten Kind keine Angst ein, sie erfüllten es mit leisem Haß und mit einer dumpf aufkeimenden Wut.

Hugo tappte den weichen Teppich der Treppe hinab. Er stand im hochgewölbten Flur neben der Rokokosänfte, die ihn zierte.

Da fuhr ein Schlüssel ins Tor und knackte im Schloß. Der Knabe hatte kaum mehr Zeit, sich in der Sänfte zu verstecken. Papa war heimgekommen und schaltete die altertümliche Hängelaterne des Flurs ein. Nicht anders als vorhin die wertvollen Götter und Heiligen sah Hugo nun Papas Gesicht zum erstenmal. Dieses Gesicht war ja immer um ihn gewesen, aber er hätte nicht einmal sagen können, ob Papa helle oder dunkle Augen habe. Jetzt sah er, daß, in dieser jenseitskühlen Beleuchtung wenigstens, Papas Augen wasserblau zu sein schienen. Und er verwunderte sich darüber. Er wunderte sich überhaupt, daß dieser fremde Herr im Abendanzug eins mit jenem Wesen war, das er Papa zu nennen pflegte, dem er oft einen Gutenachtkuß entbot, den er täglich bei Tische sah. Dieser Vater stand jetzt minutenlang im Flur und brütete in tiefen Gedanken vor sich hin. Unbeachtet, wie er sich glaubte, schien er zu hoffen, daß nach einer Weile sein wahres, durch den verlogenen Muskelkrampf der Geselligkeit entstelltes Wesen sich in seinen Zügen wieder bilden werde. Aber nichts anderes bildete sich in diesen Zügen als ein gelblich-apathischer Überdruß, der sich schließlich in einem langen mißvergnügten Gähnen entlud. Hugo bemerkte mit Erstaunen, daß Papa nicht offen gähnte, sondern die Hand vor den Mund hielt. Er selber benahm sich, wenn er allein war, in gewissen Dingen anders als unter Menschen. In Papas Leben gab es derartige Schwächen nicht.

Hugo, in den Fond der Sänfte gedrückt, atmete kaum. Papa machte langsam ein paar Schritte, dann blieb er wieder in quälenden Gedanken stehn, zog das Etui heraus und zündete eine Zigarette an. Er wippte dabei leicht auf den Fußspitzen, welche Geste Hugo, trotz seines rasenden Herzklopfens, wiederum als vorbildlich auffiel. Warum verließ Papa den Flur nicht? Vielleicht wartete er, daß sich zwischen dem Teil der Nacht, den er außer Haus verbracht, und dem Rest ein genügend dichter Zwischenraum, eine neutrale Zeitmasse ansammle, die es ihm erleichtern sollte, sich an Mamas Seite zur Ruhe zu begeben. Hatte Papa etwa auch geheime Verhandlungen zu erledigen?

Hugo, der unter den Sitz der Sänfte gekrochen war, sah nichts mehr. Nach einer unerträglich langsamen Minute atmete Papa, der fremde Herr, plötzlich laut und abschließend auf und schritt, von seinen düsteren Gedanken erlöst, leichtfüßig die Treppe empor. Die Flurlaterne erlosch. Hugo hörte Papas Schritte, die ihm vertrauter und wirklicher jetzt erschienen als der Vater selbst, in der Galerie auf und ab gehen.

Da fuhr wieder ein Schlüssel ins Tor und knackte im Schloß. Der sich öffnende Flügel zeigte auf dem bläulichen Grunde der ersterbenden Nacht Ernas Gestalt. Schon war Hugo bei ihr. Erna schrie vor namenlosem Schreck auf. Dann krampften sich beide starr aneinander, der ausgekühlte Körper des Knaben in seinem dünnen Hemde und der erhitzte Körper der Frau in unordentlichen regenfeuchten Kleidern. Der nasse Stoff brannte auf Hugos Gliedern wie Brennesseln. Beide standen sie regungslos aneinandergepreßt, bis des Vaters Schritt die Galerie verlassen hatte und in seine Räume eingegangen war.

In Hugos Zimmer wurde Erna von einer sinnverwirrten Besessenheit angefallen. Sie herzte den Knaben, sie küßte seine Hände, sie schrie laut auf, ohne sich zu fürchten. Hugo zitternd, das Haus würde erwachen, floh ins Bett. Sie setzte sich an den Rand. Ihr Haar fiel herab. Hugo flehte: »Um Gottes willen, Ruhe!« Sie stammelte: »Alles eins!« Ihr Kopf taumelte hin und her. Plötzlich schleuderte sie die Schuhe von den Füßen. Dabei lachte sie unersättlich und verströmte aus Mund und Haaren Weingeruch. Endlich warf sie sich über das Fußende des Bettes, wühlte den Kopf in die Decke und wiederholte immerzu in gefühllosem Singsang:

»Es ist aus, Hugolein, es ist aus!«

Hugo wunderte sich sehr, als Erna anderen Tages nicht den Weg zur Hasenburg einschlug, sondern plötzlich behauptete, sie habe den alten Spaziergang satt und die Belvedere-Anlagen seien weitaus schöner. Etwas im Herzen des Knaben verbot ihm, diese Verwunderung zu offenbaren. Stumm klommen sie den steilen Kiesweg zur Belvedere-Anhöhe empor. Erst einige Tage später fragte Hugo nach dem Oberleutnant. Er sei versetzt. Erna nahm aus ihrem Täschchen eine Ansichtskarte, die ihr Zelnik geschrieben hatte. Hugo vermied es, einen Blick auf diese Karte zu werfen. Gestern, als er mit Mama eine Besorgungsfahrt durch die Stadt machte, hatte er den Oberleutnant erkannt, wie er langsam auf der Korsoseite der Ferdinandstraße dahinschlenderte. Diese Begegnung wirkte wie ein sonderbar-leichter Schlag gegen sein Herz. Ihm schwindelte ein wenig. Er wußte, daß er eine Freundschaft verloren hatte und daß ein Mensch, den er bewunderte, nun kalt gegen ihn gesinnt war. Und dennoch, in der Nacht fühlte er sich freier und ruhiger, denn er mußte nicht mehr um Erna bangen, deren Atem er durch die offene Tür lange belauschte.

Es kamen stillere Tage. Denn die neue Bekanntschaft, die Fräulein Tappert und er auf dem Belvedere geschlossen hatten, war weit weniger erregend und kam an Glanz der vergangenen militärischen Episode nicht nahe. Statthaltereikonzipist Tittel verstand es nicht so gut wie Oberleutnant Zelnik, mit Knaben umzugehen. Der junge Offizier hatte Hugo durchaus ernstgenommen, er hatte oft und sachlich mit ihm gesprochen, ihm manches erzählt und erklärt, ohne allzu belehrend zu werden. Niemals pflegte er die Redewendungen seines Standes für das Knabenverständnis zu verändern und ins Kindliche zu übersetzen. Und vor allem: Hugo war einbezogen. Tittel hingegen richtete fast niemals das Wort an ihn; Hugo war für ihn Luft, schlimmer noch, ein lästiges Anhängsel Ernas. Dieser erwachsene Hochmut hatte die Wirkung, daß sich Hugo auf dem Belvedere zu langweilen begann und die Hasenburg mit dem freieren Blick auf die Stadt, Türme und Kuppeln zurücksehnte. Ferner war der Konzipist im Gegensatz zum schönen Zelnik ein kleiner Mann mit verkniffenem Nußknackergesicht, das von einer uneingefaßten Brille in zwei symmetrisch blitzende Hälften geteilt wurde, die trotz oder gerade wegen ihres Funkelns augenlos zu sein schienen. Die Genauigkeit dieses Gesichtes mißfiel Hugo. Ebenso mißfielen ihm gewisse Einzelheiten an Tittels Kleidung, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gab. Aber als Kind seiner Eltern beleidigte ihn alles armselig-praktische und peinlich-geschonte. Tittel bekleidete seinen abgetragenen Hals mit einem Zelluloidkragen und um seine behaart ausgemergelten Handgelenke gewahrte man Manschettenschützer. Er trug auch bei trockenem Wetter Galoschen und zeigte sich bei jeder Gelegenheit um seinen Gesundheitszustand besorgt. Was die Hygiene anbelangt, besaß er einen reichlichen Vorrat goldener Worte, die er Erna nicht vorenthielt: »Der Schlaf vor Mitternacht ist der beste.« – »Wer sich früh erhebt, ein hohes Alter erlebt.« – »Ruhe vor Tisch, nach der Mahlzeit mache Bewegung.« – »Liebe die Sonne, aber hüte dich vor ihr.« – »Vermische Essen und Trinken nicht!« In seinen Gesprächen mit Erna medizinierte er, was es nur anging, ja es schien sogar, wenn sie irgendwelche ›Zustände‹ eingestand, daß sein halbiertes Brillenantlitz leidenschaftlich und fast zärtlich wurde. »Allgemeine Anämie«, stellte er fest und seine Stimme streichelte dieses Wort wie seine pulsfühlende Hand Ernas Gelenk streichelte. Rechts und links in seinen Westentaschen steckten zwei Dosen, die er öfters hervorzog. In der einen war Speisesoda in Pastillenform, in der andern lagen schwarze Lakritzenbonbons. Die Pastillen nahm er selber ein, von den Lakritzen bot er auch Erna an, während Hugo übergangen wurde. Oft auch holte er seine Uhr aus der Tasche, ein ziemlich großes goldenes Ding, das erst einem rehledernen Säckchen entnommen werden mußte. Ohne irgendwelchen Anlaß verlor sich dann Tittel schweigend in die Betrachtung der unerbittlichen Zeit, die sich nicht minder pedantisch betrug als er selbst. Nahte der Sonntag und mit ihm die Möglichkeit eines Ausflugs, den der Konzipist gemeinsam mit Erna zu unternehmen gedachte, so begann das zerlesene Kursbuch eine bedeutende Rolle zu spielen. Es war Tittels Lieblingswerk, das Epos seiner unerfüllbaren Sehnsucht, der Abenteurerroman seiner versäumten Romantik, denn alle Strecken Europas standen darin verzeichnet. Der Besitz dieser weltumfassenden Druckschrift reihte ihren Eigentümer gewissermaßen unter die erlauchten Kosmopoliten des internationalen Reiseverkehrs ein. Wer sie mit eingeweihtem Griff aus der Tasche zog, verwandelte sich insgeheim in einen homespunbekleideten Lord. Das Auge durfte die fürstlichen Expreßstrecken nach Paris, Ostende, London, Rom und Lissabon gelassen in Erwägung ziehen, ehe es bei den preisermäßigten Sonntags-Lokalzügen nach Kuchelbad und Beneschau entschlossen halt machte. Mit Abscheu sah Hugo Tittels kleinen Finger, einen braunen mumienartigen Finger, der aus einem Grab auferstanden zu sein schien. Aber dieser Finger lief in einen überaus langen, gelben und an der Spitze sich krümmenden Nagel aus, der die betreffenden Verbindungen in den Tabellen langsam unterstrich. Vielleicht war dieser Finger daran schuld, daß Hugo niemals ein Kursbuch recht zu lesen lernte.

Dies aber war noch nicht alles. Auf der Hasenburg hatte sich Hugo abseits gehalten, er hatte sogar das Opfer gebracht, trotz seiner Schüchternheit und seines Ungeschicks, sich am Spiele anderer Jungen zu beteiligen. Fast hätte er sich gefürchtet, Erna und Zelnik, dem schönen Paar unterm Pfauenrad des Rhododendronbaumes, nahe zu kommen, wie man sich fürchtet, einen elektrisch geladenen Gegenstand zu berühren. Aber zugleich hatte die glitzernde Strahlung dieses Paars ihn beunruhigt und begeistert. Tittel jedoch und Erna Tappert waren nichts elektrisch Geladenes. Man konnte ohne weiters bei ihnen auf der Bank sitzen bleiben und dem vernünftigen Geschwätz zuhören. Warum? Hatte Tittel nicht in den ersten Tagen schon gemeinsame Bekannte, ja sogar einen entfernten Verwandten entdeckt, den er mit Erna teilte? Das Fräulein allerdings schien von dieser Tatsache nur wenig erfreut zu sein, denn sie suchte weiteren Entdeckungen auszuweichen. Stammten beide aus der gleichen Welt, die sich Hugo gar nicht vorstellen konnte? Wenn Erna einst Hugo gegenüber Zelnik erwähnte (dies war fast niemals vorgekommen), so hatte sie nur vom ›Herrn Oberleutnant‹ gesprochen. Uber Tittel sprach sie ohne jede Scheu und gebrauchte sogar dabei dessen Vornamen: ›Karl‹. Diese Nennung erfolgte meist in einem Zusammenhang, der Hugo dunkel blieb. Erna sah mit mühsamer Verständigkeit durch die Fenster des Kinderzimmers in die Ferne und meinte, Tittel habe eine schöne amtliche Zukunft vor sich, er stehe als Konzeptbeamter hoch über ihr und den meisten übrigen Menschen, während sie selber leider schon einundzwanzig Jahre alt sei, schlechtgerechnet.

Hugo hörte das und sagte sich: Einundzwanzig Jahre! Wie herrlich, wie traurig alt! Ihre schwere Schönheit schien durchtränkt zu sein von einem goldgelben sinkenden Licht, das sie ihm schmerzlich entrückte. Sie lebten nebeneinander. Aber er würde sie wie etwas Göttliches niemals einholen können. Und dann geschah es, daß er sich in einem wehmütigen und bewunderungsvollen Überschwang nahe an Erna drängte.

Tittel seinerseits redete täglich auf einer bestimmten Bank des Belvedere, ohne sich um den Knaben zu kümmern, eindringlich und gemessen auf Fräulein Tappert ein. Seine Rede wirkte auf Hugo einschläfernd, kaum daß ihn hie und da ein ungewöhnliches Wort erweckte. Hugos Leidenschaft waren ja ungewöhnliche Worte. Sooft Oberleutnant Zelnik auf früheren Spaziergängen militärische Ausdrücke angewendet hatte, war Hugo ganz Ohr gewesen. Wie schneidig klang es, wenn er einen eigenen Irrtum durch das Wort ›herstellt‹ sogleich widerrief. ›Mischung‹, ›Mullatschag‹, ›Durchmarsch‹, in diesen dunklen Begriffen klirrten Waffen und Champagnergläser. Wenn man durch den Park wandelte, gab Zelnik die Wegrichtung mit heiterem Kommandoton an: »Direktion Dackl von alter Dame!« Für ihn gab es keine Pferde, sondern ›Krampen‹, keine Droschken, sondern ›Landesübliche Fuhrwerke‹. Als Artillerist kam er sich sehr gelehrt vor und gebrauchte Bezeichnungen wie: ›Flugbahn‹, ›Endgeschwindigkeit‹, ›gleichschenklig‹ in den lustigsten Bedeutungen. Er sagte niemals Krieg, sondern immer nur Ernstfall. Und dieser Ernstfall war für ihn einer der erfreulichsten Fälle, da der ›lebhafter‹ arbeitende Tod die Avancementsaussichten wesentlich verbessert. Oh, wie anders klangen die ungewöhnlichen Worte, die Hugo von Tittel hörte. Zum Teil bezogen sie sich auf die Gesundheit und rochen nach Apotheke, zum andern Teil auf Erscheinungen, deren Art Hugo nicht ganz erfassen konnte: ›Pensionsberechtigung‹, ›Witwenbezug‹, ›Bekleidungszulage‹, ›Remuneration‹, ›Krankenkasse‹ und ›achte Rangsklasse‹. Einmal, als die bezwingende Folge dieser und ähnlicher Worte wieder auf Erna eindrang, durchzuckte es Hugo, als hätte er endlich den Sinn all der Rederei begriffen: Erna sollte ihm entrissen werden! Brachte ihr Tittel nicht dann und wann Geschenke mit? Freilich waren es nur Malzzelteln und Hustenbonbons in zerknitterten Papiertüten oder kleine räudige Veilchensträuße, die aussahen, als hätte sie der Kavalier irgendwo aus dem Staub aufgelesen. Aber Geschenk bleibt doch Geschenk. Der schöne fröhliche Zelnik dachte an keine Geschenke. Es war klar, Tittel warb ernsthaft um Erna. Tittel war eine größere Gefahr als alle Oberleutnants der Welt.

Auf dem Heimweg überwand sich der Knabe:

»Erna«, seit jener abenteuerlichen Nacht duzte er Fräulein Tappert, »Erna, wirst du jemals von uns fortgehen?«

Sie kokettierte schwermütig: »Du wirst mich ja selber bald loswerden wollen, Hugo!«

Aber Hugo konnte, da er nicht weinen wollte, keinen Laut mehr hervorbringen auf dem ganzen Weg.

Nachts erwachte er aus irgend einem schmerzlichen Schlaf. Da hörte er, daß Erna in ihrem Zimmer mit bloßen Füßen umherging. Er spürte das Licht im Türspalt, aber er hob den Kopf nicht. Mit angehaltenem Atem lauschte er diesen nackten Schritten. Das weiche Tappen der Sohlen, von dem die Gegenstände des Zimmers so leise, so eigen, so menschlich bebten, es klang anders als sonst. Ziellos wandelte Erna durch den Raum. Was war geschehen? Was bereitete sich vor? Worauf sannen diese traurig-unruhigen Tritte? Diese lieben innigen Tritte. Hugo bekam von bangem Vorgefühl einen trockenen Mund. Erna unterbrach ihren ziellosen Umgang, sie suchte etwas, sie füllte Wasser in einen Krug. Dieser Krug beschwichtigte Hugos Kümmernis. Gott sei Dank! Sie war da! Keine geheimnisvolle Angelegenheiten hatte sie draußen in der Nacht zu ordnen, keine Verhandlungen mit fremden Männern abzuwickeln. Dies tröstete. Dies gab Hoffnung, daß sie ihn niemals verlassen würde.

Dennoch geschah es in der nächsten Zeit – wenn auch nur ein einziges Mal –, daß sich wiederum geheime Notwendigkeiten einstellten und Fräulein Tappert um halb zehn Uhr abends, schön gekleidet, aus dem Zimmer trat und mit dem gewissen langen Blick auf ihren Zögling sagte:

»Also, ich geh jetzt, Hugo.«

Kurz darauf begab sich etwas höchst Peinliches. Einer der katzenjämmerlichen Sommertage war's, von katarrhalischen Himmeln überwölbt, denen so stumpf zumute ist, daß sie sich zu keinem Regen entschließen können. Kurze Windstöße husteten durch die Straßen, aber auch sie konnten nicht helfen. Obgleich kein Tropfen fiel, stieg aus dem Parkboden ein sumpfiger Dampf auf, der die Muskeln erschlaffte. Die Kastanienkerzen waren längst abgeblüht. Die großen Blätterhände hingen aus kraftlosen Kindergelenken herab. Da und dort war schon eine der stachligen Früchte zu sehen, noch saftig und unerwachsen. Hugo dachte an die braunen Roßkastanien, mit denen er so gerne gespielt hatte, als er noch klein war.

Aber nicht nur die obere Natur, auch die Unterwelt warf dem Ereignis ominöse Schatten voraus. Solang die Bonne und ihr Zögling die schmalen Serpentinen der Belvedere-Anhöhe emporstiegen, war noch alles in Ordnung. Zu beiden Seiten des Weges dämmten hier künstliche Felsen den wuchernden Stauden- und Farnwuchs ein, der von der unheimlichen Feuchtigkeit dieses tropischen Tages vollgesogen war wie ein schwarzgrüner Schwamm. Dann aber, knapp bevor die Hochfläche erklommen war, kam eine Bresche in dem spielerischen Felsengebirge der Anlage, die der grünen Zuchtlosigkeit dieses städtischen Dschungels freie Bahn gewährte. Und hier schleppte sich ein braunes widriges Tier über den Weg, gerade vor Ernas und Hugos Füßen.

»Eine Kröte, Hugo!« Diesem Ausruf in der höheren Tonlage des leichten Schreckens folgte sogleich ein warmer Nachsatz des Erbarmens:

»Schau, sie ist verwundet, die Arme. Jemand muß sie getreten haben.«

Hugo preßte die Ellbogen an den Leib und streckte sich steif. Das tat er in unangenehmen Augenblicken immer, wenn ihn zum Beispiel seine Eltern ihren Bekannten vorstellten. So gerne hätte er die Augen geschlossen oder abgewendet. Doch er verharrte in seiner gezwungenen höflichen Stellung und starrte gebannt auf die todwunde Kröte, die trotz ihrer Furcht nicht vom Platz zu kommen schien. Für das Stadtkind, das nur eine gezügelte und halbverfälschte Feriennatur kannte, waren die Gattungen der Tiere nichts Gleichberechtigtes und Selbstverständliches. Vielleicht hatte Hugo bis zu dieser Stunde noch nie eine Kröte in Wirklichkeit gesehen. In seinem Geiste aber lebte längst schon die Kröte als ein Bild, das bestimmte ekelvolle Empfindungen und Gedanken wachrief, als ein Fabelwesen des Scheußlichen und Bösen in Nachbarschaft der Giftschlangen. Der Anblick bestätigte nun das innere Bild. Und doch, auch das Böse und Häßliche mußte so furchtbar leiden. Ein Kranz schwarzer Fliegen surrte über dem Leib des sich dahinschleppenden Tieres. Die kleinen Aasgeier der billigen Verwesung begleiteten ihre Beute. Hugo langte nach Ernas Hand. Sie war schlaff von Geistesabwesenheit und Mitleid.

An dem gewohnten Ort, es war ein Rondell mit einem kleinen, aber aufgeregten Denkmal in der Mitte, ging Tittel schon auf und ab. Es geschah zum erstenmal, daß er früher zur Stelle war als Erna. Sein Aufzug hatte heute etwas Neuartiges, Abweisend-Entschiedenes. An seinen kanariengelben Schnürstiefeln trug er wie immer Galoschen, durch die er seinen Körper von der unheilbringenden Erde isolierte. Überm Arm hing der verbrauchte Paletot, der ihn vor kommenden Unwettern schützen sollte. Seine Hand – sie glich einem von schlechter Seife verwaschenen und eingegangenen Ding – hielt einen Stock. Dieser Stock lief in eine absonderlich geformte, geradezu dreiste Krücke aus, die schief vorwärts gebogen einem Marabuschnabel glich und aus irgend einem gefährlichen Tierhorn geschnitzt zu sein schien. Der ganze Mensch war gewaffnet und versperrt wie eine Festung, zugleich aber entsichert wie eine scharfgeladene Waffe. Sein großer dünngekniffener Mund schien das ganze Gesicht verschluckt zu haben. Es war gar kein Gesicht vorhanden, sondern nur jenes symmetrische, von der Nase entzweigeteilte Brillenblitzen. Auf der rechten Wange fiel mehr als sonst ein großer Durchzieherschmiß auf, weil er heute kriegerisch erglühte. Tittel steckte umständlich und vorwurfsvoll seine Uhr ins Lederfutteral, dann grüßte er mit ersterbender Stimme:

»Mein liebes Fräulein, ich habe mit Ihnen ernsthaft zu reden, aber schon sehr ernsthaft ...«

Er hatte ›mein Fräulein‹ gesagt. Hugo erschrak vor dieser giftigmatten Stimme, die ihn nach wie vor nicht beachtete, bis ins Herz. Der Ankläger aber säuselte weiter: »Nehmen wir Platz!«

Wie langsam erstarrend Erna sich niederließ! Hugo rückte an das äußerste Ende der Bank. Tittel aber, der beide Hände auf die gefährliche Stockkrücke stützte, begann weit auszuholen:

»Ich war aktiv bei einer schlagenden Verbindung, Marbodia! Sie wissen es ja ...«

Das war so hingemurmelt wie die Erwähnung einer Heldentat, von der man, mit gespielter Gleichgültigkeit, kein Aufheben macht. Auch offenbarte die immer leiser werdende Stimme eine Atemnot, eine Seelenerkältung, die sich Tittel an der Schlechtigkeit der Welt zugezogen hatte:

»Die Anforderungen, die an einen Farbenstudenten gestellt werden, sind gewiß keine Kleinigkeit. In manchen Belangen eine volle Beanspruchung der Persönlichkeit ... Aber, mein liebes Fräulein, in punkto Gesundheit habe ich niemals Spaß verstanden. Was das anbelangt, habe ich immer gewußt, was ich will. Schließlich bin ich ein moralischer Mensch ...«

Tittel fröstelte, erhob sich, und, obgleich der Garten unter der Last dumpfer Hitze seufzte, begann er seinen Paletot mit fiebrischen Bewegungen anzuziehen. Er knöpfte ihn von oben bis unten zu, fuhr in die Taschen und streifte ein Paar alter brauner Glacéhandschuhe über die Finger. Nun zitterte seine Stimme von verhaltener Erbitterung: »Ein einziges Mal bin ich vertrauensvoll und unvorsichtig gewesen in meinem Leben ... Ja, ja ... Und daß Sie es sind, Erna, gerade Sie ..., auf die ich Schlösser gebaut habe! ... Luftschlösser allerdings, wie es sich zeigt ... Eine herbe Lebensenttäuschung und ein unabsehbares Unglück ... ja ja ...«

Und plötzlich zischte er durch die Zähne:

»Sag mir sofort, mit wem du in der letzten Zeit verkehrt hast, du, du ...«

Erna packte Hugos Hände:

»Schweigen Sie! Sie sind ja verrückt!« Und sie flehte: »Der Bub hier ...«

Tittel keifte jetzt hemmungslos auf:

»Du lügst, du lügst! Ich werde mich schon vergewissern ... Es gibt Mittel, dir das Schandwerk zu legen ... Es gibt die Polizei ... du gemeine Person, du!«

Erna riß den Knaben hoch und stürmte davon. Mit schweren Tropfen erbarmte sich jetzt ein Regen der Welt. Hugo rannte, ohne Erna einholen zu können.

Hinterher erscholl Tittels Haß:

»Mein schönes Fräulein, Sie haben mich petschiert ...«

In dem Regenpavillon des Parks fanden sich beide, Hugo und Erna. Das Mädchen weinte nicht, aber ihre Zähne klapperten. Die große, ein wenig schwere Gestalt lehnte keuchend an der Holzwand. Sie flüsterte wie von Sinnen:

»Es ist nicht wahr, Hugo, es ist nicht wahr, was er sagt, um Gottes willen, Hugo, glaub es nicht, es ist nicht wahr!« Auch Hugo keuchte vor Anstrengung, das Rätsel zu lösen. Ach, wie konnte er denn Erna helfen, da er ja nicht verstand, was die Wahrheit, was die Unwahrheit sein mochte! Die Knie der großen Frau zitterten, sie klammerte sich an den schmächtigen Körper des Kindes:

»Es ist nicht wahr, Hugo, aber etwas anderes ist wahr, etwas Furchtbares, ja, etwas Schreckliches kommt, Hugo! Was soll ich tun? Ich muß ins Wasser gehn!«

Scharfe Windstöße töteten den Platzregen. Der aufgeschürfte, durchgewetzte Wolkenhimmel war mit hundert blauen Wunden übersät.

Zu Hause sperrte sich Erna in ihrem Zimmer ein. Hugo las keine Zeile. Er hatte sich in seine breite Schulbank gesetzt und brütete. Daß Tittel ein Schurke war und irgendwelche niedrige Zwecke verfolgte, daran zweifelte er nicht. Erna hatte beteuert: »Es ist nicht wahr.« Was auch immer nicht wahr sein mochte, er glaubte ihr. Welch ein schweres Leben lastete auf ihr! Sie war in irgend eine Verschwörung dieser erwachsenen Männer verstrickt, die das Werkzeug ihrer Absichten wegwarfen, wenn sie es nicht mehr brauchten. Man hatte ja dergleichen schon gelesen. An Zelniks »geheime Verhandlungen« glaubte Hugo nicht mehr. Er vergegenwärtigte sich den kleinen, grausam zuckenden Schnurrbart des Oberleutnants. Gewiß, er war zum Narren gehalten worden. Man hatte schließlich auch manches von Liebe und Liebesleid gelesen, aber ›Liebe und Liebesleid‹, das war etwas Unbestimmt-Prächtiges, wie ein Sonnenuntergang, wie ein Theatervorhang mit Genien, Kränzen und nackten Gliedern, wie das Zusammensingen mantelumwallter Menschen in der Oper, es war etwas, was es gab und doch auch nicht gab. Man nahm dieses Unbegreifliche hin, wie man es hinnahm, daß einen die Mutter ›unter dem Herzen getragen‹ und eines Morgens ›mit Schmerzen geboren‹ hatte. Während Hugo grübelte, ritzte er, wie es seine schlechte Gewohnheit war, mit einem Taschenmesser allerlei Runen in die grüne Platte der Schulbank. Zelnik war immerhin Zelnik. Aber von Tittel war Erna feig und niederträchtig beleidigt worden. Es sah fast so aus, als hätte der Nußknacker aus Tücke diese Szene vom Zaun gebrochen. Nein, nein, es sah nicht nur so aus, sondern ganz sicher steckte verruchte Absicht in Tittels teuflischem Benehmen. Wer konnte sie ergründen? Sollte er, Hugo, seine Eltern bitten, Erna vor drohender Schmach zu retten! Um Gottes willen, das war ja unmöglich! Warum konnte er mit ihr niemals über diese Dinge sprechen? Warum war seine Kehle zugeschnürt vor Scham und Erregung? Nie würde er ein Wort herausbringen. Aber auch sie schwieg ja. Nein, sie hatte doch heute aufgestöhnt. Groß tauchte der Klageruf empor: Ich muß ins Wasser gehn! Hugo gedachte der unglücklichen Liebe jener klassischen Heldinnen, die er kannte. Ach, diese Heldinnen sprachen in herrlichen Versen und der Weihrauch ungewöhnlicher Worte verhüllte köstlich die nackten Tatsachen ihres Schicksals. Bisher hatte Hugo das Verwischte in den Worten geliebt. Man konnte den schreitenden Worten nachträumen wie ziehendem Gewölk. Jetzt aber auf einmal schien alles, alles Gewölk zu sein und Dampf. Man wollte einen geröllübersäten Abhang emporklimmen (eine Erinnerung Hugos) und rutschte immer wieder zurück. Immer weiter rückte die Wahrheit. Der Junge hatte das Gefühl, als wären ihm Nase und Ohren mit dicken Wattepfropfen verstopft. Das erstemal erlebte er die körperliche Verzweiflung, welche die Unerschwinglichkeit aller Erkenntnis hervorruft. Es mußte ja etwas Gräßliches sein, um dessentwillen Erna ins Wasser gehen wollte. Sich in das Meer, in den Ozean stürzen, von einer hohen Klippe herab, weißgewandet womöglich wie Sappho – das war noch zu begreifen. Aber der braune Heimatfluß, das dicke ekelhafte Wasser, aus dem die Typhusepidemien kommen! Oh, alles war Geröll und Gewölk! Die Schulbank umdrängte, umpreßte Hugo von allen vier Seiten wie ein Kerker, wie ein Folterverlies, wie die Kindheit selbst. Einen unfertigen Körper zu haben, den alle (insbesondere Papa) mitleidig belächeln, etwas, das in der Nacht weiterwächst, ohne daß man es merkt! Und alles zu wissen, alles schon erlebt zu haben, alles in sich zu tragen, und doch von dieser mächtigen Fülle nichts zu verstehn, gar nichts! An Ernas Seite dahinzuleben, alltäglich ihr den Körper zur Waschung darzubieten, in der Nacht ihren nackten Frauentritt zu belauschen und doch ihr ewig fremd zu bleiben und niemals ihre Wahrheit erkennen zu dürfen, o Gott, warum!?

Als Hugo am andern Morgen erwachte, stand Fräulein Tappert schon fertig angekleidet im Zimmer. Es fiel dem Knaben auf, daß sie verwandelt, ja unhübsch aussah. Augen und Wangen waren verschwollen, sie duftete nicht frisch wie alle Tage und hatte für Hugo keinen Blick. Sie trieb ihn an – was sie sonst niemals tat –, schnell aufzustehen und sich anzukleiden. Unvermittelt sagte sie, als wäre es eine Sache ohne Wichtigkeit:

»Ich muß heute auf einen Sprung nach Haus gehn. Du kommst doch mit mir, Hugo? Aber sag es niemandem, bitte! Nicht wahr?«

Nach Haus! Dieses Wort berührte Hugo so sonderbar. Erna hatte also ein Zuhause! Bisher war es immer so gewesen, als gäbe es kein anderes Zuhause, als das seine. Natürlich wußte er, daß jeder Mensch, daß jedes Kind in irgend einem Gebäude, in irgend einer Wohnung zu Hause ist. Aber er wußte ja auch, daß Kamele die Wüste durchqueren und in Amerika Indianerstämme leben. Zu Hause, das war ja nur dieses Haus hier, dieses Zimmer mit Schulbank und Turngeräten, die Galerie, die Einfahrt mit der Sänfte, der Speisesaal. Erna hatte zwar manchmal eine Bemerkung über ihre Mutter, ihren gelähmten Bruder gemacht. Aber mochte sie auch in der gleichen Stadt ein Heim haben, in dem er aufgewachsen war, für Hugo hatte es keine Geltung, es bildete eine nebensächliche Vorbereitung auf ihre wahre Existenz, hier, bei ihm, bei seinen Eltern, in dem einzigen, eigentlichsten und endgültigsten Zuhause der Welt. Als er nun hörte, daß ihn Erna in die mütterliche Wohnung mitnehmen wollte, faßte ihn ein leichter Schauer an. Etwas ähnliches mögen Weltreisende empfinden, wenn sie sich anschicken, einen exotischen Tempel zu betreten. Hugos Mutter hatte den jeweiligen Erziehern und Gouvernanten stets eingeschärft, sie sollten es vermeiden, den Knaben in fremde Häuser (von Wohnungen ganz zu schweigen), überhaupt an unbekannte Örtlichkeiten zu führen. Miß Filpotts war soweit gegangen, daß sie Hugo nicht einmal in die Kaufläden mitnahm, wo sie Besorgungen zu machen hatte. Der Arme mußte in solchen Fällen immer in Sehweite der Miß vor der Tür stehen bleiben, ohne sich zu rühren. Jetzt aber winkte ihm zum erstenmal im Leben das Fremde, und in seine Scheu mischte sich nicht nur bange Neugier, sondern auch die Angst, ein strenges Elternverbot in den Wind zu schlagen.

Früher als sonst verließen Erna und Hugo das Haus. So heftig waren die Erlebnisse, die auf den Knaben eindrangen, daß sie (wenn auch Ungeduldige es für unwichtig halten sollten) doch ausführlich berichtet werden müssen. Man erwäge, dieser Elfjährige, der schwertönende Versreden aus dem Stegreif erfinden konnte, war doch nur ein zurückgebliebener Junge, den jeder Sechsjährige aus weniger behüteten und lebensfrischeren Kreisen hätte in allen Dingen belehren können.

Der Andrang des Fremden, der Andrang des Neuen begann schon im Hausflur. Es gab in Ernas Mutterhaus – der Vater war schon ein Jahrzehnt lang tot – nicht nur einen, sondern drei Hausflure, denn dieses ihr lärmendes Zuhause umschloß mehrere Höfe voll regen Lebens, Kindergeschreis und Weibergeschwätzes. Es war übrigens durchaus keine Mietkaserne eines Proletarierviertels, sondern ein stattlich altes, jetzt nicht wenig heruntergekommenes Gebäude, von dessen antiker Würde etliche Schwibbögen, Loggienwölbungen, die dicken Mauern und das gesenkte grasüberwucherte Pflaster Kunde gaben. Früher dürfte es von ein paar wohlhabenden Bürgerfamilien bewohnt gewesen sein, jetzt hatten sich zahlreiche und weit weniger wohlhabende Familien hier eingenistet. Diese Familien und auch der Hausherr bewiesen wenig Sinn für die altertümlichen Schönheiten des Gebäudes, denn die Hofseite jedes Stockwerks war durch umlaufende Eisengalerien verschandelt, die man hierzulande ›Pawlatschen‹ nennt. Von diesen Pawlatschen hing Wäsche zum Trocknen herab und einige besser eingerichtete Parteien bearbeiteten hier ihre Teppiche, Läufer, Steppdecken und Plumeaus mit dem sausenden Klopfer.

In der Finsternis des ersten Flurs, knapp neben dem Aufgang, hing ein sehr großes Kruzifix, zu dessen Füßen eine ewige Lampe brannte und ein nicht minder ewiges Kränzchen aus rosa Papierblumen schwebte. Ein ähnliches, wenn auch kleineres Kruzifix sollte Hugo später in der Wohnung von Ernas Mutter vorfinden sowie einen Öldruck der Madonna und des heiligen Antonius dazu. So war der erste Eindruck, den der Knabe hier empfing, ein religiöser. Seine Eltern waren keine gläubigen Menschen, sehr selten wurde Hugo von ihnen zu einem Gottesdienst geführt. Die letzten Ostern war er nach Rom mitgenommen worden. Im Petersdom hatte er eine Papstmesse erleben dürfen. Aber all dies klargewölbte, feierliche oder glasfenstermystische der verschiedenen Kirchen war ihm nicht fremd, es verbreitete kein heilig-dumpfes Grauen, sondern eine wohltätige Entrückung, es hing undeutlich aber ohne Zweifel mit der komfortablen Welt seines Vaterhauses zusammen. Er war in Rom neben seinen Eltern vor hundert Heiligtümern, Altären, Madonnen und Märtyrern gestanden. Aber Papa sprach knapp und trocken über diese gottgeweihten Bilder und Geräte. Ungewöhnliche Worte fielen wie: ›Manier‹, ›Farbauftrag‹, ›Skurzo‹, ›Quattrocento‹. Es schien ein geheimes Abkommen zwischen Papa und seinesgleichen zu herrschen, wonach die heiligen Gegenstände zumeist respektiert werden mußten, nicht weil sie heilig waren, sondern weil sie einen beglückenden und erhebenden Kennerwert darstellten. Die Eingeweihten sprachen mit selbstbewußten Fachausdrücken von ihnen, deren Gebrauch das Göttlich-Fruchtbare hinter all diesen Dingen heiter und nobel entwirklichte. Wer weiß, vielleicht war der Papst auf seiner Sedia, von Wolken und Pfauenfedern umfächelt, von silbernen Trompeten verkündigt, das herrliche Haupt dieser Eingeweihten. Wo aber war Gott? Gewiß, er lebte in allen Kirchen und auch draußen auf dem Lande, in den Bildstöcken der Kreuzwege, und dort ganz besonders. Aber nirgends hing er schwerer und wirklicher als in der Finsternis dieses Flurs, vom Schein einer Ölfunzel zauberisch-schreckhaft gefleckt. Schamlos intim, allen Bewohnern, allen Vorübergehenden lächerlich nah, hing er in diesem Raum und dennoch hielt er, lang seinen Schatten werfend, furchtbaren Abstand. Er hing lebendiger da, atmender als in jeder Kirche, dieser gelbbemalte, süßlichduldende Leidensmann, von dessen Kunstwerk gewiß niemand sprach. Wie oft hatte Hugo den Christus in Papas Galerie, die wundervolle ausgemergelte Holzplastik aus dem vierzehnten Jahrhundert, angetastet, obgleich es verboten war! Vor dem teuren Gott, den sein Vater gekauft hatte, fühlte er keine Scheu. Diesen hier, Ernas Gott, hätte er nicht zu berühren gewagt. Nicht er gehörte Erna, sondern Erna gehörte ihm an. Jetzt warf er das zuckende Netz seines Schattens über sie. Hugo spürte, wie sie sich verwandelte, wie sie ihm entglitt, ins Fremde einging, in ihr Zuhause.

Ernas Mutter öffnete die Tür des engen schwarzen Vorraums. Hugo stieß an ein Bügelbrett, das an der Wand lehnte. Aus der Küche daneben wölkte ein Geruch der Fremdheit, es roch nach Wasserdampf, Kunstfett und angebrannter Milch. Man betrat die Küche. Auch Ernas Mutter war stark geniert und deckte schnell die Töpfe auf dem kleinen Herde zu, ehe sie den Besuch in die Stube führte. Erna sagte: »Das ist Hugo!«

Die Mutter wiederholte nur: »Also das ist Herr Hugo!« Und sie warf einen unzufriedenen Blick auf ihre rote Küchenhand, ehe sie die Hand des Knaben ergriff. Die Frau stand keinen Augenblick still. Es schien, als wäre sie in ihrem Käfig immerfort auf der Flucht vor etwas. Der Verfolger steckte in ihr selbst. Sie war ein mageres Wesen mit einem dünnen Hals und einem sehr starken Leib, den die vorgebundene Schürze noch gewölbter erscheinen ließ. Wenn sie einen Augenblick stehenblieb, so pflegte sie die unmutigen Hände über diese Wölbung zu falten. Beim Eintritt der Beiden hatte sie beschämt und schnell ein Kopftuch abgenommen. Sie besaß nur wenig Haare, unter dem Grau leuchtete die Haut rosa hindurch. Ihr längliches Gesicht, das eine erstarrte, fast schon gleichgültige Bekümmertheit zur Schau trug, drückte den Wunsch aus: »Bitte haltet mich nur nicht fest! Es ist ja ganz hübsch, wenn ihr da seid und nichts tut. Aber ich werde nicht fertig, ich habe noch alle Hände voll Arbeit. Und erzählet mir um Christi willen nur nichts Neues! Alles Neue ist unangenehm und hält auf. Wie soll ich denn nur fertig werden!«

Erna aber hatte etwas Neues zu erzählen. Mit einer Kopfbewegung deutete sie zur Küche hin. Die bekümmerte Maske der Mutter wurde noch um einen Schatten düsterer. Heimlichkeiten brachten nichts Gutes. Sie lief ruhelos hin und her, sie rückte unzufrieden mit den Dingen auf der Kommode, endlich begann sie eifrig einen Stuhl abzuwischen, den sie dann Hugo anbot. Die Gegenwart dieses apart gekleideten Knaben, von dem ein glänzendes Leben ausstrahlte, machte sie unsicher. Sie empfand angesichts Hugos und ihrer Behausung ein Mißgefühl, das man am besten soziale Scham nennen könnte. Und Hugo selbst empfand etwas ähnliches, und zwar doppelt, von sich aus und von der Frau aus.

Erna und ihre Mutter standen in der Tür zwischen Stube und Küche. Hugo hatte nun Zeit, sich hier umzusehen. Nicht nur das Kruzifix hing an der Wand und ein farbiger Öldruck der Muttergottes mit schwertdurchbohrtem Herzen über dem aufgetürmten Bett, sondern auch etliche vergrößerte Photographien blickten traurig-festlich aus Glas und Rahmen. Dies waren gewiß die Bilder der Familien-Toten. Man nahm Gott und die Toten hier furchtbar ernst. Der höchste, rangälteste Tote unter ihnen, Ernas Vater, beherrschte streng den ärmlichen Raum. Ein gerade aufgerichteter Mann im ernsten Salonrock, dessen glattes Dunkel mit dem Verdienstkreuz am roten Bande geziert war. Er ertrug es nur ungern, daß ein leichtfertiger Künstler seine Photographie koloriert hatte, einen ewigen Frühlingshimmel hinter sein schlichtes Haupt bannend. Hugo spürte, wie das Bild ihn forschend und voll lebendiger Ablehnung anblickte.

Gott und die Toten! Wie anders doch war es zu Hause. Dort sprach man nicht von Gott und von den spärlichen Toten, die als kleine Photographien auf Papas Schreibtisch standen, auch nicht. So erschien es wenigstens Hugo in dieser tiefsinnigen Minute. Überhaupt es schien, als ob das Leben zu Hause sich selber nicht ganz ernst nähme. Ein heiterer wohlbehüteter Rest von Unernst färbte alles schön und angenehm. Da war zum Beispiel das, was die Menschen Tod nannten. Hugo wußte zwar, aber glaubte es nicht, daß er einmal werde sterben müssen. Ebensowenig glaubte er an den künftigen Tod seiner Eltern. Tod war etwas, das zu seinem weißen Zimmer, zu Papas Galerie, zu Mamas Atelier und ihren Toiletten nicht passen wollte. Auf der Straße sah man oft Begräbnisse. Riesige Leichenwagen, ungeschlacht schwankend, schwarzglänzend von widerlichem Lack, mit Türmchen, Schnörkeln, Kronen geschmückt, von Quasten und Draperien umschlottert, ein Anblick des Grauens und Ekels. Wie Stanniolsilber schimmerte die häßliche Farbe des Sarges zwischen den lastenden Kranzspenden hindurch. Und diese Kränze selbst, widernatürlich auf Draht geflochtenes Grün, sie waren eine Herabwürdigung der Astern und Chrysanthemen, die in dem engen Zopf aus Rost und Moos erstickten. Der Tod war etwas ganz und gar Unelegantes. Der Tod war dasselbe wie die altdeutsche Kredenz in Frau Tapperts Stube. Er kam für Hugo und seinesgleichen kaum in Betracht. Bevor man starb, mußte man doch krank werden. Vor den Krankheiten aber standen die Ärzte und alle möglichen weißgekachelten und vernickelten Einrichtungen der Hygiene. Wenn es Hugo recht bedachte, so hatte auch die Krankheit, wie er sie kennengelernt, nichts mit dem Tode zu tun. Er liebte ja den Fieberzustand, währenddessen es sich so berauschend träumen ließ. Ihm fielen jetzt die illustrierten Klassikerausgaben ein, die er besaß. Ja, darin waren Krieg, Zweikampf, Mord, Tod aufgezeichnet. Aber diese Art hinreißenden Todes, sie gehörte in dasselbe Kapitel wie ›Liebe und Liebesleid‹. Dies gab es und gab es nicht. Man vergoß Tränen der Schönheits-Rührung, während man sich, lesend und genesend, im Bette wohlig rekelte. Hier aber, in dieser Stube und in diesem Leben, gab es alles, was es gab.

Und Erna? Sie gehörte hierher! Sie war in dieser Stube groß geworden unter der Herrschaft Gottes und der Familien-Toten. Sie war die Tochter dieser Frau, die ihre Hände über den gewölbten Leib faltete.

Wieso aber kam es, daß die Tochter dieser alten Frau immer hübsche kleidsame Gewänder trug, daß sie ihm sogar besser gefiel als Mama, deren Schönheit doch von allen Leuten gepriesen wurde? Die Alte hier schlurfte in Filzpantoffeln. Aber Erna verwandte – das hatte Hugo gleich in den ersten Tagen der Bekanntschaft mit Wohlgefallen bemerkt – die höchste Sorgfalt auf ihr schönes Schuhwerk. Für Hugo bedeuteten schöne Frauenschuhe den Inbegriff alles dessen, was entzückend war und ihn anheimelte. Erna pflegte die ihrigen – es waren fünf Paare – straff auf Leisten gespannt, offen auf eine niedrige Etagere zu stellen. Hugo ging niemals vorbei, ohne mit der Hand über das Leder zu streichen. Und doch, trotz dieser eleganten Schuhe, gehörte sie nicht zu ihm, nicht in sein helles Zimmer, sondern hierher. Sichtbar war sie dem lastenden Ernst dieses Hauses verfallen, das nicht mit sich spaßen ließ. Hugo sah plötzlich den augenlos funkelnden Tittel vor sich und dachte an den schmutzigen Fluß, in dessen Fluten Erna nun bald sterben würde.

Ehe Frau Tappert mit ihrer Tochter in der Küche verschwand, trat sie nochmals ins Zimmer und fragte mit verlegenem Blick und mit geziertem Ton den Knaben:

»Herr Hugo, werden Sie nicht Hunger bekommen? Darf ich vielleicht mit irgend etwas aufwarten?«

Hugo sprang höflich auf:

»Ich danke vielmals, gnädige Frau, ich habe keinen Hunger ...«

Dabei verbeugte er sich, die Hand auf dem Herzen, und wurde wegen des Ausdrucks ›Gnädige Frau‹ rot, der ihm unpassend schien und beleidigend wirken konnte. Erna aber fuhr gleich dazwischen, zornig, als hätte sich ihre Mutter etwas vergeben:

»Wo denkst du hin, Mama? Hugo darf niemals etwas außer Haus und zwischen den Mahlzeiten zu sich nehmen.« Daraufhin folgte die alte Frau der Tochter schnell in die Küche nach, vergaß aber die Tür ins Schloß fallen zu lassen. Durch den Spalt konnte Hugo hie und da ein Wort erlauschen. Aber das Erhorchte, die plötzlich abreißenden Gesprächsfetzen waren nur angetan, seine wirren Gedanken über Ernas Unglück noch mehr zu verwirren. Er hätte ja in der Stube umhergehen und sich immer wieder dem Türspalt unauffällig nähern können, um besser zu hören. Aber er blieb aufrecht und steif sitzen. Seine Hände lagen regungslos auf den nackten Knien. (Zu seinem Mißvergnügen bestand Mama darauf, daß er noch immer kurze Strümpfe trug, obgleich er schon ins Zwölfte ging.) Er wandte seinen Blick nicht von Ernas leichtfertig koloriertem Vater, der die rosarote und blaugeäderte Faust auf eine verschnörkelte Tischkante stützte und des Knaben Blick feindselig und unabwendlich erwiderte.

Erna schien zu weinen. Hugo hatte sie noch niemals weinen gehört. Er kannte nur die jähen, gehetzten Ausbrüche der Schweigsamen und Schweren. Jetzt aber drang ein kindisch plätscherndes Klagen aus der Küche, eine ganze Weile lang, und immer im gleichen Ton. Die Mutter schwieg. Nur ihre unruhigen Hände hörte man laut mit dem Geschirr hantieren. Erna war zu Ende. Da vernahm Hugo Frau Tapperts Stimme:

»Gib mir den Mörser herunter!«

Dann wieder Schweigen, Zuckerstoßen, Küchengeräusch und nach einer Weile:

»Der wievielte Monat sagst du?«

Und Erna, aufschluchzend:

»Im dritten ...«

Die Mutter sprach einige mißbilligende Sätze, aber Hugo verstand nur:

»Warum hast du so lange gewartet? ...«

»Mein Gott«, entgegnete Erna, »ich hab's halt immer verschoben«, und sie fing wieder zu weinen an.

Hugo saß steif auf dem Stuhle, den ihm Frau Tappert angeboten hatte. Ohne daß er wußte warum, nisteten sich Mamas Worte in sein Bewußtsein ein, mit denen sie seine Frage, wie er zur Welt gekommen sei, jüngst beantwortet hatte: »Ich habe dich unterm Herzen getragen, Hugo ...« Aber auf nähere Erklärungen wollte sie sich dann nicht mehr einlassen und behauptete, sie müsse einen Brief schreiben. Hugo hatte es bisher vermieden, sich dieses ›Unterm-Herzen-getragen-werden‹ körperlich vorzustellen. Es war ein peinlicher, ja unappetitlicher Gedanke, der sich ihm aber jetzt, gerade in diesem Augenblick, quälend aufdrängte. Überhaupt, die Frauen schienen vielerlei Heimlichkeiten und auch Tücken zu besitzen. Man bemerkte gar manches. Was bedeuteten die hundert Fläschchen, Tiegel, Dosen auf Mamas Toilettentisch, wozu brauchte sie all das Kautschukzeug, auf das man stieß, wenn sich die Gelegenheit ergab, ungezogener Neugier voll, in verschwiegenen Schubladen zu stöbern. Wozu lag Mama ganze Tage lang im Bett, ohne krank zu sein? Hugo haßte diese verdachtserfüllten und unauflöslichen Betrachtungen. Er heftete mit strenger Mühe seinen Blick auf die Kommode, wo unter allerhand Porzellangerümpel zwei alte blutrote Rubingläser standen. Die peinlichen Vorstellungen wichen. Stärker erhoben sich nun die Stimmen nebenan. Frau Tappert sagte:

»Ich werde halt zur Seifert gehn ...«

Erna schien in immer größere Erregung zu verfallen. Sie flüsterte zwar, aber ihr Geflüster wurde immer schärfer und bitterer. Da klagte auch die Mutter, nun selber trostlos: »Kind, Kind!«

Wie? Also auch Frau Tappert konnte ihrer Tochter nicht helfen? War Ernas Schicksal rettungslos besiegelt? Der trübe langsame Fluß mit den vielen Brücken wartete. Hugo erhob sich und durchquerte scheu den Raum. Er ging auf Zehenspitzen, als hätte er Angst, jemanden zu wecken, Ernas Vater wohl, den kolorierten Toten, der ihn nicht aus dem Auge ließ. Während dieses vorsichtigen Ganges begann ein Entschluß in ihm zu keimen, vor dem er selber erschrak. Doch es zeigte sich kein anderer Ausweg. Durch den engen Türspalt drang schärfer jetzt Ernas Stimme: »Wer soll das bezahlen?«

»Stell die Kartoffeln auf«, gab die Mutter zur Antwort.

Erna wich nicht zurück:

»Ich hab euch Monat für Monat alles gegeben, bis auf den letzten Heller ...«

Statt einer Erwiderung klapperten nun vielsagend genug die Töpfe und Deckel. Erst nach einer Weile erklang Frau Tapperts ruhige, ihres Rechts bewußte Stimme:

»Für mich, das weißt du ja, brauch ich nichts. Aber denk an Albert!«

Hugo blieb stehen und schloß die Augen. Wenn er von alledem auch nichts verstand, eines wurde ihm klar, daß Mutter und Bruder von Erna lebten, von dem Gelde lebten, das sie in dem Haus seiner Eltern verdiente. Der keimende Entschluß regte sich mächtig in seinem Herzen. Zugleich aber zog es ihn zu den beiden Frauen in der Küche und lautlos schlich er näher. Aber jetzt fuhr er zurück, denn die vollkommen verwandelte Stimme der alten Frau, höhnisch haßzitternd, sie traf ihn wie ein Schlag:

»Was willst du? Die Männer!? Die machen einen nur krank, so oder so und nachher verlangen sie selber noch Geld.«

Hugo saß nun wieder artig auf seinem Stuhl und ließ den Kopf hängen. Vor seinem inneren Auge zerflossen der schöne Zelnik und der häßliche Tittel in eine einzige verzerrte Figur. Hüftenschlank und brillenblitzend näherte sie sich Fräulein Erna, die einen Krug unter die Wasserpalme des Springbrunnens hielt. Die Vision wurde von schweren Schritten unterbrochen. Albert kam heim.

Erna hatte von ihrem Bruder einmal gesagt, er sei ein Krüppel, seitdem er mit zwölf Jahren die Kinderlähmung bekommen habe. Krüppel, das war ein furchtbares Wort, es kostete Überwindung, diese schamstachligen Silben auszusprechen. Warum hatte Albert die Kinderlähmung bekommen und Hugo nur den Scharlach ohne bleibende Folgen? Albert ging an Stöcken. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Er mußte sie weit und mit Gewalt vom Leibe schleudern, dann erst fielen die Füße hart auf und faßten Stand. Der junge Mann war mit leidenschaftlichem Eifer in das Problem seines mühsamen Ganges vertieft. Nichts anderes kümmerte ihn als sein Schritt, der laut den Boden stampfte. Er strebte zu dem Lehnstuhl am Fenster, dort blieb er stehen, nahm die beiden Stöcke in die rechte Hand und ließ sich nieder. Seine Stirn schimmerte feucht. Ein schweres Werk war getan. Jetzt erst bekam er Augen, blaue, ein bißchen lauernde, und erblickte seine Mutter und Erna, die aus der Küche getreten waren:

»Na, Erna, das ist aber eine Auszeichnung! Ich hoffe, daß es eine Auszeichnung ist und nichts Schlimmeres.«

Das Fräulein stellte wiederum den Knaben vor:

»Dies ist Hugo!«

Albert deutete eine Bewegung an und sah spöttisch drein:

»Dein Zögling, Erna, wie? ...«

Er reichte Hugo die Hand hin, der sie, zum Lehnstuhl gehend, mit einer Verbeugung erfaßte. Doch kaum war diese Begrüßung erfolgt, als sich Albert von Hugo wegwandte und das gerötete Gesicht der Schwester, den unsicheren Blick der Mutter bemerkte:

»Was habt ihr?« fragte er.

Frau Tappert begann ihren sinnlos sorgenden Rundgang durchs Zimmer, währenddessen sie mit der Schürze über die Kanten der Möbel fuhr und den Standort einiger Dinge vertauschte. »Ach was«, brummte sie, »gar nichts haben wir. Was sollen wir denn haben?« Mit eiligen schuldbewußten Fingern steckte Erna ihrem Bruder eine Schachtel mit Zigaretten in die Tasche. Albert tat, als merke er es nicht, wurde rot, bekam eine unwillige, ja gehässige Miene, beherrschte sich aber.

In dieser Sekunde überkam den Knaben ein sonderbares Erlebnis. Er versenkte sich in Alberts Gesicht, er verglich sein mit Ernas Antlitz. Unendlich ähnlich war eines dem andern. Dasselbe Haar, derselbe schwerfällige Mund, bei Erna stumm, bei Albert trotzig. Da gewann Hugo diesen abweisenden, gar nicht freundlichen Menschen auf einmal stürmisch lieb. Dies war aber noch nicht das Wesentliche. Etwas ganz und gar Verrücktes trat hinzu. Hugo liebte und bewunderte Albert plötzlich, weil er ein Krüppel war. Eine blitzschnelle abgründige Empfindung: Der Leidende ist mehr wert als der Glückliche. Erna und Frau Tappert behandeln den Albert wie einen bedeutenden oder vornehmen Mann. Gebrechen, das ist etwas Hervorragendes, fast Heiliges. Blitzschnelle, abgründige Empfindung, wohlgemerkt, und kein Gedanke! Aber diese Empfindung sollte Hugo durchs Leben begleiten, ohne daß er später ahnte, aus welcher Stunde sie stammte.

So tief hatte sich Hugo in Alberts Gesicht verloren, daß er es gar nicht bemerkt hatte, daß Erna dem Bruder seine Vortragskunst und sein Gedächtnis rühmte. Er war immer wieder erstaunt darüber, wie demütig die schöne Schwester, die doch dieser Familie all ihren Verdienst hingab, um die Gunst des Krüppels buhlte. Albert wandte sich an Hugo:

»Als ich so alt war wie Sie, habe ich Ingenieur werden wollen.«

Seine Mutter fügte stolz hinzu:

»Ehe er das Unglück hatte, war er in der Realschule immer der Beste. Sein Vater war aber auch ein sehr gebildeter Mensch ... Bei der Eisenbahn.«

Albert unterbrach sie wütend: »Schweig, Mutter!« Hugo blinzelte zu dem rangältesten Toten hinauf, der seine rosagemalte Faust auf dem verschnörkelten Tisch ohnmächtig zu ballen schien. Erna aber bemühte sich immer schmeichlerischer um ihren Bruder:

»Was macht deine neue Erfindung?«

Albert hielt eine Antwort für überflüssig. Ernas Gesicht zeigte – als wäre alles Unglück vergessen – einen kleinen Zug von Prahlerei, als sie jetzt nachdrücklich Hugo belehrte:

»Du mußt wissen, er ist ein großer Erfinder und besitzt schon zwei Patente! ...«

Mit geringschätziger Ungeduld überhörte Albert das weibliche Lob und wandte sich, Mann zu Mann, an Hugo:

»Befassen Sie sich mit technischen Dingen?«

Der Knabe spürte den bedrückenden Raum um sich, den Raum der Fremdheit, der jetzt überfüllt zu sein schien von Menschen, von ihren Sorgen, Lügen, Hinterhältigkeiten. Zugleich aber war es eine merkwürdig süße Befriedigung, daß ihn Albert, der leidende Mensch, durch sein Vertrauen auszeichnete. Ob er sich mit technischen Dingen befasse? Schuldbewußt gedachte Hugo der Elektrisiermaschine und des anderen physikalischen Spielzeugs, das ungenützt in einem seiner Wandkästen lag. Doch hätte er um alles in der Welt dies dem Techniker Albert nicht eingestehen mögen, daß er die einzig wichtigen und manneswürdigen Realien zugunsten seiner Lesewut vernachlässige. So hauchte er denn ein lügnerisches: »Ja.«

Daraufhin kommandierte Albert: »Bring das Modell, Mutter.«

Frau Tappert erschrak und zögerte, denn sie war gerade dabei, die Teller des Mittagessens auf den Tisch zu stellen. Alberts Gesicht verzerrte sich, er schloß die Augen. Da stellte die Mutter eilig alles hin, kniete nieder und zog aus einer Lade ein großes Gewirr von Drähten, Spulen, Rädern, Batterien hervor, das sie sorgfältig auf den Tisch hinbreitete. Nun befand sich ein neues unverständliches Wesen in dem überfüllten Raum. Albert dachte nicht daran, Sinn und Zweck seiner Erfindung klarzulegen. Mühsam erhob er sich und trat mit dem belästigten Gesicht eines Virtuosen, dem man eine unerwünschte Zugabe abzwingt, an den Tisch. Mit müden Händen begann er das Ding in Ordnung zu bringen. Kaum aber hatte er die ersten Griffe getan, als er schon die Arbeit unterbrach und an Hugo die Frage stellte:

»Sie wissen natürlich, was Wechselströme sind?« Hugo schlug die Augen nieder und schwieg. Wechselströme? Jeder dieser erwachsenen Herren besaß einen Sack voll ungewöhnlicher Worte: Papa, Zelnik, Tittel und nun auch Albert. Unter all diesen Worten stellte sich Hugo mancherlei vor, aber man konnte es nicht aussprechen. Was seit einer Stunde ihm kalt und heiß über den Rücken lief, vielleicht war dies ein Wechselstrom. Oder dieses Zimmer hier war voll von Wechselströmen. Albert aber kümmerte sich nicht um diese heimlichen Überlegungen, sondern wiederholte, sehr spöttisch, seine Frage:

»Sie wissen also nicht, was Wechselströme sind?«

Der Geprüfte senkte den Kopf immer tiefer, fühlte aber den Strom von Lebensvorwurf, ja Haß, der aus des Krüppels Blick ihn traf:

»Wenn Sie diesen einfachen Begriff nicht kennen, ist natürlich alles umsonst. Aber ein junger Mann in Ihrem Alter und in Ihren Verhältnissen müßte eigentlich schon wissen, was Wechselströme sind. Sie gehen ins Gymnasium, nicht wahr? Die Anfangsgründe der Elektrizität gehören zum Lehrstoff der Unterklassen. Aber natürlich! Die jungen Herren aus den besten Kreisen haben keine Ahnung von der Induktion.«

Er schien die ganze Erfinderei satt zu haben und schob mit einer Handbewegung alles zusammen. Und ohne sich umzusehen, herrschte er die Frauen an:

»Was habt ihr beide vorhin gehabt?«

Erna lachte: »Ich bitte dich, Albert ...«

Aber der Bruder schrie jetzt:

»Gut! Ich weiß ja, daß ich hier der Niemand bin! Ich weiß ja, daß ich von euch nur geduldet und ausgehalten werde! Ihr seid zu gar nichts verpflichtet. Jeder Bissen, den ich esse, würgt mich. Aber alles wird anders werden. Ihr sollt noch staunen. Bis dahin werde ich mich halt umsehen müssen ...«

Die letzten Worte hatte Albert jammernd gesprochen.

Erna führte ihn zärtlich zu seinem Lehnstuhl zurück. Ihre Augen schimmerten, aber ihr Gesicht war fröhlich:

»Es ist wirklich gar nichts, Albert ... Wir haben doch nur ein bißchen getratscht, Mama und ich ... Warum machst du dir so schlechte Gedanken, Albert? ... Er sekkiert uns immer, Mama, was? ... Aber jetzt los, Hugo! ... Adieu, ich komm bald wieder ... Und laß es dir gut gehn, Albert.«

Frau Tappert, immer hin und her wandernd, als ginge sie die Szene nichts an, hatte den Suppentopf gebracht. Beim Abschied spürte Hugo, wie Alberts Hand vor Kränkung zitterte.

An der Wohnungstür wartete schon die Mutter ängstlich. Das Mißtrauen des armen Sohnes war ihre Hölle. Sie flüsterte zwar, aber Hugo konnte deutlich ihre Worte verstehen:

»Komm heut nachmittag wieder ... Er wird nicht zu Hause sein ... Und in der nächsten Woche, ... nun, wir wollen sehn ... Ich spring am Abend zur Seifert hinüber ... Hoffentlich kannst du dir ein paar Tage Urlaub nehmen.«

Wieder finstere, krachende Holztreppen! Wieder ein schreiender Hof! Wieder der mächtige schattenwerfende Christus im Flur, unter dessen göttlicher Herrschaft sich die Schicksale der Mieter so unnachlässig ernst und wirklich gestalteten. Hugo trat, tieferschöpft, an Ernas Seite in den wilden Mittagssonnenschein.

Was nur hatte ihn so heftig angegriffen, daß er kleine stolpernde Schritte machte? Was denn war ihm in dem fremden Hause Bedeutsames begegnet, daß ihm jetzt eine Traumes- oder Zauberlast von den Schultern glitt? O nein, gar nichts Bedeutsames oder Besonderes war ihm begegnet. Er hatte eine beschränkte Stube erlebt, in der sich Bett, Tisch, Kommode, Kasten, Sofa, Tote und Heilige aneinander drängten. Die Luft dieser Stube verdarb ein unangenehmer Speisendunst, der vom Küchenherd nebenan herschwelte. All die vielen Wohnungen dieses Hauses, an denen man vorbeikam, rochen gleichsam aus dem Mund. Er hatte eine alte Frau kennengelernt, die Erna Mama nannte, die aber Filzpantoffeln und Schürze trug wie ein schlechter Dienstbote und kaum mehr Zeit fand, vor dem Besuch ihr Kopftuch zu verbergen. Diese Mama war doch gar keine Mama, sondern eine Mutter. Er hatte ferner Ernas Weinen gehört und einige dunkle Fetzen eines erregten Gespräches vernommen. Ob Frau Tappert ihrer Tochter würde helfen können, das blieb freilich höchst fraglich. Sie hatte sich nach Ernas Geständnis nicht unglücklicher und verzweifelter gezeigt, als sie schon vorher Hugo erschienen war. Was bedeutete diese kummervolle Unruhe, welche die alte Frau immer umhertrieb und sie zwang, unaufhörlich sinnlose Handgriffe zu machen? Kaum einen Augenblick lang stand sie still, aber auch dann zuckte es in den roten Küchenhänden, die sie über dem vorgewölbten Leib halten mußte, damit sie endlich einmal Ruhe gaben, diese alten Arbeiter! Ja, zu Tode abgearbeitet schien die Frau Tappert zu sein, so tödlich abgearbeitet, daß sie Leerlauf und Ruhe nicht mehr ertrug. Hilfe von ihr? Niemals! Hugo hatte auch Albert kennengelernt, den Krüppel. Den Vorwurf in Alberts Augen hatte er sogleich verstanden und auf sich bezogen. Er schämte sich, daß der Kranke ihm etwas vorzuwerfen habe, und gab diesem Vorwurf recht. Wie schrecklich, daß er sich blamiert hatte, daß er nicht wußte, was Wechselströme sind. Aber hinter diesen Wechselströmen spürte Hugo noch einen anderen, weit schwereren Vorwurf, der ihn mit einem unbestimmten Schuldgefühl erfüllte. Ihm war zumute, als hätte er Albert irgend ein Unrecht zugefügt. Auch die Mutter und Schwester des Unglücklichen schienen etwas Ähnliches zu empfinden, denn sie behandelten ihn mit verehrender Scheu und ließen sich alles bieten. Konnte es aber auch, trotz seines herrisch-gekränkten Wesens, einen verehrungswürdigeren Menschen geben als Albert, den Erfinder?!

Und über Albert und Frau Tappert, über die Toten und Heiligen, ja selbst über Erna stülpte sich diese Stube, diese rauchdurchwirkte gedrückte Luft, die so anders war als die Luft zu Hause ...

Nichts Bedeutsames, nichts Besonderes hatte Hugo erlebt. Und doch, er fühlte sich krank und zerschlagen. War im gewöhnlichsten Alltag denn noch etwas Entscheidendes mit ihm geschehn? Bisher hatte er gemeint, die ganze Welt sei eine Abwandlung des ihm Eignenden, seines Lebens, seines Zuhause. Die Welt? Phantasiegewölk der vielen Bücher, und im Mittelpunkte er selbst, in seinem Bette sich räkelnd, lesend. Heute zum erstenmal war ihm das Beklemmend-Andere, das Fremde entgegengetreten.

Eine kleine, stickige Wohnung, weiter nichts!

(Aber war es soviel mehr, was der junge Königssohn Gautama vor der Parkmauer des väterlichen Palastes erblicken mußte, um von seiner Welt abzufallen? Ein Bettler, ein Leichenzug. Weiter nichts!)

Immer schwerer, immer betäubter ging Hugo dahin. Erna war ihm um mehrere Schritte voraus. Wie schöngekleidet erschien sie doch! Die Männer blickten sich alle nach ihr um. Kleine Lackschuhe blitzten an ihren Füßen. Kein Schatten ihrer Gestalt erinnerte an die Mutter, an das dumpfige Zimmer, an das übervölkerte Haus. Und dabei schenkte sie alles, was sie erwarb, ihrer Familie. Wußten diese niederträchtig-egoistischen Herren wie Zelnik und Tittel, welch einen Engel sie mißhandelt hatten? Ahnten diese Herren, daß die Gedanken, die Erna so rasch vorwärts rissen, vielleicht dem Selbstmord galten?

Hugo versuchte es nicht, die Dahinschreitende einzuholen. Gerne blieb er ein Stück zurück, um Erna, die ein unwiderrufliches Fatum vereinsamte, mit wehmütig-entzücktem Auge zu umfassen. Da niemand auf der Welt dem Fräulein beistehen konnte, so mußte er, Hugo, etwas unternehmen, um sie zu retten.

Schmerzlich war nun alles verändert, auch die Straße. Vor kaum zwei Stunden hatte Hugo eine wohlig-nichtssagende Welle von Farben, Geräuschen und Menschenbildern durchquert, jetzt begab sich das ganze eilende Mittagsleben wie auf einem Meeresgrund, niedergezogen von schweren Gewichten. Feindselig alle Gesichter, abweisend jede Gestalt. Fräulein Erna blieb bei einer Menschengruppe stehn. Auf der Fahrbahn war ein Pferd zusammengestürzt und lag schweratmend auf dem Pflaster. Der Kutscher hatte es von dem gewaltigen Lastwagen abgeschirrt, auf dem lang überhängende Eisentraversen leise schwankten. Nun stand der Mann, auf seine Peitsche sich stützend, ruhig da, redete mit anderen müßigen Männern, rauchte seine Pfeife und schien das weitere Schicksal des Tieres für ein Schauspiel zu halten, das einer sachgemäßen und unbeteiligten Betrachtung wert war. Der Ausdruck des todesgierig an die Erde geschmiegten Pferdekopfes zeigte die tief-dankbare Gleichgültigkeit des Endes. Das große gute Auge blickte erlöst und mit Gott einverstanden in den dunstigen Sommerhimmel. Dieser ruhevolle Leidensblick brachte Hugo eine Botschaft, genau so wie gestern der schleppende Sterbensgang der fliegenumschwirrten Kröte. Es war eine Verkündigung aus den Tiefen des Lebens, die einzig und allein ihm galt. Er verstand sie nicht, aber seine Seele verstand, daß sie angerufen war. Und für einen Augenblick wurde Hugo weit entrückt von Erna, von Ernas Geschick, von Frau Tappert, von Albert, von dieser Straße und dem gestürzten Pferd. Er stand am Strande von Sorrent (die Osterreise mit den Eltern) und sah die wilden Tierrudel der Brandung, die an den Klippen emporsprangen und sich mit ihren weißen Tatzen immer wieder festpranken wollten, unermüdlich und vergeblich.

Fräulein Erna hatte sich indes aus dem Haufen der Zuschauer gelöst und ging weiter, ohne sich um Hugo zu kümmern. Ehe er ihr nachlief, blickte er noch einmal zur Fahrbahn, um von dem armen Gaul Abschied zu nehmen. Der Kutscher, der vorhin so hartherzig erschienen war, kniete jetzt bei seinem Tier und schob liebevoll einen Sack unter den absonderlich langen Pferdekopf.

Auch auf dem Rest des Weges sprach die Bonne mit ihrem Knaben kein Wort. Als sie aber um die letzte Straßenecke bogen und Hugos reizendes Vaterhaus in Sicht kam, beschloß er mit einem nagenden Bangen im Herzen, aber unabänderlich, jene Idee, die ihm heute eingefallen war, zu verwirklichen. Es war eine sehr naheliegende und sehr verhängnisvolle Idee.

Da Fräulein Tappert sich für den Nachmittag beurlaubt hatte, entfiel der übliche Spaziergang und Hugo – er hatte es selbst so gewünscht – saß in ihrem kleinen Salon ganz allein bei Mama. Der Junge blinzelte die vielen hellen Kleinigkeiten dieses Raumes mit halbgeschlossenen Augen an. Mamas Antiquitäten, Dosen, Tassen, Gläser, Miniaturen, waren idyllisch freundliche Wesenheiten im Gegensatz zu Papas hochmütigen Altertümern. Auf dem weißen Tischchen lag ein eben aufgeschnittener Tauchnitzband. Hugo las den Titel: ›The sorrow of Satan by Mary Corelli.‹ Zwischen Mamas Gesicht und dem seinigen breitete sich ein Rosenstrauß in einer Vase aus. Hugo empfand das Bedürfnis, sich und zugleich auch Mama hinter diesen Rosen zu verstecken. Alles, dieser Salon, die Blumen, Mama, er selbst erschienen ihm heute so anstrengend neu, so ungemütlich anders als sonst. Er setzte sich hinter dem Strauß zurecht, damit die Rosen sein Gesichtsfeld ausfüllten und runzelte die Stirn. Nichts sollte ihn ablenken. Um für Erna zu kämpfen, mußte er sie ja, zu Teil wenigstens, verraten. Wie bitter schwer war das. Er konnte keinen Anfang finden. Mama erkannte bald, daß ein Kampf in ihrem Kinde vorgehe, sie sah die Denkrunzeln auf seiner Stirn, das wechselnde Erröten und Erblassen. Erschrocken stand sie auf, fuhr mit der Hand unter Hugos Hemdkragen, ob er kein Fieber habe, und fühlte seinen Puls. Zugleich aber wußte sie, daß diese körperliche Besorgnis nur eine Geste ihres eigenen Schuldgefühls sei und daß dem Knaben nichts fehle. Selbstvorwürfe, ja sogar eine Art von Reue brachen in ihrer Seele auf, Wallungen, die ihr nicht neu waren, die sie aber bisher immer mit glaubwürdigen Ausreden vor sich selber vertuscht hatte. Das Kind war ihr fremd geworden. Dieses strenge Jungengesicht, das angespannten Willens einer unhörbaren Stimme zu lauschen schien, kannte sie nicht mehr. Gestern zwar hatte sie noch Auftrag gegeben, Hugo auf eine bestimmte Art das Haar scheren zu lassen. Der schöne Kopf des Jungen sollte mit dem neuen College-Gewand in Übereinstimmung gebracht werden. Wie häßlich und äußerlich erschien ihr jetzt diese eitle Fürsorge. Um solche Dinge kümmerte sie sich, während sie die Seele ihres Sohnes andern Menschen überließ. Nun, die Folgen hatte sie sich selber zuzuschreiben. Hugo gehörte nicht mehr ihr.

Der Teetisch wurde hereingeschoben.

Sie fragte sich nun, was für ein peinliches Gefühl es sei, das sie unsicher mache. So lächerlich es klingt, sie konnte sich's nicht verhehlen, daß es Verlegenheit war, Verlegenheit ihrem Kinde gegenüber, das so streng, so verschlossen dasaß! Und nicht wie eine Mutter, sondern wie eine schuldbewußte Geliebte, die den Mann versöhnen will, begann sie für den Knaben zu sorgen, ihm Tee einzugießen und Kuchen vorzuteilen.

Hugo aber, der die Tasse schon in die Hand genommen hatte, stellte sie wieder hin und sagte unvermittelt:

»Mama, ich muß dich etwas fragen ...«

Und nach einer herzklopfenden Pause der letzten Entscheidung:

»Sind die Tapperts – ich meine Erna – sind das arme Leute?«

Mama war ein wenig erstaunt. Dann dachte sie: Es ist eine Kinderfrage, und erwiderte:

»Arme Leute? Nein, arme Leute sind es gewiß nicht. Sie leben wohl nur in kleinen Verhältnissen.«

»Wer aber sind dann die armen Leute?«

Mama ertappte sich dabei, daß sie dies selber nicht recht definieren könne. Für alle Fälle zählte sie auf:

»Arme Leute sind zum Beispiel Arbeiter, die keinen Verdienst haben, Obdachlose oder Waisenkinder ... Aber Fräulein Erna hat doch etwas gelernt, sie hat Prüfungen abgelegt, sie hat ein Seminar absolviert, sie ist Erzieherin geworden, sie muß sich ihr Brot selbst verdienen ... Von solchen Menschen sagt man, daß sie in kleinen Verhältnissen leben.«

»Und wir, wir sind reiche Leute, Mama, nicht wahr?«

»Aber Hugo, ich finde, daß du sehr unhübsche Fragen stellst! Kommt es denn darauf an? Es kommt auf andere, viel wichtigere Dinge an, auf Geist, Bildung und Seele.«

Die eigene Antwort erzeugte in Mama ein deutliches Mißgefühl. Sie wußte, daß sie der einfachen Frage Hugos ausgewichen war und statt einer ruhigen Erörterung dieser Dinge auf törichte und verlogene Weise moralisiert hatte. Insbesondere die Zusammenstellung von Geist, Bildung und Seele in Erwiderung von Hugos sozialer Neugier störte sie als feige Banalität und erzieherischer Fehler. Hugo aber, der gar nicht recht hingehört, wiederholte: »Kleine Verhältnisse ...«

Er lehnte sich zurück und richtete seinen Sinn auf dieses Wort. Mit Frau Tapperts Wohnung also war die Welt nicht zu Ende. Hugo sah deutlich eine sonderbare, schier unendliche Zimmerflucht vor sich. Und Erna entfernte sich, indem sie langsam von Kammer zu Kammer schritt. Die Türen, durch welche sie hindurchgehn mußte, wurden immer ärmlicher und niedriger. Sie konnte nicht hindurch, ohne sich zu bücken. Vielleicht war der letzte Raum die Totenkammer. Da sagte Hugo: »Ich glaube doch, daß es arme Leute sind.«

Mama seufzte: »Wie kommst du darauf, Hugo?«

Hugo versuchte die Antwort zu überlegen. Aber er hatte keine Macht über sein Denken:

»Erna gibt ihnen doch ihr ganzes Geld, alles, was sie bei uns verdient ... Weißt du, es muß wegen Albert geschehen.«

Und dann gestand er: »Wir waren ja heute dort ...«

»So«, sagte Mama, sehr unangenehm berührt. Sie litt an Zwangsvorstellungen der Reinlichkeit. Alles Fremde, zumal wenn es einer geringeren Lebensklasse angehörte, erschien ihr als ›unhygienisch‹. Fremdheit und Ansteckungsgefahr waren ein und dasselbe. Hustete irgendwo ein ärmlich gekleidetes Kind, so hatte es gewiß Krampfhusten. Kam eine Schar von Schuljungen des Weges, so führten sie eine Wolke von Krankheiten mit sich. Roch es auf der Straße brenzlig, so wurde ganz bestimmt ein Haus in der Nähe desinfiziert. Ging ein Mensch mit einem Feuermal auf der Wange vorüber, so mußte man den Atem anhalten, denn wer weiß, ob jenes Mal nicht ein verrufener Ausschlag war. Türschnallen, Stiegengeländer, Münzen, alles Berührbare und Vielberührte, gefährdete mit wimmelnden Bazillenschichten die Hand, die unvorsichtigerweise keine Handschuhe trug. Die Bazillen selbst waren rachsüchtige Ausdünstungen, aus den Tiefen der feindseligen Fremdheit und des unkomfortablen Elends zu Mamas Lichtwelt emporgesandt. Als Hugo trotz aller Vorsicht Scharlach und Diphtherie bekam, fühlte sich Mama in ihren Angstvorstellungen nur bestätigt. Jetzt aber fragte sie spitz:

»Was hast du bei fremden Menschen zu suchen?«

Hugo, durch Mamas nervösen Ton verwirrt, vergaß die ganze Ordnung, die er sich vorgenommen hatte, und brachte alles durcheinander:

»Erna hat ja ein schreckliches Unglück gehabt ... Wer soll ihr helfen? ... Sie selbst hat kein Geld mehr ... Und ihre Mutter hat auch keines ... Albert ist nämlich ein Erfinder und das kostet schon etwas, besonders wenn einer die Kinderlähmung in der Realschule bekommen hat und sich nicht rühren kann ... Erna muß aber Geld haben, sonst geht es fürchterlich aus ... und die Frau Seifert, mit der ihre Mutter sprechen will, tut gar nichts ohne Geld ... Und da habe ich mir gedacht, ob du und Papa nicht helfen könnten ... du ... und Papa ...«

Verzweifelt stieß er diese letzten Worte hervor und erkannte, daß er seine Sache schlecht mache. Er erkannte dies auch an Mamas Augen und ihrer trockenen Art zu fragen:

»Was für ein schreckliches Unglück hat denn Fräulein Erna gehabt?«

»Ich weiß es nicht, Mama ... Wie kann ich's denn wissen? ... Aber ich denke mir ...«

Immer unerbittlicher munterte ihn Mama zu neuen Bekenntnissen auf:

»Nun, was denkst du dir?«

Hugo wußte jetzt genau, daß er jetzt unaufhaltsam abrutsche. Aber er konnte es nicht mehr hemmen:

»Ich denke mir, daß der Herr Oberleutnant Zelnik ... oder der Herr Tittel ... daran schuld sind ... Ich weiß es ja nicht ...«

Ein Fehler, ein Verrat! Blut schoß dem Knaben zu Kopf und trübte sein Bewußtsein. Mit einem Mal befanden sich, durch Hugos Ungeschick hervorgezaubert, der Artillerieoffizier und der Konzeptsbeamte in diesem nichtsahnenden Salon. Der kakaobraune Waffenrock und die kanariengelben Schnürstiefel, in den Silben der Namen Zelnik und Tittel enthalten, verdarben alles. Mama schien jetzt ruhiger und gleichgültiger sich zu erkundigen:

»Der Herr Oberleutnant ... Der Herr Tittel ... Was sind denn das für prächtige Erscheinungen?«

Hugo, der sich nicht mehr zu retten wußte, stammelte:

»Das sind die Herren ..., mit denen wir immer spazierengegangen sind ...«

»Mit denen ihr immer spazierengegangen seid ...«

Mama genoß den erstaunlichen Klang dieser Tatsache, ehe sie sich in ein langes und ironisches Schweigen zurückzog. Hugo aber biß die Zähne zusammen und stand auf:

»Mama! Versprich mir, daß du der Erna helfen wirst!«

Die Entgegnung ließ etwas auf sich warten, denn Mama entnahm der kleinen Golddose mit viel Umsicht eine Zigarette, ehe sie erklärte:

»Ich verspreche es dir, Hugo!«

Dann nach einem kaum fühlbaren Zögern: »Übrigens werde ich mich auch mit Papa beraten.«

Hugo holte inbrünstig Atem:

»Und versprich mir noch, ihr nie nie nie ein Wort davon zu sagen, daß wir beide miteinander geredet haben.«

Nach langwierigen Zündungsversuchen brannte endlich die Zigarette:

»Auch das verspreche ich dir, Hugo!«

Mama liebte es, daheim weite und ein wenig individuelle Gewänder zu tragen. Heute war's ein weißer Atlasburnus. Sie wandte ihrem Sohn, der vor ihr stand, aufmerksam das von der weißen Seide verdunkelte Gesicht zu. In Hugo aber ging etwas Seltsames vor. Er hatte früher oft in liebevoller Stunde, oder wenn er etwas zu erschmeicheln hoffte, für Mama ein Kosewort gefunden. Ein albernes Wort, das ›Flaus‹ hieß, ›Flausi‹, oder so ähnlich. Jetzt, in diesem Augenblick, wollte er seine Mutter wieder so nennen, bittflehend und danksagend zugleich. Aber, siehe, es war unmöglich, keine Stimme kam aus seinem Mund, er blieb stumm. Und in ein und derselben Sekunde fragte sich Mama: Er zittert für diese liederliche Person. Täte er's auch für mich? Und eine wahre und wirkliche Eifersucht nahm bitter von ihr Besitz.

Kleinlaut entschuldigte sich Hugo:

»Es ist tatsächlich ein großes Unglück, Mama ...! Erna hat gesagt, daß sie ins Wasser gehen muß ... Sie hat es wirklich gesagt ...«

Aber Mama lachte leicht auf und meinte in einem herben und durchaus unpädagogischen Ton:

»Das werden dir in deinem Leben noch viele erzählen, mein Sohn!«

Am Abend – seine Eltern hatten eine lange Unterredung miteinander gehabt – wurde Hugo zu Papa in die Galerie gerufen. Der Vater stand vor dem Tischchen mit der Münzensammlung und hielt dem Knaben ein uraltes Silberstück hin:

»Sieh dir diese ganz seltene Münze an, Hugo! Ich habe sie heute entdeckt. Dionysos von Syracus! Eine wunderbare Zeit, in der die größten Männer gelebt haben.«

Hugo betrachtete das Silberstück und sagte nichts. Papa wartete eine Weile, ehe er nochmals betonte:

»Die größten Männer! Hast du jemals den Namen Platon gehört?« Hugo war diesem Weisen in Gustav Schwabs »Sagen des klassischen Altertums« wohl schon begegnet, aber sei es, daß er sich für die dort abgebildeten Helden und Heldinnen des trojanischen Krieges mehr interessiert hatte, sei es, daß ihn eine leichte Feindseligkeit gegen Papa beherrschte, er verneinte die Frage. Der Vater legte die Münze auf den Samt zurück:

»Lieber Junge! Du liest viel zu viel dummes Zeug zusammen. Wir werden jetzt systematisch beginnen müssen. Nicht wahr?« Und Hugo, der sich unter diesem ›Systematisch‹ nichts Rechtes denken konnte, hauchte aus enger Kehle: »Ja ...«

Papa lächelte zufrieden und war ganz Kameradschaftlichkeit: »Du bist jetzt gesund, Hugo, und ein großer Bursche. Deine Altersgenossen sitzen womöglich schon in der Tertia. Die Verspieltheit und Träumerei muß endlich aufhören. In einigen Tagen wird Herr Dr. Blumentritt zu uns kommen. Ich bin überzeugt, daß er dir glänzend gefallen wird und daß du in ein paar Monaten alles Versäumte mit ihm spielend nachholen kannst ...«

Bei dieser Eröffnung nahm Papa seinen Sohn unterm Arm und ging mit ihm vergnügt auf und ab:

»Ich hoffe, daß wir beide gegen Mama eine feine Sache durchsetzen werden ... Möchtest du nicht, vom nächsten Semester ab, auf dasselbe Gymnasium gehn, wo ich acht Jahre lang gesessen bin? Ich habe dir ja das Haus schon oft gezeigt ...«

Hugo erklärte mit leiser Stimme, daß er dies gerne möchte. Der Vater stellte einen Kampf in Aussicht, den er mit Mama und ihrer fanatischen Krankheitsfurcht werde ausfechten müssen, wobei er aber auf Hugos wertvolle Unterstützung rechne.

Die dunklen Figuren einer heiligen Familie, die fern an der Wand hing, begannen sich wahrnehmbar zu rühren, als hätten sie den Käfig des Rahmens satt und wollten nun in ein besseres Land aufbrechen. Auch andere Gestalten, die kostbaren Penaten dieses Hauses, regten sich. Hugo, der all die heimliche Bewegung merkte, sah zu Boden, als er fragte:

»... Aber Fräulein Tappert bleibt doch bei uns, Papa?«

Der Vater deutete durch plötzliche Lebhaftigkeit an, daß auch er sich mit Ernas Angelegenheit eingehend beschäftigt habe:

»Ja richtig! Du hast mit Mama ein interessantes Gespräch gehabt. Sie hat mir darüber genau berichtet. Nun, ich gebe dir hiermit mein Wort, Hugo, daß für Fräulein Erna alles geschehn wird, was zu ihrem Vorteil gereicht. Mama wird noch heute mit ihr sprechen. Von dir und deiner Intervention wird natürlich nicht die Rede sein ... Es ist übrigens sehr hübsch, daß du für deine Umgebung ein Herz hast!«

Papa wiederholte, während er seine Fingernägel mit kurzsichtigen Augen betrachtete (eine Elite-Gebärde eleganter Nervosität für Hugo), sein geringfügiges Lob: »Ein gutes Herz ist ja sehr hübsch ...« Als hätte damit die gebotene Zustimmung ihr Ende erreicht, begann er nun zwischen den altersheiligen Schätzen der langen Galerie auf und ab zu wandeln, wobei er den vorigen Worten einen kritischen Nachsatz anhängte: »Aber weichliche Empfindsamkeit und Romantik sind nicht die Tugenden, mit denen man in unserer Zeit vorwärtskommt ... Was wird aus dir werden, mein Sohn? Du mußt dir härtere Ellbogen anschaffen. Es steht nirgends geschrieben, daß man für alle Ewigkeit gesichert ist!«

Gemaßregelt stand Hugo da, sehr klein in dem hohen Raum. Nach Albert nun auch Papa! Aber dieser milde Tadel bedrückte ihn nicht. Er hörte ihn kaum, da oberhalb seines Magens sich eine furchtbare Bangigkeit wie eine raschwachsende Pflanze entfaltete und alles verzerrte. Papa hielt in seinem Gang inne und streckte mit einer großen Bewegung den Arm aus, als weise er auf ein unsichtbares Porträt hin:

»Dein Großvater, mein Vater, das war ein gewaltiger Mann. Er hat unser Haus gegründet, er hat alles geschaffen. Und wodurch glaubst du, ist er so groß geworden? Durch Kraft, mein Lieber, durch zielbewußte Härte, durch rücksichtslose Energie.«

Hugo war ganz und gar nicht gesonnen, die blasse Erinnerung an diesen Großvater heraufzubeschwören und dessen sagenhafte Willenskraft mit dem Bilde eines hilflosen alten Herrn im Rollstuhl zu konfrontieren. Die schmerzvolle Pflanze in der Zwerchfellgegend wuchs und wuchs. Papa hingegen versenkte sich mit großem Behagen in das Angedenken jenes energischen Gründers und Despoten:

»Er hat nicht lange gefackelt, der Großpapa. Wehe uns Söhnen, wenn wir uns einer Aufgabe nicht gewachsen zeigten. Weißt du, Hugo, wann ich die letzte Ohrfeige von ihm bekommen habe? Mit zwanzig Jahren.«

Papa lächelte dieser verschollenen Mißhandlung anerkennend nach. Dann warf er einen befriedigten Blick auf seine überaus schmalen Lackschuhe und schloß die Betrachtung:

»Vielleicht war diese alte Art von Erziehung richtiger.«

Hugos Mund öffnete sich schmachtend. Seine Augen suchten ringsum um Hilfe.

Die heiligen Gestalten wurden immer unzufriedener. Manche hatten sich schon halb erhoben. Der Kruzifixus vor allem, jener ausgemergelte Torso aus dem vierzehnten Jahrhundert, trat immer herrischer hervor und begann mit seinen Armstümpfen zu rudern. Er hatte es satt, ein gekaufter Sklave zu sein. Hugo spürte seinen Haß und kehrte sich ab, um ungestört die Wahrheit erfahren zu können, die seine verzweifelte Frage forderte:

»... Aber Erna bleibt doch bei uns? ...«

Weit weg und zugleich wie durch einen Schalltrichter vergrößert, erklang Papas gutmütiges Lachen:

»Hör einmal, Hugo! Eigentlich versteh ich dich nicht. Mir hätte man es in deinem Alter zumuten sollen, einen Tag nur in weiblicher Gesellschaft zu verbringen! Also einfach odios und herabwürdigend wär mir das gewesen; Herrgott, ich wär durchgegangen, auf mein Wort! Aber ich war damals halt schon ein Mann, Hugo, ein Mann ...«

Bei dem Wort ›Mann‹ wurde der Torso plötzlich schmal, schoß zur Decke empor, und begann sich mit wilder Drohung um sich selber zu drehn. Auch Hugo drehte sich um sich selbst und sank zu Boden.

Ein Schwindelanfall, eine kurze Bewußtlosigkeit, eine leichte Ohnmacht. Übrigens war es nicht das erstemal, daß der Knabe von einer plötzlichen Blutleere im Hirn befallen wurde. Diese Ohnmacht aber konnte kaum mit einer früheren verglichen werden. Als Hugo nach wenigen Augenblicken erwachte, sich auf einem Diwan fand und die erschrockenen Gesichter seiner Eltern über sich gebeugt sah, da erfüllte ihn der Rausch eines kampferschöpften Siegers. Jetzt war Erna gerettet, er zweifelte nicht mehr daran, jetzt wird sie bis ans Ende der Tage bei ihm bleiben. Und mehr noch, er hatte gelitten, unerklärbar für Unerklärbares gelitten durch diese Ohnmacht. Alberts Augen würden ihn nicht mehr vorwurfsvoll anstarren, denn jetzt, jetzt war er ihm verwandt geworden.

Seit diesem Anfall legten die Eltern eine große Vorsicht gegen Hugo an den Tag.

Nach ihrer Heimkehr hatte Fräulein Tappert eine sehr ruhige und sehr gründliche Auseinandersetzung mit Mama. Sie kam von dieser Unterredung mit einem stillen, fast heiteren Gesicht ins Kinderzimmer und sah ihren Zögling so beruhigt, so schweigsam an, als wäre sie jeden Augenblick bereit, den Tiraden eines neugeborenen Schillerdramas hingebungsvoll zu lauschen. Da erkannte Hugo beseligt: Papa wird ihr helfen!

Zwei Umstände allerdings hätten sein Mißtrauen erwecken können, wenn der langnachwirkende Rausch der Ohnmacht seinen Klarsinn nicht tagelang umwölkt hätte. Erstens: Ernas Schuhe waren mit einemmal von dem Brett verschwunden, wo sie sonst immer als der gerechte Stolz ihrer Besitzerin in Reih und Glied gestanden hatten. Zweitens geschah es im schärfsten Gegensatz zu den letzten Monaten, daß Erna und Hugo kaum eine Minute lang des Tages allein blieben. Die Spaziergänge in den sommerlichen Anlagen entfielen. An ihre Stelle traten Autoausfahrten und Teestunden mit Mama.

Drei Tage später ergab es sich aber, daß die Eltern den Abend außer Haus verbrachten. Es war zehn Uhr etwa. Hugo saß im Bad. Er liebte es ungemein, zu später Stunde zu baden. Man konnte damit das leidige Schlafengehen etwas hinausschieben. Auch ließ es sich nirgends so leicht, so milde träumen wie im lauen Wasser.

Wenn Hugo sich gänzlich gehen ließ, wenn er gar nichts mehr dachte, nicht den geringsten Willensdruck auf seinen Geist übte, dann kamen die Worte, die allmächtigen Worte über ihn. Sie kamen über ihn und nicht aus ihm, sie waren ihre eigenen Herren und er regierte sie nicht. Die Worte waren Wesen von einer eigenartigen und selbständigen Stofflichkeit, die gerne ein Hirn durcheilten, das zu verstummen wußte. So ziehen die eigenwilligen Farbflecke, Feuerkreise und Kringel an einem geschlossenen Auge vorbei, das in die Sonne geblickt hat. Hugo ahnte gar nicht, daß er dichte, wenn er im Bade saß und es in ihm zu sagen begann:

»Ich bin Neptun, der Gott des Wassers.
Ich schwimme wohin ich will.
Die Wellen kitzeln mich, denn das haben sie gerne.
Fische kommen, große und kleine,
Sie begrüßen mich steuerbords und backbords.
Doch auch Fischinnen kommen, ich spüre sie.
Und dann schwimmen wir alle,
Fischinnen und Fische,
Wir schwimmen, wohin wir wollen.
Durch das Meer schwimmen wir,
Das Meer ist groß und langweilig.
Dann schwimmen wir in die Flüsse.
Die Flüsse sind die kleinen Verhältnisse des Meeres.
Manchmal verirren wir uns auch in die Brunnen.
Brunnen gibt es in alten Haushöfen.
Sie sind die armen Leute des Wassers.«

Ernas Stimme unterbrach diese neptunische Ballade, die so oder ähnlich lautete:

»Bist du noch immer nicht fertig, Hugo, es ist schon sehr spät.«

»Komm doch herein, Erna!«

»Nein! Steig erst aus dem Wasser!«

Das war neu. Erna hatte doch bisher immer bei Bad und Waschung tätige Aufsicht geübt. Warum denn blieb sie jetzt vor der Tür stehn? Nach einer Weile entriß sich Hugo der Umarmung des Wassers und stieg aus der Wanne. Erna trat noch immer nicht ein:

»Bist du schon draußen? Hast du das Badetuch um?«

Jetzt erst, nachdem Hugo dies bejaht hatte, kam sie herein. Auch sie schien eine gründliche Reinigung vorgenommen zu haben. Der blaue Schlafrock wallte um ihren Leib, das frischgewaschene Haar war von Tüchern eingehüllt und die nackten Füße steckten in Sandalen. In diesem Aufzug erinnerte die hohe, pathetisch geformte Erna an die Darstellung griechischer Göttinnen und Heldenfrauen, wie sie Hugo aus Gustav Schwabs illustriertem Sagenbuch kannte und liebte. Jetzt krempelte sie wie immer die Ärmel ihres Negligés hoch über die Arme und begann mit treulicher Kraft, die ihr aus innerster Seele zu dringen schien, Hugos Körper zu frottieren. Er überließ sich gerne ihrem starken Walten, das ihn von allen Seiten warm umhüllte. Nun kniete sie vor ihm nieder, stemmte seine Füße gegen ihre Brüste und begann gewissenhaft, ihm die Schenkel abzureiben. Hierbei löste sich der aus Handtüchern gewundene Turban, den sie um den Kopf trug, und ihre Haare fielen frei herab. Eine Wolke von Kamillenduft schlug Hugo entgegen: Ernas, des Weibes Duft, von nun an fürs Leben.

Er lag schon zu Bett. Sie zögerte ein wenig, aus dem Zimmer zu gehen, und sagte langsam:

»Gute Nacht, Hugo!«

Er dehnte sich von wohligem Frieden erfüllt und blinzelte sie an:

»Nicht wahr, Erna, jetzt ist alles in Ordnung.«

Als wäre sie glücklich, noch eine Minute verweilen zu können, setzte sie sich auf den Bettrand:

»Ja, hab keine Sorge, es wird schon alles in Ordnung kommen, Hugo ...« Und mit einem Seufzer: »Ich danke dir auch recht schön für alles!«

Hugo setzte sich im Bett auf:

»Hör einmal, Erna! Wir müssen nächstens wieder zu deiner Mutter und zu Albert gehn! ... Nicht? ... Sobald wie möglich. Glaubst du, daß mir Albert seine Erfindung erklären wird?«

»Ja, natürlich! Wir werden nächstens hingehn, Hugo ... Aber jetzt ... Schlaf wohl!«

Sie erhob sich und schaltete das Deckenlicht aus, so daß nur mehr die Bettlampe brannte. Hugo aber rief:

»Nein! Komm noch einmal her!«

Langsam gehorchte Erna dieser Lockung. Der Knabe ergriff ihre Hand und sah sie fest an:

»Du gehst nicht fort! Was!?«

Sie lachte hilflos. Ihr Mund verschob sich leicht. Dann beugte sie sich über Hugo, ohne ein Wort zu sagen. Seine Stimme war auf einmal rauh und tief geworden:

»Nein! Du gehst nicht fort! Aber weißt du, was ich getan hätte, wenn du fortgegangen wärst? ...«

Erna beugte sich tiefer über das Bett. Ihre Lippen gingen fragend auf. Hugos Nägel verkrallten sich leidenschaftlich in ihre Hand:

»Ich wär mit dir gegangen, Erna ... ganz weit weg ... ganz fort von hier ... in die kleinen Verhältnisse ... Erna, das mußt du mir glauben!«

Und er ließ einen wilden Blick durch das mild-erleuchtete Dunkel des großen Zimmers schweifen, als hasse er es mitsamt seinen weißlackierten Möbeln und Turngeräten. Erna, noch immer über ihn gebeugt, rührte sich nicht. Da packte er auch ihre andere Hand mit solch heftigem Ruck, daß sich der Schlafrock verschob und ein Stück ihrer Schulter entblößte. Er aber keuchte fast weinend:

»Ich wär mit dir gegangen, Erna ... Fort von hier, von Mama ... ich muß ja nicht ins Gymnasium gehn ... Ich könnte bei Albert lernen ... Sein Gehilfe werden ... Wir würden miteinander Geld verdienen ... Aber jetzt bleibst du ja bei uns, Erna ... Du bleibst bei mir.«

Ernas Lippen schlossen sich noch immer nicht, als wären sie willig zu reden. Hugo fühlte mit ruhevoller Seligkeit, wie ihr schönes großes Gesicht, ihr glorreiches, vom Waschen wolkiges Haar ihm näherkam, sich immer tiefer zu ihm herabbeugte. Erna aber sagte nur »Gute Nacht, Hugo« und küßte ihn sanft auf den Mund.

Dieser Kuß war nichts als ein stärkerer Anhauch des Kamillenduftes. Sie ging. Das Blau des langen Gewandes spielte um ihren wirklich schreitenden Sandalen-Schritt. In der dunkleren Ferne des Raumes schien sie von übergroßer Gestalt zu sein. Nun verschwand sie und schloß die Tür hinter sich. Das erstemal, seitdem sie im Hause lebte, schloß sie am Abend die Tür hinter sich.

Längst war es schon finstere Nacht. Hugo schlug sich mit einem widerspenstigen Gedanken herum. Dieser Gedanke hatte nicht nur mit kleinen Verhältnissen und Alberts Erfindungen zu tun, sondern auch mit Papas Sammlung und dem Gymnasium. In diese ziemlich wachen Gedanken mischten sich peinigende Bilder. Papa bewältigte mit seiner grandiosen Vornehmheit spielend alle Aufgaben des Lebens, während Hugo tatenlos und ungeschickt an ihnen scheiterte. Beide, Hugo und Papa, schwammen im Meer, Papa mit leichten sicheren Stößen, Hugo hingegen kam nicht vom Fleck. Nicht anders erging es ihm mit dem Geräteturnen und dem Kopfrechnen. Der Knabe warf sich im Bette hin und her. Wie widerwärtig war dieser Zustand unfertiger, tückisch fliehender Vorstellungen!

Da spürte er – und sein Herz erstarrte –, daß er nicht allein in seinem Bette liege. Ganz klein machte er sich. Aber das nützte nichts, denn das andere war unabwendlich da, neben ihm, weich, riesig warm. Es atmete. Sein glühender Hauch traf mit gleichmäßiger Woge seinen Nacken. Kein Zweifel, es lag in seinem Rücken. Wehe, und jetzt berührte es ihn, jetzt preßte es sich an ihn, dieses Übermächtige, Glutheiße, Nackte: Das Weib! Erna! Hugo wollte aufschreien: »Was willst du? Ich bin ja wach!!« Aber die gräßliche Wonne verbiß sich in seinen Leib und würgte ihn. Er schlug um sich. Es gelang ihm, für einen Augenblick die kamillenduftende Umstrickung abzuschütteln. Er floh durch Straßen und Gassen der Heimatstadt. Aber sogleich hielt ihn das Übermächtige, Glutheiße, Atmende wieder umschlungen. Wie er auch lief, es preßte ihn herrlich und schrecklich an sich, immer gleich nahe, immer gleich brennend. Und jetzt stieß ihn Erna mit ihren nackten Armen und Brüsten vor sich her in einen dunklen Hausflur. Im Schatten des großen Kreuzes sank er zusammen. Nun mußte er sterben, denn sein Blut floß.

Mit dem Schrei: »Ich schlafe ja nicht!« war Hugo aus dem Bett gesprungen. Er stand im gänzlich entfremdeten Zimmer. Lange konnte er sich nicht orientieren. Wo lagen nur die Fenster? Ach ja, dort, das mußte die Tür sein. Kein Lichtspalt! Sie war geschlossen. Zitternd kroch er in sein Bett zurück, das nicht mehr sein altes Bett war, sondern eine lockende und gefährliche Höhle.

*

Als Hugo am nächsten Morgen erwachte, sah er Mama in seinem Zimmer. Sie hatte eben die Läden geöffnet und lachte ihn an:

»Aufstehn, mein Herr! Genehmigen Sie bitte gnädigst meine Anwesenheit! Fräulein Erna hat für einige Zeit Urlaub genommen. Wir werden also jetzt aufeinander angewiesen sein. Ich bitte um eine möglichst schonende Behandlung.«

Hugo sagte nichts, sondern machte Miene, sich umzudrehn und von neuem einzuschlafen. Aber Mama drängte ihm schon seine Strümpfe auf:

»Ernsthaft, Hugo, beeil dich! Unten wartet schon Herr Doktor Blumentritt auf dich. Ein prachtvoller Kerl, und ein junger Mensch noch! Ich hab mich bereits mit ihm eine ganze Weile glänzend unterhalten, sag ich dir!«

Hugo sah unbeweglich zu Boden. Er ist noch schlaftrunken, dachte Mama. Sie eiferte ihn an. Er verzog nicht den Mund, er fragte nicht, wann Erna zurückkehren werde. Langsam begann er sich anzukleiden.


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