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Drittes Kapitel

Es war lange Zeit nach Mitternacht, als sich Sebastian daheim in seinem Arbeitszimmer an den Schreibtisch setzte.

Die Müdigkeit, der Angstzustand, einer schweren Vergiftung gleich, der ihn zweimal an diesem Abend befallen, war verschwunden. Eine Überwachheit, eine Grelle des Geistes hatte sich eingestellt und diese sonderbare, ihm völlig unbekannte Sucht, zu schreiben ... Gewiß, damals, und auch noch später, bis zu seinem zwanzigsten Jahre etwa, hatte er gedichtet, Verse, Geschichten, einen Einakter zusammengestümpert. Was davon zu halten war, hatte er von jeher gewußt: Wortbastelwahn und der Wunsch zu imponieren.

So klug war er immer gewesen, um jedesmal dieselbe Enttäuschung bewußt zu erleben, daß sich das Wort ihm in der Feder grinsend verwandelte und etwas anderes ward, als er wollte. Einem Pferd in einer Kavalkade glich das Wort, auf dem ein schlechter Reiter sitzt. Er zieht die Zügel an, er arbeitet, er braucht alle Hilfen, weil er sich loslösen und einen eigenen Weg einschlagen will. Das Pferd tanzt ein wenig, dann aber drängt es, ohne sich um die Reiterkünste zu kümmern, den andern Pferden nach. So pflegte es Sebastian bei seinen poetischen Versuchen zu gehen. Sein Wort drängte zur Worteherde, zur Phrase, zum Tausendmal-schon-Gesagten. Und er wußte es.

Dies aber, heute und jetzt, dies war etwas vollkommen Neues, dies war nicht Wort, nicht Schreiben, nicht einmal Beichte und Rechtfertigung. Ein betäubender Trieb war's, eine unmäßige Leidenschaft, die Sebastian an den Schreibtisch zwang und ihm befahl, einen Abschnitt seines Lebens zu erwecken und festzubannen. Dieses alte Leben selbst wollte da sein, in den Raum ragen, nicht um Sebastians, nicht um Adlers willen, nur für sich selbst.

Das unvernichtbare Leben erhob sich, das nur seinen Raum gewechselt hatte. Der Mensch stand unter seinem Diktat.

Sebastian wußte kaum, daß er schrieb. Er schrieb ja nicht einmal, sondern stenographierte in jagender Hast. Und selbst diese Kurzschrift war so flüchtig, von willkürlicher Sigel und Vereinfachungen, die er im Fluge erfand.

Und er schrieb. Und er glaubte zu schreiben.

*

Es begann damit, daß mich mein Vater aus Wien verbannte. Er war gewiß nicht das, was man einen verknöcherten Staatsjuristen nennt, kein harter Paragraphenmensch ohne höheren Ausblick. In der Gesellschaft schätzte man ihn wegen seines Klavierspiels. Als junger Mann hatte er sich sogar bei Gründung des Richard-Wagner-Vereins besondere Verdienste erworben. Es wird für mich immer zu den rätselhaften Widersprüchen gehören, daß ein Mann wie er, dessen höchste Gabe ein eisklares Formgefühl war, für schwelgerische Musik schwärmte.

In einem Punkte verstand er keinen Spaß. Und in diesem Punkte gerade hatte ich versagt.

Mein Vater haßte jegliche Art von Niederlage. Der Besiegte flößte ihm niemals Mitleid ein, sondern nur kalte Verachtung. Es war ihm unbegreiflich, daß ein Mensch unters Mittelmaß sinken konnte, nicht einmal jene Linie einzuhalten vermochte, die selbst der Heerschar aller Gewöhnlichen erreichbar ist. Dieser kluge und in manchen Dingen geniale Mann litt darunter – so schien es mir damals wenigstens –, daß ich in der Quinta des Schottengymnasiums nur mit Ach und Krach durchgekommen war, daß ich in einer Disziplin eine vernichtende, in allen anderen nur eine genügende Zensur davongetragen hatte. Er schien sich aufrichtig eines Sohnes zu schämen, der so wenig Fleiß, Begabung und Aufmerksamkeit zeigte, um bei den ›geringen Forderungen der modernen Schule‹ die Leistungen der trägen Masse wenn nicht zu überragen, so doch einzuhalten. Ich galt ihm nicht als Knabe, als unfertiges Kind, das trotz seines Studiendebakels noch alles im Leben erreichen konnte. Der Unterschied zwischen Mann und Kind war für ihn überhaupt nicht vorhanden. Niemals hat er mich mit der ironischen Überlegenheit des Erwachsenen behandelt. Er beschimpfte mich nicht, machte mir keine Szene, ließ mich nur fühlen, daß es ihn verdrieße, mit einem subalternen Wesen, das dem Namen Sebastian von Portorosso keine Ehre mache, den Tisch zu teilen.

Es verdroß ihn aber im Grunde ganz etwas anderes. Er war seiner Natur nach Junggeselle und hatte zu Unrecht einen Sohn. Auch ich bin der Natur nach Junggeselle und würde ebensowenig ein Kind lieben, wie mein Vater mich geliebt hat. (Es geht bei mir so weit, daß ich nicht einmal weiß, ob ich mit einer Frau, die vor meiner Gleichgültigkeit bis nach Argentinien geflohen ist, nicht wirklich ein Kind habe!) Von meiner Mutter lebte der Vater geschieden, solange ich zurückdenken kann. Sie starb, als ich sechs Jahre alt war.

Meine Existenz ging ihm auf die Nerven. Das mochte wohl mit dem pathologischen Hochmut zusammenhängen, an dem er litt, ein Hochmut, der sich bis zum Menschenekel steigern konnte. Aus Hochmut vermied er es zum Beispiel, so gut es nur ging, menschliche Körper zu nahe kommen zu lassen. Wenn die untergebenen Herren aus seinem Amt zu ihm kamen, reichte er ihnen niemals die Hand. Selbst seine Geruchsempfindlichkeit – im Gespräch bewahrte er fast immer Profilhaltung – war nichts als zügelloser Hochmut. Ein halbwüchsiger Sohn aber ist immer ein Zerrspiegel des Vaters. Es kränkte seinen Hochmut, sich in mir zu spiegeln. So wenigstens sehe ich es heute an.

Nach den großen Sommerferien, die ich in strenger Studienzucht verbrachte, wurde ich hierher in die Stadt geschickt, um die notwendige Wiederholungsprüfung abzulegen und ein neues Gymnasium zu beziehen. Und hier lebe ich nun nach siebenundzwanzig Jahren noch immer. Hier habe ich den Untergang des alten, das Werden eines neuen Reiches erlebt. Hier bin ich nun naturalisiert und Staatsbeamter. Dies alles ist höchst gleichgültig.

Ich habe meine Jugendjahre im Hause zweier Frauen verlebt. Die beiden Schwestern meines Vaters, Aurelie, die Witwe, und Elisabeth, die Unverheiratete, haben die weichmütigste Erinnerung meines Lebens erworben. In ihrem Hause war ich der Mann. Sie forderten nichts von mir. Sie erzogen mich nicht. Sie liebten mich. Sie waren eifersüchtig aufeinander. Sie schmeichelten, wetteifernd, meiner Eitelkeit.

An dem Hause Aureliens gehe ich heute noch täglich vorbei, an diesem gealterten Bau, an dem Haustor, aus dem mir noch wie dazumal der dunkel-gemischte Duft meiner Jugend entgegenschlägt. Aber ich sehe das Haus nicht, es ist für mich gänzlich erloschen, wie die Stadt, in der ich ein Amt habe, wie meine ganze Existenz vielleicht erloschen ist, an der ich täglich nicht anders als an jenem Haustor vorübergehe, sehr wenig beeilt und eine Zigarette im Mund ...

Es war übrigens ein großer Fehler, daß ich mich habe von Burda verleiten lassen und bei dieser traurigen Lemurenversammlung erschienen bin. Ich behaupte aber keineswegs, daß ich aus dem Rahmen dieser Versammlung gefallen bin, ich war eines der grauesten Gespenster unter Gespenstern. Doch wozu das erfahren? Wozu einen verdorbenen Magen und ein verdorbenes Hirn von einem solchen Abend forttragen? Wozu die qualvolle Afferei, da man sich wieder an den Start gestellt fühlt, wo doch der Weltlauf längst verwirkt ist?

Ich bin dreiundvierzig Jahre alt. Wenn ich nicht meine Diät einhalte, liege ich trostlos die ganze Nacht wach. Mein Herz ist nicht mehr viel wert. Ich habe zwar noch keinen Arzt darüber befragt, aber ich weiß es. Stiegensteigen, rasche Bewegung bringt mich außer Atem. Der leise Schmerz im linken Arm läßt mich vermuten, daß ich ein Kandidat der Arterienverkalkung bin. An dieser Krankheit ist mein Vater mit dreiundfünfzig Jahren gestorben, und ich habe nicht nur seinen Typus durchaus geerbt, sondern bin dazu noch ein unverbesserlicher Kettenraucher. Die Beklemmung heute abend, die Herzangst, an der ich leide, ist nichts anderes als das Vorwissen eines frühen plötzlichen Endes. Warum ich keinen Arzt konsultiere? Soll ich mir denn, was noch an Leben übrig ist, durch Wahrheit vergällen lassen?

Ich sehe passabel aus, gar nicht alt, besser vielleicht als in meiner Jugend, weil ich jetzt mehr Sorgfalt und Geld auf meine Kleidung verwende. Da ich ohne Verpflichtungen und Verstrickungen lebe, da ich das Vermögen meiner Tanten geerbt habe, so fällt es mir leicht, gut angezogen zu sein und eine hübsche Wohnung zu halten.

Als ich zwanzig Jahre alt war, haben mich die Frauen auf der Straße nur selten angelächelt. Heute ist das ganz anders. Viele eindringliche, fragende, verheißende Blicke treffen mich. Ich bin nicht mehr schüchtern. Wenn ich es will, habe ich Frauen, und nicht etwa die üblichen, sondern Frauen von Rang, Frauen, von denen es niemand vermuten würde. Aber ich verliebe mich nicht. Ich lasse mich nicht fangen. Vorsicht zwingt mich, mein Herz zu behüten, dessen arhythmischer Schlag mich nächtens beunruhigt.

Wenn ich plötzlich bei einer Sitzung meinen Puls greife, nennen mich meine Kollegen einen Hypochonder. Gut! Ich bin ein Hypochonder! Aber was hilft mir das, wenn ich ganze Nächte lang mir den Tod und das Sterben ausmalen muß?

Dabei bin ich mir völlig bewußt, daß es für die Welt und für mich gleichgültig ist, ob ich den Weg von meiner Wohnung zum Gerichtshaus noch fünftausend-, siebenhundert- oder nur noch achtunddreißigmal zurücklegen werde. Es ist für die Welt und für mich vollkommen gleichgültig, und dennoch wäre es eine süße, unsagbare Beruhigung, wenn ich wüßte, daß dieser Weg mir noch mehr als fünftausendmal bevorsteht.

Es ist ein ziemlich langweiliger Weg durch fünf kleine und zwei große Straßen. Er dauert eine halbe Stunde, und ich lege ihn zu Fuß zurück. Ich kann nicht leugnen, daß dieser Gang zu den wichtigsten Begebenheiten meines Tages gehört, wenngleich ich mich dabei sehr wenig für die Umwelt interessiere und ihn in einer Art von bekümmertem Halbschlaf hinschlendere.

Ich will nichts anderes als dies. Ich bin ein Gewohnheitsmensch durch und durch und liebe keine Neuerungen. Der Gedanke an eine amtliche Veränderung, an das bisher von mir verhinderte Avancement macht mich schaudern. Hauptsächlich wegen des neuen Büros, das ich beziehen müßte.

Es war darum eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit, den Abend mit Menschen, die ich längst vergessen glaubte, zu verbringen. Hätte ich aber, wenn ich's recht überlege, mir diesen Fehler ersparen können? Ich mußte ja darüber reden.

So lächerlich und übertrieben es klingen mag, die Begegnung mit Adler hat mein Leben vor eine neue Tatsache gestellt, der ich mich nicht gewachsen fühle. Ich weiß nicht einmal genau, worin sie besteht und wie ich mit ihr fertig werden könnte.

Nur zwei der oberflächlichsten Fragen, die mich bedrücken:

– Darf ich mich Adler zu erkennen geben?

– Wie gleiche ich die Pflicht des Juristen der menschlichen Pflicht an, und gar dieser ganz besonderen, ganz verwickelten Pflicht?

Ich wundere mich, wie schnell mein Stenogramm übers Papier fegt. Ich selber denke nicht, ich selber schreibe nicht. Kraft eines ganz unbekannten Gefälles stürzen die Worte aus mir hervor. Wenn ich an Montag denke, muß ich die Zähne vor peinlicher Verlegenheit zusammenbeißen. Meine Stirn ist feucht, und mein Körper brennt, als ob er aus Eiseskälte käme.

Ich war sechzehn alt, als mich Professor Kio in die Sexta des Nikolausgymnasiums einführte und meinen neuen Mitschülern vorstellte. Ich erinnere mich noch der Worte, die er in seiner sonderbaren Ausdrucksweise zu mir sprach, ehe wir das Klassenzimmer betraten:

»Sie haben eine Wanderung vorgenommen. Trachten Sie jetzt danach, ansässig zu werden. Es ist nicht leicht.«

Es war nicht leicht.

Jeder, der etwas Ähnliches erlebt hat, weiß, wie unangenehm solch ein Augenblick ist. Man sitzt, von neugierigabschätzenden Blicken betastet, unter einer feindlichen Übermacht, die der arme Eindringling erst vereint und zusammenschließt. Ich starrte unentwegt auf die Tafel und heuchelte Teilnahmslosigkeit. Dabei spürte ich mit meinem ganzen Körper den schlechten Eindruck, den ich hervorrief. Ein Makel lag auf mir. Denn ein Schüler, der, mit einer Wiederholungsprüfung belastet, das Gymnasium und die Stadt wechselt, der spielt ja fast die Rolle eines Vorbestraften. Ich rettete mich in das Bewußtsein, aus der Reichshauptstadt zu kommen und den Gymnasiasten der Landeshauptstadt gegenüber einen höheren Grad von gesellschaftlicher Art und Lebenserfahrung vorzustellen. Es war eine Täuschung. Denn bald mußte ich erkennen, daß man bei Sankt Nikolaus vielfach belesener und wissender war als bei den Schotten in Wien. Ich stieß sogleich auf eine unbekannte Art von Überlegenheit, mit der ich nicht gerechnet hatte.

Der Klassenvorstand wies mir einen Platz in der dritten Bank der rechten Kolonne an. Mein Nachbar war Burda. Hinter mir saß Faltin, vor mir Bland, der im Kriege gefallen ist.

In der ersten Bank der linken Kolonne, gerade am Mittelgang, wo die Professoren während des Unterrichts auf und ab zu gehen pflegten, hatte Franz Adler seinen Platz. Dieser Mitschüler war der erste, auf den mein Blick fiel. Anfangs gefiel er mir gar nicht. Sein Äußeres reizte mich. Ich leide überhaupt darunter, daß mich Gesicht und Gestalt mancher Menschen, ehe ich sie kennen lerne, erbittern. Später können mir die gleichen Menschen sehr sympathisch werden.

In den ersten Tagen gefiel mir Fritz Ressl am besten. Er war zwar ein bißchen dick, aber ein sehr hübscher, blonder Junge, der immer etwas zu lachen hatte, Seidenwäsche trug und täglich neue Dinge zur Schule brachte, die mir imponierten: goldene Füllfederhalter, Zigarettendosen, Uhren ... Auch benützte er für seine Schulbücher keine Riemen, sondern eine pompöse Aktentasche, die mir desgleichen Bewunderung abnötigte. Ressl sprach mich als erster an. Er war mir am wenigsten fremd in dieser Umgebung. Ich weiß nicht warum, aber sein harmloser und genußsüchtiger Körper erinnerte mich an das Leben, wie ich es bisher in meiner Vaterstadt kennengelernt hatte.

Adler hingegen war ein Wesen, das keinen rechten Körper zu haben schien. Etwas Kümmerliches, ja Uraltes schien in dem großkarierten Anzug zu stecken, den er immer trug. Dabei war er bei weitem nicht der Kleinste in der Klasse, sondern in meiner Größe, denn wir standen beim Turnunterricht in der Riege nebeneinander.

Er hatte aber von uns allen gewiß den mächtigsten Kopf, mit hellrotem Haar bestanden, der ausladende Schädel über einer unglaublichen Stirn, welche die seltsame Eigenschaft hatte, in der Erregung rote Flecke zu bekommen. Adler war stark kurzsichtig und trug ein dickes Augenglas. Seinen Gesichtsausdruck könnte man am besten pathetische Geistesabwesenheit oder ein feierliches Starren nennen, das halbe Stunden lang unverwandelt anhielt.

Dieses Starren aber konnte sich plötzlich zusammenballen wie ein Gewitter und entlud sich dann in einem Grinsen, in einem Auflachen, in einer kurzen Bemerkung, die auf mich wirkte wie ein leichter elektrischer Schlag.

Ich prüfe mich: Auch heute in meinem Büro war es derselbe elektrische Schlag gewesen, durch den ich Adler erkannte. Als er die Worte sprach: ›Das erstemal als Gymnasiast‹, schlug mir sein Wesen wie eine Stichflamme entgegen. Merkwürdig, vorher hatte mich nichts an ihn erinnert. Und doch, es war sein Gesicht, seine Stimme, seine Sprechart. Dieses Aufzucken einer abgründigen Kraft und dieses rasche Zusammensinken, es hat sich nicht verändert.

Als ich in die Schule von Sankt Nikolaus eintrat, zählte Adler zu den besten Schülern. Kio behauptete zwar, daß er faul sei und sich niemals präpariere, aber seine Arbeiten waren damals meist fehlerlos und seine Antworten fanden das Richtige auf unvorschriftsmäßigen, dafür aber eigenen Wegen. Er war darin das reine Gegenteil des Primus Fischer, der weniger den Gehalt der Lehrsätze als ihren Schultonfall spielend erfaßte und schlagfertig wiedergab.

Adler antwortete schwerfällig und immer wie aus Träumen aufgeschreckt. Was er sagte und wie er's sagte, verletzte den gesetzmäßigen Tonfall, so daß Fischer und die Schulfüchse unter den Lehrern von sichtlichem Unbehagen erfaßt wurden. Wie in allen Berufen, so gibt es auch in der Schule eine Musik des Konventionellen. Als Muster gilt derjenige, der sich ein feines Gehör für ihre Harmonie erworben hat und sie ehrfürchtig gebraucht. Mir geht es heute in meinem Amt nicht anders. Ich werde unruhig, wenn ich im Rechtsstil ungewohnte Wendungen finde. Wohin würde das führen? Wir Ordnungshüter müssen zusammenhalten und uns vor dem Einbruch der form-entwertenden Originale in unser Reich schützen.

Kio, der Klassenvorstand, hatte für Adlers Originalität zwar keine Billigung, aber ein heimlich-wohlwollendes Verständnis. Zur Strafe nannte er ihn einen Philosophen und rief ihn des öfteren mit den Namen Seneca oder Cartesius spöttisch auf.

Als ich in der Klasse erschien, genoß Adler unter den Schülern unbedingte Ehrfurcht. Keinem fiel es damals ein, etwas Komisches an ihm zu finden. Auch ich stand unter dem Banne dieser Verehrung. Nur manchmal, wenn er feierlich vor sich hinstarrte oder seine tiefsinnig-stockenden Antworten hervorstieß, verspürte ich einen Lachkitzel, den ich schnell unterdrückte.

Alle waren sich darin einig, daß dieser rothaarige Knabe der große Mann werden würde, den die Welt dereinst dieser Schulklasse verdanken solle. Dieses ›Alle‹ bestand natürlich aus einer geistigen Minderheit, aber diese Minderheit war tonangebend.

Der größere Teil der Knaben war dem Sport ergeben und hatte einen Fußballklub gegründet. Die Minderheit aber verstand es, die Sportsleute als niedrigere Kaste zu behandeln. Ich weiß noch genau, daß es auf mich in jenem Jahr einen Eindruck von ›Edelmut‹ machte, als die Geistiggerichteten (sie waren zumeist auch die Reichen) der Bewegungspartei ›die Seele‹ eines Fußballes schenkten. Der Anreger dieses Geschenkes war Adler. Er wandelte in den Pausen zumeist allein oder mit einem seiner Jünger. Die Fußballseele aber ließ erkennen, daß er trotz seiner Einsamkeit einen Führer-Einfluß auszuüben wußte.

Als Neuling hatte ich anfangs einen schweren Stand unter dieser Gemeinschaft, die einen anderen Dialekt sprach als ich und aus einer andern Kindheit stammte. Dazu kam, daß ihre Häupter einen Grad von Bildung besaßen, der mich sehr oft in gefährliche Lagen brachte.

Bald hatte ich mich als ein schlechter Schüler demaskiert. Es hätte mir bei meinen neuen Kameraden nicht geschadet, wenn ich ein schlechter Schüler auf interessante, nachlässiggeistreiche Art gewesen wäre. Ich aber gab nur tölpelhafte Antworten.

Schon drohte mir ein ruhmloser Untergang. Es fehlte nicht viel, und ich wäre zur Sportgruppe hinabgesunken, oder zu den Ausgestoßenen gar, zum Lumpenproletariat dort, wo Komarek hauste, wenn nicht das Ansehen meines Vaters mir geholfen und ein Gespräch, das ich mit meinem Banknachbarn Burda führte, mein Schicksal von Grund auf verwandelt hätte.

Es war unter den Schülern allgemein bekannt, daß Adler ein hochbegabter Dichter und Denker sei, Dramen verfasse und philosophische Aufsätze. Die Auserwählten, die seine Schöpfungen kannten, sprachen mit Bewunderung von ihnen und fast nur leise, als wie von kostbaren Geheimnissen. Eines Tages verriet mir Burda – vielleicht, um mir eine Gunst zu erweisen, vielleicht nur, um vor dem Neuen mit seinem bedeutenden Mitschüler zu prahlen –, er verriet mir, daß Adler ein neues dramatisches Werk vollendet habe und es demnächst in Blands Wohnung vorlesen werde.

Ich hörte diese Mitteilung an und erwiderte mit gleichgültiger Ruhe – während meine Nerven von einem unbekannten Ehrgeiz schmerzten –, daß mich Adlers Drama recht interessiere, umsomehr, da ich selber so manches schriebe und geschrieben hätte.

Dies war nicht gelogen. Ich hatte ein paar Gedichte gemacht, ohne etwas von diesen Spielereien zu halten, geschweige denn, sie jemandem zu zeigen.

Burda, der Jünger Adlers, sah mich von oben an:

»So!? Du dichtest!?«

Und jetzt log ich:

»Die Wiener ›Zeit‹ hat meine Gedichte in ihrem Sonntagsblatt veröffentlicht.«

Es war kein vorbedachter Schwindel, es war eine Lüge aus Inspiration. Mit einem Schlage war ich mehr als ein nur unter Knaben bewunderter Knabe. Ernsthafte Männer hatten mein Werk dem Druck übergeben. Ich fühlte in Burdas Augen den Schwung, der mich emporriß. Er, die gläubige Seele, verlangte keinen Beweis dieser Prahlerei. Sein klassenpatriotisches Herz war bereit, mich zu bewundern.

Als wir nach dem Mittagsläuten das Schulzimmer verließen, stellte mich Adler. Es war das erste längere Gespräch zwischen uns. Er sah mich mit seinen leicht-entzündeten Augen an:

»Du bist also ein Dichter?«

Eine furchtbare Beklommenheit warf sich über mich. Zugleich aber war mir's, als müßte ich diesem Jungen an die Gurgel fahren oder in ein fassungsloses Gelächter ausbrechen. Er fragte mich weiter:

»Du sendest deine Gedichte an Zeitungsredaktionen. Warum tust du das?«

Feige schwächte ich meine Lüge ab:

»Es geschieht natürlich nicht unter meinem Namen. Ich verwende ein Pseudonym.«

Er ließ sich nicht beirren:

»Wozu? Es sind ja gewiß keine reifen Arbeiten ... Wir sind noch zu jung!«

Es klang nicht so, als ob er mich kränken wollte. Der Nachsatz, der mich ihm gleichstellte, war liebenswürdig gesprochen. Ich aber hätte weinen können, heulen, daß dieser Junge mit dem Wasserkopf, mit den blinzelnden Augen mir überlegen war. Auf ihn hatte meine Lüge nicht gewirkt. Er setzte ihr seine unbeirrbare Wahrhaftigkeit entgegen, die an keinen Erfolg dachte, sondern nur an Wert.

Ich hatte bisher in meiner Schülerlaufbahn alle Erniedrigungen des Versagens leicht und dumpf hingenommen. Jetzt und in diesem Augenblick zum erstenmal erwachte in mir das Bewußtsein meiner untergeordneten Stellung. Ich war während dieses kurzen Gespräches, das mich zurechtwies, ich selbst geworden. Das Unerträgliche, jetzt erst wurde es unerträglich. Eine Besessenheit wuchs, diesen rothaarigen Burschen, dessen Ansehen mich quälte, ja, gerade ihn zu übertreffen und zu beugen. Durfte denn jemand über mir stehn!? Ich kann sagen, in diesem Augenblick erwachte der Charakter meines Vaters in mir.

Am nächsten Tage luden mich Bland und Burda feierlich zu der Vorlesung des Adlerschen Werkes ein.

Bland spielte in der geistig regsamen Gruppe unserer Klasse eine wichtige Rolle. Er war der Sohn eines Abgeordneten, besaß ein Zimmer, das von der väterlichen Wohnung abgetrennt lag, wodurch es für Zusammenkünfte als besonders geeignet galt. Er war Adlers Intimus, der weitaus Gebildeteste von allen, sammelte Bücher, und wir konnten bei ihm schon Nietzsche, Herbart, Mach und die neuesten Dichter finden. Die Bücher waren ihm heilig. Man mußte nur sehn, wie er sie in die Hand nahm. Niemals lieh er ein Buch aus. Wir waren gezwungen, sie in seinem Zimmer zu lesen. Er lebte, ja er liebte sogar nach ihnen. Als er später einmal eine Liebschaft mit einer verheirateten Frau hatte, war er ganz gebrochen von den einschlägigen Problemen, die all diese Bücher in ihn hineintrugen. Er war ein unendlich feiner, unendlich moralischer Mensch. Als Kriegsgegner ging er in den Krieg und fiel. Denn seine unbeugsame Moral gebot es ihm so.

Um vier Uhr, nach Schulschluß, versammelten wir uns in Blands Zimmer, dessen Situation so lebendig vor mir steht, daß es mir mitunter im Traum erscheint. Ich saß zwischen Faltin und Burda auf dem Bett. Schulhof hatte sich auf den Diwan geworfen. Der dicke Ressl wechselte oft seinen Platz. Alles war ihm zu unbequem. Den armen Bland sehe ich, wie er auf seinem bücherüberhäuften Schreibtisch sitzt. Adler aber hatte sich seinen Stuhl zur Glastür gerückt, denn in dem Raume herrschte trübes Licht.

Der Held der Tragödie war der berühmte Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, der faustische Freigeist des Mittelalters, wie ihn Adler schilderte. Das Werk machte einen so entscheidenden Eindruck auf mich, daß mir die Schlußszene, ja ganze Versreihen davon bis heute in Erinnerung geblieben sind:

Der Kaiser liegt in seinem sizilianischen Palast auf dem Sterbebett. Die Getreuen beten für das Heil seiner Seele, während er abgerissene Lästerreden gegen Gott führt. Man erwartet den Kardinal-Legaten, damit er die Seele des Leugners von der Hölle erlöse. Der Gesandte des Papstes kommt. Er führt mit sich das Sakrament, um es dem Kaiser, wenn er sein Ketzertum widerruft, zu reichen, und zugleich auch die Bannbulle, um ihn, wenn sein Trotz sich nicht brechen läßt, in die ewige Verdammnis zu stoßen. Es ergibt sich eine bewegte Szene zwischen dem Kardinal und dem Kaiser, der in seinem Unglauben nicht wankend wird. Die Ritter und Damen des Hofes flehen den Sterbenden an, die Erlösung nicht von sich zu weisen. Vergebens! Schon will der erbitterte Priester das Wort der Verfluchung aussprechen, als sich Friedrich in Verzückung erhebt und flüstert: ›Jetzt, ach, jetzt seh ich die Wahrheit ...‹ Ein Schrei der Genugtuung! Alles hängt an den röchelnden Lippen des Kaisers, den Laut der Buße zu hören. Der Kardinal neigt sich zu ihm nieder und spricht das Credo vor, damit er es noch wiederholen könne. Friedrich aber stößt mit letzter Kraft den Legaten zurück und schreit: ›Gott ist ...‹ Und mitten in diesem Satz sinkt er hin und stirbt. Ungelöst bleibt das ewige Geheimnis, das er im Sterben erkannt hat.

Noch jetzt, während ich mir die Handlung dieser Szene vergegenwärtige, bin ich ergriffen. Gewiß! Es ist die Arbeit eines Sechzehnjährigen, voll von Anklängen, Lebenslücken, Übertreibungen! Aber in dieser Stunde und in dieser Tragödie verstand ich zum erstenmal das Rührende alles künstlerischen Menschenwerks. Adler erträumte Menschen, lenkte ihre Schicksale und stümperte dies nicht nur fetzenhaft hin, sondern führte es planvoll zu Ende. Wie er es tat, und wie er es las, das war so versunken, so absichtslos, so rein! Nicht ein einziges Mal irrte sein Blick zu den Zuhörern hin. Ich entdeckte in seinem allzugroßen rothaarigen Kopf das Werden einer höheren Schönheit. Eine geistige, eine charismatische Schönheit war über ihn ausgegossen, während er las.

Wenn jemals, so war ich an diesem Nachmittag bereit, mein Ich auszulöschen und die begnadete Kraft eines Größeren anzubeten. Ich stand an dem Scheidewege, von dem des Dichters Wort spricht:

›Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.‹

Wär es nur nicht Franz Adler gewesen, der in seiner eigentümlich steifen Haltung dasaß, das kurzsichtige Antlitz in sein Heft noch immer vergrabend, als er schon geendet hatte.

So hingerissen ich war, wenn er beim Vorlesen schamhaft mit den Armen schlug, meldeten sich leise Anfälle meiner Lachlust.

Schulhof war mit Adlers monotoner Vorleseart unzufrieden. Er wollte den Fachmann zeigen und begann gewisse Stellen aus dem Manuskript zu rezitieren. Er schrie und machte sich unendlich wichtig. Wortlos nahm ihm Bland das Heft aus der Hand.

Mein Verstand gab sich geschlagen. Mein Selbstgefühl schien verstummt. Dies würde ich niemals erreichen. Jeder Wettkampf wäre blasphemisch. Und doch – wie schwer ist es hier, wahr zu sein – im Dunkel meines Gemütes kochte es. Kein Neid war es. Ich habe niemals Neid an mir erlebt. Einem andern hätte ich vielleicht den Kranz gegönnt. Einen andern hätte ich vielleicht geliebt. Adler gönnte ich den Kranz nicht. Habe ich ihn gehaßt? Ich schwöre hier, daß ich Adler niemals, in keinem Augenblick gehaßt habe. Aber seine Überlegenheit, gerade seine Überlegenheit ertrug ich nicht.

Warum? Nachträgliche Erklärungen haben wenig Wahrscheinlichkeit. Ich versuche gegen mich restlos aufrichtig zu sein. War mein Widerstand vielleicht dadurch bestimmt, daß ich in Adler den Juden fühlte, die Rasse also, von der man gerne alles hinnimmt, nur nicht Herrschaft?

Nachdem wir uns stundenlang über das Werk und seine Gestalten ausgesprochen hatten, wurde für den nächsten Tag neuerdings eine Zusammenkunft in Blands Zimmer verabredet, bei der ich mit meinen Versen debütieren sollte.

Voll Angst und schlechter Laune kam ich zu Hause an.

Was sollte werden? Ich hatte zwar ein paar Gedichte geschrieben, aber nachdem ich Adlers Tragödie kennen gelernt, ekelten sie mich an, schienen sie mir völlig überflüssig und unbegabt. Ich hatte mich auf ein gefährliches Gebiet locken lassen, wo ich nur Schande davontragen, dem Verfasser ›Friedrich des Zweiten‹ aber zu einem neuen Siege verhelfen würde.

Ich las all das alberne Gemächte durch, das sich in meinem Schreibtisch befand, all die schiefen Bilder, verlogenen Empfindungen und erschwindelten Gedanken, die der Reim billig mit sich selber erzeugt. Die Früchte meiner Prahlerei mußte ich nun ernten.

Zurück konnte und wollte ich nicht. Aber meine elenden Verse dem überscharfen Gehör Adlers und seiner Jünger ausliefern – das war unmöglich!

Kurz entschlossen begab ich mich ins Bibliothekszimmer meiner Tanten.

Wie merkwürdig leicht ist mir damals doch das Lügnerische und Verbrecherische gefallen. Ich erinnere mich nicht der geringsten Hemmung. Auch bin ich überzeugt, es würde mir heute im Notfall nicht schwerer werden, eine Unanständigkeit zu begehen. Darin dürfte der Grund zu suchen sein, daß ich meinen Beschuldigten gegenüber unsicher bin. Das schwankende Bewußtsein meiner eigenen Moral rettet sich in eine wohlgefällige Menschlichkeit, die keinem Verbrecher sein ›Herr‹ vorenthält. Widerlich! Wie anders war doch mein Vater! Ein Richter durch und durch! So kalt und hart er immer gewesen sein mag, in seinem Herzen saß unschmelzlich gefrorenes Recht. In mir ist kein Recht. Darum bin ich kein Richter. Ich bin zu feig zum Richter. Sie halten mich für verrückt, weil ich mich wehre, ins Präsidium zu kommen. Nein, es ist etwas sehr Tiefes, um dessentwillen ich mich wehre. Ich habe kein Recht, Urteilsrichter zu werden, ich muß als Untersucher sterben.

In der Bibliothek fand ich nach kurzem Suchen ein Buch, das mir geeignet schien. Es war das Gedichtwerk eines verschollenen Revolutionspoeten aus dem Jahre achtzehnhundertachtundvierzig, ein morscher Band, von dem wohl längst kein Exemplar mehr auf Erden weilt.

Justus Frey hieß der Dichter. Den Namen habe ich nicht vergessen.

Zwei Gedichte schrieb ich ab, ohne daß ich lange wählte, denn die Form der Strophen war glatt und volltönend. Eines davon trug den Titel:

›Was nennt ihr groß?!‹

Es schien gegen Napoleon oder den Feldherrenkult im allgemeinen gemünzt zu sein. Aber nicht wegen seiner pazifistischen Gesinnung, für die ich niemals Verständnis gehabt habe, gefiel es mir, sondern wegen seines Vollklangs. Auch hatte das Gedicht einen überredenden Beigeschmack, etwas, das auch in Adlers ›Friedrich‹ zu verspüren war. Vielleicht rechnete ich mit dieser Verwandtschaft. Von den vielen Strophen ist mir eine im Gedächtnis geblieben. Sie lautet:

›Was nennt ihr groß?
Das Haupt bekränzt mit schnöden Mördertaten,
Zerstampfen rings die wilddurchwogten Saaten,
Die golden brechen aus der Erde Schoß,
Das nennt ihr groß!?‹

Dieses Gedicht, das ich unbedenklich vortrug, wirkte auf Schulhof, Faltin und Ressl mit schlagender Kraft. Schulhof lernte sofort ein paar Strophen auswendig.

Bland war ganz betroffen und meinte:

»Es hört sich an, als wär's nicht in unserer Zeit geschrieben.«

Auch Adler hörte es mit achtungsvoller Verwunderung:

»Du hast eine sehr musikalische Sprache. Vielleicht kommt das daher, weil du aus Wien bist ...«

Er schien bisher nichts von mir gehalten zu haben. Denn er zerbrach sich sichtlich den Kopf über mein Talent. Nach einer Weile wandte er sich wieder an mich:

»Sag mir eines! Was gehen dich diese Dinge an, die du gedichtet hast? Krieg und Napoleon!? Ich habe mir nicht gedacht, daß du dich dafür interessieren könntest ...«

War das wieder die Überheblichkeit, die ich immer zu spüren vermeinte? Nein! Ich glaube, es war ein tiefes Zartgefühl für verletzte Wahrheit. Adler zweifelte gewiß nicht an der Echtheit des Poems, und doch hatte er gefühlt, daß etwas damit nicht stimmte. Wieder mußte ich erfahren, wie hoch dieser unscheinbare Knabe, diese unbestechliche Seele, über mir stand. Jetzt steckte mir das Bewußtsein meines Schwindels in der Kehle.

Durch dieses Plagiat aber hatte ich mir mit einem Mal eine geachtete Stellung unter meinen Kameraden verschafft. Ihr Verhalten gegen mich war wie ausgewechselt. Wenn ich jetzt bei Prüfungen Böcke schoß und Unsinn von mir gab, so war es etwas anderes als früher; der Unsinn wurde dadurch gerechtfertigt, daß er aus der Zerstreutheit eines Dichterhirns getreten war.

So hatte ich es einer ehrlosen Handlung zu verdanken, daß ich im Ansehn emporstieg und mich wohl zu fühlen begann.

Die beiden Frauen, bei denen ich lebte, ließen mir jede Freiheit. Ich durfte zum Beispiel, an welchem Abend ich nur wollte, ins Theater gehn. Diese Erlaubnis nützte ich schrankenlos aus. Aus jener Zeit ist mir die Theatersucht geblieben, die mich noch heute treibt, so manchen Abend zu verschwenden. Ich habe nämlich nur ein mäßiges Interesse für Schauspieler, Sänger, Komödien und Opern. Die Bühne selbst langweilt mich zumeist. Aber das Betreten des Zuschauerraums, das Rauschen der Menge, die unverbindliche Lockung der Frauen, das Promenieren in den Pausen, all dies übt den gleichen schmachtenden Reiz auf mich aus wie in der Jugend, da das Leben noch unerreichbar war. Vor einem Jahr überfiel mich im Foyer eines kleinen Pariser Theaters dieser Lebensrausch mit ungemeiner Kraft. Ich verließ das Haus, denn meine Trunkenheit war bitter von Reue ...

Schulhof, Faltin und ich stellten uns schon zu früher Stunde bei den Kassen der Theater an, denn es gehörte eine eigene Strategie dazu, auf der Galerie oder im Stehparterre einen guten Platz zu erobern.

Faltin war hier in seinem Element. Er wußte alles. Nicht nur hatte er in seinem kurzen Leben jede Oper, jedes Schauspiel schon gehört, er kannte auch haargenau die Verhältnisse der Künstler, den Klatsch der Garderoben. Obgleich seine Eltern unbemittelt waren und er selber keine musikalische Gabe besaß, erbettelte er sich doch die Erlaubnis, im Sommer nach Bayreuth pilgern zu dürfen. Ihn zog es nach den Mittelpunkten des Geschehns. Hier aber, in unseren städtischen Theatern, wußte er alle Damen, die in den Logen saßen, mit Namen zu nennen; er stellte trotz mangelnden Gehörs fest, daß der Tenor seine Arie hinunter transponiert habe, daß die Sopranistin einen ›glasigen‹ Ansatz zeige. Schulhof wiederum kopierte alle Schauspieler und konnte ganze Passagen aus den ödesten französischen Komödien auswendig hersagen. Ich sehe ihn, wie er auf dem Korridor vor unserm Klassenzimmer steht, das ungelöste Deckglas einer Taschenuhr ins Auge klemmt und sich sarkastisch gegen Faltin verneigt: ›Eilen Sie, Marquis! Versuchen Sie Ihr Glück! Wer weiß, ob Frau von Blainville später in der Lage sein wird, Sie zu empfangen ...‹

Diese Theatergänge gaben mir die Idee ein, wir sollten in unserer Klasse einen dramatischen Verein, einen Lesezirkel gründen, um die großen Dramen der Literatur mit verteilten Rollen zu rezitieren.

Derartige Ideen tauchen in jeder Sexta jedes Gymnasiums auf. In diesem Falle aber hatte ich, der Fremdling zu Sankt Nikolaus, sie als erster ausgesprochen.

Burda griff die Sache sofort auf und befragte Adler.

Dieser befahl uns wiederum in Blands Wohnung. Dort vollzogen wir – Adler, Bland, Schulhof, Faltin, Ressl und ich – die Gründung des dramatischen Vereins. Wir besprachen in hitzigem Eifer Ziel und Richtlinien des Zirkels und legten die Formen fest, in denen unsere Versammlungen vor sich gehen sollten.

Adler blieb merkwürdig ruhig, während ich glühte. Ja, ich fühlte meine Kräfte. Nun war ich legitimiert und eingebürgert. Aus dem Mißachteten, dem Zugewanderten hatte sich ein mehr als brauchbares Mitglied der Klassengesellschaft entpuppt. Wie liebte ich schon diesen Lesezirkel! Zwei- oder dreimal im Jahre sollte er mit großen Leistungen hervortreten! Dann würden wir die ganze Klasse einladen, die staunende Fußballmannschaft, ja vielleicht sogar unsere Nachbarklassen noch, und so binnen kurzer Frist das ganze Gymnasium von Sankt Nikolaus uns unterwerfen ...

Vielleicht tat ich im Vollgefühl meines Sieges an diesem Nachmittag des Guten zu viel. Adler war kalt geblieben.

Auf dem Heimweg – es waren dieselben Straßenzeilen, auf denen ich noch heute tagtäglich zu Gericht gehe – war ich mit ihm allein. Noch immer entwickelte ich mit Fanatismus neue Einzelheiten unseres Vereins, schlug ›Die Räuber‹ als erstes Werk der Darbietung vor und traf sogar die Rollenbesetzung, bei der ich mir den Franz Moor zuschanzte.

Da machte Adler halt. Es war ein schmutziggrauer Winterabend. Er trug einen dünnen Rock und schien zu frieren. Sein Gesicht war blaß. Vielleicht bedachte er gar nicht, was er sagte. Er reckte sich hoch:

»Was willst du eigentlich? So viel Platz kommt dir gar nicht zu. Sei froh, daß du überhaupt mittun darfst, und warte auf die Rolle, die man dir zuweisen wird.«

Mit diesen Worten hatte ein Führer die Anmaßung des Untergebenen zurückgewiesen, der seiner Würde allzu nahe trat.

Und doch, diese Worte waren Adlers Schuld, mehr, sie waren sein Schicksal, denn sie entfesselten den Teufel in mir. Es klingt unsinnig, aber ich ahne es, ja diese Ahnung brennt mit scharfem Feuer jetzt, hätte Adler diesen einzigen Satz nicht ausgesprochen, er wäre heute nicht als Gescheiterter vor mir gestanden.

Ich brachte kein Wort heraus, lief davon. Ganz verweint kam ich zum Abendessen. Meine Tanten waren entsetzt über mein Aussehn. Die Beleidigung, das Unrecht hatte mich ins Mark getroffen. Der Lesezirkel war ja meine Schöpfung, der erste gelungene Versuch, in einer fremden Welt Boden zu fassen. Ich erwog, ob ich nicht mitten im Schuljahr das Gymnasium wechseln könnte.

In der Nacht erlitt ich den Anfall einer wüsten, qualvollen Leidenschaft, die ich noch nicht kannte. Ich glaube, es muß Rachsucht gewesen sein, denn ich bin rachsüchtig. Am Morgen war ich müde und ruhig. Die Beleidigungswunde schmerzte nicht mehr.

Ich meldete Burda sofort meinen Austritt aus dem frischgegründeten Zirkel.

Meine Stellung unter den Kameraden war schon so sehr gefestigt, daß die Abmeldung starke Wirkung übte und mir neuen Respekt eintrug. Die Knaben baten mich inständig, meinen Entschluß zurückzunehmen. Ich blieb hart: Gerne könne ich darauf verzichten, eine untergeordnete Rolle nur deshalb zu spielen, weil ich erst einige Monate mit ihnen bekannt sei. Im Übrigen sollten sie meine Idee und meinen Organisationsplan, die schließlich mir und keinem andern eingefallen wären, ruhig zum Geschenk annehmen ...

Daraufhin geschah mehrere Tage nichts anderes, als daß Burda, Adler und Bland auffällig oft die Köpfe zusammensteckten.

Zu Beginn der nächsten Woche aber kam Burda zu mir ins Haus und schlug vor, ich solle das Amt eines Schriftführers in dem Verein übernehmen. Präsident müsse selbstverständlich Adler sein. Es war klar, daß Bland auf diese Würde, die einzig ihm allein zustand, verzichtet hatte, um mich zu versöhnen und wieder zu gewinnen. Das war sehr viel, das war eine hohe Ehre und ein Triumph! Ich widerstand nicht mehr.

Der Lesezirkel wurde zur Tat. Wir kamen jetzt allwöchentlich zusammen und nicht nur in Blands Zimmer. Jedes Mitglied stellte nach Möglichkeit im Turnus seinen Wohnraum zur Verfügung. Es begann, wie ich's vorgeschlagen, mit den ›Räubern‹. Niemand machte mir den Franz streitig, da Schulhof auf den jugendlichen Helden Karl nicht verzichtet hätte. Wir saßen nicht an einem Tisch, sondern vollführten mit dem Buche in der Hand geräuschvolle Aktionen. Adler gab sich damit zufrieden, alle kleineren Rollen im Stück zu übernehmen. Ressl war ausersehen, die Frauen darzustellen, weil er hellblonde Haare, eine weiße Haut hatte und üppig aussah. Ich erhitzte mein Temperament künstlich. Oft gab ich, ehe wir uns Schiller zuwandten, Gedichte zum besten. Justus Frey war unerschöpflich. Adler selbst war in diesen Stunden seltsam unbelebt. Vielleicht stieß ihn unser Treiben ab. Er sah aus wie ein Mensch, der eine körperliche Verwandlung durchmacht. Ich vermied es, mit ihm allein zu sein.

Wie lang, wie reich sind doch Knabentage!

Während langer und reicher Knabentage glaubte ich die schwere Beleidigung, die mir Adler zugefügt hatte, vergessen zu haben. Das heißt, ich dachte nicht mehr an sie. Aber in meiner Natur hämmerten die überheblichen Worte weiter und wurden zu einer häßlichen Kraft, die an den Tag treten wollte. Dies geschah unversehens. Noch heute geht es mir so: Ich bin nachträgerisch, ohne es zu wissen. Plötzlich, mich selbst überraschend, springt es dann hervor, was sich im innern Dunkel oft jahrelang gebildet hat. Und, wäre ich nicht nachträgerisch, würde ich mir dann heute diese Geschichte selbst nachtragen!?

Wochen vergingen.

In der Turnriege war, wie ich bereits sagte, Adler mein Nebenmann. Ich hatte in Wien schon für keinen üblen Turner gegolten. Hier, bei Sankt Nikolaus, wo es so viel Geistige und Bücherwürmer gab, fiel ich sogar aus dem Rahmen des Gewohnten heraus. Der Überwertung des Geistes bei einem Teil meiner Mitschüler und ihrer Geringschätzung des Turnens war es zuzuschreiben, daß man Adler in diesen Stunden unbeachtet ließ. Sein riesiger Kopf mit der scharfen Brille, sein matter Hals, sein schmaler aber saftloser Körper (wir turnten im Hemd), seine Beine, die sich steif fortbewegten, dies alles bot keinen erfreulichen Anblick für ein Turnerherz. Niemand aber machte sich über diese Erscheinung Gedanken, die an einer Stätte körperlicher Tüchtigkeit verletzend wirkte. So und nicht anders sah eben die leibliche Gestalt eines überragenden Geistmenschen aus. Selbst der straffe Turnlehrer nahm dies wortlos hin. Was sollte er tun? Adler war Adler!

Einmal – wir standen schon im zweiten Semester dieses Jahres – waren wir beim Barren angetreten, um jene Übung auszuführen, die man die ›Schere‹ nennt. Es ist dies ein simples Kunststück, das mit ein wenig Geschick jedes Kind zustande bringt. Im Vollschwung muß man sich herumwerfen und zugleich in die Grätsche gehn.

Ich hatte meine Schere mit elegantem Schwung vollführt.

Jetzt kam Adler daran. Langsam, mit vorwärtszagenden Beinen, trat er an das Gerät. In Gedanken ließ er den schweren Kopf hängen. Es war ein absonderliches Bild. Alles sah gespannt hin. Er zog sich mit Mühe auf und blieb in Stütze. Nun schloß er die Augen, jenes feierliche Starren breitete sich über sein Gesicht, der Mund stülpte sich vor, und während sein Oberkörper hilflos steif blieb, begannen die Beine, als hingen sie lose in Scharnieren, auf unnachahmliche Weise zu schwingen.

Alles blieb ernst.

Auch ich hätte in diesem Augenblick meinen Lachreiz wie schon so oft beherrschen können. Aber es kam wie ein Rausch über mich. Ich sah den immer Überlegenen in seiner Armseligkeit. Jetzt, jetzt wollte ich mich nicht beherrschen. Ein Lachkrampf, der Teufel, fuhr aus meiner Kehle.

Zuerst sahen mich die Schüler erstaunt an.

Dann aber begannen die Mitglieder des Fußballklubs, die guten Turner, einer nach dem andern, in mein Lachen einzustimmen, erst zaghaft, später immer voller und höhnischer. Auch in ihren Herzen brannte Rachsucht gegen den Geist. Der Teufel in meinem Lachen wirkte suggestiv. Jetzt lachten alle. Selbst Bland konnte sich nicht entziehen. Es ist mir so, als wäre damals nur Komarek, der wilde Mensch, still geblieben.

Zuletzt sagte unser Turnlehrer, der schadenfroh übers ganze Gesicht grinste:

»Wissen Sie, Adler, da kann wirklich kein Mensch den Ernst bewahren!«

Nach diesen Worten erhob sich eines jener hysterisch-grausamen Lachgewitter, ein gellender Hohnschrei, wie ihn nur eine Schulklasse auszustoßen vermag.

Der Lehrer befahl, indem er einer lange gebändigten Bosheit freien Lauf ließ:

»Versuchen Sie's noch einmal, Adler!«

Und Adler, von immer neuen Lachsalven umknattert, brachte seine hilflosen Beine in Schwung, machte verzweifelte Bewegungen, taumelte auf dem Gerät hin und her und ließ sich endlich, da ihm der Turnlehrer nicht zu Hilfe kam, erschöpft niederfallen.

Als er in die Reihe zurücktrat, war das Gelächter erloschen. Aber alles wandte sich von ihm ab, und wie aus Verlegenheit sprach niemand ein Wort mit ihm.

Die Stunde war zu Ende.

Wir hatten uns in der Garderobe des Turnsaals angekleidet, um das Schulhaus zu verlassen. Da winkte mir Adler. Seine Stirne wies große rote Flecken auf.

»Schäm dich«, sagte er.

»Warum soll ich mich schämen? Vielleicht, weil du ein Patzer bist?«

Er kam auf mich zu, ganz dicht. Seine Augen waren fest geschlossen. Und dann umfingen wir uns zum Kampf. Es war ein langes, ein inbrünstiges Ringen. Alle Wunden aller Erniedrigungen in mir brachen auf und wurden Kraft. Und ich brauchte diese Kraft. Denn auch Adler entwickelte wilde, überraschende Kräfte. Am Gerät hatte er vorhin versagt. Aber hier, dem Menschen gegenüber, wußte er, um was es ging. Wie sehr hatte ich diesen Körper unterschätzt! Muskeln und Sehnen strafften sich. Die Leidenschaft gab ihm Geschick und gute Griffe.

Adler preßte meinen Brustkasten zusammen, daß mir die Luft ausging. Oft glaubte ich schon, verloren zu sein. Niemals vergesse ich diesen gewaltigen schweigsamen Kampf. Es ging um unsere Existenz. Weh mir, wenn mich Adler auch körperlich besiegte! Niemand trennte uns. Alle schienen zu spüren, daß hier keine gewöhnliche Bubenrauferei vor sich gehe, daß hier ums Leben gerungen werde. Totenstill umgab uns der Kreis der Zuschauer. Schon konnte mein Herz kaum weiter, der Schweiß näßte mein Hemd, ich wurde schwach. Adlers Stirn war trocken. Er kämpfte gleichmäßig. Aus der Tiefe wuchsen seine Kräfte. Nur die wilden Atemstöße pfiffen. Jetzt erwischte er meinen Hals und begann mich zu würgen. Dadurch bekam ich im letzten Augenblick den Untergriff und warf ihn mit meiner ganzen Wucht zu Boden. Noch einmal bäumte er sich auf. Doch ich, von einem namenlosen Genuß durchschüttert, drückte seine Schultern nieder und kniete auf seiner Brust.

Ich, der Sieger, erhob mich.

Adler blieb noch eine Weile lang schlaff liegen, dann stand auch er auf.

Niemand sprach etwas. Die meisten taten so, als wäre hier keine Feindschaft ausgetragen worden, sondern nur ein sportlicher Ringkampf.

Ich reichte Adler ernst die Hand. Er nahm sie. Wir gingen mit einem gemurmelten ›Servus‹ auseinander. In diesem Moment war es mir, als hätte ich ihn lieb.

Auf der Straße stieß ich auf Komarek. Er nahm die Hände nicht aus den Taschen:

»Ich hab mir gleich gedacht, daß du ein gemeiner Kerl bist ...«

Ich hörte den Schimpf wohl, aber bemerkte ihn nicht und ging, pfeifend, weiter.

Am nächsten Morgen, in der Homerstunde, geschah es das erstemal, daß Adler vollkommen versagte. Als er zum Übersetzen aufgerufen wurde, machte er den Mund nicht auf. Kio ging stumm zweimal auf und ab. Dann grollte er:

»Was ist mit Ihnen, Adler? Sind Sie krank oder nicht ausgeschlafen?«

Er zeigte aber Nachsicht und rief einen andern vor.

An diesem Tage begleitete ich Adler nach Hause. Zum erstenmal schlug ein großes philosophisches Gespräch sein Band um uns. Wir waren einander näher gekommen.

Etwas hatte sich entschieden ...


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