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Hans-Peter Ochsner, Ratsherr und Bauer auf dem Ochsnerhof, erinnerte an eine Eiche, die auf einem Hügel steht, weithin sichtbar. Allein steht sie da, höher als alle andern. Stark, gross und breit.

Man sieht solch eine Eiche von weitem. Im Sturm steht sie fest, beugt sich nicht und ergibt sich nicht. Im Land herum sagt man von ihr: Die Eiche. Ein jeder weiss, welche gemeint ist.

Ungefähr so verhielt es sich mit dem Ochsner. «Der Hans-Peter sagt» – «der Ochsner meint – will oder will nicht», so sprach man von ihm in der kleinen Stadt an der Birs.

In der Grossratssitzung am ersten Donnerstag jeden Monats wurde seine Stimme gehört. Man widersprach ihm nicht gern. Man musste seiner Sache sehr sicher sein, und es gehörte Mut dazu. Der Ochsner blieb selten eine Antwort schuldig, und was er vorbrachte, hatte festen Boden und Hintergrund.

Es sassen da manche, denen er Geld geborgt hatte. Die stellten sich ihrem Gläubiger nicht gern entgegen. Sie hätten aber wissen können, dass, wenn Unwetter oder Seuche oder Krankheit einen Schuldner überfallen, er von Hans-Peter nichts zu fürchten hatte. Der war kein Wucherer. Kein «Uhung», wie sein Vater diese Sorte Leute genannt hatte.

Es lag freilich manches gute Wertpapier im hintern Fach des schönen Ochsnerschrankes, in dem die Kostbarkeiten der Familie aufbewahrt wurden und sich vom Vater auf den Sohn vererbten. Da waren die silbernen Schützenbecher, schwere Göllerketten, alte Lutherringe, breite Nuster aus Granaten, goldene Tabakdosen von der Franzosenzeit her. Da ruhten und vergilbten pergamentene Dokumente mit grossen roten Siegeln daran, kurz, es war alles da, was eine alteingesessene reiche Bauernfamilie aufzuweisen und zu bewahren hatte.

Man behauptete, dass alle auf den Hans-Peter hörten, er aber auf keinen. Es mochte seine Richtigkeit haben. Seine Meinung änderte er nur schwer. Vor allem verstand er seine Sache, zu lernen hatte er nichts mehr. Er prüfte das Alte und behielt oder verwarf es. Er prüfte das Neue und tat ihm jede Ehre an, wenn es sie verdiente. Sein Hof gedieh und wuchs sich zu einem Musterhof aus, und mancher junge Bauernsohn hielt sich nicht für zu gut, ein halbes Jahr oder ein Jahr auf dem Ochsnerhof als Knecht zu dienen. Wenn er ihn verliess, durfte man ihm ruhig auf die Schulter klopfen.

Der Tannenhof, den der Gabriel, der Bruder, bewirtschaftete, lag wenige Minuten über demjenigen Hans-Peters. Auch er hatte sein Land in die Höhe gebracht, wenn es auch nicht so leicht ging wie unten, denn dort war Geld genug da. Der Tannenhofbauer aber hatte seine lustige Isolina geheiratet und sich auf seine starken Fäuste, seine aufmerksamen Augen und den lieben Gott verlassen. Bis zur Stunde hatte es ihn noch nicht gereut.

Eben war er heruntergekommen zum Hans-Peter, um ihm eine Mitteilung zu machen. Dies tat er stets mit so wenig Worten als möglich.

Dafür, dass der Bruder gekommen war, ihm anzuzeigen, die Seuche sei im Land, dafür dankte ihm der Ochsnerbauer. Als er ihm aber von den kleinen Abwehrmitteln reden wollte, von den Vogelscheuchen und den Mäusefallen, die verhindern sollten, dass die Seuche sich auf seinen Hof wage, da hatte ihm der Ochsner die Rede abgeschnitten wie mit einer Schere.

«Es gilt aber Ernst, Hans-Peter», hatte der Gabriel gesagt. Der ältere Bruder hatte die Achseln gezuckt, und der Tannenhofbauer war aufgestanden, hatte sein schwarzes Pfeifchen aus dem Hosensack gezogen und es angezündet.

«Also leb wohl! Gesagt habe ich es nun. Du weisst, was nötig ist. Mach jetzt, was du willst.»

«Immer. Das versteht sich von selbst», gab der Ochsner zurück, reckte sich und fuhr mit seinen fünf Fingern durch sein dickes schwarzes, nur leicht angegrautes Haar wie mit einer Heugabel. Seine Stirne wurde dadurch frei. Sie war breit, nicht hoch. Die Stirne eines Stieres. Gebuckelt wie sie.

Darunter das braune, wuchtige Gesicht, schön in seiner Einfachheit und Kraft. Gabriel ging.

Der Bauer war unruhig geworden. Sollte an dem Gerücht etwas Wahres sein? War die Seuche wieder aufgeflackert? Begann der Schrecken von neuem? Es drängte ihn, zu seinen Ställen zu kommen.

Eine Doppelreihe von Kühen war da, eine schöner als die andere. Der Stier, schwarz, wie aus Ebenholz geschnitzt, mächtig wie ein Urochse, stand zwischen zwei Barren an einer dicken Kette. Ein Prachtstier, das eine Auszeichnung nach der andern – und zwar nicht etwa braune oder kupferne, nicht silberne bloss, sondern goldene heimgebracht hatte. Wie ein Klotz stand er da auf seinen vier wuchtigen Beinen, kaute, mahlte, rasselte mit den Ketten und schaute zornig aus seinen wilden Augen.

Ochsner ging von einer Reihe zur andern. Er war zufrieden mit seinen Knechten. Überall standen, hingen und lagen die Dinge, wo sie sein sollten. Die Maschinen, die Pflüge, die Wagen, alles war unter Dach. An grossen Holzrechen hingen Sensen und Heugabeln. Das Geschirr der Pferde in der Sattelkammer, die Kübel, die Kessel, die Brenten im Milchkeller glänzten vor Sauberkeit.

In den Ställen herrschte der angenehme Geruch von Heu, Pferden, Holz und der Duft wohlgepflegter Kühe. Im zweiten Stall nebenan schnaubten und stampften die Pferde, als sie den Schritt des Meisters hörten. Hans-Peters Augen glänzten vor Freude.

So ein Stall voll Vieh, dachte er. Überhaupt das Vieh! Gott segne es.

Darauf gab er seinen Knechten die nötigen Befehle, die Seuche betreffend. Was gesetzlich verboten war, musste unterbleiben. Was geboten war, sollte getan werden. Nicht mehr, nicht weniger. Mehr nicht, denn wäre es notwendig, so wäre es auch geboten worden: Es hatte niemand vom Hof ein fremdes Besitztum zu betreten. Besuche und Händler durften nur unter Beobachtung aller Verordnungen eingelassen werden.

Er fürchtete sich ebensosehr vor der Seuche wie sein Bruder Gabriel. Aber er wollte nur sich selbst und seiner Umsicht vertrauen und sich weder belehren noch warnen lassen. Er wusste, was nötig war. Sägespäne zum Streuen waren immer da. Lysol stand stets in der Sattelkammer. Peinliche Reinlichkeit war sowieso befohlen und wurde betätigt.

Nach der Besichtigung der Stallungen, der Tenne, der Milchkammer wusste er, was er wissen musste, und dessen er sich täglich neu versicherte. Es war endlich Zeit, sich auszuruhen.

Langsam, geniesserisch ging er seinem Hause zu und zündete vor der Haustüre umständlich seine Pfeife an. Er wollte sich und ihr die nötige Aufmerksamkeit verschaffen, denn nach seiner Meinung gehörte sie zum Manne. Als er eintrat, hatte er sich über die erwartete Aufmerksamkeit nicht zu beklagen.

Er setzte sich in seinen gestrickten und verblichenen Lehnstuhl an das Fenster, von dem er strassauf und -ab alles überblicken konnte, was ihm des Schauens wert war.

Am andern Fenster sass Georgine, seine Frau. Sie erkundigte sich, was der Gabriel gewollt habe. Ochsner berichtete, dass er ihm mitgeteilt, die Seuche sei in Roche eingebrochen. Er erwähnte die lächerlichen Vorsichtsmassregeln, die der Bruder anwenden und mit denen er gegen die Seuche angehen wolle. Vögel und Mäuse, behauptete er, hülfen zum Verderben mit.

«Er ist sonst nicht uneben und versteht seine Sache», wandte die Frau ein. Aber der grosse Mann machte eine einzige Handbewegung, und sie schwieg. Ängstlich bewundernd sah sie auf zum Ochsner vom Ochsnerhof, dem Hans-Peter.

Das bedeutete etwas, ein Ochsner zu sein. Die Vorfahren waren Leute in Amt und Ehren gewesen. Man kannte sie im Bernerland. Aber das war lange her.

Hans-Peter hatte den geduckten Blick seiner Frau wohl gesehen. Er ärgerte sich. Warum stand sie immer da, als hätte jemand sie irgendwie stehengelassen? Das kleine Gesicht, die schmalen Schultern, die ängstlichen Augen und der trippelnde Gang passten nicht in diese Stube voll hundertjähriger Erinnerungen.

Und doch hatte sie Hans-Peter seinerzeit besser gefallen als alle die Mädchen, mit denen er Sonntags getanzt hatte. War es der ihm angeborene Widerspruchsgeist, war es der Gegensatz ihrer weiblichen Zartheit gegenüber seiner ungebärdigen Männlichkeit, war es einfach sein Schicksal, dass ihn das schüchterne Mädchen angezogen und dass ihm Herz und Sinne das zierliche Ding immer wieder vorgespiegelt hatten?

Später aber, als er älter wurde und das Ochsnerblut aus seinem Liebesschlaf erwachte, begehrte er nach Kraft und Widerstand.

Georgine wäre am liebsten wie ein Hauskätzchen immer hinter dem Ofen gesessen und hätte die Geschichte von Noah, die auf den Kacheln abgebildet war, gerne einmal gründlich studiert. Aber dazu hatte sie nie Zeit, denn sie war nicht faul, die kleine Frau. Sie führte ihren Haushalt aufs beste, und es ging alles wie am Schnürchen. Teils, weil ihre Mutter sie in Strenge dazu erzogen hatte, teils, weil hinter allem, was sie tat, der Gedanke an ihren Mann, den Hans-Peter, und der Respekt vor ihm standen. Im übrigen hatte sie Hilfe genug.

«Wo ist Tilly?» fragte Ochsner plötzlich.

«Sie wird im Garten sein», sagte nach kurzer Pause die Frau. «Sie legt Zwiebeln nieder. Vielleicht ist sie aber bei den Hühnern. Es ist da eines, das mir ... sie will nachsehen ...» Georgine sprach hastig, unsicher und spielte mit ihrem Schürzenzipfel, was der Bauer nicht leiden konnte.

«Ich will wissen, ob sie mein Gebot hält oder nicht», sagte er. «Etwas anderes will ich nicht wissen.»

Georgine warf einen Blick aus dem Fenster in den Gemüsegarten und dann auf ihren Mann. Sie hatte die Tochter nirgends gesehen, weder bei den Zwiebeln noch beim Lauch.

Ochsner ging auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Auch seine Gedanken woben ungeduldig hin und her, und das unerfreuliche Gewebe galt seiner Frau.

Ihr Leben lang hat sie zu allem ja gesagt, dachte er. Immer ja, immer ja. Es wurde einem schon übel dabei. Jetzt sagt sie nein, da es um Tilly geht. Jetzt hat sie Mut, die dünne Kreatur.

Ohne ein weiteres Wort ging er aus der Türe. Georgine sah ihm nach. Ihre Gedanken kreisten um einen Punkt: Er hat mich doch einstmals auf seinen Armen ins Haus getragen, damals, als wir allein waren, und hat mir Liebes ins Ohr geflüstert. Wie ein Glöcklein sei meine Stimme, sagte er.

Aber aus feinen, zarten Glöcklein werden nie und nimmer mächtige Glocken. Das hätte der Ochsner wissen müssen und es auch verstehen sollen. Aber auch sie, die kleine Ochsnerin, hatte ihn nicht recht verstanden. Die harmlose Georgine war ein Landkind und kannte keinerlei Künste. Sie hatte es nie gewagt, ihren Vorteil wahrzunehmen. Von ihrem Weibtum und dessen Macht wusste sie nichts. Wer hätte sie darin unterrichten sollen? Sie hatte es daher ihrer Lebtag nie verstanden, mit einem Manne umzugehen, der, wie ihr im Laufe der Zeit klar geworden war, mit Pulver gefüllt war. Sie hätte sich stellen, sich wehren, auch einmal vorgehen und sich nicht ewig in der Defensive halten sollen. Aber statt aufzutrotzen und ihr Recht zu begehren, hatte sie angefangen, ihn zu fürchten.

Ja, eben. Wie das Kätzchen sich auch vor dem grossen, knurrenden Hofhund fürchtet. Es hat auch nur die Wahl, entweder sich zu verstecken, oder aber dem Gegner mit den Tätzchen blitzschnell über Schnauze und Nase zu fahren.

Georgine wählte das Versteckspiel, und Hans-Peter wurde Meister. Umgekehrt wäre es vielleicht laut zugegangen, hätte aber dem Ehegeneral doch gefallen. Und Meister wäre er sowieso geblieben.

Georgine waren von der Natur keine Waffen mit ins Leben gegeben worden. In dem zarten Spinngewebe, das Jugend, glatte Haut und blaue Augen bilden, bleiben Hirschkäfer nicht hängen. Das müssen schon stärkere Fäden sein, die solch einen Kerl festhalten können. Es war ihr auch das Gift der bösen Zunge nicht anvertraut worden, noch das Feuerwerk des Witzes und der lustigen Einfälle. Es standen ihr ebensowenig die Hörner starker Gegenwehr zur Verfügung, die manche kampflustige Stirn aufzuweisen hat, wenn auch unsichtbar.

Das einzige, was ihr bei Überfällen hätte helfen können, waren Tränen. Und gerade das ertrug der Ochsner nicht. Sie wurde sich dessen bald bewusst und mühte sich, sie zu unterdrücken.

Die paar ersten Male, als ihr die Tränen über die runden Bäcklein liefen, war sie hinausgelaufen, um sie mit der Schürze wegzuwischen. Das wurde aber nicht richtig gedeutet. Hans-Peter nahm es für Trotz oder schlechte Laune und verbat es sich, und seither blieb, wenn ein kleines Gewitter am Himmel stand, die gute Georgine am Fenster sitzen und wischte sich mit einem Zipfelchen von dem, was sie gerade flickte, behutsam die Augen.

Etwas – man sollte es nicht glauben – hatte sie aber doch, das sie schützte: Das Mitleid. Wenn sie klein und fein und hilflos zu ihrem grossen Mann aufschaute, regte sich sein eingeschlafenes, aber nicht totes Gefühl, und er strich ihr über das Gesichtlein, das er mit einer Hand bedecken konnte.

«Du, Kätzchen, du, Kleines!» und dann war Georgine glücklich.

Aber je weiter sich der Ochsnerhof ausdehnte, um so kleiner wurde sie. Je wuchtiger an Gestalt der Ochsner, je grösser sein Ansehen, das des Herrn Ratsherrn, wurde, um so mehr schrumpften das kleine Gesicht und der kleine Mut der Frau Ratsherrin zusammen. Zuletzt suchte sie nicht einmal mehr nach ihm, sondern ergab sich.

Und dabei hätte der Hans-Peter gerade eine Frau mit Spiess und Schild haben müssen. Gelangweilt hätte er sich dann nicht.

Äusserlich erwies er ihr alle Ehre, und knauserig war er nicht. Was die Georgine sich zu wünschen erlaubte, das bekam sie. Und am Sonntag ging sie im seidenen Rock zur Kirche. Nein, nein, er liess es an nichts fehlen. Aber ihre Untertänigkeit missfiel dem stolzen Mann. Ihre Ängstlichkeit ärgerte ihn.

Wenn der Ratsherr Ochsner und seine Frau, geborene Röthlisberger, zur Kirche gingen, mussten sie wohl an die zwanzigmal grüssen von ihrem Hof bis zum Kirchplatz. Und kein einziges Mal grüssten sie zuerst.

 

Tilly Ochsner ging ihrem Vater aus dem Weg. Sie hatte Gründe dazu. Lange Jahre war sie sein Liebling gewesen und nahm in seinem Herzen einen viel grösseren Raum in Anspruch als ihr älterer Bruder Pierre, der zwar nach dem Vater und dem Grossvater getauft worden war, aber nun zunächst in der Schule und von seinen Kameraden, dann auch zu Hause französisch gerufen wurde.

Der Junge, behauptete Ochsner, habe Art und Temperament von der Mutter, die Tilly aber sei nach ihm geraten. Und je älter sie wurde, um so ausgeprägter und deutlicher zeigte es sich, dass sie ungefähr ebensowenig von etwas lassen konnte wie ihr Vater.

Es gab daher im Laufe der Jahre Befehle und Nichtachtung der Befehle. Es gab Strafen und Umgehen der Strafen. Es gab Krieg, und es gab wieder Frieden, und es war nicht immer der Vater, der den Krieg herausforderte; und nicht selten war er es, der den Frieden schloss. Es war ein Kräftemessen, erst im Spiel, später auch im Ernst.

Ochsner war stolz auf seine hübsche, energische und unerschrockene Tochter.

Die Zeit war aber gekommen, wo von Spiel keine Rede mehr sein konnte. Der Vater hatte befohlen, Tilly gehorchte nicht, es ging auf Biegen oder Brechen.

Als Ochsner im Wohnzimmer nach der Tochter fragte, kurz und gebieterisch, und Georgine sich umsah, wo sie wohl hingelaufen sein möchte, fuhr es ihr durch den Kopf, dass sie am Ende – will's Gott nicht – wieder mit dem Maurice zusammenstecken könnte. Ihr wurde heiss vor Schreck. Tilly wusste doch, dass das aus sein musste. Sie wusste doch, was der Vater ihr angedroht, als er erfahren hatte, die Tochter habe einen ganzen Abend lang mit dem Sohn seines politischen Feindes getanzt. Das wusste sie doch. Wie konnte sie sich unterstehen, das strenge Gebot des Vaters zu umgehen und seinen Unwillen herauszufordern.

Tilly war aber nicht mit dem jungen Manne zusammen, der ihr wichtiger geworden war als Vater und Mutter. Nein, sie war oben im Weissen Haus, bei Monika Laurent, ihrer Patin. Sie sass bei ihr im untern Garten, mitten unter Rosen.

Im grossen Wohnzimmer dort war sie, solange sie sich besinnen konnte, daheim gewesen. Im Erker, neben dem Lehnstuhl der Patin, hatte sie ihr Tischlein, ihr Stühlchen und ihre Puppe gehabt, eine kleine Welt, von der man im Ochsnerhof nichts wusste. Da schwirrte es von Geschichten, da huschten Zwerge im Mondlicht, da redeten die Tiere und erschienen von Zeit zu Zeit Feen. Da war jemand, der zuhörte, wenn ein kleines Herz sich beklagen wollte und ein unsichtbares Gewissen eine gerechte Entscheidung erwartete.

Es gab da aber auch eine gerunzelte Stirne und sogar grosse Stücke Schokolade, die lockend auf dem Tisch standen und doch nicht in des Kindes Hände gelegt wurden. Winzige Strafen. Es gab Süssigkeiten in Goldpapier, Belohnung für die sauberen Händchen oder das geschonte weisse Sonntagskleid.

Ach, es gab vieles da oben im Weissen Haus, das gewiss sonst auf der ganzen Welt nicht zu finden war. Vor allem sie selber, die Patin, die Gotte. So lieb wie sie, oder gar noch lieber, gab es niemanden mehr. Sie konnte so schön mit Tilly lachen. Und sie erfand auch Spiele. Und immer bekam man das zu essen, was man sich gerade gewünscht hatte.

Patin, Spielecke, das Weisse Haus überhaupt, waren ihr Zuflucht geworden. Was Tilly auf dem Herzen hatte, das vertraute sie Frau Monika an. Sie fand immer einen Weg, der für das Kind und später für das junge Mädchen der richtige war.

Die Freundschaft zwischen dem Ochsnerhof und den Nachbarn oben hatte begonnen, als Tilly geboren wurde und einen Tag alt war, Frau Laurent aber zwanzig Jahre.

So war Tilly denn auch heute den kurzen Weg hinaufgelaufen, rasch und ohne sich umzusehen, und wie sie früher ihre kleinen Kinderleiden brachte, so kam sie jetzt mit ihrem zornigen und bedrohlichen Schmerz und wollte Rat und Hilfe.

Die Kinderlose liebte Tilly und war dem Kind von jeher dankbar gewesen für das Geschenk seiner Anhänglichkeit.

Monika war im Garten, als sie das junge Mädchen hastig den Weg hinauf kommen sah. Sie winkte, und schon lief das flinke Ding wie vom Wind getrieben über die grosse Terrasse oben und die granitene Treppe hinunter in den ummauerten Garten.

Sie übersah die zierlichen kleinen Astern, die sich zwischen den Rissen des Steines ihren Weg gebahnt hatten und ihre rosaroten Köpfchen der Sonne entgegenstreckten. Sie übersah die Rosen, die über die Mauer kletterten und vom Dach des Gartenhäuschens herunterhingen und es überfluteten. Sie lief der Gartenecke zu, wo Frau Monika unter einem Haselnussstrauch sass, vor fremden Blicken wohlgeschützt.

«Was ist denn, Tilly?» fragte die schöne und sanfte Frau. «Du siehst so erhitzt aus. Hast du geweint? Warum?»

«Ach, Gotte Monika, der Vater hat mir verboten, noch ein einziges Mal mit ... mit Maurice Chèbres zu tanzen. Wenn ich mich noch einmal mit ihm sehen lasse, hat der Vater gesagt, so ... so ... er hat nicht gesagt was, aber er war so rot wie ein Truthahn.»

«Tilly», mahnte Frau Monika. «Warum ist er so dagegen, dass du mit dem jungen Manne befreundet bist? Er ist doch aus angesehener Familie.»

«O ja, das schon. Aber mein Vater hasst Mauricens Vater. In jeder Ratssitzung gehen sie gegeneinander los. Meiner ist ein Freisinniger und seiner ein Demokrat oder so etwas. Ja, ein Sozialdemokrat, hat Maurice gesagt. Der Vater macht zornige Augen, wenn nur der Name Chèbres ausgesprochen wird.»

Monika hörte besorgt und betrübt zu. Sie kannte Ochsner, den sie zugleich bewunderte – sie wusste nicht recht warum – und fürchtete – warum, wusste sie ebensowenig. War es die Kraft, die man erfühlte? Das starke Bewusstsein seiner unbeugsamen Persönlichkeit? War es das fürstliche, etwas mittelalterliche Wesen und Gebahren, das ihn nie verliess, mochte er im Frühjahr den Samen ausstreuen, ebenfalls eine fürstliche Gebärde, die er keinem seiner Knechte je anvertraute, oder auf seinem goldroten Tier den weissen, kalkigen Staub aufwirbeln, der hinter Ross und Reiter herzog wie die weissen Wellen hinter einem Meerschiff; sie wusste es nicht. Warum sie ihn fürchtete, war leichter zu erklären. Eine Stimme wie eine Kirchenorgel, ein Gang wie der eines Riesen so sicher und ein Lachen, dem man nicht widerstehen konnte. Das heisst, sie konnte ihm gut widerstehen, denn sie hatte ihren Thomas, aber sie begriff, dass andere hilflos waren ihm gegenüber.

Ihre Gedanken flogen vom Vater zu der Tochter und wurden grauer und betrübter. Also immer noch diese Väterfeindschaft? Immer noch diese ewig wuchernde Selbstsucht der Familienoberhäupter? Sie lebt also weiter, nur in anderem Gewand? Und fiel nun das Kind an.

«Tilly, soll ich mit deinem Vater sprechen?» fragte Monika.

«Nein, nein, was denkst du, Gotte. Das darf er nicht wissen, dass ich dir so alles sage. Da wird er eifersüchtig. Und ich muss doch zu einem Menschen darüber reden dürfen? Und dich habe ich so gern.»

«Und deine Mutter?»

«Die Mutter würde mir gerne helfen, aber das getraut sie sich nicht. Sie sagt schon ‹ja›, ehe der Vater nur ausgeredet hat. Weisst du, sie fürchtet sich vor ihm.»

«Wie alt bis du, Tilly?»

«Ach, das weisst du doch, du bist doch meine Patin. Achtzehn Jahre.»

«Und du weisst, dass ich ein schlechtes Gedächtnis habe und meinen eigenen Geburtstag vergesse. Also bist du in zwei Jahren mündig? Habt doch die zwei Jahre Geduld, Kind! Vielleicht wird der Vater schon anderen Sinnes, wenn ihr nachgebt oder gehorcht, wie er sagen würde.»

«Ach, der Vater und anderen Sinnes! Eher kalbert unser Stier!»

Monika lachte.

«Wenn er es auch dann nicht erlaubt, dann heiratet. Ja, dann heiratet in Gottes Namen ohne seine Einwilligung. Aber vorher müsst ihr ernsthaft und demütig um seine Zustimmung bitten. Bleibt er unerbittlich – dann ..., aber ein Dach über dem Kopf müsst ihr haben, und der junge Chèbres muss euch beide erhalten können. Was sagt sein Vater über diese Angelegenheit?»

«Meiner und Maurices Vater sind ja Feinde. Gegen mich hat Herr Chèbres nichts.»

«Ihr werdet allerlei Ungemach zu erleiden haben», sagte Monika, deren Phantasie der Gegenwart gerne vorauseilte. «Wartet doch lieber. Lass' deinen Maurice irgendwo eine Stelle annehmen, gehe du in eine der grösseren Städte und lerne Sprachen, oder ... kochen ...»

«Ach, Gotte Monika, du weisst vielleicht nicht, wie es einem zumute ist, wenn man liebt?»

«Meinst du?» fragte die Frau. «Ich glaube, dass ich es weiss. Aber die Liebe hat verschiedene Farben, wie die Blumen.»

«Ja, aber du liebst die zarten Blumen, die hellen Rosen, und ich liebe die roten. Und wenn ich liebe, ist es eine feuerrote Liebe, eine feuer-, feuerrote und keine weisse.»

Monika sah auf.

«Ach, Tilly», sagte sie, beinahe erschrocken ob der Heftigkeit, mit der die Achtzehnjährige sprach. «Kind, rote Liebe kann einen ins Unglück bringen.» Sie sah das lebenssprühende Geschöpf an, sah seine funkelnden Augen – die des Vaters –, die dunkel wurden, als wären sie schwarz, sah den Mund, der selbst einer blühenden Rose glich oder einer roten Nelke oder blutrotem Mohn.

«Tilly, du bist kein Kind mehr, und du weisst, warum ich euch getrennt wissen möchte. Nicht um des Vaters willen, und nicht um der Leute willen, sondern deinetwegen. Gib acht, Tilly, geh lieber nicht mehr tanzen. Und geh nicht mehr in den Wald spazieren ...» Ihr fiel Mephistos Lied ein: Als mit dem Ring am Finger ... Tilly lächelte.

«Sobald wir es wagen können, gehe ich in den Wald spazieren, Gotte Monika. Ich gehe mit Maurice spazieren. Und dort drüben, da, wo der Wald beginnt, dort sitzen wir auf dem Baumstamm voll Moos, der dort liegt. Wenn der Mond scheint, kannst du uns sehen, wenn du willst.»

«Tilly!» sagte Monika. Aber Tilly hatte die Augen voll Tränen. Und ihre geballte Hand lag auf ihrem Knie.

«Ich fürchte mich nicht. Wenn ich aber zu dir kommen darf und mit dir von Maurice reden, das wäre gut. Wir können ohne einander nicht mehr leben.»

Frau Laurent lächelte. Das können sie alle nicht, die armen, verliebten Menschen, dachte sie, und später können sie nicht mehr zusammen leben. Welche Zauberin, die Liebe. Welche Verführerin, welche Heuchlerin.

Man hörte gellend nach Tilly rufen, dass man es bis herauf vernahm. Das Mädchen fuhr zusammen, kletterte wie eine Katze über die Mauer, sprang hinunter ins Gras und lief über die Wiese wie ein Wiesel.

«Komm, wann du willst», rief Monika ihr nach.

Besorgt sah sie zu, wie das Mädchen davonrannte. Sie ahnte nicht, sie wusste, wie es kommen würde. Der Ratsherr Ochsner gab nicht nach, und die Tochter ebensowenig.

Schlimm, dachte sie, wenn zwei sich bekriegen in einer Familie. Da sind die Schwerter scharf geschliffen, und jedes weiss, wo das andere verwundbar ist. Und jeder Stich tut doppelt weh. Traurig, wenn man zusehen muss, wie die Wolken des Unheils sich aufmachen, um über geliebte Menschen herzufallen. Traurig, wenn im Zorn blitzende Augen sich treffen und böse Worte verheerend auf Frieden und Ruhe herunterhageln.

Sie sah hinab zum Ochsnerhof, wo Knechte und Mägde dem Hause zuströmten, sich am Brunnen die Hände wuschen, lachten, mit den Ärmeln sich den Schweiss von der Stirne wischten und im Dunkel der grossen Eingangshalle verschwanden. Hungrig, einer reichen und wohlschmeckenden Mahlzeit sicher.

Monikas Augen streiften den Baum, der in der Nähe, dicht und grün belaubt, vom Winde leise belebt wurde. Jedes Frühjahr stand er so voll weisser Blüten, dass es aussah, als seien sie wie Schnee vom Himmel gefallen. Im Sommer aber trug er nicht eine einzige Kirsche.

Nicht, weil der Wind den feinen Blütenstaub auf seinen breiten Flügeln herbeizutragen vergessen hätte. Und auch nicht darum, weil die Bienen nicht emsig an der Arbeit gewesen wären. Nein, nicht darum.

Aber weit herum in der ganzen Gegend gab es keinen Baum, ähnlich dem, nahe der Gartenmauer. Keinen Kirschbaum, der seinen Blütenstaub gesandt hätte. Für ihn war kein Kamerad da, kein Freund.

Die Blüten blieben taub und fielen hinunter ins Gras zwischen Löwenzahn und Butterblumen, vielleicht auch zwischen die Veilchen, die unten an der Mauer wuchsen. Was nützt das aber dem Kirschbaum? Ob er sich darüber grämte, wusste man nicht. Es war möglich.

Monika aber grämte sich, wenn sie ihn jeden Frühling umsonst blühen sah. Es geht ihm wie mir, dachte sie.

 

Der Tannenhof, den der Bauer Gabriel Ochsner innert zehn Jahren zu einem gesunden, ergiebigen Besitz emporgearbeitet hatte, erstreckte sich links bis zu einem schönen, grossen Wald, und rechts bis nahe an die grauen Jurafelsen. Matten und Äcker lagen schön ausgebreitet an der Sonne, und wenn sie auch sanft dem Gebirge zu anstiegen, so geschah es wellenförmig und beinahe unmerklich. Die Lage störte nicht, und das Land war ohne besondere Schwierigkeit zu bearbeiten.

Alle Pflanzen standen schön und dicht, und schon recht hoch waren sie gewachsen. Das Korn hatte ergiebig angesetzt, die Heumahd schien glänzend verlaufen zu wollen, und wenn nicht Hagelschlag oder ein Regensommer, der Kartoffelkäfer oder sonst eine der Plagen, die den Bauern bedrängen, dazwischenkam, so musste alles wohl geraten.

Allen voran war immer die Isolina. Die hatte Augen wie ein Luchs. Sie sah alles, ihr gedieh alles, und dabei war sie auch noch ein herzlich guter Mensch. Ein Engel war sie nicht. Sie konnte gehörig heftig werden. Die schönen Augen schossen dann wahre Feuergarben, und das war hübsch anzusehen. Das bisschen Heftigkeit hatte sie vom Vater geerbt, und ebenso sein fröhliches und warmes Blut. Mit ihm sprach sie italienisch, mit der Mutter, der Bernerin Magdalena Flury, schweizerdeutsch, und nun, da alles um sie herum französisch sprach, kamen ihr leicht, wenn sie sich ärgerte, die drei Landessprachen durcheinander.

Merkwürdig, wie die Isolina bei allem Glück hatte. Die Hennen brüteten dreizehn Kücken aus, die Mutterschweine warfen regelmässig ihre zwölf Ferkel, und die schöne weisse Ziege brachte nie weniger als zwei Zicklein zur Welt. Es war ein gesegneter Hof.

Sogar die Osterglocken streckten im Lenz ihre goldenen Köpfe früher als anderswo aus dem Boden, und flugs machte die Bäuerin hübsche Sträusse daraus und schickte sie mit Butter und kleinen Käslein auf den Markt. Es klingelte lustig, wenn Isolina nachzählte, was ihr die Frühlingsblumen eingebracht hatten.

Sie legte das Geld – ihr Eigentum – in eine seidenbestickte Schachtel, die ihr die Tante Dejen am Hochzeitstag geschenkt hatte. Drei schwere Goldstücke hatten darin gelegen, und bis zur heutigen Stunde lagen sie noch dort, in rosa Seidenpapier gewickelt.

Irgend etwas Heiteres wuchs immer auf dem Tannenhof. Die gelben Coquates im Frühling, die Heckenrosen dem Zaun entlang im Sommer, und die Sonnenblumen, die dahinterstanden, leuchteten weit über das Land. Im Herbst glühten die feuerroten Blätter der Kirschbäume, die roten Beeren der Stechpalmen, und an feuchten Stellen drängten sich die Herbstzeitlosen in zartem Violett aus dem blaugrünen Gras. Ihre spitzen grünen Blätter waren ihnen vorausgegangen, Herolde des Winters.

Wie unten der Bruder Hans-Peter, hielt auch der Gabriel darauf, dass sein Hof in tadellosem Zustand sei. Die vergitterten grossen Stallfenster waren weit geöffnet, die Tragkörbe und Siebe hingen ordentlich an den hölzernen Nägeln. Die Türen waren nachts geschlossen, und das Licht stand in den Ställen hinter Glas.

An der Wand hing ein Vers, den der Meisterknecht Jakob mit grossen Buchstaben hingemalt hatte:

Jedes Ding an seinem Ort,
Erspart viel Müh und böse Wort.

An einem herrlich schönen Abend mit einem Sonnenuntergang, der Wälder, Felder und den Himmel wie in Gold getaucht erscheinen und schalkhaft die Fenster aufglitzern liess, sassen Gabriel und Isolina auf ihrer Feierabendbank friedlich beisammen.

Sie hatten noch kein Wort gesprochen. Es war so still, dass man die Vöglein in ihren Nestern träumen hörte.

Der Bauer flickte an einem Korb herum, in dem Isolina die zerrissenen Strümpfe aufbewahrte. Höchstens einmal im Jahr war er leer.

Man hörte ein Auto auf der Landstrasse daherrollen und unten in den guten, schmalen Weg, der zum Weissen Haus führte, einbiegen. Dort hielt der Wagen. Die Tore zu dem schönen Besitztum waren weit geöffnet.

«Der Herr Laurent kommt heim», sagte Isolina. «Ich bin froh für Frau Monika. Die ist doch wirklich zuviel allein.» Die Bäuerin erhielt keine Antwort. Es störte sie aber nicht.

«Wenn Kinder da wären, hätte sie ein schöneres Leben», fuhr die hübsche, blühende Frau fort. Schweigen. Man hörte nur das leise Geräusch des Korbflechtens.

«Bist du eigentlich tot, Mann?» fragte Isa und gab ihrem Nachbarn einen geheim-liebevollen Stoss mit dem Ellbogen. «Dreimal habe ich fragen müssen, sozusagen, und dreimal hast du mir keine Antwort gegeben.» Gabriel schüttelte den Kopf.

«So, du lebst also noch. Bin froh. Wäre nicht gern schon jetzt Witwe. Sie, die Frau da unten, ist eine, wenn sie schon noch den Mann hat. Aber entweder ist er auf dem Werk und hütet den Hochofen, oder er ist fort. Oft sogar am Sonntag. Und dabei hat sie keine Kinder. Ich kann sagen, dass sie mir leid tut. Wenn sie heraufkommt zu mir und unsre beiden anschaut mit einem Blick, der mir geradezu ins Herz schneidet, werde ich ganz böse auf den lieben Gott, dass er ihr keine schenkt.»

«Ja», sagte Gabriel nach einer Weile. Darauf stand er auf und schüttelte sich die kleinen Späne vom Rock. Er blieb aber merkwürdig steif stehen, und Isolina sah unwillkürlich auf. Was hat er nur, dachte sie.

«Die Seuche kommt», sagte er. Sie sah ihn entsetzt an.

«Welche Seuche?» Aber sie wusste es wohl, welche er meinte. Sie wollte nur nicht an das Schrecknis glauben. Da begann der Schweigsame zu reden und redete lange.

«Ich war gestern bereits beim Hans-Peter unten und habe ihm mitgeteilt, was ich wusste. Dass drüben in Roche schon zwei Ställe befallen sind. Wir müssen dagegen angehen, so gut wir können. Lysol habe ich besorgt. Sägespäne sind vorläufig genug da. Das Übliche und Gesetzliche wird geschehen. Ich habe mir auch ausgedacht, dass ich Vogelscheuchen aufstellen und Mäusefallen legen will. So können Vögel und Mäuse mir mit ihren kleinen Füssen die Seuche nicht herumtragen. Der Hans-Peter hat mich deswegen ausgelacht.»

Die Bäuerin hörte zu, und es rieselte ihr kalt über den Rücken. Sie dachte daran, wie es ihrem Nachbarn in Airolo ergangen war. Verarmt und ruiniert musste er vom Hof ziehen.

Und dann kamen ihr die Tränen, als sie an die drei Kälbchen dachte, die sie aufzog.

«Warte mit Weinen», riet Gabriel. «Einstweilen leben sie alle noch.»

 

Unten in der alten Bischofsstadt, die in einer Viertelstunde zu erreichen war, hielt der Rat eine Sitzung ab, in der die Möglichkeiten zur Verhütung der Seuche verhandelt werden sollten.

Ochsner las Artikel aus verschiedenen landwirtschaftlichen Zeitungen vor und sprach über die zu treffenden Massnahmen. Er teilte mit, dass er sich in der Bundesstadt ausführlich erkundigt habe, wie zu helfen sei. Er sprach auch mit leisem Spott von den Einfällen seines Bruders, der den Hof mit weissen Fähnchen zu spicken gedachte, um die Vögel fernzuhalten, und der den Mäusen Fallen stellen wollte, um ihnen das Umherrennen auf verseuchtem Boden ein für allemal zu verleiden. Man fand das alles nicht durchaus verwerflich, doch lohne es sich nicht, darob ein Kämpflein zu entfachen. Es genüge, wenn die Bauern sich an die Befehle der Regierung hielten.

Verschiedenes wurde vorgeschlagen. Der Markt sollte verboten werden. Das Abschiessen der Raben sei zu erlauben, denn sie trugen ebenfalls die Seuche von Hof zu Hof. Ferner hatte man auf die Anzeichen eines neuen Falles hin sofort Anzeige zu machen und den Tierarzt zu holen. Das Verhehlen der Fälle sollte strenge bestraft werden, Mangel an Aufsicht ebenfalls.

«Halt!» rief einer der Ratsherren. «Der Mann, dessen Stall befallen wird, ist ja schon bestraft, braucht es nicht erst zu werden.»

«Nein, muss bestraft werden», fuhr Ochsner auf. «Nicht er und sein Stall allein sind in Gefahr, andere sind es um seinetwillen. Deshalb.»

Man liess Zettel drucken, die den Bauern ins Haus geschickt werden sollten. Sie würden bis ins letzte, hinterste Dörflein flattern, bis hinauf in die Sennhütten der Bergbauern, bis St. Sebastian und Mont Faucon.

«Und nun wollen wir sehen, ob wir dem unsichtbaren Feind nicht den Garaus machen können», sagte Ratsherr Ochsner. «Auf meinen Hof kommt mir keiner, der seinen Schuh auf verseuchten Boden gesetzt hat. Keiner meiner Leute hat einem fremden Fuhrmann oder Händler die Gatter aufzureissen. Äusserste Aufmerksamkeit ist geboten.»

Man erfuhr später, dass die Bauern des Landes zu tun gedachten wie der erste von ihnen, der Bauer und Holzhändler, der Ratsherr Ochsner, es sich zu tun vorgenommen hatte.

Ehe die Herren auseinandergingen, hielt Präsident Ducommun Ochsner an. Zusammen verliessen sie das Haus und gingen weiter.

«Ich habe mich längst erkundigen wollen, wie es eigentlich Ihrem Pierre geht. Ich habe ihn lange nicht gesehen, kaum von ihm gehört. Sein Examen hat er doch wohl hinter sich, oder irre ich mich?»

«Längst. Er hat es gar nicht übel bestanden. Dumm ist der Junge ja nicht. Es fiel ihm auch nicht schwer, zu bestehen, denn er hat ein Gedächtnis ohnegleichen, das oft als Maske dienen muss und hinter dem wohl Wissen steht, aber nicht Verdauen des Wissens.»

«Wünsche Glück. Man ist froh, wenn wieder eines versorgt ist.»

«Versorgt ist er nur vorübergehend. Augenblicklich ist er Hilfslehrer in Roggenburg, für ein Jahr. Ich habe Sie in diesen Tagen aufsuchen wollen, Herr Präsident, und nach dieser Einleitung werden Sie sich ja denken können, dass ich etwas von Ihnen will.» Beide Herren lachten.

«Womit kann ich dienen?» fragte der alte Herr.

«Ich weiss, dass hier am Ort in der obern Schule ein Platz frei wird, in zwei Jahren, soviel ich hörte. Inzwischen kann der Pierre seinen Doktor machen. Ich möchte ihm diesen Platz sichern. Es wäre mir sehr recht, wenn er Gradins Nachfolger würde.»

«Ich wüsste nicht, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt werden sollte. Das wird gar keine Mühe kosten. Ich hätte nun aber auch eine Frage an Sie zu stellen, wenn Sie geneigt sind, sie zu beantworten: Warum liessen Sie Ihren Sohn Lehrer werden? Ihn, der den prachtvollen Hof erben wird, den Holzhandel, Ihr ganzes Gewerbe? Weiss Gott, ein beneidenswertes Los, wenn auch mit viel Arbeit verbunden. Auf dem Ochsnerhof kann es aber der Arbeit nicht zu viel werden bei allen den Maschinen, Knechten und Hilfsarbeitern und mit dem nötigen Geld.»

«Mein Grund? Den kann ich Ihnen sagen. Es ist Zeit, dass einer der Ochsner aufrückt, hinaufzukommen strebt. Damit meine ich nicht Reichtum. Eine angesehene Familie darf nicht stehenbleiben. Grossvater, Urgrossvater, Vater, alle waren sie Bauern und blieben Bauern.»

«Und? In meinen Augen eine ausgezeichnete Sache», sagte der weisshaarige Mann und nickte eifrig mit dem Kopfe.

«Geb's zu. Aber einmal muss der Aufstieg beginnen. Einmal muss das Geistige zu seinem Recht kommen. Am Reichtum fehlt's nicht. Der Hof ist gross und bekannt. Ich bin Ratsherr. Keiner von uns hat sich mit der Politik beschäftigt, keiner ist Professor geworden, Nationalrat, Bundesrat, Leiter. Keiner hat anders denn als Soldat seinem Vaterland gedient. Der Pierre soll das nachholen, was versäumt worden ist.»

Der Präsident schwieg. Langsam gingen sie dem bescheidenen Schlosspark zu und machten dort die Windungen der schmalen Wege mit, die sich durch den bläulichen Rasen wanden.

«Ich begreife Sie nicht, verzeihen Sie, Ochsner. Bauer sein, heisst: Herr sein auf seinem eigenen Grund und Boden. Heisst: Fürst sein im kleinen. Soll der Sohn nicht geniessen, was der Vater aufgebaut und genossen hat? Bauernblut – gutes Blut. Und wenn der Herr fehlt, wer ersetzt ihn? Das Auge des Meisters – wo ist es?»

«Ich habe ausgezeichnete Knechte und Pächter, wenn es not tut. Besitzer des Hofes bleibt Pierre. Oder, wenn er ansteigt und auf der Universität oder im Bundeshaus seine Rolle zu spielen imstande sein wird, kann ein Schwiegersohn einspringen.»

«Schön, es ist Ihre Sache. Und der Sohn? Wurde er gerne Lehrer? Ist er ehrgeizig?» Ochsner lachte etwas höhnisch, etwas verächtlich.

«Daheim bleiben wollte er, ruhig leben wollte er, wie er sagte. Seiner Natur nach wolle er leben! Keinen andern Ehrgeiz habe er, als Holzschnitzereien zu machen, so eine Art Künstler zu werden. Und so weiter, und so weiter. Nun wird er seinen Doktor machen. Er kann ja werden, was er will, wenn er es darauf anlegt. Zeit hat er, ich dränge ihn nicht.»

«Hat er sich gewehrt gegen Ihren Plan?»

«Heftig hat er sich gewehrt. Aber nicht lange. Er will stets mit Donnergepolter, aber wie nach Sturmwind legt sich der Lärm bald. Zu den Ausdauernden gehört er nicht. Besser, er gehe an der Trense langsam aufwärts, von Stufe zu Stufe. Er ist denn auch bald zahm geworden. Nein, er ist keiner, der um etwas kämpft. Ein Held ist er nicht. Übrigens habe ich es ihm leicht gemacht, sich zu entscheiden: Entweder-oder habe ich gesagt. Entweder du studierst, meinetwegen Jura, wenn Lehrer dir nicht passt, oder du fährst nach Amerika. Dort kannst du Holzschnitzer werden. Dort wächst das Holz zu solchen Dingen, auf meinem Hof nicht. Er hat nachgegeben. Also Lehrer, hat er gesagt.»

«Sie haben viel gewagt, Ochsner. Ich hätte den Mut nicht gehabt.»

Der Präsident setzte sich auf eine der Bänke, stellte seinen Stock vor sich hin und legte beide Hände darüber. Die Augen Ochsners funkelten.

«Wer ist eigentlich Herr im Haus, Herr Präsident? Der Vater oder der Sohn? Wer hat zu befehlen?»

Der Präsident lächelte.

«Es heisst in Indien: Sechs Jahre sei dein Sohn dein Herr, sechs Jahre dein Knecht, sechs Jahre dein Freund. So ist auch meine Meinung. Als Freund soll der Vater mit seinem Sohn reden, wenn es sich um dessen Zukunft handelt. Da ist der Sohn der Herr

«Zum Teufel auch, das ist stark. Übrigens auch unser Herrgott ist meiner Meinung. Er hat Gesetze aufgestellt. Und in Stein hat er sie sogar hauen lassen. Auf diesen heiligen Tafeln steht geschrieben, dass die Kinder ihre Eltern ehren sollen. Und wie die Menschen Gott zu gehorchen haben, so haben die Söhne ihren Vätern zu gehorchen.»

Der Präsident schüttelte den Kopf.

«Lieber Ochsner, dürfen wir uns göttlicher Weisheit rühmen? Machen wir Eltern keine Fehler? Irren wir uns nie? Sind wir Vorbilder, Propheten? Kennen wir die Zukunft?»

«Sie stellen mir Fallen, Herr Präsident ...»

«Keineswegs. Aber die Zeiten sind anders, als da Moses seine Gesetze gab. Und noch etwas: Mir scheint, dass in einer so wichtigen Sache wie Berufswahl oder Ehe auch die Kinder mitzusprechen haben. Wir haben zu warnen, zu mahnen, zu helfen, aufzudecken, mehr nicht.»

«Sie gehören also zu den Neuerern, den Modernen?»

«Lieber Ratsherr Ochsner, ich glaube, wir hören besser auf. Wir verstehen uns offenbar so wenig wie die Völker in unsern Tagen. Es ist ja unglaublich, was die Zeitungen uns täglich berichten. Zum Davonlaufen manchmal. Schreckenerregend. Auch für unsere Schweiz.»

«Habe auch Lust, davonzulaufen», knurrte Ochsner. «Aber nicht um der Politik willen. Um meiner eigenen Meinung und Ansicht willen. Um meiner Gläubigkeit willen, die ich meines Sohnes wegen aufgeben sollte? Ich soll das gutheissen, was mir schlecht scheint? Etwa mein Wort zurücknehmen? Etwa mein Versprechen nicht halten um irgend jemandes willen? Gesagt ist gesagt, gewollt ist gewollt, versprochen ist versprochen und verboten verboten. Keiner reisst das ein. Und fehle ich, so fehle ich und so büsse ich, Herr Präsident.»

«Es wird sich kaum anders zutragen, lieber Ochsner.» Bei sich dachte er, welches Feuer in des Mannes Augen doch brenne, und welcher Stolz aus seinen Augen leuchte!

Verkehrte Welt, dachte dagegen beinahe ergrimmt Hans-Peter Ochsner. Eine Welt, wo der Sohn Herr sein soll? Nicht meine Welt.

 

Eines Tages kam Tilly vom Markt zurück und trug einen schweren Deckelkorb mit allen den Dingen, die auch auf einem grossen und ergiebigen Hof nicht selbst verfertigt werden können. Sie ging noch auf der Landstrasse und wollte nach wenig Schritten in den Weg einbiegen, der zum Ochsnerhof führte, als sie laut rufen hörte. Es kam ein Mann dahergerannt, und hinter ihm folgten, armschwenkend und keuchend, zwei Polizisten.

«Anhalten, anhalten!» brüllten sie. Tilly stellte sich mitten in den Weg. Der Kerl kam, versuchte links, versuchte rechts durchzukommen, und Tilly, geschickt, versperrte ihm jedesmal den Weg. Zuletzt warf sie ihm den Korb zwischen die Füsse, er stolperte und fiel beinahe, und bis er sich aufgerafft hatte, um weiterzurennen, waren die Polizisten da. Tilly hatte den Mann am Arm festgehalten und hatte auf seine paar Faustschläge nicht geachtet.

«Famos», sagten gleichzeitig die beiden Landjäger. «Sie sollten wir bei der Polizei haben, Fräulein.»

Der Mann war ein bekannter Vagabund, ein Gelegenheitsdieb, ein Bettler, und da er unerlaubterweise mehr als zuviel in Scheunen und Stadeln genächtigt hatte und in jüngster Zeit Brände ausgebrochen waren, deren Urheber man nicht kannte, war er Freiwild geworden.

«Wart, du Mensch», brüllte er Tilly an. «Dir zahle ich das noch heim. Dich, wenn ich dich einmal allein treffe ...» Der Landjäger schüttelte ihn. Im Nu waren die Handschellen zugeklappt.

«Fräulein, wo sind Sie denn zu Haus?» fragte der eine Polizist. «Ich bin noch fremd hier.» Sie zeigte auf das prachtvolle, grossgiebelige Bauernhaus.

«Nicht weit von hier. Der Ratsherr Ochsner ist mein Vater.»

«Aha, natürlich, der ist auch nicht von Glas. Von dem haben Sie es also?»

«Was?» fragte Tilly und lachte. Aber der Polizist fand das Wort nicht, das er suchte.

«Wir danken für die Hilfe, und der Herr Ratsherr könne stolz sein auf seine Tochter», sagte der eine, und der andere nickte. Darauf gingen die beiden dem Städtchen zu, den gefesselten Vagabunden zwischen sich.

Es stellte sich heraus, dass der Kerl, trotz überall angeschlagener Verbote, über den Zaun eines Hofes geklettert, dessen Stall von der Seuche befallen war, und dass er bald darauf wiederum in einem anderen genächtigt hatte, da er von Ort zu Ort umherbettelte und -lungerte, auch stahl, bei Gelegenheit.

Er hatte sich keineswegs an die Vorschriften gehalten, denn seine Schuhe und Strümpfe ohne Fersen trugen den Geruch von Lysol und wiesen Spuren von Sägemehl auf.

Wäre in jenem Hof die Seuche ausgebrochen, er hätte eine bedeutend schärfere Strafe erlitten. So kam er mit drei Monaten Haft davon.

 

Bei Tisch erzählte Tilly ihr Abenteuer, und der Vater, erfreut über die Geistesgegenwart und den Mut der Tochter, lobte sie.

«Du schwindelst doch nicht, Tilly?»

«Habe ich meiner Lebtag gelogen?» fragte sie.

«Soviel ich weiss, nicht.» Und dabei dachte er, dass er nicht ganz sicher sei, ob sie nicht jetzt damit anfangen werde, jetzt, da sich die Liebe in ihr Leben mischte. Da schmilzt ja der stolzeste Wahrheitsblock, sagte er sich. Er war klug. –

 

Isolina und Gabriel Ochsner samt ihren Leuten waren dabei, ihr Emd einzubringen. Sie standen einen Augenblick still, um sich auszuruhen.

«Du Gabriel», sagte sie. «Die Frau vom Weissen Haus sitzt heute wieder den ganzen Tag auf ihrer Terrasse. Eine Stunde lang läuft sie allein vom Haus zur Eiche und zurück. Was der Mann sich denkt! Fröhlich sieht sie nicht aus.»

«Das hast du mir alles schon einmal gesagt, Isolina.»

«So? Habe ich? Was? Zweimal vom Leid eines Menschen zu hören, ist dir zuviel? Du bist mir ein schöner Christ, du! Und eben wollte ich sagen, dass ich froh sei, nicht des Laurent Frau zu sein. Nun sage ich es nicht.»

Gabriel lachte. «Hättest es gut. Könntest im Auto fahren. Hättest zwei Dienstmädchen und müsstest nicht arbeiten wie jetzt. Könntest auch in der Stadt mit ihm umhergehen. Habe ihn übrigens getroffen mit einer ...» Er hielt inne.

«Mit wem?» fragte Isolina neugierig. Aber Gabriel schwieg. Seine Frau fragte nicht mehr.

«Mir erzählst du nie etwas, Gabriel», war alles, was sie sagte. «Gut, dass du nicht Pfarrer geworden bist, Gabi. Würdest wohl nicht lange in deinem Amt bleiben.» Nach einer langen Pause, in der er wiederum eine ganze Reihe kleiner Heuhaufen aufgeladen hatte, sprach er endlich.

«Man braucht nicht alles zu sagen, was man weiss.»

«Was weisst du denn?» lockte sie.

«Nichts. Ich meine nur, wenn man etwas wüsste, brauchte man es nicht zu sagen.»

«So behalt's!» sagte Isolina, und gab ihm einen Klaps. Dann murmelte sie noch etwas: «Mag dich doch gut, du Rubiger.»

Gabriel lenkte ab.

«Schau du nach deinen Kindern, Isolina. Da laufen sie schon wieder hinunter zu Frau Laurent.»

Er deutete auf den kleinen Jungen und das drei Jahre ältere Mädchen, die nicht liefen, sondern sich kollern liessen, aufsprangen und wieder wie Äpfelchen hinabrollten. Und waren es auch nur zwei kleine Menschlein, die umherpolterten, in allen Ecken lachten, schrien, draussen umhertobten, tausend Possen trieben, so brachten sie es doch fertig, den Lärm von sechzehn vorzutäuschen.

Köstliche Geschöpflein waren es, mit ihren dicken, kohlschwarzen Haaren und mit Bäcklein rot und glatt, und mit von der tessinischen Mutter ererbten Stimmen, die über Matten und Baumwipfel hinweg an den Jurafelsen widerhallten.

Wenn Mutter Isolina sie so sah, in der Glorie der Kinder jähre und dem Reichtum an Gesundheit, diese ihre Sprösslinge, dann stemmte sie ihre beiden Fäuste auf ihre Hüfte und war stolz und glücklich.

«Gelt, Gabriel, wir beide und der liebe Herrgott, wir haben's geschafft», sagte sie triumphierend. Gabriel wäre beinahe rot geworden, dass sie ihn zusammen mit dem Herrgott nannte. Aber er war so braungebrannt, dass man es gar nicht gemerkt hätte. So liess er das stolze Wort stehen und schwieg dazu. Er konnte in Gottes Namen selten ausdrücken, was er gerne gesagt hätte, ganz besonders etwas, bei dem es sich um Gefühle handelte, um die Liebe zu seinen Kindern. Da schwoll seine innere Scheu an wie der Schwamm im Wasser. Endlich fand er aber doch etwas.

«Schön, Isolina, dass du mich dazurechnest», sagte er bescheiden. Isolina lachte laut auf.

«Der liebste Kerl auf Gottes Erdboden bist du schon, daneben aber die reine Zwiebel. Die äusserste braune Haut, die lassest du etwa einmal sehen, aber die andern sechs hütest du, kein Hofhund könnte es besser. Habe keine Ahnung, wie du eigentlich bist.»

«Schau du nach deinen Kindern», sagte Gabriel noch einmal. Er deutete auf den Zaun unten.

Dort standen die Kühe und schauten mit neugierigen Augen auf die fremden Matten, zu ihnen, auf denen das Gras noch saftig stand, während sie hinter dem gemähten Emd her naschen mussten, da ein Hälmlein und da ein Kräutlein, nicht der Mühe wert.

Während sie staunten, waren die Kinder schon drüben und liefen der Herrin des Hauses entgegen, die sie hatte kommen sehen.

«Frau Monika, Frau Monika!» Schon waren sie bei ihr und umfassten sie, das eine weiter oben, das andere tiefer unten, ohne sich darum zu kümmern, dass sie vielleicht dem schönen Kleid ihrer Freundin mit ihren kleinen, schmutzigen Händchen Schaden antun konnten. Sie kümmerten sich wenig darum, ebensowenig wie die Besitzerin.

«Darf ich das Täschlein tragen?» bat der Kleine, der die Aufmerksamkeit der Frau Laurent auf eben dieses Täschlein lenken wollte, denn es enthielt unfehlbar in buntes Papier gewickelte Süssigkeiten.

«Du darfst «, lachte Frau Laurent, und nachdem die Kleinen sich bedient hatten, fassten sie jedes eine Hand der lieben und freundlichen Frau. Zu dreien gingen sie der Eiche zu. Die Aussicht dort kannten die Kinder längst. Darum würden sie keinen Finger mehr rühren. Sie hatten die Namen von allen den Dörflein und Flecken wissen wollen und sie wieder vergessen. Auch die Geschichte des grossen dicken Turmes im Städtlein kannten sie. Die aber wollten sie immer wieder hören.

«Weisst du, Frau Monika», sagte das Mädchen, «ich glaube, dort wohnen Menschenfresser drin.»

«Nein, ein grosser Wurm», schrie der Kleine. Er meinte aber eine Schlange. Lange aber blieben sie trotz aller Liebe nicht sitzen auf der Steinbank, die um den Baum gebaut war. Sie begannen umherzurennen, sich zu fangen, sich zu verstecken und zogen immer grössere Kreise. Endlich verschwanden sie. Monika hatte ihnen nachgesehen. Sie konnte ihre Augen nicht von ihnen lösen, sie blieben wie Spinnweben im Herbst an den köstlichen Kinderkörperchen haften. Diese schmerzlich-glückliche Stunde wiederholte sich täglich, bisweilen sogar zweimal.

Sie liebte die granitne Bank. Oft sass sie da.

Wie bin ich doch so viel allein, dachte sie. Das ist nicht gut. Man hält das schwer aus. Und ich habe doch alles, was ich brauche. Vielleicht habe ich es nur zu gut und bin nicht dankbar dafür? Vielleicht widerfährt mir im Leben zuwenig Leid?

Aber in ihr wehrte sich etwas gegen ihre Selbstanklagen. Ach nein, wenn man so oft traurig ist wie ich, dachte sie weiter, darf man nicht sagen, man habe es zu gut. Aber warum bin ich traurig? Ist man es, so fehlt einem etwas. Es werden Fehler gemacht. Ich will danach suchen, danach graben. Sie begann immer tiefer nachzudenken. Sie hatte Übung darin.

Bin ich wirklich einsam? Bin ich allein? Sind es die Kinder, die fehlen? Habe ich darum das wehmütige Gefühl der Verlassenheit? Kann eine Frau sich nur dann vollkommen entwickeln und also Zufriedenheit erlangen, wenn sie Mutter ist?

Ach nein, ich war früher ebenso allein und öfters als jetzt und hatte keine Kinder und stand doch am Morgen auf mit Singen. Und freute mich jeden Abend auf den kommenden Tag. Nein, das ist es nicht.

Sie sass lange da, den Kopf an die harte Rinde des Baumes gedrückt. Dann richtete sie sich auf. Sie sann weiter.

Tom war früher ebenso viel fort wie jetzt, er ging ebenso früh am Morgen und kam ebenso spät am Abend. Ach, wie freute ich mich auf ihn. Und nun? Freue ich mich denn nicht mehr? Ich freue mich ja immer noch. Oder nicht? Sie wich aus. Sie wand sich, sie wollte es sich nicht eingestehen, dass es doch anders war.

Sei ehrlich, Monika, warnte immer wieder die stille Stimme in ihr. Gestehe es dir doch ein. Gib es zu. Sei stark. Wisse es endlich, dass du den Geliebten verloren hast. Der Freund ist dir geblieben, auch der Kamerad, der sorgende, aber den du liebst, für den du lebst, der dir alles ist auf der Welt, und dem du alles warst, der hat dich verlassen. Er ist da – und er ist nicht mehr da. Gib es zu, gib es zu, und dir wird wöhler sein. Eindringlich bat die behutsame Stimme. Und als gehe plötzlich ein Vorhang in die Höhe, wusste Monika, dass sie die Wahrheit sprach.

Es traf sie wie ein Schlag. Grell beleuchtet, durch keinen gütigen Schleier gemildert, nackt, grausam stand die Wahrheit da vor ihr, der Hilflosen, und war nicht wegzuleugnen.

Erstarrt, überwältigt von ihren Gedanken, sass Monika auf der Granitbank. Wie oft hatte sie früher dagesessen, neben Tom, eingehüllt in Glück und Ruhe. Ohne Misstrauen, ohne es auch nur für möglich zu halten, dass es je anders werden könnte. Wie war sie so warm eingebettet gewesen in seine Liebe, umgeben von seiner Sorglichkeit, seiner Zärtlichkeit.

War er zärtlich, früher? Weich? Hatte er sie verwöhnt mit Schmeichelnamen? Nein, weder das eine noch das andere. Er war nie zärtlich, er verschwendete keine zarten Worte an sie, kaum küsste er sie je. Monika stutzte.

Wo war denn der Unterschied zwischen heute und vormals? Sie musste es einsehen, es war nichts anders geworden. Nichts, als dass sie wusste, dass es doch anders war. Ihr Leben glich einer schönen Landschaft, wenn die Sonne verschwunden ist. Es ist die Landschaft, genau dieselbe, und doch eine ganz andere, eine trübe, dunkle, farblose.

Und wenn sie auch früher ohne Zärtlichkeit neben ihm glücklich war, und ohne liebevolle Worte, so hatte sie es eben gefühlt, dass er sie liebte. Sie hatte es gewusst, nicht nur geglaubt. Die Sonne? Was war meine Sonne, die die Landschaft vergoldete? Einfach der Glauben an ihn. Das gläubige Wissen um seine Liebe.

Sie war arm geworden. Ach, Monika, du hast deine Liebe verloren. Sie war dir gegeben, um dir leben zu helfen, wie willst du nun leben ohne sie?

Mit Jammer im Herzen sass sie da. Unruhig und hin und her geworfen von ihren Gedanken; Zweifel quälten sie. Es stand die alte Frage wieder auf: Ist denn nicht alles, wie es immer war? Wo ist der Unterschied? Du findest ihn nicht, du bist es, die ihn schafft. So klang es nun in ihr. Lass deine Zweifel, wirf dein Misstrauen von dir, rette deine Liebe, denn du hast nichts als sie. Sie wurde von Tränen überfallen.

Plötzlich hörte sie das Auto unten auf der Strasse. Wie immer fuhr sie auf. Wie immer lief sie zum Haus, und im Vorbeieilen sah sie rasch in den Spiegel, fuhr mit dem kleinen Kamm durchs Haar, puderte sich und kühlte die Augen. Nur dazu, in die Garage zu laufen und den Heimkehrenden zu begrüssen, reichte die Zeit nicht mehr. Schon war Tom da.

«Guten Abend, Monika, geht's gut?»

«Guten Abend, Tomas.» Er sah sie an.

«Tomas? was habe ich dir zuleide getan? Auf der Stelle sagst du's, Tom!» Er lachte. Monika lachte nicht.

«Tom, guten Abend», sagte sie. Er nickte zufrieden.

«Ich freue mich jeden Abend, zu dir heimzukommen.» Nun wurde sie rot vor Freude.

 

Ich wusste es ja, ich wusste es ja, musizierte es in Monikas Herzen. Freundlich wie noch nie hat er heute nach meinem «Wohlsein gefragt. Blass fand er mich, traurig. Und hat meine Wange gestreichelt, er, der nie zärtlich ist. Nicht einmal in seinen Briefen. Sie sann. Alles, was man in Büchern liest von zärtlichen Männern, ist sicherlich erlogen. Sie sind eben so. Sie sind nicht wie wir und wie wir uns einbilden, dass sie seien. Uns geht alles um Liebe. Wo kämen die Männer hin, wären sie wie wir? Heutzutage, in unserm Jahrhundert, in diesem Weltgetriebe. Oder mache ich mir ein falsches Bild von Männern und Frauen?

Sie war aufgeregt, aufgewühlt, sie dachte rückwärts und verglich das, was gewesen, mit heute. Und triumphierend fand sie heraus und kam zu dem Schluss: Er liebt mich. Ich will seine Liebe nicht wägen. Ich will sie nicht messen. Sie ist schön, heute wie immer.

Sie schmückte sich, freute sich, sie schrieb ihrer Mutter einen glücklichen Brief. Sie sei viel allein, ja, das schon. Aber niemals einsam, denn sie seien ja zwei im Weissen Haus. Nur leider, leider, nicht mehr. Eben immer nur zwei.

 

Tomas Laurent und die schöne Monika hatten sich seinerzeit geliebt und hatten sich heute noch lieb. Keinerlei Hindernisse waren ihnen in den Weg gelegt worden, als sie heirateten. Alles stimmte. Die Familien begegneten sich in der Gesellschaft, Toms Vater war ein beliebter Arzt, Monikas Vater Professor, später Leiter der grossen Landwirtschaftlichen Lehranstalt Dorfwyl. Man begegnete sich im Kreuzgang nach der Kirche, schaute gemeinsam ins Badische Land hinüber, aber Romantik irgendeiner Art hatte bei dieser Heirat keine Stimme. Ausser in Monikas Herzen.

Die Liebe hatte sich nicht zu beklagen gehabt. Sie kam zu ihrem vollen Recht. Doch trat sie nicht in leidenschaftlichem Wesen auf, war etwas scheu, aber gründlich. Monika sah nur noch mit ihres Liebsten Augen. Alle ihre Interessen galten ihm, strebten zu ihm, und sie kannte keine Freude mehr, die er nicht teilte.

Er hütete sich vor jedem Übermass des Gefühls. Es war, als schütze er seine Würde, oder als fürchte er die Oberhand zu verlieren, oder wolle sich einfach die Anbetung der geliebten Frau wahren.

Zudem war er anständiger Gesinnung und hatte sich schon im Gymnasium Anzüglichkeiten und Witze verbeten. Vielleicht hielt er auch nur seine Gefühle hinter Gittern gefangen. Vielleicht fürchtete er sich vor ihnen.

Monika hatte ihre lieblichen Ideale. Es gab gute und böse Menschen. Aber es gab Ausnahmen, und eine solche Ausnahme war Tom. Er war aber nicht nur eine Ausnahme, sondern er war der Stern am Firmament des Guten. Hätte man sie nach den Fehlern ihres Verlobten gefragt, sie hätte erstaunt den Kopf geschüttelt und nicht antworten können.

Sie teilte seine Interessen. Sie wollte das Werk sehen und den Hochofen mit dem mächtigen, höllischen Feuer, das Tag und Nacht brannte, und das nie erlöschen durfte. Sie sah die rasende Glut, auf der die blauen Flämmchen tanzten, und spürte dabei die heisse Luft, die ewig unsichtbar und drohend über allem wogte.

Und mit Entsetzen hörte sie, dass es mehr als einmal vorgekommen sei, dass ein lebender Mensch in das Fegefeuer dieser Hölle gestürzt sei, in Atome aufgelöst, ehe er noch die glühende Masse unten erreicht hatte.

Einmal hatte Monika mit hinunter gedurft, in die unterirdischen Gänge, aus denen die kleinen roten Eisenkugeln zutage gefördert wurden. Unheimlich war die Dunkelheit, so tief unter der Erde. Unheimlich sah es aus, wenn die kleinen Lichter da und dort auftauchten und verschwanden, als suchten Verstorbene den Weg zur Seligkeit.

Traurig und unsäglich schwer schien ihr das Leben der Menschen zu sein, die da unten ihre Arbeit verrichten mussten. Tag für Tag, Jahr für Jahr, ein Leben lang.

Oh, schön war es oben, wo der Himmel so durchsichtig war, dass man hätte glauben können, es sei ein glänzendes seidenes Gewebe über die Erde gespannt, ein Festgewand, bestickt mit Sternen und geschmückt mit der klaren goldenen Sonne.

Tomas hatte sie lieb. Es blieb aber zu still in dem Weissen Haus. Wenn auch Monika freundlich hinauskam, um ihn zu begrüssen, wenn sie es ihm auch in dem schönen Wohnzimmer bequem machte, überhaupt alles tat, was sie konnte und er wünschte, so polterten doch keine raschen Füsschen die Treppe hinunter. Es flog keine Tür auf und lärmend wieder zu, und der Vater brauchte um seinen reinen Kragen nicht bange zu sein und ihn zu schützen vor kleinen, schmutzigen Händen, die ihn umarmen wollten. Ach nein. Leider, leider nicht.

Es war Tomas Laurents grosser Schmerz, dass Monika kinderlos blieb. Ein Leid, das er ihr gegenüber oft aussprach, das still in ihr lebte und sie immer aufs neue verwundete.

So sass er denn des Abends unter der Eiche oder im Erker des Wohnzimmers, erzählte vom Werk, vom Hochofen, von den Filialen, die da und dort gegründet wurden, und unermüdlich und immer wieder erzählte er von seiner Arbeit.

Und das alles rollte sich vor Monika ab, wie ein vielfach wiederholter Kulturfilm: Im Nebel des frühesten Anfangs, im Blitz und Donner des Kampfes, in der Schwüle mehrfacher Krisen, in der Lähmung des jahrelang drohenden Krieges, aber unter seiner Leitung standhaltend, ohne endgültige Gefährdung. Und der Erfolg war gekommen, der grosse Erfolg, der das Werk berühmt machte.

Wenn er so erzählte, wurde es elf Uhr, wurde zwölf Uhr, wurde es eins. Monika hielt aus.

«Noch eine Zigarette», bat er. Und sie blieb. Sie selbst hatte selten etwas zu erzählen. Oder fragte er nicht danach. So lebten sie seit zehn Jahren.

 

Monika und Tom Laurent gingen langsam den langen Weg vom Hause bis zur Eiche. Tausend Männerschritte waren es jedesmal, und man konnte einen ordentlichen Spaziergang machen, wenn man es sich nicht verdriessen liess, die tausend Schritte zehnmal zu wiederholen.

«Hast du dem Hans-Peter deine Vorschriften gebracht? fragte Tom. «Dein Vater hatte ja so schöne Erfolge.»

«Ja, natürlich. Aber nur der Gabriel und die Isolina haben sie behalten. Der Ochsner nicht, der will niemandem etwas verdanken.»

«So, die Isolina war also wiederum die erste? Ein famoses Frauenzimmer.»

«Ja», sagte Monika.

Wenn er doch einmal etwas so Liebes von mir sagen wollte, dachte die allzu demütige Frau. Und, als habe er ihren Gedanken erraten, nahm er ihre Hand.

«Du aber verdienst, weiss Gott, dasselbe Lob, das grössere Lob. Immer denkst du an andere, und deinem Denken folgt die Tat auf dem Fusse nach. Man merkt es so im Alltagsleben gar nicht, was für eine Menge Energie in dir lebt, wenn es zu helfen gilt.» Sie strahlte, als er sie bei beiden Schultern packte und tüchtig aber liebevoll schüttelte.

«Was ich mich deinetwegen gräme ...», erschrocken hielt er inne. Er teilte so sehr alles mit Monika, dass er sich einen Augenblick vergass und sich beinahe verraten hätte.

Würde er die paar Worte noch gesagt haben, die er zugeben wollte, so hätte er vieles sagen müssen, und trotz der warmen und grossen Freundschaft von seiner Seite und der Liebe von Monikas Seite wäre wohl das Feuer, das zerstörende, entfacht, und alles Schöne und Gute wäre zu Asche verbrannt worden.

Tomas Laurent hatte viel zu verbergen. Seit langem. Seit Jahren. Seine grösste Sorge war es, Monika vor der Entdeckung der Wahrheit zu bewahren. Er irrte sich da nicht über sich selbst. Es war nicht um seinetwillen allein, dass er die Frau, die er herzlich liebhatte und der er kein Leid antun wollte, in Unwissenheit darüber zu halten wünschte, dass er ein Leben ohne sie führe, trotz ihrer Liebe und seiner Freundschaft und Achtung und Dankbarkeit. Ja, um ihretwillen sorgte er sich. Er wusste, was er ihr antat.

Gewiss auch um seinetwillen. Er fürchtete sich,, die treueste, gütigste Frau tödlich zu treffen. Zugleich war ihm der Gedanke, sie entbehren zu sollen, undenkbar. Sie, mit der er alles besprach, die ihn verstand, ihn umsorgte, liebte, heute wie am ersten Tag, und ohne die er sich sein Leben gar nicht denken konnte.

Wie war das alles so traurig.

Und wie war es gekommen? So ganz ohne seinen Willen, und doch vom ersten Augenblick an mit seinem Willen, einem zähen Hinstreben, einem nicht ganz bewussten Nichtloslassen, bis er erreicht, was er gewollt, diesmal wie immer. Wie hatte es denn angefangen, Tomas Laurent?

In der Nachbarstadt, natürlich. Irgendwo in einem Handschuhgeschäft. Aber das war nicht der Anfang, der lag viel weiter zurück.

Tomas war noch Student, als er eines Tages das berühmte Bild, das von Angelika Kauffmann gemalte, entdeckte: Die Gräfin Potocka, die zweimal verkaufte polnische Schönheit, die das erstemal von ihrem verarmten Vater an einen überreichen Wojwoden, das zweitemal von eben diesem, ihrem Gatten, an einen der Grossen des Landes verschachert worden war.

Dieses Bild hatte sich geradezu in Toms Herzen eingebrannt. Es war ein Antlitz von unaussprechlicher Zartheit, von einem wunderbaren Ausdruck in den Samtaugen, mit einem süssen Mund unsäglichen Reizes und einem dünnen, rührenden, wunderlieblichen Hälslein, das man ohne Entzücken nicht betrachten konnte. Das Bild hatte auf Tomas Laurent gewirkt, als sei es lebendig. Er litt Schmerzen der Sehnsucht, träumte von der liebreizenden Polin und sprach seinem Freund von ihr, als sei sie ein lebendes Wesen.

Es dauerte lange, bis er die jungen Mädchen seiner Bekanntschaft mit dem Blick anderer Männer prüfte. Es dauerte lange, bis er sich eingestand, dass er seine erste Liebe an ein Bild verschwendet hatte.

Als er später Monika kennenlernte, liebte er sie. Aber sogar, als er sich mit ihr verlobte, vermied er es, an die Gräfin Potocka zu denken, so ohne Massen stark war der Eindruck gewesen, den er erlitten und der sich ihm zum Idol gebildet hatte.

Es blieb aber das erste und einzige Mal in seinem Leben, dass er sich als reinen Romantiker gefühlt und danach benommen hatte, und die Erinnerung an jene Liebe blieb ihm heilig wie ein blühender versteckter Garten.

Er war so sehr Wirklichkeitsmensch geworden, dass er anderes nicht mehr an sich herankommen liess.

Nun wollte es der Zufall – wie soll man es sonst nennen –, dass ein junges Mädchen in jenem Handschuhgeschäft ihn übermächtig an das bewusste Bild erinnerte. Das Oval, süss und zart, die Augen, der Mund, der Hals, der elfenbeinglatte, alles war da. Anders, ja, aber doch ähnlich.

Sie schloss ihm den Handschuh, und im plötzlichen Auftauchen jener Erinnerung zitterte seine Hand. Sogleich riss er sie zurück und schloss den Handschuh selbst. Darauf ging er und sah nicht zurück. Beim Einschlafen dachte er: Wie mag sie heissen? Wenn sie Stefanie hiesse?

Unter einem ungeschickten Vorwand, mit dem er sich selbst belog, ging er wiederum in jenes Geschäft. Er machte einen beträchtlichen Einkauf. Das junge Mädchen freute sich darüber und lächelte.

«Wie heissen Sie?» fragte Laurent plötzlich.

«Ich? Ich heisse Dagmar.» Er entschuldigte sich damit, dass ihn Frauennamen interessierten, und er sie gleichsam sammle.

Ich bin froh, dass sie anders heisst, dachte er erleichtert, und schickte ihr eine Stunde später einen grossen Veilchenstrauss. Eine Karte legte er nicht bei und nahm sich vor, seine Handschuhe künftig anderswo zu kaufen.

Ob die Blumen wohl von dem schönen Menschen sind, der heute da war? fragte sich das Fräulein. Ich wollte, er wäre es, der sie geschickt. Er gefällt mir gut.

 

Als Tom den schmalen Weg hinauffuhr und das Weisse Haus, rosig von der Sonne beleuchtet, daliegen sah, fielen ihm die Veilchen ein, die er geschickt hatte. Er fuhr plötzlich langsamer, obwohl er einen andern Gang einschalten musste.

Oben öffneten sich die beiden grossen Torflügel.

 

Herr Tomas Laurent, Direktor und späterer Mitbesitzer eines grossen Eisenwerkes, ging langsam den gut gebauten Weg hinunter, der von seinem Besitztum zur Landstrasse führte. Ging er zu Fuss, so benutzte er das Weglein, das durch des Ochsners Matten führte.

Heute stand der Bauer am Kreuzweg, und es sah aus, als warte er. Die Männer begrüssten sich. Sie waren von gleicher recht stattlicher Grösse. Der gleiche Ausdruck eines starken Willens lag auf beiden Gesichtern. Bei Laurent gemildert durch Erziehung und beherrschte Klugheit. Beim Bauern verdoppelt durch die Reihe willensstarker Ahnen, durch den harten Beruf und das Herrschen über ein kleines Königreich.

Ochsner teilte dem befreundeten Nachbarn mit, dass die Seuche Fortschritte mache, Roche überschritten habe, und schon drei Kilometer näher aufgetreten sei. Er erlaube sich, ihn zu ersuchen, das Weidland nicht mehr durchqueren zu wollen. Laurent entschuldigte sich. Vorbeugen sei da wohl leichter, als nachher kurieren.

«Gewiss», sagte der Bauer höflich. Rat von andern begehrte er nicht.

«Was sagen Sie zu den neuen Kriegsgerüchten, Herr Laurent?»

«Schlimm, schlimm. Stünden wir nicht schon beinahe jahrelang in Erwartung aller dieser Ereignisse, so könnte man annehmen, dass wir eben jetzt dicht davorstünden, oder sie vor uns. Sündhaft, alles das. Was nur schon der Schatten des Krieges für Unheil anstiftet! Eines steht fest: Noch nie seit langer Zeit war unser Volk so einig, so geschlossen, nein, entschlossen, und das ist wohl die beste Waffe, deren ein kleines Volk sich rühmen kann.»

«Morgen werden in den Zeitungen die Vorbeugungsmassnahmen veröffentlicht, das Verhalten bei einem Überfall.»

«Ich denke, der Bundesrat weiss, was er tut.» Darauf grüsste er, und die beiden gingen auseinander.

Tom Laurent stand mit seinen Arbeitern auf erfreulich gutem Fusse. Die Gefolgschaft hatte ihrem Chef manches zu verdanken. Vor allem damals, als er noch Direktor war und dafür gesorgt hatte, dass die mühevolle und oft gefahrvolle Arbeit sich auch eines guten Lohnes zu erfreuen habe.

Da er selbst ein unermüdlicher Schaffer war, würdigten die Arbeiter seinen Fleiss und kannten seine Arbeitstage.

Kam Laurent nach Hause, war er müde, liess sich nach der freundlichen Begrüssung seiner Frau und dem flüchtigen Kuss in seinen bequemen Lehnstuhl fallen und nahm seine Zeitung. Dann griff er zur Zigarette.

Das Abendessen, dann zwei, drei Stunden mit Monika im Garten oder auf der Veranda, und sein Tag war vorbei. Alle Abende vorbei. Das ganze Jahr hindurch vorbei. Ein Tag nach dem andern rollte ab, einer nach dem andern in dauernder Einförmigkeit.

War er aber fort, so wechselten sie ihr Gesicht, und andere Abende erlebte er dann, andere Stunden und andere Freuden.

Sorgsam wachte er darüber, dass kein Laut von dem allem zu Monika den Weg fand, denn er hatte sie lieb und verehrte sie.

 

Zu den mancherlei Gebäulichkeiten des Ochsnerhofes gehörte auch ein kleines Waschhaus, das früher als Heustadel gedient hatte und später zurechtgemacht worden war. Es stand eine moderne Waschmaschine unten im Raum, Zuber, Zinkwanne, Trockenmaschine, alles vollständig, wie Ochsner es gewollt hatte.

Darüber lag das Plättezimmer, durch eine Treppe von aussen zu erreichen. Dort fehlte es an Neuerungen, denn dort hatte Georgine befohlen und verboten. Immer noch stand da der eiserne Ofen aus ihrer Jugendzeit, der heftige Wärme ausströmte, wenn die Eisen um ihn herumstanden und warteten. Sie meinte, er tue immer noch seinen Dienst. Das tat er auch. Doch hatte man eine unangenehme Hitze auszuhalten.

«Habe ich sie ertragen, so könnt ihr sie auch ertragen», sagte die Hausfrau zu den Plätterinnen. Auch das war richtig.

Das beinahe zierlich hergerichtete Häuschen stand in der Nähe der Scheune, die von dem eingefahrenen Heu einen derartig naturhaften, duftenden und herben Geruch verbreitete, dass kein künstlicher Wohlgeruch an ihn heranreichte.

Das Wetter hatte bei der Wäsche geholfen, sogar der Wind hatte mit eingegriffen, und alles war trocken eingebracht worden und stand nun in grossen Körben im Plättezimmer umher, wo noch eine uralte Kalandriermaschine zu finden war und eine um eine Generation jüngere Mange.

Zu vieren sollte am nächsten Tag geplättet werden, ein Fest, bei dem es Kaffee, Wein, Gugelhopf und Käse gab. Um sechs Uhr morgens wollte man damit beginnen.

Das Hilfsmädchen, das bei grossen Wäschen gerufen wurde, hatte das Zimmer noch aufgeräumt, hatte die Körbe mit der trockenen Wäsche zugedeckt, gewischt und gedankenlos den Eisenofen wieder angefüllt bis oben, die Schlacken vorher ausgekratzt und sich Gott weiss was bei dieser unnötigen Heizerei gedacht. Den Schlüssel gab sie zum Schluss der Hausfrau ab.

 

Um der herrlichen Sternennacht willen und wegen der linden Luft, die den Menschen noch geschenkt wurde, in erster Linie aber wegen der Liebe, hatten Tilly und Maurice beschlossen, ein oder zwei Stunden zusammen spazieren zu gehen.

Sie mussten die Zeit, in der das geschehen konnte, klüglich bemessen und warten, bis alles im Hause schlief. Aber auf dem Land sagt man sich früh ‹gute Nacht› und beeilt sich mit dem Einschlafen. Man wartet nicht so lange damit, bis sich ‹gute Nacht› und ‹guten Tag› begegnen, wie die Leute in der Stadt es tun. Man geht, wenn's möglich ist, mit den Hühnern zu Bett.

Tilly hatte den Hausschlüssel schon mehr als einmal vom hohen Brett über der Haustüre heruntergeholt, leise, wenn alles schlief.

Es war eine schöne Nacht. Schon flimmerten die Sterne. Sie hatten sich früh aufgemacht, um die Menschen mit ihren goldenen Augen zu grüssen.

Auf einem Umweg erreichten die zwei den Wald. Sie hatten erst auf der wenig ansteigenden Strasse gehen müssen und dann das lange stille Tal entlang, das im Frühjahr blau war von Enzianen. Dort bogen sie links ab zum Wald.

Maurice hatte den Arm um Tillys Schulter gelegt. So gingen sie lange.

«Du weisst nicht, wie lieb ich dich habe», sagte er. «Ich möchte dich in einer Nusschale verstecken, dass dir nichts Böses geschehe, oder dich auf einen Altar stellen zwischen zwei brennende Lichter, dass keiner dich anrühren kann. Oder ich möchte in einem Schifflein mit dir übers Meer fahren, bis zu einer Insel mit grossen Blumen, und kein anderer Mensch dürfte dich sehen.» Er küsste sie, und lange hielten sie sich umfasst. Endlich gingen sie wieder.

«Wie darf Vater uns eigentlich verbieten, zu heiraten», fragte wie aus heiterem Himmel Tilly. «Darf er das? Das möchte ich wissen.»

«Da du achtzehn Jahre alt bist, darfst du heiraten ohne der Eltern Zustimmung. Aber weisst du, ohne des Vaters Erlaubnis möchte ich mein Haus nicht aufbauen. Du weisst ja, was es heisst von des Vaters Segen und der Mutter Fluch? Aber wir werden's schon zwingen, Tilly.»

«Was sagt der deine dazu? Ist er auch so dagegen wie unser Ochsner daheim?»

«Doch, er ist dagegen. Aber mit ihm kann man reden. Ich habe ihm gedroht, dass ich nach Amerika gehe, wenn er mir da einen Bengel zwischen die Füsse werfe. Ich kenne den Betrieb in unserer Fabrik von jung an. Ich habe die Aufsicht unter mir. Verbesserungen sind mir schon oft gelungen. Er braucht mich, weisst du.» Tilly schwieg.

«Gegen dich hat er nichts, er ist kein grausiger Steckkopf. Aber, sagte er, seinen ärgsten politischen Gegner in der Familie zu haben, das tue nicht gut, weder den Alten noch den Jungen. Ihm wäre es recht, wenn nichts aus der Sache würde.»

Tilly nickte.

«Nein, hindern kann uns niemand, wir haben das Alter. Und genug, um ein Dach über dem Kopf zu haben, verdiene ich längst, überall», sagte Maurice. «Aber – Fluch bleibt Fluch. Und ohne des Vaters Segen ..., es sind keine Worte, die nur so in der Bibel stehen. Es ist eine Wahrheit, es geht immer schief. Was falsch angefangen wird, geht immer falsch weiter, das ist's. Das ist der Fluch.»

«Man könnte sich ja fürchten. Gib mir lieber einen Kuss, das wird gesetzeshalber doch erlaubt sein. Oder nicht?» Er lachte und bewies ihr, dass er sich davor nicht fürchtete.

Es war nicht das erstemal, dass Tilly und Maurice auf dem grossen moosbewachsenen Baumstamm sassen, da, wo der Waldweg auf Gabriel Ochsners Grundstück mündete. Man war dort ziemlich geschützt vor Entdeckungen und konnte beide Höfe überblicken. Sollte sich etwas Verdächtiges zeigen, so konnte man sich leicht rückwärts davonmachen. Buschwerk, junge niedere Tannen und Weglein die Kreuz und die Quer gab es viele.

Das junge verliebte Paar hatte aber noch nie fliehen müssen, es war immer dunkel genug gewesen.

«Maurice», sagte Tilly, «Liebe ist das Schönste. Auf der ganzen Welt gibt es nichts Schöneres. Es ist das Paradies auf Erden.»

«Und mit dem richtigen Paradies, wie steht es wohl damit?» fragte der junge Bursche. Leises Misstrauen beschlich ihn dieser unbekannten Herrlichkeit gegenüber. «Ob man sich da auch lieben darf? Im Himmel, bei den Engeln?» Tilly sah ganz erschrocken auf.

«Maurice! Im Himmel! Und keine Liebe? Da könnte man ja ebensogut in die Hölle fallen», sagte sie nachdenklich. «Aber am Ende ist das gerade der Unterschied zwischen dem Himmel und der Hölle, ob man sich liebhaben darf oder nicht?»

«Möglich», sagte Maurice. «Und was geschieht wohl mit den Leuten, die, wie wir, ihre Liebe vorwegnehmen? Ob sie doch hinein dürfen?»

«Ach, natürlich. Vielleicht werden sie nur in die zweite Klasse eingelassen, statt in die erste. Mir wäre das ganz gleichgültig. Wenn ich dich nur habe und du mit dabei bist.»

«Ja, aber ich habe gelesen, dass man im Himmel sich weder freie noch freien lasse», sagte Maurice beklommen. «Das klingt verdächtig. Vielleicht wollen die Engel von der ganzen Liebe nichts wissen?»

«Im Gegenteil», sagte Tilly laut. «Das bedeutet doch, dass man im Himmel das Standesamt gar nicht braucht. Man braucht weder den lieben Gott noch Vater und Mutter zu fragen! Man ist ganz von selbst verheiratet, wenn man sich liebt. Da wären wir beide ja hier schon im Paradies, jetzt schon. Wir haben uns lieb, ohne dass wir verheiratet sind», triumphierte Tilly.

Er lachte und nahm Tilly in die Arme mit gutem Gewissen. Und die Stunde, die sie noch im Walde blieben, schwand so rasch wie ein Wölklein am Himmel.

Leise gingen sie am Waldrand entlang nach Hause. Maurice tauchte unten ins Dunkel, und Tilly schlich sich am Gartenzaun entlang bis zum Haus, geschützt von den hohen blühenden Büschen.

Sie öffnete die Türe. Ehe sie hineinging, schnupperte sie. Es riecht nach Rauch, dachte sie, und schloss zu. Niemand hatte sie gesehen.

In der Nacht erwachte Tilly von mächtigen Schlägen an die Türe und von lautem Geschrei.

«Aufstehen, es brennt! Es brennt! Aufstehen! Es brennt!» Schon stand Ochsner am Fenster.

«Was gibt's?»

«Hinten bei euch brennt's. Das Waschhaus ist es. Oder die Scheune. Ich habe schon telephonieren lassen.» – Es war der Nachbar, auf der Strasse nach dem Städtchen zu. Während noch Frage und Antwort hin- und hergingen, gellte schon das Feuerglöcklein und wimmerte kläglich. Einstmals war es die Arme-Sünder-Glocke. Es hatte die Gewohnheit jämmerlicher Klage beibehalten.

Gott sei Dank, dachte Tilly, ach Gott sei Dank bin ich schon daheim. Ich darf nicht daran denken, was sonst geschehen wäre. Bald darauf lief sie fertig angekleidet hinunter zum brennenden Waschhaus. – Schon rannten die Nachbarn herbei, schon kamen sie vom Städtchen heraufgelaufen, schon schöpften Knechte, Mägde, Bekannte und Unbekannte Wasser in dem grossen granitenen Brunnen des Hofes und schütteten ganze Kübel gegen den Sockel des brennenden Häusleins. Aber die Hitze stieg, und sie liessen ihr unnötiges Tun. Als die Funken stoben, flohen sie. Die kleinen blauen Flämmchen an den untersten Balken liessen sie züngeln.

Da kam die Feuerwehr herbeigerasselt, und in wenigen Augenblicken schossen die Strahlen, herrlich vom Feuer beleuchtet und in silbernen Tropfen verglühend, in die Flammen und überfluteten das Waschhaus und besonders die Scheune so reichlich mit Wasser, dass rieselnde Ströme an den Dächern herunterflossen. Auch sie glänzten silbern im Feuerschein. In einer Stunde war der Brand gelöscht.

Beim Mittagessen am nächsten Tag sah die Mutter Tilly erstaunt an, als sie durch das Zimmer ging. Was schaut sie so? dachte das Mädchen. Weiss sie etwas? Hat sie mich gesehen?

«Tilly, dein Kleid ist ja hinten voll Moos, wann und wo sitzt man auf Moos?»

«Im Wald», sagte Tilly. Die Mutter lachte. Auf alles hat das Mädchen eine Antwort. Sie ist so gescheit wie der Hans-Peter, dachte sie.

Was eine Mutter bei fremden Kindern auf hundert Meter merkt, das merkt sie nie bei ihren eigenen, auch nicht, wenn sie neben ihr stehen. Und wenn sie von der verfrühten oder verbotenen Liebe anderer hört, so findet sie das schrecklich. Beim eigenen sagt sie: Gott hat die Liebe erfunden!

Zu Tilly sagte sie nur ein paar Worte:

«Du musst dein Kleid gut abbürsten, Moos könnte abfärben.» Tilly sah vor sich hin und hörte gar nicht, was die Mutter sagte. Sie dachte an den Baum voll Moos, an Maurice und ihre Liebe.

 

Das kleine Waschhaus war freilich verbrannt bis auf den Sockel. Samt Waschmaschine, Körben mit Wäsche und allem anderen.

Es standen den nächsten Tag die Leute da und betrachteten die kleine Ruine. Auch Ochsner und die Feuerwehrleute standen noch beisammen, es wurde Ordnung geschafft, die letzten Glutreste an den völlig verkohlten Balken gelöscht und den Versicherungsagenten Rede und Antwort gegeben. Es wurden Notizen gemacht und ein Artikel in den «Démocrate» redigiert. Georgine war tief betrübt und jammerte um ihre Wäsche.

«Wo die war, gibt's andere», sagte Ochsner. Kleinlich war er nicht. Die Frau liebte aber ihre Wäsche, jedes Stück hatte sie selbst gesäumt und gezeichnet. Was kümmerte solch kleines Leid einen Mann wie Hans-Peter?

Ochsner klopfte einem der hilfreichen Männer auf die Schulter.

«Morgen abend treffen wir uns alle in der ‹Sonne›. Meine Herren, Sie sind freundlich eingeladen. Ich komme auch. Sieben Uhr abends.»

«Ein Hurra für Ochsner!» Sie kamen gerne.

Die Scheune war gerettet. Der Schaden nicht der Rede wert. Ochsner erhielt die ordnungsgemässen Entschädigungen.

Die Frage nach der Ursache des Brandes wurde erörtert. Auf den Vagabunden fiel der erste Verdacht. Drei Tage hielt man ihn fest. Er konnte aber sein Alibi nachweisen. Das Mädchen, das beim Waschen geholfen, wurde ausgefragt.

«Nein, alles war in Ordnung, als ich heimging», sagte sie.

«Nein, der Ofen brannte nicht mehr. Ich habe ihn noch ausgeräumt und die Schlacken in den Kessel getragen.»

«Nein, es war nichts Verdächtiges zu sehen.» Man konnte nicht unschuldiger aussehen.

«Zündhölzchen? Nein, ich habe nie welche bei mir.» Man hiess sie gehen.

Alle Kinder, alle Menschen lügen. Bei den geborenen Lügnern ist es aber so: Mit fünf Jahren fängt es an, mit fünfzehn sind sie geschickt, mit zwanzig nicht zu übertreffen. So erging es auch dem Mädchen. Es verstand mit sechs Jahren schon ganz gut zu lügen, nur etwas scheu. Mit vierzehn konnte es lügen und dazu unschuldig lächeln. So zwischen achtzehn und zwanzig weinte es, wenn es beschuldigt wurde, und die Leute liessen sich rühren und glaubten ihm. Mit fünfundzwanzig aber log es auf reizende Weise und lachte laut dazu, so komisch schien es ihm, dass man denken könnte, es rede nicht die Wahrheit.

Diesmal hatte Schweigen genügt. Einfach nein sagen und schweigen. Alles geht, wenn man's richtig anfängt.

 

An einem ohnehin blauleuchtenden Tage rief die Mittagsglocke beinahe mutwillig zum Mittagessen. Sie hatte einen so freundlichen und einladenden Klang, als wolle sie die Arbeitenden bis in den hintersten Winkel aufsuchen und locken. Man bekam sie gradezu lieb.

Die Glocke, die Glocke! Knechte und Mägde merkten es erst jetzt, wie hungrig sie waren. Sie legten die Stallkittel ab, hingen die grossen Schürzen an einen der hölzernen Nägel, wuschen sich die Hände – anders kam man nicht an Hans-Peters Tisch – und liefen mit kleinen oder langen Schritten in die Nebenstube, in der Meister und Meisterin schon bei Tisch sassen, einander gegenüber.

Man rückte die Stabellen, man wünschte sich guten Appetit, man schlug das Kreuz oder betete einfach und sah sich emsig und neugierig um, was es heute wohl Gutes geben werde.

Linsensuppe in einer Riesenschüssel gab es, darin eine lange und armsdicke Bernerwurst gekocht worden war. Dem allgemein beliebten Gericht folgte die Wurst selbst auf einer mächtigen, bunten Platte. Sie zog eine unsichtbare wohlriechende Fahne hinter sich her, und dieser Duft wäre nach Meinung der Tischgenossen nicht einmal von Rosen und Nelken zu überflügeln gewesen.

Man ass, man trank seinen Apfelmost, man kaute nach Leibeskräften und scharrte zufrieden mit den genagelten Schuhen.

«Wo ist der Dieter?» fragte plötzlich Ochsner. «Was ist los, dass er zu spät zum Essen kommt?»

«Ich habe ihn im Kuhstall rumoren hören», sagte der Karrer. Er hatte noch nicht ausgeredet, als der Meisterknecht hereinkam und einen Augenblick, wie zögernd, unter der Türe stehenblieb. Er war bleich zum Erschrecken.

«Was gibt's?» fragte Hans-Peter.

«Meister, ich hätte etwas mit Euch zu reden», sagte der Küher mit wankender Stimme, drehte sich um und ging hinaus. Ochsner folgte ihm.

«Meister, die Bläss ist krank. Sie frisst nicht. Sie hat Schaum und Schleim vor dem Maul, der Barren ist voll davon. Ich habe ihr in den Rachen geschaut, und sie hat sich dagegen gewehrt wie der Daus. Dunkelrot entzündet ist alles und voll Blattern, gross wie Erbsen oder grösser.» Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirne.

«Herrgott, Hergott! Dieter, es wird nicht sein? Daran ist das verdammte Waschhaus schuld! Auf den Hof ist sie gestürmt, die Bande, und hat mir die Seuche in die Ställe gebracht. Hätten wir's brennen lassen und ...»

«Ja, und die Scheune dazu, es wäre weniger schlimm gewesen. Ich hab's gleich gedacht», sagte fast heiser vor Erregung der Küher.

«Hättest du geredet! Hättest du dein Maul auf getan», fuhr ihn Ochsner heftig an.

«Geredet? Was denn geredet? Ihr habt die Leute ja auch gesehen. Und meine Sache war das nicht. Und was hätte es genützt? Ich habe hinter ihnen her doppelt gestreut, und in den Stall ist mir keiner gekommen, ich hab' aufgepasst.»

Schweigend gingen sie über den Hof, wechselten ihre Schuhe und tauchten sie in den Kübel mit Lysolwasser, der täglich neu gefüllt wurde.

Mit einer Art andächtiger Angst betraten sie den Stall und gingen die Reihen entlang bis zu dem kranken Tier. Der Bauer betastete es.

«Sie brennt vor Hitze, und das Maul schäumt vor Schleim. Wenn sie den Kopf schüttelt, spritzt sie mir ja alles im Stall umher.»

«Wir müssen die Bläss herausnehmen, oder alle andern Tiere.»

«Schwatz nicht so dumm. Wo soll ich denn Platz nehmen für die dreiundfünfzig Kühe.»

«Wir legen die Bläss in den Sattelraum. Ein gutes Strohbett, gute Luft ...»

«Ja. Und pass auf die andern auf. Dieter, eine zweite darf mir nicht krank werden.» Der Knecht nickte. Ihm war es ums Heulen wie dem Ochsner auch.

«Also bei mir hat's anfangen müssen! Bei mir, der hinter der Sache her war wie ein Polizist. Gerade den Ochsnerstall hat sich die Seuche ausgesucht. Lauf, Dieter, lauf hinauf zu Laurents und telephoniere dem Doktor Kraus. Sofort soll er kommen, sofort. Und sein Serum, oder was er hat, soll er gleich mitbringen. Aber sofort, die Frau hält dir das Essen warm, kannst es nachher schlucken, jetzt heisst es pressieren. Und wasch dir die Hände, nachdem du die Bläss betastet hast, jedesmal. Kannst es nie zu viel tun!»

Der Knecht lief, und der Meister ging langsam zurück, erschüttert, ausser sich, und innerlich zerschlagen.

Aber als er ins Haus kam, straffte er sich, fuhr sich mit allen fünf Fingern durch die Haare und atmete schwer. Als er sich ein wenig erholt hatte, ging er hinein in die Stube, setzte sich und packte energisch seinen Löffel. Doch liess er ihn wieder sinken.

Sie sassen alle noch da, wie es Brauch und Sitte war auf dem Ochsnerhof; Meistersleute, Knechte und Mägde sassen nach dem Essen noch eine Weile beisammen, rauchten und strickten und liessen ihre Zungen klappern. Für diese kurze Zeit waren sie dankbar.

«Vater», fragte Tilly, «was gibt es? Ist eine Kuh krank?» Ihr rundes Gesicht rötete sich vor Angst. Es muss arg sein, dass er so schweigt, dachte sie. Was er wohl zu sagen hat? Alle schauten auf den Meister, keiner wagte zu fragen. Gutes würden sie nicht hören. Sie hielten das Rauchen an.

«Die Seuche ist im Stall.»

Die Pfeifen fielen aus den Händen, und die Stricknadeln sanken in den Schoss.

«Es wird nicht Gottes Wille sein», sagte Georgine mit zitternder Stimme.

«Weiss nicht, ob's Gottes Wille ist. Wird wohl ein Mensch daran schuld sein. Aber den, von dem ich erfahre, dass er von einem verseuchten Hof gekommen ist, den schlage ich tot. In Stücke schlage ich ihn.» Der Bauer sah zum Fürchten aus mit seinem grimmigen Gesicht und den feuersprühenden Augen. Er trank sein Glas aus und schmetterte es in eine Zimmerecke. Irgendwie musste er sich Luft machen. Dann nahm er sich zusammen.

«Die Bläss ist es, gerade die. Morgen oder übermorgen soll sie kalben. Meine Preiskuh, das prachtvolle Tier!» Die Stallmagd, die die Bläss melkte, brach in Tränen aus.

«Die lieben Kühe», schluchzte sie. «Die lieben Kühe! Womit haben wir das verdient?» Sie nahm die Schürze vor das Gesicht und wischte sich die Tränen ab, die nicht aufhören wollten zu fliessen.

«Verdient, Züsi? Wer verdient das Gute? Und wer das Böse? Ich denke, darüber fangen wir nicht an zu werweisen. Wir kämen nicht weit. Aber nun heisst es aufpassen. Gar nicht sauber genug kann man alles halten. Jedes Hälmlein muss man forttragen und verbrennen.» Er lief in der Stube umher, einmal hin und her, und einmal aus der Wohnstube in die Nebenstube und umgekehrt.

«Wenn doch der Doktor vorwärtsmachen wollte. Eine Stunde ist's her, dass man telephoniert hat.»

«Eine Viertelstunde», korrigierte Georgine. Ochsner sah sie an, fast mitleidig.

«Kommt's jetzt auf ein Wort an? Auf einen Punkt? Mir kommt es wie eine Stunde vor, und so ist es eine Stunde für mich. Was, Frau Ochsner?» Grimmig sass er da. Man wollte ihn noch zum Essen nötigen, aber der Hunger war ihm vergangen.

«Stellt dem Dieter das Zeug an die Wärme», befahl er. «Ich mag nichts mehr, tragt's hinaus!»

«Züsi», fuhr er dann fort, «lasse den Dieter melken. Geh du nicht mehr in den Stall. Das Hinaus und Herein ist nicht gut. Die einen, die Knechte, drinnen, und ihr Mägde draussen. Je weniger es sind, die die Ställe betreten, um so besser. O Herrgott im Himmel, dass mir das geschehen musste!» murmelte er vor sich hin.

«Vater, bis jetzt ist es nur eine», sagte Tilly. «Es muss ja nicht schlimmer werden.»

«Nein, es muss nicht. Aber es wird, zähl darauf.»

Die Männer gingen nun in die Ställe, die Frauen an ihre Arbeit. Hans-Peter selbst nahm Züsis Stelle bei der Kranken ein, weil der Dieter und der Kleinknecht allein nicht fertig werden konnten. Der Meister arbeitete wie einer der Knechte, überall, im Rossstall, in der Scheune, beim frühen Dreschen, beim Tränken, bei allem, und zwar vom Morgen früh bis abends spät. Jedesmal, wenn der Flegel niederging auf das geduldige Korn, schlug Hans-Peter in Gedanken den Sünder tot, der ihm die Seuche auf den Hof gebracht hatte.

 

Mit besonderer Freude hatte man auf dem Ochsnerhof eine Ecke im Gemüsegarten gezeigt, gehegt und gepflegt wie ein lebendes Wesen. Es war die Nährmutter aller Gemüse, der Trost verarmter Blumenbeete, das Heilmittel kranker Bäume: der Komposthaufen.

Gross, gleich einem wohlaufgebauten Termitenhügel, stand er da und sah über die Reihen der Gemüse hinweg.

Respektvoll gingen sämtliche weiblichen Besucher an ihm vorbei, denn sie wussten, dass man so etwas nicht kaufen, nicht leihen, nicht herzaubern, nicht rasch sich erzwingen kann, sondern dass ein derartig kostbarer Berg jahrelang gehätschelt werden muss von Sonnenschein, Regen, Erde, Mist und Gott weiss was allem noch. Mit Geduld und Verständnis muss er geschaffen werden. So ein Komposthaufen hat seine Ahnen.

Er musste verschwinden. Er musste vom Erdboden vertilgt und verbrannt werden, denn wer wusste es, ob er nicht den Tod in sich barg? Mit Lysolwasser überschüttete man ihn. Was noch übrigblieb, wurde mit einem Armvoll Stroh bedeckt und angezündet.

 

Frau Monika sass, als der Grossknecht Dieter in der Halle telephonierte, in ihrem Wohnzimmer und hörte jedes Wort, das der Melker in seinem Eifer mit Donnerstimme in das Rohr hineinschrie. Sie erschrak heftig, als sie hörte, worum es sich handle.

Ihr war es kein Geheimnis, was den Ochsnerställen drohte, denn sie war ja aufgewachsen auf dem grossen Gut, der landwirtschaftlichen Lehranstalt Dorfwyl. Sie wusste, was die Seuche bedeutete. Sie ging an ihren Schreibtisch und nahm ein dünnes Heftlein aus einem der Fächer. Dann ging sie hinaus.

«Ich habe gehört, was Ihr dem Doktor gemeldet habt, Dieter. Es tut mir furchtbar leid, dass das schöne Vieh in Gefahr ist. Bitte, bringt das kleine Büchlein dem Meister, er möge es lesen, und ich sei zu jeder Auskunft bereit. Sagt ihm, ich hätte das alles schon miterlebt und wisse, dass man der Seuche Herr geworden sei.» Dieter nickte.

«Es steht alles hier in den paar Seiten geschrieben. Vielleicht kommt der Meister selbst, es würde nicht schaden.»

Dieter dankte hastig und lief eilig mit grossen Schritten den schmalen Weg hinunter.

Er berichtete, was Frau Laurent ihm aufgetragen, und übergab Ochsner das Papier. Es war vergilbt und an den Ecken verknüllt.

Ochsner las. Aufmerksam studierte er die verschiedenen Teile der Vorschrift. Dann schüttelte er den Kopf. Altes, vorsintflutliches Zeug, dachte er. Wasser? Was kann Wasser helfen bei einer solchen Krankheit? Er sah Tilly über den Hof gehen und rief ihr.

«Geh hinauf zu Frau Laurent und sage ihr, ich lasse höflich danken. Sag, der Doktor Kraus komme in einer halben Stunde, und es werde alles aufs genaueste ausgeführt, was er befehlen werde. Mit der Vorschrift da, glaube er, Ochsner, nicht so recht fertig werden zu können. Eine solche Behandlung müsse man sich gewöhnt sein. Und dann müsse man auch daran glauben können, und das gelinge ihm nicht. Sage, ich wäre selbst hinaufgekommen, hätte aber keine Zeit.»

Man merkte an seiner unruhigen und mehrmals stockenden Rede, in welcher Aufregung er war. Der Grossknecht ging vorbei, Ochsner rief ihn an.

«Dieter, sie schreibt da, man müsse das kranke Vieh mit Wasser behandeln. Hast du so etwas schon gehört?» Dieter lachte laut.

«Die Blattern sind inwendig, da hilft das pflättern auswendig nichts. Das sind so erfundene Sachen.»

Als Hans-Peter am Nachmittag Frau Monika den Umweg um seinen Besitz machen sah, ging er ihr entgegen.

«Schönen Dank, Frau Nachbarin. Recht schönen Dank. Wir verstehen die Sache nicht so recht. Auch ist der Doktor Kraus nun gekommen und hat seine Einspritzungen gemacht und seine Säfte verordnet und geschmiert und gemessen. 39 Grad.»

Monika verlor keine Worte mehr, sprach freundlich ihr Bedauern aus und fragte, ob sie irgend etwas helfen könne?

«Danke, danke, es sind Leute genug da.» Monika ging.

Der Ratsherr Ochsner wusste aber, was sich schickte. Umsonst war er nicht der Sohn einer Mutter aus altem Bauerngeschlecht, das immer getan hatte, was sich gehörte. Umsonst hatte er nicht manches gute Buch gelesen, als Ratsherr mit Leuten verkehrt und seine Erfahrungen gesammelt.

Er schickte Monika ein Körblein schönster Birnen und ein anderes mit den ersten Sauergrauech, den Äpfeln, die nur im Kanton Bern so gut gediehen. Schuldig blieb er nichts, der Bauer vom Ochsnerhof. Aber nach der Weise freundlicher Leute sich etwas schenken zu lassen, wie die Demütigen es können, das hatte er nie gelernt.

Als Monika wieder daheim angekommen war, mit dem zufriedenen Gefühl, getan zu haben, was sie vermochte, kam ihr die Köchin Katri entgegen, einen Korb voll trockener Wäsche an beiden Henkeln vor sich hertragend.

«Die da unten werden keine Freude haben», sagte sie, und man hätte meinen können, dass sie es mit leichter Schadenfreude sagte. Wenigstens klang es so.

«Hast du wieder die Ohren gespitzt, als der Dieter telephonierte?» fragte die Hausfrau im Weissen Haus, an Jahren jünger als ihre Magd.

«Da braucht's kein Ohrenspitzen, wenn einer so brüllt! Aber mich hat es im Rücken gegramselt vor Schreck, als er anrief. Bös, bös! Wenn es einmal anfängt in einem Stall, weiss kein Mensch, wann es aufhört. Es gibt ja mancherlei Mittel dagegen, viele gibt's, aber sie helfen nicht alle. Und das beste wendet der Ochsner doch nicht an.»

«Welches meinst du? Welches ist das beste?»

«Das Weihwasser. Wenn man das im Stall ...»

«Ach, Katri, der Ochsner ist doch Protestant.»

«Darum kümmert sich das Weihwasser nicht. Das hilft sogar den Kühen von so einem. Aber wer nicht will, der hat gehabt. Meinetwegen und Punktum.» Sie ging mit ihrem Korb, der sich krachend die Last kaum gefallen liess.

Monika machte sich noch einmal auf den Weg mit ihrem Heftlein, diesmal zum Tannenhof. Da sie dort Apfelbäume plünderten, war Gabriel in der Nähe, und stieg von seiner Leiter herab, als er Monika sah. Er freute sich, wenn sie kam, aber viel gesprächiger wurde er darum doch nicht.

Sie konnte gut zuhören, nicht nur ihm, denn da gab es keine grossen Redereien, aber auch der Isolina, die erzählen konnte, dass es daherstürzte wie der doppelte Wasserfall bei Biasca. Da hörte sie zu, die Frau Laurent, freundlich, als spräche ein Professor und nicht eine einfache Bauernfrau. Frau Monika fiel einem nie ins Wort, sie redete selbst nicht viel, er konnte sie gut leiden. Und wie die Kinder sie liebhatten – schade, schade. Was schade war, sagte er nicht laut. Aber er freute sich, wenn Frau Monika kam, das blieb bestehen. Sie gefiel ihm auch sonst, auswendig, recht gut, und wenn es nicht ein Evangelium für ihn gewesen wäre, dass schwarze Haare die schönsten seien, so hätten ihm auch die blonden von der Frau Laurent gut gefallen. Aber so etwas auch nur ganz leise bis ans Ende zu denken, das erlaubte sich der getreue, ehrliche Bauer vom Tannenhof nicht. Es gab nicht bald einen wie ihn.

Isolina hatte die Nachbarin kommen sehen, und als höfliche Tessinerin holte sie sie herein, und begann sofort – ach leider, leider nicht wie daheim am heimischen Kamin, sondern auf dem Herd – einen Kaffee zu brauen. Das verstand sie ausgezeichnet. Nun, da war nichts Ausserordentliches dabei. Zeigt mir ein Mädchen oder eine Frau von Airolo bis hinunter nach Ligornetto, die nicht einen wahrhaft königlichen Kaffee zu brauen verstünde!

Gabriel kam herein und brummte ein paar Worte der Begrüssung.

«Es ist nichts Erfreuliches, warum ich komme», sagte Monika. «In Hans-Peters Stall ist die Seuche.»

Als hätte der Blitz vor ihnen eingeschlagen, standen die beiden da.

«Dio mio!» flüsterte Isolina. Gabriel wurde fahl. Nach einer Pause fragte er, ob auch der Doktor dagewesen sei?

«Darum bin ich gekommen, Ochsner. Ich verstehe etwas von der Krankheit. Auf meines Vaters grossem Hof oder grosser Anstalt kamen von dreiundvierzig Kühen alle davon, ausser den beiden ersten. Sie starben, weil der Knecht die Seuche nicht schnell genug erkannt hatte.» Und nun erklärte sie, was der Vater erprobt hatte. Sie gab das gedruckte Heft mit der Vorschrift ab und erklärte die wichtigsten Vorbeugungsmittel nach des Vaters Rat und Erfahrung.

«Sobald ein Tier das erstemal nicht fressen will – Gefahr. Sobald ein Tier unruhig und ängstlich vor und rückwärts tritt – höchste Gefahr. Sobald Schaum, Speichel zu triefen beginnt – Gefahr. Gabriel, gehen Sie täglich selbst in den Stall und überzeugen Sie sich, ob die Kühe fressen. Wenn sie das Trinkwasser verweigern, Thermometer heraus. Beim ersten Zeichen sofort mit der Behandlung beginnen. Studieren Sie sie schon vorher. Geben Sie sofort Feunum gräcum ins Wasser, wenn die Tiere saufen. Etwas Mehl zugleich, damit sie nicht vor Hunger schwach werden.»

«Ja, aber ...» begann Gabriel, kam aber nicht weiter.

«Willst du warten, bis unsere Kühe tot sind, Gabriel?» fragte Isolina. «Sollen wir vom Hof müssen? Passt dir das, Gabriel? Willst du das?»

«Hab's nicht im Sinn», sagte er ruhig.

«Also, dann höre zu und stelle das ‹Ja› voran und nicht das ‹Nein›, du langsamer Rubiger, du.»

Monika musste lachen. Isolina hatte ein Prinzip, das in kleinen Tessinerdörflein nicht Sitte ist: Immer voran, sagte sie, wenn Neues ihr begegnete. Alles probieren, hörte man häufig von ihr. So auch heute.

Monika erklärte Punkt für Punkt, wie man es im väterlichen Hofe gehalten habe. Ganz beredt wurde sie, der doch sonst die Worte nicht feil waren.

«Ja, und mir fällt ein: Wenn eine Kuh kalbert während der Krankheit, dann sofort das Kälbchen in Behandlung nehmen. Dreimal im Tag in kaltes Wasser tauchen, es auf gutes Stroh legen und gut zudecken. Es kommt davon. Vergesst es nicht: Von dreiundvierzig Kühen sind uns nur zwei gestorben. Alle andern sind davongekommen, wenn sie auch einiges an Wert verloren haben.»

Andächtig hörte Gabriel zu. Es hat Hand und Fuss, das, was sie sagt, dachte er.

«Wie die Tiere leiden, das könnt ihr Euch nicht vorstellen. Es ist fast nicht zum Aushalten, sie so dahinsterben zu sehen. Das ganze entzündete Maul voll Blasen. Und da sollen sie fressen? Sie tun es auch nicht, sie sterben lieber.»

«Alles, was Ihr da sagt, Frau Nachbarin, soll geschehen», sagte Gabriel andächtig und erschüttert im Gedanken an seine Tiere, die ihm lieb waren. «Und aufpassen will ich wie ein ... ein ... wie sagte der Vater selig doch? Wie ein Häftlimacher.»

Mit Dank und Dankbarkeit wurde Monika entlassen. Das Ehepaar machte sich an das Studieren des wichtigen Schriftleins.

Ein Kopfschütteln nach dem andern gab's beim Gabriel, und ein «Aha» nach dem andern bei Isolina.

Es täte manchem Berner Bauern gut, eine Isolina neben sich zu haben, und mancher Isolina stünde ein Bernerbursche wohl an. Was für eine prachtvolle Mischung das geben müsste. Aber predige du den Leuten! Sie machen doch nach ihrem Kopf. Das dachte Monika beim Heimgehen.

Das Ehepaar Ochsner kam überein, genau so vorzugehen, wie das Papier es befahl und Monika geraten hatte.

Dass es eine Frau gab, eine Dame aus einem alten Geschlecht, die ein eigenes Auto besass und so gebildet war, dass man mit ihr reden konnte, von was man wollte, und die sogar von der bösen Seuche so viel verstand, mehr als sie alle zusammen, das war Gabriel ein Rätsel.

«Das hat sie daheim gelernt», sagte Isolina. «Bei ihrem Vater. Der muss so einer gewesen sein, wie der meinige war.» Vor Stolz glänzten ihr die Augen. Gabriel schwieg. Er hätte gerne auch etwas von seinem Vater gesagt, der auch ein braver Mann gewesen; aber lieber ins saure Gras beissen als das zu riskieren und dem Ideal seiner Frau einen Konkurrenten zu geben.

 

«Ob ich nicht hinuntergehe zu Hans-Peter und ihm das Papier zeige», fragte Gabriel am Tage darauf seine Frau.

«Das kannst du wohl», antwortete sie. «Aber lesen wird er es nicht, so wie ich ihn kenne.»

«Nun, Isa, ein Esel ist er auch nicht. Er wird es sich ansehen.»

Er nahm das dünne Heftchen, legte es sorgsam in die Brusttasche und trottete hinunter, wo er alles in grosser Aufregung fand.

Zwei Kühe waren befallen. Der Tierarzt war dagewesen, und der ganze Stall war geimpft worden. Es war Serum-Vergeudung, denn die Impfung kam zu spät, wie der Arzt sofort erklärt hatte.

Der merkwürdige Geruch, der sich in jedem ergriffenen Stall breitmacht, flutete unsichtbar über all den guten Tieren, nistete sich ein, verdichtete sich und war noch lange nach dem endlichen Erlöschen der Seuche wahrnehmbar.

Das Vor- und Rückwärtsgehen der Tiere, denen schon die Hufe angegriffen waren, die sich nun langsam lösten, hatte begonnen. Die Tiere vermochten bald nicht mehr zu stehen und fielen um. Dies war das letzte Stadium, das nach zehn, zwölf oder vierzehn Tagen spätestens eintrat. Ein dumpfes, schauerliches Schnaufen, ein mühsames Stampfen und klägliches Muhen ging um im Stall.

Gabriel hatte vorsichtig einen Umweg um den Hof herum gemacht und war vom Garten aus, bei der vorderen Türe, die der Landstrasse gegenüber war, eingetreten. Wie Isolina es gesagt, war es gekommen. Der Ochsner schüttelte seinen Kopf.

«Unsinn. Altväterischer Unsinn. Es hängt mir übrigens bald zum Hals heraus, du bist der dritte, der mir davon redet. Werde ein Narr sein und die wichtige Zeit damit verlieren. Mit derartigen Geschichten.»

«Du kannst ja dein Serum gebrauchen, und die Behandlung hier zugleich anwenden», meinte Gabriel. «Besser ist besser, und doppelt genäht hält gut.»

«Wer weiss, vielleicht kannst du die Wassergeschichte noch selbst ausprobieren», sagte Ochsner ungeduldig und beinahe höhnisch vor Herzeleid und Trotz. «Wirst kaum ungeschlagen davonkommen.»

«Was Gott verhüten wolle», sagte Gabriel und ging. Das Papier hatte er wieder zu sich genommen und in seine Tasche gesteckt.

Wenige Tage danach waren die beiden schönsten Kühe des Ochsner tot. Tilly kam weinend zur Mutter gelaufen und berichtete, dass auch das Kälbchen der Bläss tot sei.

Sie schluchzte laut auf: «So grosse Augen hatte es, und war so herzig!»

Es fiel Georgine schwer, sie zu trösten, denn sie hatte zusehen müssen, wie man ihre stolzen Tiere fortschaffte, um sie zu vergraben. Sie klagte nicht. Sie hatte nur ihren Mann gefragt, warum es wohl so gekommen sei? Aber er hatte sie nicht ausreden lassen.

«Ich habe getan, was ich konnte. Frag' du den Herrgott, der weiss es.»

Bange Tage folgten. Mit Entsetzen sah man das graue Gespenst sich im Stall einnisten. Diese oder jene Kuh erholte sich, blieb aber wertlos. Andere starben. Wenn Dieter kam und meldete: Die Bernerin, oder: Die Weisse, wusste man genug.

Als die Reihe aber an den Stier kam, als das stolze Tier keuchend auf dem Stroh lag und zuckend verendete, da ging der Ochsner fort in den Wald und weinte.

Die Seuche arbeitete tückisch in dem hundertfach verfluchten Stall.

Aufrecht, den Kopf erhoben, äusserlich ruhig, aber in einer unsichtbaren Wolke von Verzweiflung ging Hans-Peter Ochsner umher. Keiner sollte ihn jammern hören, dachte er, und machte die Faust.

Wie unerträglich war es doch, sich nicht wehren können gegen einen Feind, den man nicht kennt und nicht packen kann!

«Ich zahl's ihm heim», knirschte er. «Ich zahl's ihm heim, dem Herrgott.»

 

Die Händler fuhren vor die Höfe, doch wurde ihnen nicht aufgetan. Der Briefträger Jules steckte seine Zeitungen in rasch verfertigte Holzkästen oder in Schachteln, die weit weg von den Ställen an Pfosten genagelt waren.

Die Höfe vereinsamten. Den Kindern wurden an den Türen die Schuhe ausgezogen oder in Lysolwasser getaucht. Die Polizei ging von Hof zu Hof, und die Liebesleute mussten sich, wenn es dunkel geworden, über den Lattenzaun unterhalten. Sogar Stacheldrähte wurden gezogen. Sie konnten aber die Jugend nicht hindern, sich guten Abend zu sagen.

Angst breitete sich aus. Schrecken vor dem ersten Schrei: Die Seuche ist im Stall! Wie ein Gespenst ging die Furcht im Lande umher.

Jammer und Elend folgten den Schritten des Ungeheuers in allen Dörfern, die es heimgesucht hatte.

Schon stand in der Zeitung, dass in Roche ein anderer Stall, der des Bauern Pitoux, befallen worden sei. Man hatte Sturm geläutet.

 

Hans-Peter kam missmutig heim von seiner Donnerstagssitzung. Er hatte sich ärgern müssen, aufregen, empören.

Er hatte es erst im Guten versucht, seine Pläne dargelegt und seine Gründe vorgebracht. Es hatte nichts genützt. Sein Gegner – natürlich der Chèbres – hatte sie als nicht notwendig erkannt, noch weniger gebilligt. Darauf hatte der Ochsner schweres Geschütz aufgefahren. Es prallte ab. Die Ratsherren hatten atemlos dem Gefecht der beiden Kampfhähne, dem wilden und dem zahmen, zugesehen und zugehört.

Es ging um den Bau eines Volkshauses, das der Hans-Peter errichtet haben wollte, während Chèbres vorgeschlagen hatte, kleine Arbeiterhäuser zu bauen, solid und billig, und sie dann zu niederem Preis den Arbeitern zu vermieten.

Sogar in Tavannes habe man ein Volkshaus gebaut, rief Ochsner, einen Ort müssten die Arbeiter doch haben, wo sie der Ruhe pflegen könnten und nicht aufs Wirtshaussitzen angewiesen wären oder unter sechs oder sieben lärmenden Kindern daheimhocken müssten. Wo denn für einen Arbeiter Ruhe und Beschaulichkeit herkommen soll? fragte er und setzte die Faust mit Energie auf den Tisch.

«Wenn sie eigene, kleine Häuser besitzen, brauchen sie nicht Zuflucht in einem Volkshaus zu suchen», rief Chèbres. Ochsner lachte höhnisch. Der andere warf dem Gegner an den Kopf, dass es keine Kunst sei, der Gemeinde eine unnötige Last aufzubürden. Die ganze Versammlung wisse, dass der Herr Ochsner nicht um der Arbeiter willen ein Volkshaus wünsche, sondern seinet-, einzig seinetwegen, jawohl, damit jeder, der es sehe, sage: Das hat unser grosser Ochsner bauen lassen.

Glocke! Rufe! Glocke! Geschrei!

Chèbres wartete einen Augenblick, dann fuhr er fort: Er schlage vor, dass der Herr Ratsherr Ochsner mindestens die Hälfte der Baukosten selbst bezahle, er schwimme ja im Geld.

Glocke! Hans-Peter bat ums Wort und stand auf.

«Besser im Geld zu schwimmen, als hinterher laufen müssen», sagte er spöttisch. Besonders wenn man, wie jedermann bezeugen könne, nicht ganz fest auf seinen Beinen stehe. Brüllendes Gelächter, denn Chèbres hatte zu seinem Leidwesen stark gekrümmte Beine.

Glocke! Lachen, Rufe, Brüllen! Die Glocke des Präsidenten schrillte.

«Meine Herren ... meine Herren ...», läutete und bat er.

Hie Volkshaus! Hie Arbeiterhäuser! Die Anwesenden zweiten sich in Parteien, fingen an mitzureden, zuletzt zu schreien, unaufhörliches Geklingel und Rufe um Ruhe lärmten durch den Saal. Man einigte sich nicht, man hörte nicht mehr zu, man begann sich in Gruppen zu unterhalten, gestikulierte und überschrie sich gegenseitig.

Wütend packte Ochsner seine Mappe mit den Plänen des Volkshauses, und ausser sich vor Ärger nahm Chèbres die seine und stolperte halb blind durch die Gruppe der laut und heftig durcheinanderredenden Ratsherrengesellschaft und fort durch die Türe.

Es dauerte lange, bis sich Hans-Peter erholt hatte. Den neuen, süssen Most, den Georgine ihm brachte, trank er allerdings, doch wurde er dadurch nicht ruhiger.

Diesen Menschen mit seiner Glatze und seinem Walfischmaul und den wackeligen Beinen konnte er nun einmal nicht ausstehen. Ja, zuwider war ihm der Kerl. Und den, oder vielmehr dessen Sohn, sollte er in seine Familie aufnehmen? Dies Uhrmacherlein, dies Fabrikäntchen?

Dem musste ja jede Nacht träumen, der liebe Gott lasse ihm Sterntaler in sein Schublädchen regnen. Der war ja ewig in Geldverlegenheit. Und der verlangte, dass eine ganze Strasse mit Arbeiterhäusern gebaut werde? Durchquerte ihm seine Pläne? Spielte überhaupt im Rat eine Rolle!

Jemandem gegenüber musste Hans-Peter sich äussern, und da keiner da war als Georgine, tat er es ihr gegenüber.

«Nein, nein, nein, meine liebe Frau, nein, lasse du den Gedanken davonschwimmen, dass der Herr Chèbres am Hochzeitstisch dir gegenüber sitzen werde! Nein, nein, meine Gute.» Rot und vorgebeugt, beide Hände in den Hosentaschen, lief er umher, überall etwas zur Seite schiebend, überall etwas zurechtrückend. Wie eine Spule lief er rings um den runden Tisch, der in der Mitte des grossen Zimmers stand.

Tilly kam herein und blieb stehen, als sie den Vater sah.

«Was gibt es, um Gottes willen?» fragte sie.

«Nichts gibt's!» schrie Ochsner, «gar nichts gibt's. Keine Liebschaft und keine Hochzeit und keine Chèbres in der Familie, weder einen jungen noch einen alten. Das gibt's.»

«Und wenn es so ist, gibt's auch keine Tilly mehr«, rief das Mädchen ausser sich, lief hinaus und schlug die Türe heftig zu.

Der Vater wurde plötzlich ruhiger. Es überkam ihn kalte Gelassenheit. Zugleich wurde er sich seines wenig würdigen Geschreis bewusst.

«Vorzüglich hast du deine Tochter erzogen», wandte er sich an Georgine und stand vor sie hin mit gespreizten Beinen.

«Habe ich sie erzogen?» fragte die Frau verblüfft. «Ich hatte ja nie etwas zu sagen.»

Hans-Peter sah sie an. «Da hört aber alles auf! Du hattest nie etwas zu sagen? Wer denn?» fragte er mit der Harmlosigkeit derer, die weder sich noch ihre Nächsten kennen. Sie sah ihn mit den Augen eines Kaninchens an. Plötzlich tat sie ihm leid.

«Meine gute Georginette», sagte er freundlich, «nein, die Tilly hast du nicht erzogen. Aber ich auch nicht, das sehe ich. Sie ist, wie sie ist. Da hobelt keiner etwas davon ab. Aber das eine lass' dir gesagt sein: Aus der Achse Chèbres–Ochsner wird nichts.»

 

Tilly war stracks hinaufgelaufen zu Frau Laurent. Sie stürzte zur Türe hinein und vergass, anzuklopfen. Zuerst machte sie ihrer Empörung Luft, und darauf weinte sie erbärmlich, so dass Monika aufstand und sie streichelte. Tilly erklärte, sie wolle und müsse fort, und sie gehe auch fort.

«Du hast also deinem Vater den Krieg erklärt?» fragte Frau Monika. «Und nun, was willst du anfangen? Hast du dir das überlegt, Kind?»

«Ich gehe auf einen Hof, ich kann arbeiten.»

«Willst du dich also selbst strafen? Sonst bliebest du wohl daheim, wo du es mehr als gut hast.»

«Oder ich gehe in die Stadt und diene ...»

«Achtzehn Jahre bist du alt, Tilly, und redest solchen Unsinn. Du, die sich schwer fügen kann, und selten will, was andere befehlen, du willst eine Stelle annehmen, in der Sichfügen die erste Bedingung ist? Wo du ins Joch gespannt wirst und nichts zu bedeuten hast? Sei vernünftig, Kind. Es kann noch alles gut werden. Mancher Vater hat zuerst nein gesagt und später ja. Und manchmal wäre es gut gewesen, er hätte nicht nachgegeben.»

«Bei uns nicht. Bei uns ist das anders. Wir ...»

«Füge dich jetzt, Tilly. Fordere den Vater nicht heraus. Der ist ja nur heftig, und du bist sein Stolz. Zudem ist er der Stärkere. Gehe und lache ihn an. Ein Trotzkopf zu sein, ist keine Kunst. Aber ihn zu überwinden, das ist eine.»

«Was du einem zumutest, Gotte Monika. Das kann ja kein Mensch vollbringen.» Es schellte unten im Hof zum Abendessen.

«Also geh und sei klug, Tilly.» Das Mädchen küsste die Patin und rannte davon. Unter der hintern Haustüre stiess sie mit dem Vater zusammen. Sie sahen sich an.

«Und?» fragte Hans-Peter. «Was sagt die weise Frau da oben?»

«Ich sei ein Trotzkopf, hat die Frau Monika gesagt. Wo kann ich das nur herhaben, Vater?» Sie lachte.

«Mach, dass du hineinkommst, du Geschöpf», sagte der Vater und lachte auch. Georgines bekümmertes Gesicht heiterte sich auf, als sie die beiden sah.

In schwarzen Wolken hing die Trauer über dem Ochsnerhof, denn, von der fieberigen Hand der Seuche geführt, war der Tod eingezogen. Neunzehn Kühe verendeten im Laufe eines Vierteljahres. Die Schritte des Hans-Peter Ochsner dröhnten nicht mehr so mächtig durchs Haus. Dem Bauer war, als habe er seine Krone verloren. Als sei ihm ein Stück seines Königtums entrissen worden. Ihm war etwas misslungen. Ein Unglück war ihm zugestossen. Es lastete schwer auf ihm.

Nacht für Nacht war er in den Ställen umhergegangen und hatte geschaut und gefragt, ob alles Nötige getan worden sei. Unter die Kühe, in jede Ecke hatte er mit seiner grossen, vom Vater ererbten Stallaterne geleuchtet, um sich der äussersten Sauberkeit zu versichern. Täglich liess er den Tierarzt kommen. Erst beim letzten halben Dutzend der Befallenen ersparte er sich die Ausgabe. Er kannte das Ergebnis. Er wusste es nun und glaubte es endlich, dass alles nichts nützte. Die Hilfe war zu spät gekommen.

Die übriggebliebenen Kühe zählten nicht mehr in seinem stolzen Herzen. Er hatte verspielt, auf das Wieviel kam es ihm nicht mehr an.

Die Toten, die neunzehn Toten auf dem Ochsnerhof, schienen ihm ein Brandmal zu sein, ein Schandfleck für ihn, in dessen Stall die Seuche bisher nie geherrscht hatte.

Ruhelos lief er von den Ställen zu den Feldern und freute sich nicht der goldenen Ernte, die längst eingebracht war, noch des zweimal überreich eingefahrenen Heues, noch des herrlichen Obstes, das täglich wohlverpackt verschickt wurde.

Jedesmal, wenn wieder eines der Tiere fortgeschafft werden musste, legte sich ein schwerer Stein auf sein Herz.

Mit tiefgefurchter Stirne, blass unter seiner braunen Haut, kam er nach jedem Sterben im Stall zu seiner Frau.

«Georgine, wieder eine!» Sie schaute ihn an mit ihren liebevollen Augen, die sich so leicht mit Tränen füllten.

«Ach, Hans-Peter, du tust mir leid.» Dass sie nicht keifte, ihn nicht beschuldigte, er habe nicht auf den Bruder, nicht auf Frau Monikas Rat gehört, rechnete er ihr hoch an. War er sich auch keiner Schuld bewusst, so wusste er doch – und sie wusste es auch –, dass er gewarnt worden war und nicht auf die Warnung geachtet hatte. Der Weg zur Heilung war ihm gewiesen worden, und er hatte ihn verschmäht. Aber die Einsicht kam zu spät. Auch die Aufsicht hatte gefehlt, die Einsicht und, es musste gesagt sein, die Umsicht.

Weit und breit sprach man von Ochsners Unglück. Dass auch dieser grosse Hof nicht verschont geblieben war, schien den kleinen Bauern eine gewisse Genugtuung zu bereiten.

Davon, dass der Stall im Tannenhof einstweilen noch gesund war, wurde nicht geredet. Der Gabriel schwieg behutsam still, er wollte das Unglück nicht einmal mit einem Wort wecken.

Er war wirklich der zufriedenste Mensch auf Erden. Mit allem war er zufrieden, mit allem Irdischen wenigstens. Was das Unirdische betraf, so zürnte er dem lieben Gott, der mit seinem Bruder so hart verfuhr.

Ein Mensch hätte sich so etwas nicht erlaubt, dachte er, einem ehrbaren Mann einen ganzen Stall voll Vieh umzubringen.

Er sprach sich darüber mit seiner Frau aus.

Sie war nicht mit ihm einverstanden.

«Gabriel», sagte sie, «wie ich den lieben Gott kenne, so hat er das getan, um Hans-Peter zu strafen und nicht aus blossem Mutwillen.»

«Strafen?» fragte der erstaunte Bauer. «Den Hans-Peter? Aber der –» Er wollte den älteren Bruder verteidigen, aber es war ihm nicht gegeben, sich zu behaupten.

«Darum, weil er der Tilly verbietet, den Maurice zu heiraten.» Gabriel konnte vor Erstaunen nicht reden.

«Der Maurice ist keine neunzehn Kühe wert», sagte er dann.

«So? Und die Liebe, die Tilly im Herzen hat? Die gäbe den ganzen Stall voll Kühe um ihren Liebsten!» Gabriel sah Isolina an. Sprach sie im Ernst? Vieles kann man nicht verstehen bei den Frauenzimmern, dachte er.

«Kann dich nicht begreifen, Isolina», entschloss er sich zum Angriff.

«So? Um wieviel Kühe liessest du mich sterben? Sag es einmal, du Ehemann!» Gabriel war in grosser Verlegenheit. Er sah im Geist seine Kühe umfallen, eine um die andere, wie die Blonde vom Hans-Peter umgefallen war, und ihm schien, Ärgeres könnte ihm nicht geschehen.

Dann aber sah er Isolina kalt und tot auf einem weissen Bett liegen, und da war ihm, als risse es ihm das Herz entzwei. Aber so etwas herausbringen, unter gewissermassen offenem Himmel derartige allertiefste Dinge zu sagen, das war unmöglich und geradezu unschicklich. Er sagte also gar nichts und machte nur drei lange Schritte, machte die Türe hinter sich zu, und fort war er. Erst stand Isa verblüfft da, dann lachte sie laut, dass es der Gabriel wohl hören konnte.

Aber beim Abendessen, woran er nur mit Messer und Gabel teilnahm und kein Wort sagte, merkte es Isolina, dass man ihm mit Derartigem, mit so Letztlichem, nicht kommen durfte.

Ja, der Gedanke an Isolina auf dem Totenbett hatte ihm ans Herz gegriffen. Dort war ihr Bild wohl verborgen, und war ein Heiligtum, und mit Tod und Leben begehrte er nicht zu spielen.

Ich bin zu weit gegangen, sagte sich Isolina reumütig. Ihm aber zu sagen, es tue ihr leid, es sei nicht ihr Ernst gewesen, oder so etwas, das war ausgeschlossen. Das wagte sie nicht, denn dann, das wusste sie, hätte er sich drei Tage lang vor ihr verkrochen.

 

Wenn Gabriel Ochsner das Auto von Tom Laurent heranrollen hörte, überkam ihn jedesmal ein schmerzliches, fast feindliches und unangenehmes Gefühl dem Nachbarn gegenüber. Er zürnte ihm, weil Laurent ihm ein Geheimnis aufgeladen hatte. Ein so schwerwiegendes, und dazu eines, das die Frau Monika anging, die er so hoch achtete.

Er durfte kaum daran denken, dass der Laurent irgendwo in einer Wiege ein Kind liegen hatte, dessen Vater er war.

Und da, vor seinen Augen, im Weissen Haus und im Garten und überall lief Monika umher und wusste von allem nichts. Und in der Stadt sass ebenfalls ein Frau und wusste vielleicht nicht, dass der Vater ihres Kindes ein verheirateter Mann war. Was weiss man doch bei so verwickelten Angelegenheiten.

Und das alles hatte gerade er erfahren müssen. Darüber nachdenken musste er und sich plagen um Frau Monikas willen. Denn, was ihr angetan wurde, ohne dass sie eine Ahnung davon hatte, das war unverzeihlich.

Kein Wort hatte er von allen diesen Gedanken der Isolina erzählt. Ihr so etwas sagen? Hinrennen würde sie zum Laurent und ihm nicht verhehlen, was sie von ihm halte.

Ob er es auch so machen sollte? Nein, mehr als er getan, konnte er nicht tun. Es war auch nicht seine Pflicht. Er übertrug aber dem lieben Gott die Strafe, obwohl er augenblicklich nicht mit ihm einigging.

Wenn er ihn auch nicht begriff, wie Kinder es dem Vater gegenüber tun, so glaubte er doch fest an ihn, und wusste wohl, dass weise Absicht hinter all seinem Tun war, ob man es nun billigen konnte oder nicht.

So schloss er denn Monikas drohendes Leid in sein Abendgebet ein: Hörst du, Herrgott? hinzu. Als Punkt hinter dem Amen.

 

Ochsner sass auf einer Bank in seinem Garten und überlegte, ob er den nächsten Viehmarkt besuchen oder sich nur an berühmte Züchter halten wolle. Da sah er oben Isolina an einem Fass stehen, in das sie Aepfel zum Versand packte. Sie sang laut.

Die Isolina da oben, sagte sich Hans-Peter nachdenklich, das ist eine, die mir gefällt. Das ist ein Frauenzimmer! Wie die geht, wie die läuft und umherrennt, wie die überall ist und überall lacht. Wie konnte die nur den Gabriel nehmen! Dazu hat sie auch noch Geld. Viel nicht, aber doch etwas. Alles, was recht ist, der Gabriel ist ein braver Kerl. Aber langweilig ist er, das kann man nicht leugnen. Sie, die Isa, und er, der Gabi Ochsner, sind aber auch schon trotz aller Liebe gehörig aneinandergekommen. Es freute und es lächerte den grossen Bauern, wenn er daran dachte. Ich will ihr ein Kilo Honig hinaufschicken, fiel ihm ein.

Sein Meisterknecht verstand sich auf die Bienenzucht. Und da alles und jedes auf dem Ochsnerhof tadellos betrieben wurde, hatte der Hof auch viel Erfolg mit den Bienen. Ochsner ging zum Vorratshaus und holte selbst ein Glas Honig. Am Abend, als die Kinder der Isolina kamen, um zu erfahren, wann der Springbrunnen wieder tanze, gab er ihnen den Honig mit für die Mutter.

Abends machte der Gabriel seinen gewöhnlichen Rundgang. In alle Ecken fuhren seine Augen. Jede Türfalle drückte er nieder und versicherte sich, dass alles gut verschlossen sei. Fand er Ställe, Scheuer und die Nebengebäude wohlverwahrt, das Haus versorgt, dann löschte er das Licht, das ob der Haustüre brannte und das Isolina schon zweimal während ihrer Ehe zu löschen vergessen hatte.

Er sah das Glas mit Honig dastehen und las auf dem daran gehängten Zettel, dass er vom Ochsnerhof stamme.

«Was braucht der Hans-Peter ihr Honig zu schicken? Wir haben selbst genug.» Er ärgerte sich.

Wie es gekommen war, dass Gabriel Ochsner von Tom Laurents Geheimnis wusste? Als der Bauer vor nicht allzulanger Zeit in der grossen Stadt dem Nachbarn begegnet war, erschrak Laurent zutiefst. Er hatte den Blick gesehen, den der Gabriel zuerst ihm und dann der Frau, die neben ihm ging, gewidmet. Es war nicht schwer gewesen, ihn zu deuten.

Morgen schon weiss es Isolina, dachte Tom. Übermorgen meine Frau. Und wiederum nach einem Tag habe ich Monika verloren.

Alles in ihm wehrte sich dagegen. Das durfte nicht sein. Sie durfte er nicht verlieren, diese Frau, die sein Kamerad und sein bester Freund war, sie, die er vermisste, wenn sie nur ein paar Stunden nicht daheim war. Seine Gedanken überstürzten sich. Was soll ich tun? Was kann ich tun, dachte er aufgeregt.

«Was hast du, Tom?» hatte die Dame damals gefragt, und er hatte hastig nach einer Ausrede gesucht. Er habe eine Verabredung vergessen, log er. Er bedaure es sehr. Er müsse sofort hinfahren und wiedergutmachen. Sie müsse leider ihren Tee allein trinken.

Er winkte einen Wagen herbei, bat noch einmal um Verzeihung und fuhr davon, um sein eigenes Auto in der Garage abzuholen. Erstaunt und betrübt sah ihm die Dame nach.

Tom wusste, mit welchem Zug Gabriel heimzufahren pflegte, und richtete sich darnach. Er und Gabriel begegneten einander auf der Landstrasse, die vom Bahnhof zu den Ochsnerhöfen führte. Laurent brachte den Wagen zum Stehen und ging Gabriel entgegen, der gemächlich herankam. Sie grüssten einander.

«Was ich Euch zu sagen habe, Ochsner, fällt mir schwer. Sie trafen mich in der Stadt. Ich war nicht allein. Die Dame, die neben mir ging, ist die Mutter meines Söhnchens. Das ist alles. Zu urteilen oder zu verurteilen, das ist Eure Sache, Ochsner. Ich muss mich darein finden. Wollt Ihr mir einen sehr, sehr grossen Gefallen tun – ich bitte Euch darum –, so schweigt darüber.»

«Warum sollte ich reden?» fragte Gabriel. «Meine Sache ist es nicht.»

«Nicht um meinetwillen bitte ich. Meiner Frau darf ich ein solches Leid nicht antun. Sie würde es nicht ertragen.»

«Ihr habt es ihr schon angetan», sagte Gabriel und sah Laurent gerade in die Augen. «Da ist nichts mehr zu ändern.»

«Nein. Aber sie darf es nicht wissen.»

«Von mir erfährt sie es nicht. Aber einer solchen Frau würde ich so etwas nicht antun.»

«Ochsner, ich habe keine Kinder», sagte Tomas.

«Das ist traurig. Aber trotzdem.» Mehr sagte er nicht.

«Ich danke Euch.» Tomas streckte seine Hand nicht aus zum Abschied, denn der Bauer würde ihm die seine nicht gereicht haben, das fühlte er.

Gabriel ging dem Tannenhof zu. Nach ein paar Schritten kehrte er um und kam zurück.

«Wenn es nur nicht Frau Monika wäre», sagte er. Darauf ging er endgültig.

Erleichtert, der Angst vor Entdeckung enthoben, aber gedemütigt, fuhr Tomas durch das offene, grosse Tor, wo ihn Monika erwartete.

 

So wie Gabriel Ochsner es sich ausmalte, so einfach und leichtsinnig hatte sich aber doch nicht alles für Laurent entwickelt, und neben Glück, Liebe und Freude standen Wehmut, Sorge und das drückende Gefühl eines Unrechts.

Als er sich damals vorgenommen hatte, das junge Mädchen, das seine traumartige Jugendliebe vor ihm auferstehen liess, nicht mehr aufzusuchen, hatte er lange sein Gelöbnis gehalten. Mit innerer Unruhe, mit der Unmöglichkeit, nur an seine Arbeit zu denken, gingen die Tage hin. Er träumte verworrenes Zeug, aus dem er sich nicht zurechtfinden konnte, und müde und unlustig war das Erwachen.

Er sass vor seinen Büchern und starrte hinein, ohne zu wissen, was er las; teilnahmslos erkundigte er sich nach dem Stand der Arbeit, der Bestellungen und Termine.

Eine lähmende Unzufriedenheit dämpfte seine gewöhnliche Energie und Arbeitslust.

Eines Tages fuhr er durch die Strasse, an der das Handschuhgeschäft lag. Ohne besondere Absicht. Er stutzte, sah, wo er sich befand, und stieg aus.

Als er das junge Mädchen, die herrliche, lebendige Wiederholung jenes Bildes vor sich sah, und sie errötend leuchtete, da lohte auch in ihm das Feuer auf. Sein Schicksal entschied sich in diesem einzigen Augenblick.

«Mutter, ich habe heute einen Mann kennengelernt. Ich glaube, ich könnte ihn lieben», sagte Dagmar eines Abends zur Mutter.

«Kind!» rief erschrocken Frau May.

«Was erschrickst du? Gönnst du mir Liebe nicht?»

«Ich gönne dir alles, aber ...»

«Sieh, links und rechts von mir, überall um mich herum, geschieht das, was du fürchtest. Ich sagte ja nur: ich könnte ihn lieben. Nicht: ich will mich von ihm unterhalten lassen.»

Die ängstliche alte Frau – nicht um der Jahre willen alt, aber um des Lebensleides, das sie erlitten – sah die Tochter an. «Jene, die lieben, sind am meisten gefährdet. Nimm dich doppelt in acht, Kind!»

Dagmar lachte. «Ja, wenn Schäfchen lieben. Ich bin keins. Komm jetzt und lass' uns essen, ich bin hungrig.»

 

Tomas sass mit der, die er liebte, in einem vornehmen Gemach eines berühmten Gasthauses. Es war eine schwere Stunde, in der Laurent Dagmar sagen musste, dass er verheiratet sei. Sie schwieg lange, und er wartete voll Angst auf Antwort, auf Vorwürfe und Entscheidung. Sie blieb beinahe unbeweglich. Keinesfalls weinte sie oder brach in zornige Worte aus.

«Warum kamen Sie wieder? Es ist nicht gut, was Sie getan haben.»

«Ich liebe Sie. Das macht mich taub meinem Gewissen gegenüber. Ich bin schwach geworden und ganz dem starken neuen Gefühl verfallen. Das kümmert sich nicht um die Leiden anderer, das sorgt für sich selbst. Verstehen Sie das nicht?»

«Doch. Und nun?» Auch in ihren Augen lauerte Angst.

«Ich weiss es nicht, Dagmar, ich weiss es nicht. Ich kann Sie nicht zu meiner Frau machen. Meine Frau bedeutet mir viel.» Das junge Mädchen fuhr auf.

«Also begehen Sie ein doppeltes Unrecht. Gegen mich und gegen Ihre Frau.»

«Ich weiss es. Keine Nacht, die es mir nicht zuschreit. Kein Traum, der mich darum nicht peinigt. Ich muss dieses Unrecht tun, ich kann nicht anders. Ich will es begehen und will nicht anders.»

Er stockte, stand hastig auf und ging ans Fenster. «Wollen Sie vorliebnehmen mit dem, was ich Ihnen geben kann: Meine Liebe? Mein Entzücken darüber, dass Sie da sind? Mein Gott, Dagmar, sagen Sie ja. Ich kann Ihnen das Leben leichter machen. Ich kann Sie umsorgen, einhüllen in Wohlsein. Ich liebe Sie sehr.»

«Kann man zwei Frauen lieben?» fragte Dagmar, und in ihre Liebe mischten sich Zorn und Widerspruch. «Man kann es nicht.»

«Man kann es. Man liebt die eine und verehrt die andere.» Dagmar lachte.

«Zeigen Sie mir die Frau, die Verehrung wählt. Bringen Sie sie her. Damit ich ihr glaube, muss ich es selbst hören. Was ist Verehrung!»

«Viel», sagte Laurent. «Kostbar ist sie. Wenn sie fehlt, so steht eine Ehe auf Füssen von Wachs.»

«Ich will heim. Hierher gehöre ich nicht, das ist falscher Glanz.» Sie sah sich in dem kostbaren Raum um. Sie sah sich im Spiegel, rot vor Aufregung, und Tom neben sich, noch blasser als gewöhnlich in seinem Frack. Er half ihr in den Mantel. Sie fand das Armloch nicht sofort, wurde ungeduldig und begann zu weinen.

«Weinen Sie nicht. Ich bitte Sie, weinen Sie nicht. Darf ich Ihnen schreiben?» Sie schüttelte den Kopf.

«Nein. Lassen Sie mich heimgehen.»

Er begleitete sie, rief einen Wagen an und fuhr sie in die Nähe ihrer Wohnung zu dem schönen grünen Rasenplatz, der im Silberweiss des Mondes zu durchsichtigem Smaragd geworden war. Zu dem Platz, wo sich bei Tage die Kinder mit Jubel tummeln, die Kindermädchen Romane im gelben Umschlag lesen, und wo des Nachts die Soldaten mit ihrem Liebchen sitzen. Keine Bank war leer.

Tom und Dagmar hatten kein Wort zusammen gesprochen auf der ganzen Fahrt. Er hielt den Wagenschlag offen, und mit leichtem Kopfnicken stieg sie aus. Das Dunkel des engen Hausflurs verschluckte sie.

«Dagmar!» rief Tom ihr nach. Aber sie hörte es nicht mehr.

 

Dagmar May war die Tochter einer Frau, die ihren Mann im Krieg und ihr Vermögen in der Zeit der Inflation verloren hatte. Gelernt hatte sie weiter nichts als das, was eine Hausfrau zu kennen braucht. Mannigfaltiges: Zehn Gewerbe unter einem Hut, zehn Erbsen in einer Schale. Nur standen keine Examen dahinter, keine Gesellenbriefe, keine Diplome, kein Titel.

Frau May suchte sich durchzuschlagen. In einem winzigen Zimmerchen, das als Schrankraum gedacht war, schlug sie eine Art Bude auf und verkaufte dort an ihren grossen Bekanntenkreis einige besondere Leckereien, die sie zu verfertigen wusste, fügte Schokolade dazu, Kerzen um Weihnachten, auch eine bestimmte Sorte von elegantem Briefpapier und brachte sich und ihr Kind anständig durch. Langsam hatte Frau May einen grossen Kundenkreis gewonnen. Ihrer Tochter Heiratsaussichten aber waren gering. Einer ihrer Kunden bot ihr an, das junge Mädchen in einem grossen, von ausgezeichneter Kundschaft besuchten Geschäft unterzubringen, und Dagmar sagte tapfer zu. Sie war klug und willenstark genug, sich in der ungewohnten Umgebung zu behaupten.

Wie Bienen umschwärmten die Männer das schöne Geschöpf. Es regnete verlockende Möglichkeiten. Es mochten die Lehren und Warnungen der Mutter sein, vielleicht war es aber eine angeborene, ihren gutbürgerlichen Stand begleitende Scheu in Dingen der Liebe, oder Stolz, der sich verschenkt, nicht verkauft, dass keine noch so lockende Schilderung eines reich dotierten Verhältnisses ihr eine Versuchung war.

Da trat Tomas Laurent in ihr Leben.

Ihr gefiel die wohlgeformte, warme Hand, die sich ihr um Hilfe beim Anstreifen der Handschuhe entgegenstreckte. Ihr gefiel das männlich schöne und ungewöhnliche Gesicht. Ihr gefiel die Stimme, die nicht weich, doch angenehm war, und sie spürte sofort das Wohlgefallen, das von ihm zu ihr überging und sie nebelhaft umspann.

 

An der so selten gezogenen Glocke des Weissen Hauses läutete der Briefträger: Ein Expressbrief. Für Herrn Tomas Laurent.

Es war ein Brief von Dagmar. Er riss ihn auf. Las ihn. Hastig, ohne Abschied, aufgeregt, nichts beachtend, nichts fühlend und wollend als fortzukommen, als seinen Wagen aus der Garage zu reissen, um mit unmöglicher Geschwindigkeit der Stadt zuzufahren.

Alles andere war gleichgültig, belanglos. Wertlos. Es gab in der Welt nichts anderes als eines, das wichtig war, eines, das zu erstreben und zu erreichen sich lohnte: Dagmar und ihre Liebe.

Er umklammerte sie, als er sie in seinen Armen hielt. Sein Gesicht glühte, und in solch leidenschaftlicher Wut der Liebe küsste er sie, dass sein Herz zu klopfen aufhörte.

«Stefanie», flüsterte er.

«Wer ist Stefanie?» fragte eine Stunde später Dagmar.

«Ein Bild, dem du ähnlich siehst, von einer berühmten Malerin gemalt», sagte Tomas.

 

Frau May hatte sich ergeben. Nach dem beinah tödlichen ersten Schreck, den sie in einer Unterredung mit Laurent erlitten, und dem heftigen Widerwillen allem gegenüber, was er vorschlug, begann sie zu überlegen. Sie kämpfte schwer gegen alle die Hindernisse des Herkommens und der eigenen Überzeugung. Der aufgehobene Finger Gottes war da. Nun sollte sie Unsittlichem, Unpassendem Tür und Tor öffnen? Sie überdachte alles gründlich.

Sie war kränklich. Sie wusste, dass ihr kein langes Leben beschieden sein würde. Ihre Dagmar sich immer als Ladenfräulein zu denken, war ihr ein bohrender Schmerz. Und wenn sie krank wurde? Und wenn das Kind seine Stelle verlor? Man machte mit den Mädchen kein grosses Federlesen. Wie würde sich überhaupt Dagmars Zukunft gestalten? Tomas Laurent versprach Sicherheit, ein Heim, Schutz, Zukunft. Er schien ein anständiger Mann zu sein. Sie schwankte. Ihre früher so festgefügte Weltanschauung geriet ins Wanken. Die Gegenwart erhielt lebhaftere Farben. Die Vernunft riet ihr zu. Angst und Liebe drängten. Sie wurde schwach.

Aber es meldeten sich Gewissensbisse und flüsterten ihr schlimme Worte zu. Sünde? Du sollst nicht ehebrechen? Aber Sünde war nur ein Wort. Die Menschen hatten es erfunden. Wenn dies Wort einem im Wege steht, wenn man sein Kind zu versorgen wünscht, so schiebt man es beiseite. Man gibt der Sache einen anderen Namen, Sünde heisst dann nicht mehr Sünde.

Ach, so viele Jahre hatte sie sich geplagt, geschunden, gesorgt und sich in Gedanken mit der Zukunft ihrer Tochter herumgequält. Nun zeigte sich eine Insel. In Gottes Namen. Konnte man es der Mutter übelnehmen, wenn sie sich dahin retten wollte?

Geschahen nicht immer und überall Dinge, die nicht erlaubt waren und dennoch geschahen?

Jeden Abend hatte sie gebetet, Gott möge ihrer Tochter den Mann zuführen, den sie lieben und der sie ernähren könne. Der Mann war da. Durfte sie sich widersetzen? Nein. Sie fügte sich und sagte ja. Das bedeutete im materiellen Sinn, dass sie verschwand, wenn es dreimal läutete.

 

Als Tomas Laurent am Morgen nach dem Tag, an dem er Dagmar in ein neues, kleines eigenes Haus geführt hatte, daheim am Frühstückstisch sass und Monika ihn mit ihren klaren, gütigen Augen ansah, kam er sich wie ein Räuber vor, der zur Hintertür eingedrungen war.

Wenn er zu ihr reden dürfte! Wenn er sich und seine Liebe vor ihr rechtfertigen dürfte, wäre alles viel leichter zu ertragen. Da sass die Frau, die unverbrüchlich an ihn glaubte. Die mit ihm in jedes Elend gegangen wäre, sollte es nötig gewesen sein. Die Frau, die alles, was sie gemeinsam erlebt, alle Gedanken, die er ihr anvertraut, alle ihre schöne Liebe, alle schweren Tage immer mehr zu einem Denkmal aufgebaut hatte in ihrem Herzen, sass da und glaubte immer noch an ihn.

«Du bist so still, Tom», sagte Monika. «Bedeutet das etwas?»

«Nichts, gar nichts. Was du doch für eine gute Frau bist, Monika. Eine bessere gibt es nicht», sagte er leise. «Möchtest du dir nicht etwas wünschen?»

«Es ist doch nicht mein Geburtstag», meinte sie verwundert. Tom wurde nachdenklich.

«Du scheinst nicht verwöhnt worden zu sein, Monika, wenn du Geschenke nur am Geburtstag erwartest.»

«Nein. Aber Tom, wir waren nicht immer reich, wo hättest du das viele Geld für so etwas hernehmen sollen?» So war sie immer, dachte Tom.

Nie ein Gedanke des Tadels für ihn. Kein Vergleich mit einem anderen Mann zu seinen Ungunsten. Keine Wünsche.

Wenige Tage darnach brachte er ihr einen herrlichen Ring. Sie freute sich wie ein Kind über das blitzende Spiel des Diamanten. Sie drehte ihn hin und her, und der farblose Stein wandelte sich in glühendes Rot, in leuchtendes Blau. «Violett, Indigo, Blau, Grün, Gelb, Orange und Rot!» lachte sie. «Das mussten wir in der Schule lernen, und ich weiss es jetzt noch. Genützt hat es mir zwar im ganzen Leben nie, dass ich das wusste. Aber ich höre noch das Geschrei der Klasse beim Aufsagen. Ach, ich danke dir tausendmal, Tom, tausendmal. Ich freue mich so, ich liebe Diamanten.»

Bitter empfand Laurent den wiederholten Dank seiner Frau und das Lob, das sie ihm spendete. Er trug es gleich einem gestohlenen Lorbeerkranz.

Er wusste, dass seine Frau den Ring mit Abscheu von sich gewiesen hätte, würde sie geahnt haben, dass er im Grunde eine Busse bedeutete, ein Sichloskaufen gleichsam, das ihm aber wenig gelungen war. Im Gegenteil: Der Ring an Monikas Hand erinnerte ihn mahnend an seinen Verrat.

Zu seiner Qual und Reue, die er besonders stark empfand, wenn er in Monikas Nähe war, kam hinzu, dass er seiner Liebe zu Dagmar dann weniger bewusst war. Sie erblasste gleichsam, wich zurück und wurde wie von Nebel verhüllt. Doppelt empfand er dann seinen Abfall.

Löste sich so das Geheimnis einer zwiefachen Liebe? Vermochte die eine nur auf Kosten der anderen zu glänzen? Und hatte stets die Gegenwart recht?

Wenn er bei Dagmar war, dann erfüllte sich sein Sehnen, sein Schwanken verschwand, und er gehörte dem jungen Geschöpfe, das sich in seine Hände gegeben hatte, restlos an. Waren sie zusammen, so erglühte er jedesmal in neu aufschäumender und stets sich vertiefender Liebe.

Nach einigen Monaten verlor sich die Reue, und es verlor sich der Selbstvorwurf des Betruges. Sein neues Leben wurde ihm zur Gewohnheit und kam ihm einwandfrei vor. Für Monika hatte sich wenig geändert, äusserlich nichts. Tomas bemühte sich sehr, es ihr an nichts fehlen zu lassen.

Die gleichmässige Ruhe, mit der sich Tomas ihr gegenüber bewegte, die Rücksicht, die er ihr widmete, die freundliche Dankbarkeit ähnelten seiner Liebe. Eine andere hatte sie eigentlich nie gekannt. Da sie an Zärtlichkeiten Toms nicht gewöhnt war, fehlten sie ihr nicht. Nur über eins hatte sie zu klagen: über Toms viele Abwesenheiten.

Sie wusste es, die Arbeit nahm ihn sehr stark in Anspruch und hatte ihm die Sonntage sogar gepfändet.

So sass sie dann allein, wie so oft, unter der Eiche, oder sie ging in den Wald, immer den gleichen Weg, oder Tilly kam, oder sie las.

Aber immer lesen, immer allein sein, immer den gleichen Weg gehen, von jeder Stunde im voraus zu wissen, wie sie sich abspielen würde, das konnte ins Irrenhaus führen. –

 

Dagmar war keine Monika. Sie fügte sich nicht gern. Weder einem Menschen noch dem Schicksal. Sie wehrte sich, wenn sie etwas nicht zu dulden gedachte. Sie verlangte, dass man ihren Wert kenne und schätze. Nachdem sie sich der Tatsache, auf Laurents einfachen goldenen Ring verzichten zu müssen, gefügt hatte, trug sie den Stand eines unerlaubten Glückes, als trüge sie eine unsichtbare Krone. Sie zwang sich, nicht darunter zu leiden.

Die Frau des Mannes, den sie liebte, war ihre Feindin.

Wurde je im Gespräch mit Tom diese Saite angeschlagen, so vibrierte sie und gab einen Missklang, und Dagmars Hände zitterten.

Tom hatte versucht, ihr Monika zu zeigen, wie er sie sah und wie sie war, aber ein einziger Blick aus Dagmars herrlichen Augen liess ihn verstummen.

Nur das widerstandsfähige Holz, aus dem Tomas Laurents Charakter gefügt war, verhinderte es, dass er Dagmars Untertan wurde. Meistens vermochte er es noch, sich zu wehren, wenn seine Liebe ihn zu überfluten drohte und er allzu nachgiebig wurde.

Aber je glücklicher er wurde, je unentbehrlicher ihm Dagmars Liebe war, desto weniger wandte er sich dahin, wo Monika stand. Nur der Gedanke, sich von ihr zu trennen, kam ihm niemals.

 

Ein Jahr später lag ein kleiner Junge in einer seidenumwehten Wiege. Laurent sass davor und betrachtete das Apfelgesichtchen und die schwarzen Härlein, die ihm in die Stirne hingen. Ein unbeschreibliches Glück überschwemmte sein Herz, wenn er die kleinen Fäustchen betrachtete, die sich ihm wie die eines winzigen Boxers entgegenstreckten.

Er war erfüllt von diesem neuen Gefühl, das er seit zehn Jahren vermisst hatte, ohne es zu kennen. Es hatte Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Mein Kind, mein Kind! Ich habe ein Kind. Es erfüllte ihn ein Rausch von Dankbarkeit. Es überflutete ihn Wehmut, wenn er Monikas gedachte, die allein war, allein im Wald umherlief und die, wenn sie mit jemand sprechen wollte, sich an die alte Katrin halten musste. Und die Kinder so liebte.

Ausgebrannt ihr gegenüber war sein Herz nicht. Durchaus nicht. Aber seine Liebe hatte einen anderen Namen angenommen. Monika hinderte ihn nicht daran, glücklich zu sein. Sie nahm ihm das Kind nicht, sie wusste nichts von seiner Liebe. Gott sei Dank! Als er damals – es war bald nach der Geburt des Kleinen – Gabriel Ochsner getroffen, hatte sein Herz vor Schreck hart geschlagen. Aber Gabriels war er nun sicher, umsonst war der nicht wegen seiner Schweigsamkeit bekannt. Ein Glück, dass er Tomas hatte versprechen müssen, zu niemanden von dem Unerhörten, das er gesehen hatte, zu reden.

 

So nahm Monika mit den Kindern anderer vorlieb. Isolinas Nachkommenschaft war ebensooft unten in den Gärten des Weissen Hauses zu finden als oben im Tannenhof.

Es gab da nämlich eine ganz grosse Schachtel voll holzgeschnitzter Tiere, und es waren ebenso viele zahme dabei wie wilde. Vom Löwen angefangen bis zur Maus, die von den Kindern zu den Haustieren gerechnet wurde. Damit durften sie spielen. «Warum sagt man einer Kuh ein Haustier, wenn sie doch im Stall wohnt?» fragte Mageli. «Man müsste Stalltier sagen.» Eine richtige Antwort wusste niemand. Monika meinte, wohl weil in alten Zeiten Menschen und Tiere in Häusern oder Höhlen zusammengewohnt hätten. Aber daran glaubte weder Mageli noch Beppo, ihr Bruder.

Grosse Kämpfe entwickelten sich um den Besitz der wilden Tiere. Es musste das Hälmchen gezogen werden, und hatte das eine endlich Löwen und Tiger erlangt, so wollte es wieder tauschen.

Monika hatte einstmals versucht, dem Zanken ein Ende zu machen, und hatte ihnen die Tiere «endgültig» weggenommen. Aber das Wehgeschrei wurde ohrenbetäubend, worauf die Katrin zur Tür hereinschoss und den Kindern eine gelinde (eine andere hätte Monika nie gestattet) Ohrfeige überreichte. Monika betrachtete diese Strafe als genügend und stellte die Schachtel wiederum auf den Tisch. Da lachte der Beppo.

«Gelt, Frau Monika, weil wir so gebrüllt haben, hast du uns die Tiere wiedergegeben?» Verschmitzt fügte er hinzu: «Ich brülle jetzt immer.»

 

Monika stand im Garten am Brunnen und schaute zu, wie der Fischer seine schuppigen Gefangenen in das grosse Granitbecken schüttete. Wie silberne Blitze schossen sie umher, sich drehend, aufschnellend, übermütig in dem grossen Raum, in dem sie nun spielten.

Spielt, ihr armen Dinger, dachte Monika. Ach, hätte ich doch keine Fische bestellt. Aber Tom isst sie so gern. Sie ging und hörte noch das fröhliche Plätschern hinter sich.

Ein herrlicher Tag brach an nach langen nebligen Wochen, während denen sich die Bäume im Garten verstecken mussten und die Menschen nicht wussten, warum ihnen bedrückt zumute war.

Heute vermochte man das ganze Tal zu überblicken, die Kette der wellenförmigen, sanften Berge, die freundlichen Dörfer mit den roten Dächern, das Städtchen mit seinen blitzenden Fenstern, die wahre Feuersbrünste vortäuschten. Und unten im Garten die Dahlien, die Geranien, die Salvien; alle glühten purpurn zu ihr herauf, und Monika lächelte, denn sie liebte die Blumen.

Es kamen Schritte, rasche, feste. Es war Isolina.

«Frau Monika», rief sie, «Frau Monika ...» Sie weinte in ihre Schürze. Sie vermochte, was sie zu sagen hatte, kaum hervorzubringen.

«Wir haben die Seuche im Stall.» Es schüttelte sie, so schluchzte sie. «Unsere Kühe ... wir haben doch alles getan, was wir vermochten ... und jetzt ...»

«Das tut mir furchtbar leid, Isolina. Soll ich hinaufkommen und nachsehen? Seid Ihr sicher, dass es die Seuche ist?»

«Da ist kein Zweifel möglich. Gestern abend wollte die Ines nicht so richtig fressen, heute frisst sie gar nicht – wenn Sie kommen wollten, so ...»

Wieder weinte sie, den ganzen Weg, bis hinauf zum Tannenhof. Es standen schon Holzschuhe für Monika bereit. Es stand der Kübel da mit dem Lysol. Es stand auf der Fensterbank das Fläschchen mit der bewussten Medizin. Mit klopfendem Herzen ging Monika hinein in das ehemalige Waschhaus, wo das befallene Tier schon abgesondert stand.

Neben der kranken Kuh standen Gabriel und der Knecht, und grosse Kübel mit kaltem Wasser waren bereitgestellt. Jeder der beiden Männer bürsteten auf seiner Seite die Kuh vom Kopf bis zum Schwanz mit starkem Druck ab, die Bürste immer wieder neu in das Wasser tauchend. Das Tier hielt still, nur ein unruhiges Treten von einem Fuss zum andern ängstigte Monika und Isolina, und sie sahen sich an. Sie wussten, was es bedeutete.

Schweigend, regelmässig und ohne aufzuhören, bürsteten die Männer. Schweigend legten sie nach dem Bürsten nasse Tücher über Rücken und Leib der Kuh. Ohne ein Wort wurde das Tier mit alten Pferdedecken zugedeckt und alles fest verschnürt. Dreimal am Tag vollzogen sie diese Arbeit.

Monika tat allerlei Fragen. «Hat das Tier die Medizin bekommen? Ist Mehl ins Wasser geschüttet worden, dass sie nicht von Kräften kommt? Ihr melkt sie doch? Und schüttet die Milch fort? Trinken Menschen davon, werden auch sie von der Seuche befallen. Hat man die Hufe nachgesehen? Sofort muss das Stroh verbrannt und der Boden mit Lysol behandelt werden.» Monika dachte an alles.

«Gott sei Dank, sind es nicht die Kinder, die krank sind», sagte Monika, als sie den Raum verlassen hatte. Daran hatte Isolina noch gar nicht gedacht. Sie sah erschreckt auf.

«Ach nein», sagte sie. «Ich bete ja jeden Abend.» Sie vertraute auf Gottes Güte und zweifelte keinen Augenblick daran. Aber nun dachte sie doch, dass es nicht vom Übel wäre, wenn sie nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Kühe beten würde. Sie waren ja auch Gottes Geschöpfe.

Als sie sich von Monika mit vielem Dank für die Mühe und Teilnahme verabschiedet hatte, ging sie hinauf in ein kleines Stübchen, das unbewohnt war und das sie Kapellchen nannte, weil sie ein Bild der Mutter Gottes aus einem Kalender, einen Betstuhl von der Mutter her, und ein altes, schönes Kruzifix dort hineingestellt hatte, um beten zu können, wenn etwas ihr besonders am Herzen lag oder wenn sie unten nicht allein war.

Dort kniete sie nun nieder und betete mit der ganzen Wärme und Inbrunst ihres Herzens, Gott möge ihre Kühe verschonen. Darauf verliess sie sich vertrauensvoll auf ihn.

Die kranke Kuh starb. Ihr war nicht mehr zu helfen gewesen. Eine zweite erkrankte gleich nach der ersten, konnte aber gerettet werden. Freilich, ihren Wert hatte sie verloren. Aber das übrige Vieh wurde verschont. Es blieb bei dem einen, warnenden Fall.

 

Georgine Ochsner blühten in ihrem Garten nicht nur Lilien, Tulpen und Maiglöckchen im Frühjahr, [Phlox], Gladiolen, [Verbenen] und Vanilie im Sommer, Astern, Herbstanemonen, Salvien und Dahlien im Herbst, nein, sie hatte noch anderes aufzuweisen: einen Springbrunnen, dessen silberne, zitternde Säule aufstieg und, im Sonnenlicht zerstäubend, sich in tausend glitzernde Perlen verwandelte.

Es war die ewige Freude von Isolinas Kindern, wenn sie hinunter durften, um dies Wasserwunder plötzlich aufspringen und in die Höhe schiessen zu sehen. Mit ungewöhnlicher Ausdauer sassen sie auf dem runden Rand des Beckens, das den kleinen See umschloss, und sahen zu, wie der Strahl auf und ab tanzte, klein wurde und gross, und sie zum Schluss herrlich bespritzte.

«Wenn ich einmal gross bin», sagte der Vierjährige, «so lasse ich ihn bis zum Himmel hinaufspringen. Dann können die Englein darauf tanzen.»

«Wenn der liebe Gott es ihnen erlaubt», sagte weise Mageli, die Erfahrung hatte. «Vielleicht dürfen sie sich nicht nass machen.»

«Die haben ja nichts an», meinte der Kleine, der, da eben die silberne Säule wieder hoch aufsprang, laut jubelte.

Georgine hatte ihnen zugeschaut und sich über sie gefreut. Sie strickte, was sie mit der Aufsicht der Kinder vereinen konnte. Aufsicht war nur ein Vorwand. Sie sass gern unter ihren Blumen hinter dem Lorbeergebüsch, kam aber um ihres überzüchteten Gewissens willen nicht oft dazu. Nun hatte sie eine Entschuldigung vor sich selbst.

Sie hörte Schritte. Keine sehr festen, keine sehr raschen, es schienen weder Männer-, noch Frauenschritte zu sein. Vielleicht ein Kind, das betteln wollte? Äpfel oder Blumen? Sie wandte sich um. Ein langaufgeschossener junger Mensch, gut gekleidet, hübsch, aber nicht besonders männlich aussehend, kam den Weg entlang, der vom Gemüsegarten in den Blumengarten führte.

«Pierre!» rief Georgine, «Pierre, du?» Hastig legte sie ihre Arbeit beiseite und ging dem Sohn freudig entgegen. Er umarmte und küsste die Mutter zärtlich, entgegen aller Bauernsitte. Man sah übrigens auf hundert Schritte, dass er kein echter Bauer war.

Georgine hiess die Kinder ihren Vetter begrüssen und schickte sie heim. Darauf setzte sie sich mit Pierre auf die Gartenbank. Er ist blass, dachte sie. Warum? Er hat doch genug zu essen.

«Ich habe unerwartet Ferien», sagte Pierre. «Die Schule ist geschlossen worden. Vierzehn Tage, wegen Scharlach. In Roggenberg ist die Krankheit besonders drohend, und viele sind schwer betroffen worden.» Er begann zu erzählen. Die Mutter hörte ihm gern zu, doch schien ihr, es fliesse ihm alles zu leicht vom Munde.

Nach den Ställen und der Seuche fragte er nicht. Georgine meinte – sie gab es sich kaum zu –, es gäbe Wichtigeres zu bereden, als dass Pierre in seiner Klasse manch hübsches Mädchen habe, und dass man ihn gern möge, wie er es betonte.

«Die Hübschheit wird ihre Zeugnisse nicht besser machen», meinte die Mutter.

«Ohne Einfluss ist das nicht», antwortete der junge Lehrer. Georgine sah ihn an.

Was redete er? Und wieviel! Wie ein Wasserfall redete er. Und wie war er früher ein stiller Bub gewesen. Man hatte schon fragen müssen, wenn man etwas hatte wissen wollen. Manches Jahr war er fort von daheim. Kaum je brachte er seine Ferien zu Hause zu. Einmal war er in Airolo, einmal im Wallis, einmal bei einem Freund, kurz überall, nur nicht auf dem Hof. Konnte man sich so ändern, fragte sich Georgine. Wurde einer so von Grund auf anders, wenn er älter wurde?

«Komm ins Haus und iss etwas», sagte sie und ging ihm voran. Während er sich an dem wertvollen alten Kupferbecken mit dem wasserspeienden Delphin wusch, brachte die Mutter auf blumigem Brett goldgelbe Butter, glänzende Waben Honig, Schwarzbrot, Schinken und bald darnach den Kaffee. Einen bunten Teller, beladen mit den berühmten Pastorenbirnen, stellte sie dazu.

«Sie sind Vaters Stolz», sagte sie. «Sie bekamen Preise auf der Ausstellung. Aber nur der kleine Stolz sind die Birnen, der grosse, seine Preiskühe, sie sind nun alle hin.» Endlich fragte Pierre nach der Krankheit und dem Unglück in den Ställen. Er ist anders als früher, dachte die Mutter immer wieder. Aber was ist denn anders? Sind es die Augen? Oder – die blasse Haut? –

«Wie steht es eigentlich nun? Habt ihr keine kranken Tiere mehr?»

«Es sieht so aus. Neunzehn Stück haben wir vergraben. Weiss nicht, ob es die letzten waren. Es ist furchtbar für den Vater. Kannst dann sehen, wie es ihn hernahm. Ganz grau ist er geworden. Ich möchte fast sagen: stiller. Sein schwarzer, im ganzen Lande berühmter Stier war auch darunter.»

«Schade», war Pierres ganze Antwort. Man hörte Scharren vor der Haustüre.

«Der Vater», sagte Georgine, und ein rührendes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie freute sich immer noch, wenn Hans-Peter kam, trotz aller Ängstlichkeit. Sie hing eben an ihm. Er kam und blieb unter der Tür stehen.

«Pierre, du!» rief er erfreut. «Was ist denn los?»

«Scharlach.» Sie schüttelten sich die Hände.

«Hast du noch Geld?» fragte Ochsner unerwartet. Pierre zuckte die Achseln und zog sein mageres Ledertäschchen hervor, in dem es kläglich genug klingelte. Da nahm der Vater seinen grossen schwarzen gestrickten Geldbeutel und schüttelte seinen ganzen Inhalt auf des Sohnes Hände. Er zählte das Geld nicht nach. Pierre dankte nicht übermässig warm, als gehöre es sich so.

Hans-Peter fragte sich, über seine rasche Handlung selbst verblüfft, ob er eigentlich dem Sohn nichts Besseres zu bieten habe als Geld, dass er so rasch damit gekommen sei? Ob er sich so über des Sohnes Heimkommen freue? Ob er vielleicht vor dem Jüngern den Gutsbesitzer spielen wolle? Er fand keine Antwort. Wozu eine Antwort? Aber ihm war, als sei er voreilig gewesen. Möglicherweise hatte er Pierre gewinnen wollen. Oder ihn ducken? Ochsner schüttelte sein dickes, graugesprenkeltes Haar. Ach, dummes Zeug, dachte er unwillig. Ich habe es gegeben. Warum, geht mich nichts an.

«Wie geht's? Kommst du voran?» fragte er.

«Es geht mir gut. Und dir? Deinen schönen Schwarzen hat's also auch gepackt?»

«Ja, davon reden sie im Land herum. Will nicht gerade sagen, sie gönnen es mir. Nein, das nicht. Aber sie denken, dem Ochsner schadet es auch nichts, dass er einmal hat daran glauben müssen. Könntest es hören, wenn du dich hinter die Türen stellen würdest. Ins Gesicht sagt es dir keiner. Ja, Bub, ich kenne die Menschen. Wir sind ja arme Luder alle miteinander. Kommen ganz verschieden, blau und grün und gelb zur Welt – gleichsam natürlich – und sollten nachher orange, rot und violett sein. Eben anders als wir eigentlich sind. Verstehst du? Und dazu haben wir noch die Verantwortung vor dem lieben Gott. Er hätte uns gar nicht erschaffen sollen.»

«Vater, wie redest du?» fragte Pierre erstaunt. «Was sagst du für seltsame Sachen?»

«Man lernt sie eben kennen, die Welt und die Menschen, und sich auch», sagte der grosse Mann. Er hatte tiefe Furchen auf seiner selbstbewussten Stirne, so hatte der Schmerz um seine Tiere sich eingegraben. Auch die Sorge um den grossen Schaden, den er erlitten, und sein verletzter Stolz, dass sein Stall wie der erste beste mitgenommen wurde, schlugen schwerheilende Wunden.

«Ich komme mir vor wie Hiob», sagte er düster.

«O Vater!» rief Pierre, «dem ist es noch anders schlecht ergangen. Dem starben auch noch Söhne und Töchter.»

«Was weiss ich, was meiner noch wartet», sagte Ochsner. Aber dann nahm er sich zusammen, ballte die Fäuste und nahm sich vor, zu tragen, was ihm auferlegt worden. Jedes Sichfügen fiel ihn schwer an, denn er war an Erfolg gewöhnt, an Gelingen und Sieg und daran, seinen Kopf hoch zu tragen.

Aber sich vom Schicksal unterjochen lassen, das wollte er nicht. Er tat allerlei Fragen an Pierre, der ihm kurz antwortete, als betrete der Vater Land, das ihm nicht gehörte, oder das er, Pierre, schlecht gepflegt hatte. Er kam auf seine Schule zurück, auf die Leute, die ihn einluden, auf die gehorsamen Schulmädchen, und darauf, dass man ihn im Ort gern habe. Zum Teil übertrieb er, zum Teil ging er über Wichtiges hinweg.

Der Vater schüttelte den Kopf. Er sah den Sohn scharf an. «Du bist anders geworden. Was ist los mit dir?»

«Nichts», sagte Pierre.

«Nichts? Ist das eine Antwort, zum Donner?» Ochsner ärgerte sich.

«Nichts Besonderes, wollte ich sagen.» Hans-Peter fragte nicht länger. Irgend etwas schien ihm da nicht in Ordnung. Das frische Buben- und Jungengesicht war verwandelt. Sonderbar weichlich war das Gesicht geworden. Das war es. Es hatte die Farbe verloren und die Straffheit. Gut, dass er nicht Bauer geworden ist, dachte der Vater. Eigentlich sollte mein Sohn anders aussehen, meinte er noch, und dabei war keine Eitelkeit. Ein wenig mehr holzgeschnitzt, da der Pierre doch Holzschnitzer hatte werden wollen. Ochsner ging dem Gedanken nach.

Eine besondere Freude hatte niemand an Pierres Besuch. Er sass auf seiner Stube und las drei, vier Bände «Fliegender Blätter» durch, die irgendwann einmal gekauft worden waren und in einem alten Schrank auf dem Estrich aufgestapelt lagen, oder er schwatzte mit den Mädchen, wenn er sie traf. Oder er sass bei der Mutter und erzählte ihr, was sich in Roggenberg und anderen Dörfern zugetragen hatte. Geschwätz. Müssiges Gerede. Zurechtgebogene Verleumdungen. Die Mutter sah ihn oft erstaunt an. Sie wehrte sich gegen die Wahrheit, die sich ihr aufdrängte. Sie schüttelte den Kopf. Es tat ihr weh, den Sohn so plappern zu hören. Kleine Liebesgeschichten wusste er zu erzählen und scheute sich nicht, in Einzelheiten einzugehen, die die Mutter kaum begriff.

Erzählte Ochsner bei Tisch aus seiner Ratsherrenerfahrung oder von dem gigantischen Kampf, dem furchtbaren Kräftemessen draussen in der Welt, das sich unter den Gewittern schauerlicher Ereignisse abspielte und an den Menschen und ihrer Güte für immer zweifeln liess, sass Pierre teilnahmslos da. Kaum fragte er nach diesem und jenem.

«Nun, Pierre, du hast einmal Holzschneider werden wollen. Ich sehe dich aber nie an irgendeiner Arbeit sitzen. Deine kleinen hohlen Instrumente liegen nirgends umher. Hast du das Schnitzen aufgegeben? Zeit hättest du ja nun genug, nach dem, was du erzählst.»

«Zeit schon. Aber geschnitzt habe ich schon lange nicht mehr. Ich bringe es doch zu nichts.» Ochsner fuhr auf. «Wenn du so denkst – dann freilich! Talent ohne Fleiss und Mut ist eine Glocke ohne Schwengel, die bald ausgeläutet hat.»

«Hättest du mich Holzschneider werden lassen, dann ...»

«Gut, dass ich es nicht getan habe», unterbrach ihn der Vater. Er wartete darauf, dass Pierre nun von seinen gegenwärtigen Studien, von seiner Arbeit, seiner Doktorarbeit, zu sprechen beginnen werde. Es geschah nicht. Ochsner tastete weiter.

«Bist du gern Lehrer? Ein schöner Beruf, wenn der Lehrer danach ist.»

«Ho, ja, ganz gerne. Man hat viele freie Stunden. Ganze Nachmittage. Die Mädchen sind nett. Wir verstehen uns gut.»

«So, so», sagte Hans-Peter. Zum Donnerwetter, dachte er aber, da muss ich einmal gründlich umgraben. Er sparte es aber auf später auf. Gut, dachte er weiter. Gut, dass ich mit dem Präsidenten gesprochen habe, und dass der Junge wenigstens etwas Sicheres für die Zukunft in der Tasche hat. Ein Künstler, den nichts treibt, das ist ein aufgeblasener Luftballon.

Zwei Tage danach liess Ochsner seinen Sohn auf sein Arbeitszimmer kommen. Er schickte Tilly hinaus, die die Eintragungen aus dem Tagesheft in das graue mächtige Buch mit den Einnahmen und Ausgaben machte.

«So, Pierre, und nun möchte ich etwas hören, das mir wichtiger ist als die Pennälererzählungen, die du uns auftischest. Was arbeitest du? Wie weit bist du mit deiner Doktorarbeit? Heraus mit der Sprache und vorwärts!» Pierre sah den Vater nicht an. Beharrlich schaute er zur Seite.

«Vater, ich habe es dir schon schreiben wollen. Meine Doktorarbeit mache ich nicht. Ich habe weder Lust dazu, noch begehre ich in eine grosse Stadt versetzt zu werden.»

«Was willst du nicht?» fragte Ochsner, und ihm wurde heiss.

«In Roggenberg will ich bleiben. Mein ruhiges Leben will ich haben. Ich bin nicht ehrgeizig, mir ist wohl so.» Fassungslos starrte Hans-Peter Ochsner auf seinen Sohn. Die Röte, die zuerst sein Gesicht überflutet hatte, wich. Er ging ans Fenster und sah lange hinaus, ohne sich zu rühren.

Der Schlag war zu plötzlich gekommen. Er kämpfte mit der Erkenntnis, die sich langsam gezeigt hatte, erst in nebelhaftem Umriss und nun immer greifbarer: dein Sohn taugt nichts! Es dauerte lange, bis er sich zu reden entschloss. Er musste eine aufsteigende Verachtung überwinden. Endlich brach er die Stille.

«Ich sehe, dass du zu jenen gehörst, die man nicht ändern kann, zu den Faulen. Zu den Nichtsnutzigen. Sehr wahrscheinlich bist du ein schlechter Lehrer», sagte er mit seiner tiefen, grollenden Stimme. «Kein Wort von dir hat es mich bisher anders gelehrt. Also bei der Schule willst du bleiben? In Roggenberg? Und dazu braucht es den Sack voll Wissen, dazu das Gedächtnis, das dich nie im Stich lässt und dir jede Mühe abnimmt. Dazu die vielen Jahre des Lernens? Die kostbare Zeit, die vertan ist? Und dazu ...» der Hals schnürte sich ihm zu. Er unterdrückte mit Gewalt den Zorn, der seine Adern klopfen machte.

Pierre hatte mit wenig Teilnahme zugehört. Er tippte mit seinem Zeigefinger auf dem Tisch herum und drehte seine Schuhspitze hin und her. Manchmal knarrte der Schuh.

«Gut, dass du kein Bauer geworden bist», rief Ochsner.

«Bauer kann jeder werden», sagte nachlässig Pierre. Da fuhr der Vater auf.

«Bauer kann jeder werden? Ja, wie jeder schreiben kann, und doch kein Dichter wird. Mit einem ganzen Schulranzen voll Wissen und einem Gedächtnis, wie der liebe Gott es dir umsonst gegeben hat, würdest du doch kein rechter Bauer, ohne einen Willen, der dich morgens um vier aus dem Bett reisst. Und ohne Augen, die den Engerling unter dem Boden sehen, und die Raupen hinter den Blättern, und den Rost schon am leeren Weinstock. Fleiss braucht ein Bauersmann, Kraft, um das Hagelwetter zu ertragen, das ihm die Ernten zerstört und die Knospen für zwei Jahre schädigt. Ein Bauer? Ein Aufbauer ist er, ein Erbauer, ein Schöpfer muss er sein, will er es zu etwas bringen.»

«Jetzt lobst du das Bauerntum und malst es in den schönsten Farben! Ich habe nicht Lehrer werden wollen, du hast mich dazu gezwungen. Aus Ehrgeiz, Vater, ich weiss es. Du wolltest einen Professor aus mir machen!» Das traf. Tief war die Kugel gedrungen. Ochsner lehnte sich zurück. Es ist wahr, dachte er. Es ist die Wahrheit. Aber, dass er zum Bauer nicht geschaffen war, das habe ich damals schon gesehen.

«Ich wollte, dass ein Ochsner ein Mann werde, der dem Vaterland nützlich wäre. Das hoffte ich, das erwartete ich. Ich sah dich aufsteigen und höherkommen, Ratsherr werden, vielleicht Nationalrat. In Amt und Ehren habe ich dich gesehen. Und was bist du nun? Ein Lehrer ohne Freude am Beruf, ohne Kraft, ohne Wirkung. Und was erstrebst du? Nach wenig Arbeit verlangst du, nach Feierstunden plangst du, den Mädchen gefallen willst du, den Schulmädchen!» Zorn überkam ihn. Er fuhr auf. «Geh mir aus den Augen!» donnerte er plötzlich. «Geh mir aus den Augen!» Mit zwei Schritten war er an der Tür und öffnete sie weit. «Geh!» Pierre ging.

Einen Augenblick später sah ihn der Vater am Fenster vorüberspazieren, sah, wie er sich gelassen eine Zigarette anzündete und das Zündholz gleichgültig wegwarf. Ochsner setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl, erschöpft und unglücklich, enttäuscht.

Womit habe ich das verdient? fragte er sich. Das Gespräch fiel ihm ein, jenes Gespräch mit dem Präsidenten. Er stand auf und ging von einem Stubeneck zum andern, hin und her wie ein Perpendikel.

Er kann nicht recht gehabt haben. Pierre ist kein Künstler. Nicht einmal mitgebracht hat er seine kleinen Instrumente. Wer ein Künstler ist, der kann nicht ohne Kunst leben. Vom Mond holt er sie sich herunter, vom Meeresboden holt er sie sich herauf. Er hungert für seine Kunst. Wieder setzte sich Ochsner. Aber nur einen kurzen Augenblick, dann nahm er seinen Hut.

Wenn es darum ging, sich auszusprechen, einen Ärger auszuspucken, einen Zorn zu verarbeiten, dann suchte Ochsner seine Frau. Wen in aller Welt interessierte das, was ihm geschah, mehr als sie, als Georgine? Sie konnte gut zuhören. Sie verstand zu schweigen, sie wagte nicht zu widersprechen – und wem ging es mehr zu Herzen?

Handelte es sich aber um das Nachdenken, das Erforschen und Erkennen dessen, was in ihm selbst vorging, dann suchte der Bauer die nötige Ruhe im Walde. Er ging immer den gleichen bekannten, lieb gewordenen Weg, dem Waldrand entlang, bis zu dem kleinen roten, in der Sonne glitzernden Steinbruch, dann ein paar Schritte hinauf zu der von Tannen gebildeten Ecke.

Es trieb dort ein Echo sein Wesen, das er von seiner Kindheit her kannte, und das oft seine Künste vor dem Buben hatte spielen lassen müssen. Manchmal hatte es Silben verschluckt, manchmal schwieg es sogar. Die Ochsnerkinder gingen nie vorüber, ohne seine Stimme zu erproben. – Auch jetzt blieb der bedrückte Mann einen Augenblick stehen. Aber das Echo wartete vergebens auf einen freundlichen Anruf.

Hat der Präsident recht oder unrecht gehabt, fragte er sich. Diese Frage stellte er sich immer wieder. Die Antwort blieb aus. Punkt für Punkt nahm er vor, Frage für Frage: Wäre Pierre ein guter Bauer geworden? Nein. Auch nicht mit guten Knechten? Nein, denn der Faule scheut auch die Aufsicht. Der Interesselose hört kaum zu, wenn man ihm vom Stand seines Besitzes berichtet.

Wäre er ein Künstler geworden? Zum zehnten Male stellte er sich die Frage und kannte die Antwort. Aber nun kam die dritte Frage, die Ochsner am meisten anging: Ist er ein guter Lehrer geworden? Das konnte er noch nicht genügend beurteilen. Er musste noch andere Stimmen hören, die von Vorgesetzten, die von Kollegen. Ochsner schien es aber unmöglich zu sein, dass ein Fauler irgend etwas gut betreibe, denn dem lag die Faulheit wie ein Dornenhag vor dem Willen, und es gelang ihm selten, darüber hinaus und hinüber zu kommen.

Langsam, den Kopf gesenkt, ging Ochsner zwischen den harzduftenden Tannen weiter. Die Eichhörnchen rannten Baum auf und Baum ab, und ihre winzigen schwarzen Äuglein blinzelten auf den Einsamen herunter. Die Vöglein, oben über den Wipfeln, zogen goldene Kreise im Sonnenlicht und zwitscherten ihre Freude ins Blaue hinaus.

Ochsner ging auf den roten, dürren Tannennadeln und sah weder die orangefarbenen Reizker, die wie grosse, etwas dicke Blumen dazwischen hingestreut waren, noch die Ameisenhaufen, noch das feine grüne Moos, das wie eine Sammetdecke vor ihm ausgebreitet lag. Er sah nur eins: seinen Ehrgeiz. Das heisst, er sah ihn nicht. Er wollte ihn nicht sehen, er wand Schleier des Widerstandes um ihn. Er sprach laut mit sich selbst, angeregt von der grossen Einsamkeit.

Und es war kein Ehrgeiz. Nicht um meinetwillen sollte der Junge studieren. Um seinetwillen, um der langen Reihe der Ochsner willen, die sich vollenden und sich nach einer noch wenig bebauten Seite entwickeln müsste. Auch um der Leichtigkeit willen, mit der Pierre lernte. Um seines erstaunlichen Gedächtnisses willen, das ein Bauer nicht benötigte, einem Professor aber nützte wie das Futter in einem Wintermantel. Sollte das alles verkümmern? Verfaulen? Er zuckte zusammen, blieb stehen und lehnte sich an eine der Tannen, der das duftende Harz aus kleinen Wunden quoll und deren Äste blauweisse Nadeln trugen. Eine Vornehme also! Sie hatte auch höhersteigen wollen, die schöne Tanne. Sie liess auch die Rottannen hinter sich. Auch sie wurde höher eingeschätzt, wurde wertvoller. Auch die Natur machte Unterschiede. Das war ihm ein Trost.

Sein Obst, sein Korn, seine Bäume, vor allem sein Vieh, alles wurde nach seinem Wert beurteilt. Warum sollte es bei den Menschen anders sein?

Streben, nach dem Besten streben, warum nicht? Warum nennt man das Ehrgeiz und verneint und verdammt ihn? Ochsner schüttelte heftig den Kopf.

Die Hauptsache ist wohl, sich zu fragen, was Wert hat und was keinen. Für wen etwas Wert hat, dachte er.

Er schaute hinauf. Zwischen den Ästen schimmerte das Himmelblau. Ja, was ist gross und was ist klein? Und was ist wertvoll an den Himmeln gemessen?

Wessen Augen haben das Recht zu sagen: Ich sehe richtig? Wo ist der Richter?

Ochsner kam zu dem Schluss, der eben der seine war. Er hätte zu keinem andern kommen können. Nicht von der Höhe der Schneeberge aus betrachtete er seine vierte Frage. Aber vom Ochsnerhof aus. Von seinem Ich aus, und das hatte ihm bis heute immer recht gegeben. Jetzt, diesmal stieg ihm zum erstenmal die Frage auf: Habe ich recht getan? Richtig geurteilt?

Es hatte aber doch beruhigend auf ihn gewirkt, so in dem stillen, einsamen Wald nachzudenken. Er hob den Kopf höher, je weniger seine Seele belastet war. Aber zwischen sich und seinem Sohn hatte sich ein tiefer Graben aufgetan. Er war immer dagewesen, aber das hatte der Ochsner nicht gewusst.

Nachdem Hans-Peter das Gewebe seines Denkens wenigstens geordnet hatte und wusste, woran er war, ging er ruhig nach Hause, und zwar dahin, wohin er immer ging, wenn er sich etwas überlegt hatte und sich auszusprechen wünschte. Er suchte Georgine.

Sie sass im Wohnzimmer und zog frischgewaschene Strümpfe über schmale Holzformen, um sie am Eingehen zu verhindern. Breitbeinig blieb er vor ihr stehen, beide Hände hinter dem Rücken.

«Du hast einen Sohn, Georgine, der nichts taugt!» sagte er mit seiner Löwenstimme und mit funkelnden Augen. Sie sah erschrocken auf.

«Einen, der nach einem geruhsamen Leben fragt», höhnte Ochsner. «Einen Lumpen.»

«Er ist nicht allein mein Sohn», sagte sie unerwartet mutig. Dann beugte sie den Kopf tiefer herunter auf ihre Arbeit, und Ochsner sah, dass Tränen auf ihre Arbeit fielen. Sie hatte recht. Ihr verdankte Pierre seine Faulheit nicht. Aber wen konnte der Ratsherr anklagen? Es war auch kein Fall von Seiten der Ahnen verzeichnet worden, es gab unter den Ochsner keine Faulpelze. Er strich Georgine über die Haare.

«Du gutes Kätzchen du», sagte er, «bist du wenigstens mit mir zufrieden?»

«Ich mit dir zufrieden? Natürlich, sehr, immer ...» Sie schaute liebevoll zu ihm auf.

«Gott scheint es nicht zu sein», sagte er, und seine Stimme war weniger laut. «Er straft mich hart. Warum, weiss ich nicht. Und was nützt es, mich zu strafen, wenn ich nicht weiss, warum?»

«Geh doch zum Pfarrer Roth, der kann es dir sagen», riet Georgine.

«Ja, mich ergeben soll ich, wird er sagen. Tragen, was mir auferlegt worden, wird er sagen. Aber das ändert nichts an Pierre. Tragen, was einem auferlegt wird! Ja, aber der Sohn bleibt, was er ist. Hätte ich ihn nicht auf die Schulen schicken sollen? Aber was für ein Bauer wäre er geworden! Das wusste Gott, der allwissend ist, besser als ich. Wie kann er mich strafen, weil ich es auch wusste? Und was ist seine Absicht, wenn er mich straft? Ich weiss nicht, was ich tun soll. Es nützt nichts, wenn ich zum Pfarrer gehe. Tragen! Sich ergeben. Ja, ja, aber damit ist nichts geändert.» Er schwieg. Georgine sagte nichts.

In den paar letzten Tagen, die Pierre noch zu Hause zubringen sollte, gingen Vater und Sohn sich aus dem Wege. Ochsner sah zufällig eines Tages, wie Pierre seine Schwester beim Heimkommen von einem Spaziergang umarmte und zärtlich küsste.

Sofort befahl der Vater, dies alberne Getue zu lassen.

«Das ist wohl das einzige, was man ohne Mühe und ohne sich anzustrengen lernen und lehren kann», höhnte er. Pierre wurde rot und ging hinaus.

Zornig blieb der Vater zurück. Ihm fiel dabei die Liebschaft Tillys ein, und aufgeregt und ärgerlich, wie er war, hakte er nun da ein und fragte, ob die Geschichte mit dem jungen Chèbres endgültig zu Ende sei. Wie er es befohlen habe?

«Fertig? Und endgültig? Nein Vater, wie wäre das möglich? Gäbest du etwas auf, das du liebst?»

«Du weisst, Tilly, wie es auf dem Ratshaus zugegangen ist?» Sie nickte.

«Also?» Das Mädchen schwieg. Es hatte keinen Sinn, mit dem Vater Krieg zu führen. Auch sie ging hinaus.

Nach wenigen Tagen reiste Pierre ab. Hans-Peter war am Pflügen eines brachliegenden Ackers. Von einem motorisierten Pflug hatte er nichts wissen wollen. Seit langem hatte er diese Arbeit dem Meisterknecht übergeben. Heute übernahm er sie selbst. Pierre sah von der Strasse aus, wie er mit wuchtigen Schritten langsam und stetig hinter seinem Pflug herging, die beiden starken schwarzen Rosse vor sich. Ihm schien, der Vater sei grösser als früher.

Pierre hinterliess keine Lücke. Es war Ochsner zumute, als habe er in dem grossen Familienbuch unter des Sohnes Namen einen dicken Strich gemacht. Pierre hatte nichts verbrochen. Nein, Hans-Peter hatte nur gemerkt, dass sein Sohn auf dem Weg war, ein Nichtsnutz zu werden. Es kam nicht darauf an, ob ein kleiner oder ein grosser.

 

Hans-Peter Ochsner war in den letzten schweren Wochen öfters zu Gabriel und besonders zu Isolina hinaufgegangen und liess sich von ihr ausschelten, wenn sie sein sorgenvolles Gesicht sah. Sie merkte wohl, was den Starken bedrückte, und wenn es nötig war, lustig zu sein, um ihn aufzuheitern, so war sie lustig. Der Ochsner musste ob ihren Spässen und Einfällen lachen. Er mochte sie gut leiden. Manchmal brachte er ihr auch etwas aus der Stadt, wenn er seine Holzgeschäfte abzuwickeln hatte, irgend etwas, ein Seidentuch oder eine bunte Tessinertasche.

Gabriel dankte dann immer ebenfalls mit einem Händedruck und meinte kopfschüttelnd, dass es wunderlich sei, dass dem Bruder so etwas einfalle, und ihm komme es nie in den Sinn. Dies kam daher – der Gabriel wusste es nicht –, weil er selbst so unerhört anspruchslos war, weil er nie einen Wunsch hatte und immer zufrieden blieb.

Und verwöhnte er die Isolina nicht mit Geschenken, so hatte er dagegen bei ihr gewacht, ganze Nächte lang, und trotz seiner Arbeit, damals, als sie das Nervenfieber hatte und nicht mehr weit war von der dunklen Grube. Von Geschenken, ausser einer Kleinigkeit unter dem Christbaum und vielleicht einem Lebkuchen an der Messe, wusste er nichts.

Der Ochsner ging nach einem Besuch dort oben nie ohne einen Johannisbeer-Likör, den ihm die Isolina spendete, und jedesmal getröstet heim. Ihn musste man mit Lachen aufheitern, nicht mit Reden. Als er den Weg hinunterging, stand unten die Georgine mit ihrem schwarz und weissen Eierkörbchen, in das sie die spärlichen Gaben, die im späten Herbst die Hennen schenkten, gesammelt hatte. Da stand sie, klein und wenig Raum brauchend. Es rührte den Hans-Peter, wie sie so getreulich auf ihn wartete, bis er unten ankam. Vielleicht könnte man etwas unternehmen, dachte er. Etwas, das ihr Freude machen würde.

«Georgine, wollen wir morgen mit unsern und mit Isolinas Kindern nach Zürich zur Landesausstellung fahren? Demnächst wird sie geschlossen.»

«Ins Kino?» fragte sie gespannt.

«Da können die Kinder nicht mit. Aber es gibt genug anderes zum ansehen.» Sie freute sich. Ihr Gesicht strahlte. Sie dankte ihm aber nicht. Sie hatte, angeregt durch einen unverstandenen Vortrag, sich zur Überzeugung durchgerungen, dass es ihr, der Frau, nicht wohl anstünde, wenn sie ihm, dem Mann, danken würde.

Es war da weder Bosheit noch Bitterkeit dahinter. Aber es war heimlicher Widerspruch. Einer, zu dem es weder Mut noch Worte brauchte. Aber mit Dank oder ohne Dank, dem Hans-Peter Ochsner war das gleichgültig.

Auch im Haus des Uhrenmachers Chèbres gab es Unruhe und Gereiztheit.

Der Hausherr hatte sich von dem kriegerischen Morgen im Rathaus noch nicht erholt. Die böse Sache hatte zwar damals mit einem allgemeinen Toben und Schrillen der Glocke geendet, aber ihm war doch zumute, als sei er besonders unterlegen. Es hatte sich in ihn hineingefressen, dass er nicht auch mit so gewichtigem Kaliber aufgefahren war und auffahren konnte wie der Ochsner, der ihn vor der ganzen Ratsherrenschaft verhöhnt hatte und gegen den überhaupt keiner aufkam. Sie waren längst politische Gegner gewesen, nun waren sie Feinde geworden.

Einem Feind tut man aber bekanntlich zuleide, was sich tun lässt und irgend möglich ist. Chèbres meinte aber, Ochsner sei schon von höherer Seite aus gestraft worden. Er sollte, wie der kleine Uhrenfabrikant vernommen hatte, einen ganzen Stall voll auserlesener Tiere verloren haben. Zwar taten ihm die Tiere leid, die Tatsache aber empfand er wie das Walten einer schicksalhaften Gerechtigkeit.

Chèbres fragte sich schon, ob es nach dem öffentlichen Kampfe noch möglich sein könne, dass die Tochter des Mannes, der ihn so schwer beleidigt hatte, die Frau seines Sohnes werde. Die Antwort ergab sich von selbst.

Sich Hans-Peter Ochsner je auf seinem neuen schwarzen Rosshaarsofa zu denken, war eine unmögliche Vorstellung. Es gab da nur eins. Maurice musste verzichten und Ochsners Tochter den Abschied geben.

Eine bessere Rache konnte er sich nicht ausdenken. Es war aber nicht das Rachegefühl allein, das da ausschlaggebend war, es war auch die schmerzliche Erkenntnis, dass er, Charles Chèbres, neben dem Ochsner nie die erste Geige spielen würde. Es würde immer und ewig auch in seinem eigenen Hause heissen: Der Ochsner sagt, der Ochsner will. Nein, das konnte er sich nicht gefallen lassen. Der Respekt, den er in seiner Familie genoss, durfte nicht gefährdet werden; den wollte er sich nicht antasten lassen, den musste er aufrechterhalten, dem überlegenen – er musste es sich zugeben – überlegenen Feinde gegenüber. Die Frau Chèbres, geborene Lebrun aus Neuenburg, hatte ohnehin schon die Neigung, anderen Leuten recht zu geben und nicht ihm. Diese Charakteranlage würde sich wohl noch tiefer entwickeln, hätte sie den Ochsner in der Nähe. Nein, es ging nicht, ganz und gar nicht. Nächstenliebe oder keine Nächstenliebe, in solchen Fällen musste man das Ganze berücksichtigen und Nebensachen umgehen.

Er überlegte sich genau, was er dem Sohn sagen wollte, und liess darauf Maurice rufen.

Der liebte es nicht, wenn man ihn aus der Arbeit herausholte. Er war in den verschiedenen Ateliers schwer zu finden. Man verlor Zeit mit dem Suchen. Endlich kam er.

«Setze dich, Maurice», begann Chèbres, und der Sohn setzte sich. «Maurice, ich muss nun aus verschiedenen Gründen wirklich darauf dringen, dass du das Fräulein Tilly Ochsner ihrer Wege gehen lassest. Das Verhältnis zwischen mir und ihrem Vater ist unhaltbar geworden.»

«Du spassest wohl, Vater?» fragte Maurice.

«Ganz und gar nicht. Nach dem, was vorgefallen ist, kann keine Rede mehr sein von einer Heirat zwischen ihr und dir. Stell dir vor, wie das herauskommen müsste! Die Väter Feinde! Denke dir das praktisch aus. Einfach unmöglich.»

«Am Hochzeitstage könnten sich die Väter versöhnen», schlug Maurice vor.

«Ich rede ernsthaft. Es ist unmöglich. Es tut mir leid. Gegen Fräulein Tilly habe ich nichts einzuwenden. Aber man heiratet nicht nur eine Frau, man heiratet auch ihre Familie.»

«Ich nicht. Ich habe genug an der Frau», sagte Maurice, der die Dinge lieber von der heiteren Seite nahm. Der Vater überhörte die paar Worte.

«Es kann auch zwischen den Ehegatten Zerwürfnisse geben, es kann ein Riss entstehen –»

«Also Vater, davon kann gar keine Rede sein, dass ich mich von Tilly trenne. Wie stellst du dir das vor? Denkst du, ich gebe ihr einfach die Hand, und gehe dann links und sie geht rechts?»

«Es ist schon manches Paar links und rechts auseinandergegangen und war später recht froh darüber.»

«Ich liebe sie, und sie liebt mich, was nachher kommt, werden wir ja erleben. Noch einmal: Von einer Trennung kann keine Rede sein. Was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht trennen, und die Ehen werden im Himmel geschlossen! Das steht alles in der Bibel, Vater. Und sie hat recht.»

«Maurice, es tut mir leid, aber in mein Haus kommt die Tilly nicht.» Seine schmalen Wangen wurden rot vor Aufregung.

«Gut, dann gehen wir in ein anderes Haus, und du wirst mir einen hübschen Gehalt zu zahlen haben als Entschädigung für die Miete. Da werden wir zwei, Tilly und ich, dann in Frieden wohnen.» Vater Chèbres stöhnte hilflos.

«Bedenke, Vater, dass du einen Kerl wie mich nicht so bald findest. Ich weiss das, und du weisst es auch. Überlege dir die Sache noch einmal, Vater, ich will sie mir auch überlegen, nur bleibt es bei mir dabei. Wollen wir drei Tage sagen?» Chèbres wurde nun böse.

«Ja, ich gebe dir drei Tage Bedenkzeit. Gibst du nicht nach, so kündige ich dir. Dann mache, was du willst, und geh mir aus den Augen. So wenig also achtest du die Ehre deines Vaters! Er wird öffentlich ausgelacht und du – du willst des Beleidigers Tochter heiraten?»

«Soll ich ihr mein Wort nicht halten? Soll ich mich wegwerfen an irgend jemand? Aus Trotz? Passt dir das besser? Soll ich mir eines der Mädchen holen, drüben in der Fabrik? Oder soll ich nach Amerika auswandern? Also in drei Tagen, Vater.»

Chèbres ging ohne zu antworten aus der Tür und hinüber in das kleine Nebenhaus, in dem die Uhren zusammengefügt wurden. Zuerst durch die lange Galerie, wo ein Fenster neben dem andern stand und an jedem Fenster ein Mann oder eine Frau sass. Sie hatten kleine Teile der Uhren in gläsernen Schalen vor sich. In anderen, mit Glasglocken geschützten, befanden sich winzige Stückchen Gold, die vorher gewogen und nachher wieder auf ihr Gewicht hin geprüft wurden; Stahlräder, nicht grösser als Fünfrappenstücke und noch kleinere; Schälchen mit Rubinen, grössere Schalen mit Zifferblättern und Schalen mit Zeigern.

Alle diese Leute waren mit in Horn gefassten Vergrösserungsgläsern versehen. Einer oder der andere drehte eine kleine Poliermaschine. Alle trugen weisse Schürzen, von denen, ehe sie das Haus verliessen, winzige Goldstäubchen abgelesen und in Glasfläschchen geleert wurden. Zarte Instrumente, auf Waschleder gelagert, befanden sich auf jedem der Tische. Es war still in dem Raum. Man hörte nur das sehr leise Summen der Poliermaschinen.

Chèbres gab seine Befehle. Nicht wie sonst mit ruhiger Stimme. Er sprach aufgeregt und fast polternd. Oft hielt er mitten im Satz inne, beendete ihn sogar nicht.

«Da hat's etwas gegeben», sagte der alte Vorarbeiter. «Den Chèbres kenne ich. Umsonst hat er keine rote Stirne.»

Beim Mittagessen sprach Chèbres kein Wort. Maurice aber liess sich nichts anmerken, er ass und scherzte wie immer.

Wenn ich nur wüsste, was er im Sinn hat, dachte der Vater. Maurice ist sehr brauchbar. Man kann sich auf ihn verlassen, er kennt das Gewerbe von Grund auf. Chèbres wusste genau, dass der Sohn nicht leicht zu ersetzen war. Er fühlte es auch im voraus, wie er den Einzigen vermissen würde.

Aber sich mit dem Ochsner und seiner hochmütigen oder überlegenen Art an einen Tisch zu setzen, das überstieg alles, was man von ihm verlangen konnte.

Das dem Sohn gestellte Ultimatum reute ihn. Man sollte seinen Kindern keine solchen Barrikaden in den Weg legen, leicht sind sie die Stärkeren, sagte er sich. Schliesslich gab er sich zu, dass er Maurice ungern verlor, sowohl als Helfer wie als Sohn. Aber konnte er zurücktreten? Konnte er nachgeben? Nein? Ja? Sich demütigen? Nein, das konnte er nicht. –

Auf irgendeine geheimnisvolle Weise hatte Maurice es Tilly wissen lassen, dass er sie sprechen müsse, und zwar oben auf der Faubourg, bei der kleinen Kapelle. Abends um sechs Uhr. Also zu einer Zeit, da jede nicht ungewöhnliche Prozession zu Ende sein musste und das winzige Gotteshaus noch offenstand.

Er verliess sich darauf, dass seine Meldung das richtige Ohr gefunden, und es sich ihr nicht verschlossen haben werde.

Genau um sechs war er oben. Er stand einen Augenblick still und sah hinunter ins Tal, das so tief lag, dass es aussah wie eine gemalte und nicht wirkliche Landschaft. Zudem hatte leise die Dämmerung begonnen. Schön war es, was er sah. Die Berge, von denen sich die dunkeln Felsen und die grünen Wiesen abhoben, die Erlen, die die schäumende Birs begleiteten, das alles sah in den zarten Abendfarben aus wie ein kostbares Pastell, von einem grossen Künstler gemalt.

Das Rauschen des Wassers drang nicht bis hinauf zu der kleinen Terrasse, auf der Maurice stand. Ein Glöcklein, das irgendwo bimmelte, die ferne Stadtturmuhr, die eben sechs schlug, das Rattern der Eisenbahn, die eben im Tunnel zu verschwinden begann, war alles, was vom Sein und Treiben der Menschen bis da herauf drang.

Maurice betrat die alte, tief in den Fels gehauene Kapelle mit dem grossen, spitzenbedeckten Altar und der reichgeschmückten Madonna, der die Perlenketten und die farbigen Edelsteine das Gewand schmückten und die aufblitzten, wenn das spärliche Licht darauffiel. Man pilgerte zu ihr hinauf, um sich durch das Gebet kranke Glieder heilen zu lassen. Es hingen denn auch Hände, Finger, Füsse, Knie, Beine und Ohren an den Wänden, und ebenda waren rührende vergilbte Papiere befestigt mit Bitten der Kranken an die liebe Mutter Gottes und Danksagungen für glückliche Heilung.

Der hintere Teil der Höhle blieb in tiefer Dunkelheit. Es brannten nur einzelne, dünne Lichter. Sie gaben dem Ganzen ein fremdes und merkwürdiges, fast märchenhaftes Gepräge. Als hätten sich fromme, flüchtende Seelen hierher gerettet, um Ruhe zu finden und Schutz.

Die Gestalt Tillys hob sich plötzlich scharf von dem noch nicht ganz dunkeln Eingang ab. Sie stand unter der Türe und sah sich ängstlich um. Zögernd kam sie näher und wollte eben die dunkle Kapelle wieder verlassen, als sie ein leises Lachen hörte. Ganz hinten sass Maurice, kaum sichtbar im tiefen Schutz der überhängenden Felsen. Tilly setzte sich neben ihn auf eine der Bänke, und sie hielten sich bei den Händen. Mehr erlaubten sie sich nicht im Gotteshaus.

«So im Finstern und mit den kleinen Lichtern und den dunkeln Schatten da hinter uns könnte man sich beinah fürchten», sagte Tilly.

«Ganz grün blitzen die Edelsteine der Jungfrau mir in die Augen. Manchmal rot, manchmal blau. Schön! Aber allein möchte ich hier nicht bleiben. Es könnte irgendwo ein Drache lauern.»

«Nicht auf uns, Schatz. Auf uns lauern andere Geister.» Und er erzählte ihr sein Zerwürfnis mit dem Vater.

«Auch unser grosser Ochsner hat wieder gebrummt», sagte Tilly, die immer nicht so recht daran glaubte, dass der Vater Ernst machen werde. Sie hatte ja schon oft kleine Scharmützel mit ihm gehabt und dabei gewonnen. Auch hatte er in der letzten Zeit nicht nach Maurice gefragt, ausser gerade vor kurzem. Er habe aber nicht weiter in sie gedrungen, und die Sache gehen lassen. Sie hielt sie im Grunde für halb gewonnen und wollte es der Zeit überlassen, das friedliche Werk zu vollenden.

«Warum sollen eigentlich wir für das büssen, was unsere Väter einander antun?» fragte sie. «Im Grunde geht es uns gar nichts an.»

«Das meine ich auch», sagte Maurice. «Und? Was soll ich tun? Soll ich zu deinem Vater kommen und mit ihm reden? Vielleicht gefällt ihm das besser als unsere Heimlichkeit? Etwas muss geschehen. Ewig können wir nicht warten.»

«Aber das ist gefährlich. Und wenn er endgültig nein sagt, was dann? Wenn er mich fortschickt ins Tessin? Er hat mir damit gedroht. Soll ich noch einmal mit Frau Monika reden? Der kann ich alles sagen, die versteht mich, und gibt mir doch nicht immer recht ...» Man hörte Schritte. Tilly fuhr auf, und eilig folgte ihr Maurice. Sie wollten nicht gesehen werden. Geduckt und der Wand entlang schlichen sie bis zur Türe und rannten weiter um die Ecke, wo dichtes Tannendunkel sie verbarg. Es war wirklich jemand von der anderen Seite gekommen, der verpflichtet war, die Türen der heiligen Kapelle vor Nacht zu schliessen.

Wie sie es immer taten, zwei Finger ineinander gehakt, gingen sie den schönen Weg zurück. Zarte Nebel stiegen auf und umspielten weich die Farrenkräuter, die aus Felsspalten wuchsen. Behutsam streute die Nacht ihre Dunkelheit über Bäume und Wiesen, ein Stern um den anderen schimmerte im Blauschwarz des Firmaments. Der Mond fehlte. Seine Zeit war noch nicht gekommen.

Tilly und Maurice setzten sich auf die alte Bank, die hart am Abgrund stand. Eng umschlungen holten sie nach, was sie lange entbehrt hatten, denn in der Kapelle hätten sie sich nicht getraut, auch nur einen Kuss zu tauschen.

Da kam plötzlich ein Mann daher, den sie nicht hatten kommen hören. Er blieb stehen, als er merkte, dass die Bank besetzt war. Tilly flüsterte Maurice etwas zu, doch verstand er es nicht. Der Mann schaute einen Augenblick scharf nach Tilly hin, kam langsam näher und rief im Vorübergehen dem jungen Mädchen etwas zu. Sie verstand es nicht, aber Maurice sprang auf und war mit drei Schritten hinter dem Kerl her.

«Was habt Ihr da gesagt?» fragte er. «Sagt es noch einmal!» Er packte ihn am Arm. Der Mann lachte.

«Ich fragte nur, ob das Fräulein sich umhertreibe wie der Herr Bruder? Den kenne ich nämlich. Der weiss, dass ich weiss –» Höhnisch lachte der Umherstreicher. «Den hab' ich im Sack und brauche nur zu reden.»

«Lügner!» schrie Maurice. «Euch wird man gerade glauben.» Er packte den verlumpten Menschen fester.

«Lügner», schrie auch Tilly, die nun vor dem Mann stand. «Kommt zum Vater, kommt mit! Sagt, was Ihr zu sagen habt!» Aber da riss der Mann sich los und rannte weiter der Kapelle und dem Gasthaus zu.

«Wer war das? Weisst du, wer das ist? Kennst du den?» fragte Maurice.

Nochmals hörte man den Kerl rufen. Es war aber nur die Hälfte zu verstehen «... ins Kriminal ...» Alles andere war verweht.

«Was kann er meinen, Maurice? Was sagte er? Ins Kriminal? Was kann er von Pierre wissen?»

«Vielleicht nichts. Vielleicht mehr als wir. Der Lump, der strolcht ja auf allen Landstrassen, überall lungert er umher. Ich habe ihn schon oft gesehen. Ach was, von so einem Kerl wollen wir uns nicht den Abend verderben lassen. Was der sagt –»

«Weiss nicht. Es klang böse. Er hasst mich, weisst du, Maurice. Es ist der Vagabund, den ich damals, vor einem Jahr glaube ich, angehalten habe, als die Landjäger ihn verfolgten. Ja, der ist immer unterwegs. Er nächtigt in den Scheunen. Was meint er nur mit dem Kriminal? Das habe ich gut verstanden. Du nicht?»

«Doch, ich habe es gut verstanden. Aber das will rein nichts sagen. Das kann der auf dem Fleck erfunden haben. Dem Herrn Ratsherrn sagen wir aber nichts. Oder doch?»

«Kannst du denken», sagte sie. Darauf gingen sie weiter. Aber sie waren still geworden. Maurice fragte sich, was da wohl dahinter stecken könnte. Der Kerl schien seiner Sache sicher zu sein. Aber dann schüttelte er das widerwärtige Gefühl ab.

«Also morgen komme ich zu deinem Vater, ich fürchte mich nicht. Mag er toben. Schelten tut nicht weh. Ein schlechtes Gewissen brauche ich nicht zu haben. Du kannst ruhig sein, Tilly. Haut er zu, ich haue nicht zurück. Du weisst, ich fordere den lieben Gott nicht heraus. Er antwortet nämlich immer. Nicht gleich, manchmal lange nicht, aber einmal kommt das Unwetter über einen. Sie haben da oben andere Masse als wir Erdenwürmer. Es gibt ja Sterne, deren Schein sechzigtausend Jahre braucht, um bis zu uns zu gelangen. Ich glaube wenigstens, vielleicht sind's ein paar weniger. Tausend Jahre sind ihnen wie ein Tag, Tilly.»

«Da bleibt man lange jung», sagte sie und lachte.

«Also morgen abend um sechs Uhr. Willst du es ihm vorher sagen?» «Nein, ich sage nichts.»

«Und lass mich allein mit ihm, Tilly. Wenn er mich beschimpfen sollte, will ich nicht, dass du es hörst. Du sollst mich achten können, wenn wir Mann und Frau sein werden.»

«Ist Achtung denn so wichtig?» fragte Tilly. «Wen man achtet, fürchtet man. Die Mutter fürchtet den Vater.»

«Fürchtest du ihn?»

«Nein.»

«Da siehst du. Aber Respekt habe ich schon vor dem Ochsner, das ist wahr. Und ein wenig fürchte ich mich wegen der Heimlichkeiten. Darum bin ich froh, es ihm endlich sagen zu können.»

Beim runden, mächtigen Turm, den Mageli «Menschenfresserturm» nannte, trennten sie sich. Sie küssten sich schnell beim Abschied.

 

Tilly sass in ihrer Kammer versteckt, von der aus sie die Landstrasse bis hinunter zum Spital überblicken konnte. Es hatte sechs geschlagen, und jeden Augenblick konnte Maurice kommen. Ihr Herz klopfte, wenn sie nur daran dachte, um was es ging.

Gut konnte es eigentlich gar nicht ausgehen. Schlecht musste es ausgehen, aber wie? Ob der Vater Maurice einfach fortjagen würde, oder nein sagen, und sie danach einsperren oder fortschicken, so weit als möglich? In zehn Minuten, in fünf Minuten würde sie es wissen. Oder wenigstens in einer Viertelstunde, wenn es gnädig ablief.

Seit dem grossen Sterben im Stall war der Vater stiller geworden, das sagten alle. Und manchmal ein wenig nachgiebiger, seitdem der Pierre dagewesen war. Ein wenig, aber nicht viel milder. Gegen die Mutter freundlich, weil sie so traurig war, dass ihr Sohn, ihr Herzblatt, ihr ..., da kommt er.

Maurice kam mit gleichmässigen, langen und entschlossenen Schritten daher.

Ach, lieber Gott, lass' es gut ausgehen. Sie faltete die Hände, sie schloss die Augen, sie war das Bild all derer, die nur in Augenblicken der Angst überhaupt an Gott denken. Dagegen war es ihr sehr ernst, denn es ging um ihre Liebe. Als aber Maurice näher kam, stellte sie sich ans Fenster, bereit, ihm zuzuwinken. Er sah sie, lächelte ein wenig, aber rührte weder Hand noch Hut. Er ging, als sehe er sie nicht.

 

Aha, dachte sie. Dem ist's Ernst. Mir auch, aber er muss hinein zu ihm, und ich kann hier warten, ich habe es noch gut. Warten ist zwar auch nicht schön. Aber ... da läutete es, und die Haustür ging auf. Und nun ging die Stubentür, und jetzt, ach, lieber Gott, lass' es gut ausgehen ... wurde die Türe geschlossen.

Tilly schlich auf ihr Zimmer. Sie hörte unter sich Stimmen. Eine ganz starke, tiefe und eine andere, schöne, liebe Stimme. Sie begann ihre Kommode aufzuräumen. So zu stehen in der Mitte der Stube und reden zu hören und nicht zu wissen, wann der ... der Bergsturz ... das Gewitter losgehen werde, das war nicht auszuhalten. So räumte sie und leerte die Schubladen und schichtete, was darin gelegen, auf Tische und Stühle auf und machte Lärm, soviel es ihr möglich war, um nichts mehr zu hören.

Sie hätte ruhig unten hinter der Tür stehen können. Gleichmässig klangen die Stimmen. Einmal redete die tiefe, und das andere mal die höhere. Lang und kurz waren die Sätze. Ein leichtes Ansteigen war schon da, ein Sinken, kurze Pausen, einzelne Worte klangen wie Nein. Konnten aber auch Ja bedeuten. Was gibt es sonst an kurzen Worten? Auch äusserlich hätte man es nicht merken können, dass da unten der Ochsner sass und einen Kampf mit einem jungen Gegner führte, der ihm an Gewichtigkeit, an Erfahrung, an Macht nicht gewachsen war. Der aber eines besass, um es zu seinen Gunsten anzuführen: Die Liebe von Ochsners Tochter.

Als es geklopft hatte und Maurice Chèbres eingetreten war, schien dieser Besuch Hans-Peter unerhört und zugleich absonderlich, denn er hatte eben an den alten Chèbres gedacht, so dass er nun zuerst durchaus höflich Mauricens Gruss erwiderte. Er stand auf, setzte sich wieder und deutete auf einen Stuhl. Maurice legte seine Hand auf dessen Lehne, blieb aber stehen. Das wusste er, der Schlaue, dass man Ochsner besser aufrecht gegenüberstand als sitzend von ihm erdrückt wurde.

«Nun, Herr Chèbres junior, was haben Sie mir zu sagen?» begann zu Mauricens grösstem Erstaunen dieser Mann, der sein grösster Feind werden konnte, oder sein nächster Verwandter. Er nahm sich zusammen. Offenbar konnte man doch mit ihm reden.

«Vieles habe ich zu sagen», begann Maurice. «Und zu allererst das, dass mir Heimlichkeiten unangenehm und peinlich sind, und dass ich gekommen bin, sie zu beseitigen.»

«Sehr lobenswert», sagte Ochsner.

«Die Heimlichkeit zu beseitigen, nicht die Ursache», fügte Maurice hinzu.

«So ein paar Tänzen, die einer mit meiner Tochter tanzt, oder einem Spaziergang, oder einer Stunde Schlittschuhlaufen messe ich keine Wichtigkeit bei. Der Kiltgang ist ja hier im Welschland nicht Mode wie im Bernbiet. Da würde ich dann freilich ein Wort einzulegen haben.» Kühl und unbeteiligt hatte Ochsner gesprochen.

«Es handelt sich nicht darum. Sondern darum, Ihnen zu sagen – mitzuteilen ... oder ... kurz, um zu sagen, dass ich Tilly liebe und sie mich liebt.»

«So», sagte Ochsner. «Nun, sie ist ein hübsches Mädchen, sie gefällt manchem. Darüber wundere ich mich nicht.»

«Herr Ochsner, mir ist die Sache ernst. Wegen ein paar Küssen oder Tänzen wäre ich nicht zu Ihnen gekommen. Tilly und ich sind einig, das heisst, wir wünschen einander zu heiraten.»

«So. Zu heiraten? Und?»

«Ich bin gekommen, Sie um Ihre Zustimmung zu bitten. Tilly ist noch nicht mündig.» Das hätte er nicht sagen sollen. Aber so junge Leute wissen eben noch nicht, wo Hausväter und andere Männer ihre verwundbare Stelle haben. So hatte er denn genau gezielt und gut getroffen, ohne zu wissen, wie gut.

«Aha», sagte Ochsner. «Sie wollen andeuten, dass, wäre Tilly alt genug, Sie diese Erlaubnis gar nicht eingeholt hätten?» Maurice wurde rot. Er war aber tapfer. «Jawohl, das wollte ich andeuten. Aber nur in der äussersten Not.»

«Lieber junger Mann», sagte der Bauer. «Mag meine Tochter noch zu jung oder zu alt sein zum Heiraten, mag es das Gesetz erlauben oder nicht, danach frage ich nicht. Wenn ich nein sage, ist die Sache aus. Wenn ich ja sage, findet sie statt. Darauf kommt es an.»

«Tilly und ich werden heiraten nach ihrer Mündigkeit. Mit oder ohne Erlaubnis.»

«So, interessant zu hören. Wer sind Sie eigentlich? Oder was sind Sie? Oder vielmehr: Was haben Sie zu bieten?»

«Sie wissen es, Herr Ratsherr, aber ich sehe, dass Sie es auch hören wollen. Ich bin in meines Vaters Fabrik angestellt, so dass ich heiraten kann und meine Frau es nicht schlecht zu haben braucht. Ich bin Leutnant in der Armee, bin einziges Kind, habe von Grossmutter selig ein kleines, unangetastetes Erbe ... und ... glaube ich, man kann mir nichts Böses nachsagen.»

«Es klingt gut und mag auch gut sein. Aber eines haben Sie vergessen anzuführen, und genau das ist mir das Wichtigste von allem.»

«Was habe ich vergessen?»

«Dass Sie der Sohn von Herrn Charles Chèbres sind. Also meines Feindes Sohn. Mit diesem Wort ist unsere Unterredung beendet. Ich ersuche Sie, mein Haus zu verlassen.» Seelenruhig hatte Ochsner das für Maurice harte, granitene Wort gesagt. Dem schoss jäh das Blut in den Kopf.

«Nein, Herr Ochsner. So kann ich nicht gehen. Lassen Sie mich reden. Lassen Sie mich wenigstens meine Sache verteidigen ...»

«Verteidigen Sie also.»

«Erstens. Ich bin nicht mein Vater. Was er gesagt und getan, ist seine Sache, nicht die meine. Ich will nicht büssen für seine Schuld, wenn eine Schuld da ist. Und nun gar Tilly! Soll sie unglücklich werden?»

«Junger Mann, machen Sie sich nicht lächerlich. Tilly hat es gut. Tilly verlangt es nicht besser zu haben. Sie soll demnächst ein Jahr in der italienischen Schweiz zubringen. Sprachen kann man immer gebrauchen. Tilly bleibt bei mir. Im Hause Chèbres hat sie nichts zu suchen. Habe noch nichts davon gehört, dass dort ...»

«Herr Ochsner – ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter und Sie antworten mit Hohn und falsch angebrachten Scherzen.»

«Bitterer Ernst ist es. Tilly bleibt im Hause Ochsner und hat im Hause Chèbres nichts zu suchen. In das Haus meines Feindes geht sie nicht.»

«Doch, sie geht!» rief laut Maurice und schüttelte seinen Stuhl, dessen Lehne er noch mit der Hand festhielt. «Sie wird gehen, und sie geht gern.» Ochsner stand auf und ging zur Tür, öffnete sie und schrie laut nach Tilly. Wie grollendes Löwengebrüll klang es, so tief und drohend.

«So. Nun werden wir ja sehen. Ich habe durchaus nichts gegen Sie einzuwenden, Herr Chèbres junior. Aber in die Familie Chèbres heiratet meine Tochter nicht.»

Tilly kam, ganz blass vor Aufregung. Sie wagte nicht, Maurice anzusehen. Ihr Herz klopfte heftig. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte, sie, die sonst den Löwen zu kraulen sich nicht fürchtete.

«So, Tochter Tilly, ich will dich etwas fragen. Aber du musst dir die Antwort gut überlegen. Sie ist nämlich wichtig, wie es die Frage ist.» Er sah sie an, und sie sah zu Boden.

«Hast du die Absicht, in das Haus Chèbres zu heiraten?» «Ich will Maurice Chèbres heiraten, ja, natürlich.»

«So, und du weisst es, dass sein Vater und ich Feinde sind?» «Das ändert nichts an unserer Liebe, Vater.»

«So, so. Du bist fest entschlossen, den anwesenden jungen Mann zu heiraten?» Tillys Augen leuchteten auf. Die bleierne Ruhe des Vaters schien ihr echte, überlegte Ruhe zu sein.

«Ach ja, Vater, erlaube es doch. Ich liebe ihn sehr, und er liebt mich und ...»

«Hör auf! Ich habe gesagt, dass meine Tochter den Sohn Chèbres nicht heiraten wird, und es bleibt dabei. Ohne jeden Widerwillen gegen diesen jungen Mann sage ich noch einmal: Von einer Heirat zwischen euch beiden kann nie die Rede sein. Ich sitze niemals mit Chèbres an einer Hochzeitstafel.»

«Genau das gleiche sagt mein Vater auch», rief Maurice, der nun jede Vorsicht beiseite liess. Nun fuhr Ochsner auf.

«Hat er? Hat er das gesagt? Nun, er hat also doch Charakter ... hab' ihm keinen zugetraut.»

«Herr Ochsner!» rief Maurice. «Er ist so ehrenwert wie Sie, wer weiss – ob nicht ...»

«Ausreden, junger Mann, ausreden!»

«Gut. Er ist ehrenwert wie Sie, mindestens, Herr Ochsner.»

«Sie betreten mein Haus nie mehr, Maurice Chèbres. Nie mehr! Du, Tilly, fährst übermorgen hinunter nach Lugano. Und ich werde dafür sorgen, dass du dort bleibst.»

«Ich bleibe nicht, und ich heirate Maurice!» schrie Tilly, «und ich gehe fort, wenn du es nicht erlaubst, oder ich gehe ins Wasser. Ich liebe Maurice ...»

«Das glaube ich dir alles. Übermorgen fährst du nach Lugano. Das Haus verlässt du nicht bis dahin.» Tilly lief laut schluchzend hinaus.

Maurice Chèbres ging. Ochsner blieb allein zurück.

Die Glocke läutete zum Abendbrot. Der Bauer ging in das Nebenzimmer und setzte sich.

«Warum issest du nicht, Hans-Peter?» fragte Georgine.

«Ich esse. Und wenn ich nicht essen will, so esse ich nicht. Ich gehe meinen Weg, weil ich keinen anderen gehen kann.» Sie sah fast verstört auf. Was redet er da? Das hat ja keinen Sinn.

Ochsner nahm sich einen gehäuften Teller voll heraus und ass ihn leer, ohne ein Wort zu sagen. Das Gesinde schwieg. Sie fühlten es, dass heute nicht gut Kirschen essen war mit dem Meister. Was zum Kuckuck mochte vorgefallen sein?

«Du hast Besuch gehabt?» fragte die arglose Georgine. «Wer war denn da?» Sie bekam keine Antwort. Es kränkte sie, wenn ihr Mann sie vor den anderen nicht beachtete oder überging. Er wusste es.

«Es war ein Bekannter. Ich werde dir später erzählen, warum er kam.» Sie nickte und war zufrieden:

 

Ochsner überwand sich, ass wie die andern und fragte, wie immer, nach den Ställen, dem grossen Holzaufladen, das vor sich gegangen war und noch nicht beendet, nach der Fuhre von Mehlsäcken, die von der Mühle zurückgekommen waren, und dem kranken Fuss eines seiner Pferde. Kurz und genau wurde ihm geantwortet. Die Frage, die er zuletzt tat, wurde bejaht. «Ist alles gesund?» Freudig klang das Ja.

War Hans-Peter Ochsner ein strenger Meister, so war er auch ein gütiger Meister. Seine Leute kamen zu ihm, wenn sie ein Anliegen hatten. Sie kamen um Rat, sie kamen um Hilfe. Ein zorniges Wort zählte bei ihnen nicht. Bei Tadel duckten sie sich und freuten sich eines gelegentlichen Lobes, das er nie vergass. Menschlich standen sie einander nahe. Auf dem Ochsnerhof gab es wohl solche, die schimpften, doch keine, die sich auflehnten.

Meister und Meisterin gingen hinaus, früher als sonst. Die anderen sassen noch zusammen wie alle Tage.

«Warum die Tilly wohl nicht mitgegessen hat?» fragten sich die Mägde. Die Knechte machten sich darüber keine Gedanken. Die Hoftochter war oft fort. «Ja», sagte die Stallmagd, «aber sie war ja daheim, noch eine halbe Stunde vor dem Essen. Und da kam der junge Chèbres und sprach in der schönen Stube mit dem Meister, und darnach ging der Besuch wieder.»

«Da wird es eine Hochzeit geben», meinte die Milchmagd. «Man munkelt schon lange allerhand, und gesehen hat man sie auch schon zusammen.»

«Grad gut Freund sind der Meister und der Chèbres nicht. Die sollen sich ja in offener Ratsversammlung wüst gesagt haben, dass es eine Art hatte.»

«Darum können die Jungen doch heiraten. Was gehen die Alten sie an?» meinte Dieter. «Aber wenn unser Meister es nicht will, so können sie nie dagegen an. Das ist ein Harter. Kein Käsekopf, der weich wird, wenn man ihm eins mit der Faust draufgibt.»

«Ach, was weisst du», sagte Stini. «Du weisst immer alles.»

«Und besser als du», gab Dieter zurück. Darauf gingen sie auseinander.

 

Tilly sass oben am Fenster und warf ihr nassgeweintes Taschentuch in den Wäschesack im Nebenkämmerchen. Sie nahm ein zweites, und es erging ihm wie dem ersten. Dann aber hatte sie genug, und der Wind begann von der Nordseite her zu wehen, und «nein» und «nein» und «nein» schneite es in grossen Flocken über die Blumen ihrer Liebe. Tilly wurde hart und nahm sich vor, nicht nachzugeben, möge es gehen wie es wolle.

Verhöhnt hatte der Vater den Maurice, für einen kleinen Buben genommen, der schön gehorcht. Nein, und nein, und nein, und nun erst recht, mit welchem Recht ... und wenn er ein Vater wäre wie andere ... und: Nur an sich denkt er, wie immer ... Und: Was braucht er den Chèbres zu hassen, dass ich dessen Sohn nicht liebhaben darf?

Und endlich: Ich laufe fort. Aber dann verzog sich das Wetter, und das arme Ding besann sich.

Ehe ich endgültig gehe, will ich erst noch zur Gotte Monika hinauf, dachte sie. Ich muss es ihr sagen. Ich muss sie fragen, was sie meint. Gleich gehe ich. Sie sind unten noch am Essen. Und schon hatte sie den hübschen Samtkragen, den der Vater ihr vorige Woche gebracht hatte, um die Schultern gelegt. Sie ging hinten herum, lief links die Wiese hinauf, landete bei der Eiche und kam von dort zum Weissen Haus.

Wenn nur der Herr Laurent nicht da ist, dachte sie, während sie den altbekannten Weg ging. Aber er ist ja so viel fort, er wird nicht gerade zu Hause sein. Nein, er war nicht zu Hause. Tilly lief auf Monika zu, die im Erker sass und stickte.

«Was ist geschehen, Kind?»

«Gotte Monika, der Maurice ist beim Vater gewesen und hat ihm gesagt, dass wir uns heiraten wollen. Der Vater hat ihn verhöhnt und ihm das Haus verboten, und übermorgen muss ich fort nach Lugano, in eine Pension. Das ist geschehen. Und ich wollte zu dir kommen und dich fragen, was ich tun soll. Ich habe es dir ja schon gesagt, früher, weisst du.»

«Ja, ich weiss. Erstens, da ist Schokolade, nimm dir ein paar von den Dingern, sie schmecken gut.»

«Ach, Gotte, Schokolade, jetzt!»

«Iss nur, man muss sich helfen, mit dem Kleinen und mit dem Grossen. Also nun, steht es so schlimm? War dein Maurice – wie soll ich sagen – hat er sich dem Vater gegenüber anständig benommen?»

«Anständig? Wundervoll! Der Vater hat ihn gehöhnt ... nur zuletzt hat Maurice sich gewehrt, als mein Vater seinen Vater angriff. Da hat er gesagt, der sei ebenso wertvoll, oder so etwas, wie der Ratsherr Ochsner.» Monika verzog ganz leicht den Mund.

«Das war natürlich ein schlimmes Wort von einem Freier. Aber ich kann's mir denken, wie ihn der grosse Ochsner heruntergemacht hat. Ja, und was wurde endgültig beschlossen?»

«Dass nie etwas daraus werden könne, und dass ich übermorgen fort müsse. Italienisch lernen.»

«So», sagte Monika. «Es wird ja nicht immer bis ans Ende gelaufen. Der Vater – nein, ich glaube es selbst nicht, er wird nichts zurücknehmen. Und du? Was denkst du dir in deinem hübschen Köpflein?»

«Ich gehe auf alle Fälle. Ich bleibe nicht daheim. Das halte ich nicht aus.»

«Dann tue, wie der Vater sagt. Fahre nach Lugano. Es ist sehr schön dort, du lernst eine Sprache deines Vaterlandes kennen und wirst langsam so alt, wie du es brauchst, um eine Ehe ohne Elternerlaubnis eingehen zu können.»

«Das sagst du immer, Gotte Monika. Und an die Verliebtheit denkst du nicht?»

«Doch, ich denke daran. Im Gegenteil. Ich denke sehr daran. Aber die darf nicht ausschlaggebend sein, da steht zuviel auf dem Spiel. Krieg zwischen dir und den Eltern, zwischen Maurice und deinen Eltern, zwischen den Seinen wie du sagst, ist ein unmögliches Ding. Und dann die wirtschaftliche Seite, wenn die Eltern nicht helfen? Wie denkst du dir das? Du bist reichlich verwöhnt.»

«Maurice verdient genug. Wir können uns selbst helfen.»

«Ach, du redest! Du weisst gar nicht, was auch der kleinste Haushalt kostet. Bei euch unten spart ja niemand. Ihr schöpft aus dem vollen. Das ganze Haus steht auf goldenem Boden. Verstehst du nicht? Aber zwei so unerfahrene Leutlein ... wart' mit Fortlaufen, Tilly, lass' den Vater jetzt machen. Sei ihm nicht so zuwider, tue nach seinem Willen. Es wird dein Vorteil sein. Dann gibt er nach.»

«Immer hat der Vater recht, und nie hat die Tochter recht ...»

«Er hat nicht recht. Gar nicht. Aber er hat die Gewalt. Der gegenüber muss man klug sein. Geh du ins Tessinerland. Du wirst sehen, er holt dich selbst wieder heim. Er hat ja doch Heimweh nach dir. Bedenke! Stell dich an seinen Platz. Du bist seine kostbare Tochter, dich will er nicht billig hergeben ... dich gönnt er nur seinen Freunden, dem Besten unter ihnen. Warte. Es kann ganz anders und gut herauskommen. Die beiden versöhnen sich vielleicht.»

«O je», warf Tilly dazwischen.

«Kurz, tue nichts. Mache keine Dummheiten. Du verlierst auf alle Fälle, wenn du dich dem Vater entgegenstemmst. In Wahrheit kannst du ohne ihn gar nichts machen. Geh übermorgen ruhig mit ihm nach dem Tessin. Ich nehme an, er gehe mit.» Sie hielt Tilly wieder die schöne Schachtel mit der Schokolade hin. «Nimm, Liebes, nimm! Es sind solche mit Datteln dabei.»

«Glaubst du wirklich, Gotte, dass es besser ist, wenn ich jetzt nachgebe? Du kennst vielleicht Vater nicht? Er kann nicht zurück, wenn er etwas gesagt hat. Er meint, er könne nur seinen Weg gehen. Genau so geht's mir auch.»

«Ach, so ein junges Schädelchen kann sich ändern. Wenn man es will, werden sie nicht hart. Und dann weiss der junge Mensch nicht immer, wo sein Weg ist. Sonst würden sich nicht so viele verirren.»

«Alte verirren sich auch, trotz dem eigenen Weg!» Monika lachte.

«Schon, aber sie merken es gleich. Und kehren um.»

«Gotte Monika, ich will warten, bis mein Ochsner umkehrt.»

«Du kommst nun zuerst dran, Tilly, ans Umkehren. Geht es dann gar nicht, so sehen wir weiter. Also versprochen? Du gehst morgen, nein übermorgen schön nach Lugano? Weisst du, umherlaufen hier nach deinem Belieben lässt dich der Vater doch nicht. Von deinem Maurice wirst du wenig haben.» Das sah Tilly ein. «Aber du schreibst mir, Gotte Monika?»

«Ganz gewiss. Und die Schokolade nimm mit, Tilly.» Monika küsste das Mädchen. Sie würde es sehr vermissen, versicherte sie ihm. Tilly ging leichteren Herzens heim und wollte eben die Treppe leise hinaufschleichen, als die Tür unten aufging und der Vater dastand. Er hatte offenbar auf sie gewartet.

«Du machst dich also fertig für übermorgen?» Er fragte ruhig, nicht unfreundlich. Seine Augen hielten die seiner Tochter im Bann.

«Ja, ich mache mich fertig.» Sie ging nun langsam die Treppe hinauf.

«Die Mutter wird keine Freude daran haben, dass ich fort muss!» rief sie über die Achsel hinunter. Sie wusste, dass sie den Vater damit traf.

Hans-Peter, mochte er Georgine betrüben, mochte er widersprechen, mochte er sich über sie ärgern und es sie merken lassen, traurig durfte sie nicht sein. Das vertrug er nicht.

Das beunruhigte ihn. Er trug dann gleichsam eine Schuld als Last mit sich herum. Er hätte es gern gehabt, wenn sie gelacht hätte, je trauriger sie war. Aber diesen Gefallen hatte sie ihm, die ihm sonst alles zuliebe tat, nie tun können. Das ging über ihre Kräfte.

 

Am nächsten Morgen hielt Ochsner seine Tochter wiederum an, als sie mit einem Arm voll Wäsche an ihm vorüberging.

«Ich habe mich nach einer angemessenen Pension erkundigt und guten Bescheid erhalten. Eine gebildete Familie nimmt vier junge Mädchen bei sich auf, nicht mehr. Ein Platz war noch frei. Ich habe ihn sofort besetzt. Ein Lehrer kommt ins Haus für Italienisch und Französisch. Deutsch versteht er nicht. Ihr habt also schöne Gelegenheit, beide Sprachen neu oder fertig zu lernen. Scharfe Aufsicht ist zugesichert. Tanzstunden in kleinem Kreis. Familienleben. Dem Desmoulin seine Tochter war während zwei Jahren gern dort.» Das alles erzählte Ochsner so beiläufig. Tilly zuckte gleichgültig die Achseln.

 

Hans-Peter Ochsner und seine Tochter stiegen in Basel in den Zug ein, der nach Lugano fährt. Einen ansehnlichen Korb mit allerlei Schmackhaftem hatte er für die Reise eingekauft. Ein Köfferchen mit heimischen Äpfeln, sorglich verpackt, hatte Georgine mitgegeben. Schokolade von Frau Monika und eine grosse Büchse mit Quittenmus wurden extra per Post hinuntergeschickt; letzteres ein Geschenk von Isolina. Aber alles das, auch die zufriedene Stirne des Vaters, vermochte Tilly nicht aufzuheitern.

Ochsner sass da und tat sehr selbstbewusst, sehr forsch, wie ein Mann sich geben muss, wenn er erreicht hat, was er will, insgeheim aber unsicher ist, ob er recht getan hat oder nicht. Dieses unangenehme Gefühl, das ihn früher nie gestört, machte sich aufdringlich bemerkbar. Ein Schwanken, das Hans-Peter durchaus neu war, beunruhigte ihn. Mit welcher Sicherheit hatte er seinerzeit dem Präsidenten geantwortet, als der ihm sozusagen die Leviten lesen wollte wegen Pierre! Etwas in Ochsner duckte sich, wenn man vom Sohne sprach. Eine der Säulen, die sein Selbstbewusstsein gehalten, hatte einen Sprung. Sein Stolz hatte Risse aufzuweisen.

Schuld? Welche Schuld? Wollte Gott ihn für den Tod der neunzehn Tiere etwa verantwortlich machen? Hätte er, Ochsner, vielleicht Pierres Charakter ändern können? Nie hätte er ihn Lehrer werden lassen, wäre er als junger Bursche schon so gewesen, wie er sich jetzt zeigte.

Und nun dieser Chèbres, Charles Chèbres, jünger als er, eingewandert, erst seit zwanzig Jahren im Jura ansässig, weniger gewichtig, weniger mächtig als er, was hatte er sich im Rat ihm entgegenzustellen? Das hatte bis heute nur die Mehrzahl als solche gewagt, und der Mehrzahl hatte er sich willig gefügt. Aber ein Einzelner, einer, der ihm einfach Steine in den Weg warf bei einer guten Sache, so einer sollte ihm kommen? Weder im Rat noch in seinem Hause sollte er Meister werden.

Bei jedem der unzähligen Tunnels hörte Ochsner mit Grübeln auf. Wurde es hell, ging es weiter mit Nachdenken. Er ärgerte sich über die Unmöglichkeit, seinen Gedankenfaden ungestört abspulen zu können. Er ärgerte sich, dass er die schöne Landschaft so in Stücke gerissen geniessen musste. Er sah, dass gegenüber ein Fenster geöffnet worden war, wodurch starker Durchzug und ein pfeifendes Geräusch entstand. Er musste sich Luft machen.

«Das Fenster dort muss geschlossen werden!» befahl er, als es wieder einmal hell geworden war.

«Es steht Ihnen frei, es zu schliessen», hörte man eine Männerstimme antworten, begleitet von bescheidenem Gelächter. Mit gerunzelter Stirne ging Ochsner, schloss das Fenster und setzte sich grollend an seinen Platz. Er schaute hinaus, sah aber doch, dass Tillys Augen von verhaltenen Tränen glitzerten.

«Du wirst sehen, dass es dir dort unten gefallen wird», sagte er mit einer um vieles milderen Stimme. Tilly sagte weder ja noch nein, sie schüttelte nicht den Kopf, und sie nickte nicht. Sie dachte an Maurice und gab sich Mühe, nicht vor den vielen Leuten zu weinen.

«Hast du auch genug Geld?» fragte plötzlich Ochsner. «Lieber gebe ich dir gleich genug, so dass du nicht alle Augenblicke darum schreiben musst.» Er holte seine Brieftasche heraus und gab Tilly eine hübsche Summe. Warum ich ihnen immer Geld schenke, wenn etwas zwischen uns steht, fragt er sich.

Tilly dankte kurz und mit schmerzbelegter Stimme. Das Geld behalte ich aber für mich, dachte sie. Das gebe ich nicht aus. Das wird der Anfang. Das will ich für meine Aussteuer beiseitelegen, alles das dachte sie. Ich werde es gar nicht gebrauchen. Beinahe hätte sie es laut gesagt. Und ganz innen, wo die festen Gedanken zu Nebel werden und von den eigenen Ohren nicht mehr gehört werden dürfen und man nicht verantwortlich ist, fügte sie hinzu: Dir zuleide, du Böser! Womit sie Vater Ochsner meinte.

Die Räder ratterten. Hans-Peter las die Zeitung. Tilly zählte die Tunnels und war bereits – wenn sie sich nicht verzählt hatte – beim fünfundvierzigsten angekommen, als man in den Bahnhof von Lugano einfuhr.

«Dienstmann!» rief Ochsner herrisch. «Omnibus!» rief er kurz einen Augenblick nachher. «Parkhotel», befahl er dem Chauffeur, der dienstfertig gesprungen kam. «Zwei Zimmer mit Bad», bestellte er im Gasthaus. Tilly wunderte sich, warum der Vater alle seine Befehle so schroff gestellt hatte, gegen seine Art und Weise. Sie wusste nicht, wie tief das Quecksilber von Ochsners Selbstbewusstsein in jüngster Zeit gesunken war. Er wusste es selbst nicht. Daher die lauten Trompetentöne.

Tilly sass in ihrem schön blau gestrichenen Zimmer, worin noch ein leiser Duft an die Vorgängerin erinnerte, und verfasste ihren ersten Liebesbrief. Sie machte es kurz. Sogar sehr kurz. Sie gab ihre Adresse. Sie nannte ihren Vater einen Gefängniswärter. Sie behauptete, dass eher der San Salvatore im See von Lugano versinken würde, als dass sie von Maurice liesse.

«Uns trennt niemand», lautete die letzte Zeile. Von papierenen Küssen sagte sie nichts, denn von denen hielt sie wenig. Ihr machten Tatsachen Eindruck. Zum Schluss erzählte sie, dass der Vater sie reichlich mit Geld versehen habe. «Eckstein unseres künftigen Hauses», nannte sie die Scheine.

«Im Grunde möchte mein Ochsner gern Friede machen. Aber dazu braucht es zwei.» Und dann machte sie einen Punkt.

Darauf ging sie zu Bett. Im Nebenzimmer spasste und lachte ein Ehe- oder Liebespaar, und Tilly musste sich sehr über sie ärgern. Darauf weinte sie, und dann schlief sie ein.

Am nächsten Morgen begleitete Ochsner Tilly in die fragliche Pension. Der Eindruck war gut. Die Besitzerin sah nicht allzustreng aus. Der Stundenplan war dünn besetzt, das Essen gut, wie meist im Tessin, wenn man sich an die Ortsgerichte hält, und der See lachte herauf zum Haus, das auf einem Hügel über der Stadt lag.

Tilly wurde etwas leichter zumut. Der Abschied vom Vater wickelte sich rasch und ohne übertriebene Gefühle ab.

«Du sollst es gut haben hier, Tilly», sagte Ochsner. Gut, dachte sie, gut! Und dabei nimmt er mir Maurice.

«Grüsse die Mutter und Frau Monika.» Tilly hielt ihre Hand nicht hin, der Vater liess die seine fallen. Aber sie blieb stehen, bis der Zug aus dem Bahnhof verschwunden war.

Es wird still sein im Haus ohne sie, dachte der heimfahrende Ochsner. Aber es musste sein. –

 

Tomas Laurent hatte sich an sein Doppelleben gewöhnt, nachdem sein Gewissen beruhigt und mit allen Mitteln eingeschläfert worden war. Im Weissen Haus war das natürlich weniger leicht als in der Stadt.

Dort stand, wenn er kam, Dagmar unter der Tür in ihrem weissen Hauskleid, das bis auf die seidenen Schuhe fiel. Im Haar trug sie einen schmalen, silbernen Reifen, der Gürtel war mit Silberperlen bestickt und die weiten Ärmel fielen, wenn sie die Arme um Tomas' Hals schlang, zurück.

Je öfter sie getrennt waren, je mehr liebten sie sich. Je öfter sie sich wiedersahen, je unzerstörbarer, grösser wurde ihre Liebe.

Dagmar nahm Tom an der Hand und führte ihn zu dem Kleinen, der auf einem Teppich sass und spielte. Er war schon zwei Jahre alt. Ein entzückendes Kind, rosig und schwarzhaarig. Laurent wurde still vor Glück, wenn er es sah. Das Kind stand auf, packte sein Bein und kletterte mit einiger Hilfe an ihm hinauf. Dort hielt der Kleine den Vater an beiden Ohren und küsste ihn mitten ins Gesicht. Und dann gab es ein grosses Gelächter. Und darauf kam eine Mahlzeit zu dreien. Und nach einem kurzen Schlaf des Kindes gab es eine Ausfahrt. Und bei diesen Fahrten mit dem herzigen Kind und der geliebten Frau war Tomas vollkommen glücklich. Nicht einmal der Wunsch nach ewiger Dauer seiner und Dagmars Gefühle wurde wach. Als seien sie in einem unzerstörbaren Glücksgespinst eingehüllt, so war ihnen zumute. Das Kind, das Kind! Tomas hatte ein Kind.

Kam er des Abends heim, so erwartete ihn wiederum eine Frau, die freudig unter dem grossen Tor stand und ihn liebevoll begrüsste, und schön aussah in ihrem schwarzen Spitzenkleid und der langen goldenen Kette, mit der sie zu spielen liebte. Und Tomas fühlte sich zufrieden daheim und erzählte von allem, was seine Tagesarbeit betraf, von seinen Aussichten und den neuen Filialen, die an drei Orten der Schweiz gebildet wurden. Aufmerksam und verständnisvoll hörte Monika zu.

Nur die süsse Stimme eines Kindes hörte man nicht, und keine trippelnden Füsse. Alles blieb still. Es gab oft lange Pausen.

Monika wurde bedrückt, sie wusste nicht warum, und Tomas' Gewissen schärfte den Stahl und stand bereit. Der ungetreue Mann begann dann Fragen zu stellen. Mit Fragen betäubte er es. Mit Geschenken an Monika übertölpelte er es, und mit allerfreundlichsten Worten schläferte er es ein.

Aber nie, keinen Augenblick mehr konnte er sich daheim glücklich fühlen. Heuchler, Verräter, schalt er sich in besonders trüben Stunden. Und diese Wolke senkte sich auch auf Monika und nahm Tomas die Freude an ihr, der treuen Freundin, und oft und öfters stieg der Wunsch in ihm auf, sie meiden zu dürfen. Dagegen wehrte er sich aber mit der ganzen Kraft seiner Seele, denn, das wusste er, dann würde es mit seiner Ruhe und vielleicht mit seinem Glück überhaupt zu Ende sein. Wenn er ihr doch alles sagen dürfte? Wenn er doch wahr sein dürfte und die Fesseln, mit denen ihn sein Gewissen einschnürte, abstreifen könnte.

Er hatte zu büssen für sein Glück, der Tomas Laurent. Er nahm es nicht leicht. Mit einem befreienden Atemzug fuhr er aber des Morgens fort. Das Weisse Haus wurde ihm langsam zum Gefängnis.

 

Monika erzählte beim Frühstück vom Zusammenstoss zwischen Ochsner und Maurice Chèbres. Ob es eigentlich richtig sei, dass sie dem Mädchen helfe? Sie tue es aber nur, um sie von Unbesonnenheiten abzuhalten. Heute sei der Vater mit ihr nach Lugano gefahren in eine Pension.

«Damit will er ihr helfen?» fragte Tomas. «Ja, was soll eigentlich aus dem allem werden? Was will der Ochsner?»

«Dass Tilly ihren Maurice aufgebe. Aber du kennst sie ja, ganz abgesehen davon, dass sie den jungen Menschen liebt. Und er sie.»

«Ochsner ist ein Esel. Du sollst sehen, Monika, die Sache geht nicht gut aus.»

«Ach, Tomas, das habe ich ja selbst befürchtet. Ich habe ihr auch sehr zugeredet, sich zu fügen und hinunterzufahren in das Tessin. Wenigstens sind die zwei so nicht beisammen. Inzwischen besinnt sich der Ochsner vielleicht.» Laurent nickte.

«Mag's gehen wie es will, ich stehe zu ihr», sagte Monika. «Da hast du doch nichts dagegen einzuwenden? Ich nähme sie gerne zu mir. Sie ist ein wildes Kind, und manchmal ein störrisches. Aber ein liebes und anhängliches Ding. Und geschickt ist sie. Das ganze grosse Beet unten, das mit den Himbeeren, hat sie mir für nächstes Frühjahr in Ordnung gebracht. Sie versteht recht viel von Blumen, Bäumen, Hühnern und anderem. Aber der Bauer gibt sie nicht dem Chèbres. Vielleicht ist die ganze Trotzgeschichte nur väterliche Eifersucht.» Tomas lachte.

«Du bist ja der reinste Psychologe, Moni. Aber ich muss gehen. Es ist ja längst Zeit. Und richtig, heute abend komme ich nicht nach Hause. Wir fahren zu den Filialen.»

«Ach, wie schade. Schon wieder? Wir wollten doch weiterlesen.»

«Liebe, mache es mir nicht schwer.» Sie schüttelte den Kopf.

Den ganzen nächsten Tag vergass er den Ausdruck ihrer Augen nicht. Es ist etwas nicht in Ordnung bei dem allem, dachte er. Etwas ist nicht richtig. Dass man sich vorkommt wie ein Schuft, ist eigentlich unverdient, ist falsch. Dass man sich schämen muss, wenn man liebt, ist falsch. Dass man sich betrügen lassen muss und selbst betrügt, falsch, falsch das alles. Es ist schauderhaft, zu betrügen. Es trägt seine Strafe in sich. Einen Menschen wie die Monika zu betrügen! Aber was kann ich tun? Wie helfe ich ihr und mir und uns? Natürlich, das einfache wäre, auseinanderzugehen. Zu verzichten. Aber dass zwei glücklich werden und bleiben, und eine unglücklich, und gerade wiederum die Unschuldige, ist ebenso falsch. Das Rad stand nicht still. Es rollte weiter. Du sollst nicht ehebrechen. Natürlich sollst du nicht. Aber warum schuf der Gott, der dieses Gesetz meisselte, die Liebe so vielfarbig? Hätte er uns Tiere bleiben lassen, alles wäre einfach.

Es ist auch Schuld dabei, ich weiss es. Aber schuldig bin ich allein, das weiss ich auch. Wie kam ich zu der Schuld? Wer nimmt sie von mir? Alles ist doch schön und beglückt mich, also ist auch meine Schuld schön. Er fuhr mit gedankenloser Geschwindigkeit nach Roche. Des Abends kam er unerwartet heim. Monika freute sich. Aber es wurde ein stiller Abend. Tomas rauchte. Sie blieb mit ihm auf bis beinahe um zwölf Uhr. Sie war müde, denn sie hatte viel im Garten gearbeitet. Auch er war müde.

 

Die Tage flogen. Georgine und Ochsner gingen ohne Kinder dem Winter, der für Landleute ohnehin keine besondere Freude ist, entgegen.

Wege, die man kaum begehen kann, Tage, die nur halb so lang sind wie die gekrönten Sommertage, Tage der Dunkelheit, der Einsamkeit, der Langeweile, wenn jede Arbeit im Freien sich verbot. Unerfreuliche Zeiten.

Ochsner hatte vorläufig genug zu tun mit seinem Holzhandel. Er liess schlagen, sägen, messen und zur Bahn fahren, ging den Geschäften nach und sah Stadt und Menschen. Nicht, dass er ihnen besonders viel nachfragte. Wer kannte den Ochsner in der grossen Stadt? Wer kümmerte sich um ihn? Und wenn, was wollte das sagen?

Grausam nagte die Enttäuschung, die ihm Pierre verursacht hatte, an ihm. Das war nichts Vorübergehendes. Das war Ewiges, das ihm da verlorenging. Ihre Werke folgen ihnen nach ... er hatte das Wort immer persönlich aufgefasst. Hatte seine Arbeit darunter verstanden, und das Gute, das man den Nachkommen hatte einpflanzen können. Denn was, das Ewigkeitswert hatte, hinterliess er sonst?

An den dunklen Winterabenden überfiel ihn sein verunglücktes Zukunftsbauen ganz besonders heftig. Georgine mit hineinzuziehen vermied er. Kleine Enttäuschungen verstand und teilte sie. Die grossen vermochte sie nicht zu erfassen. Sie merkte, dass etwas Hans-Peter plagte, denn er war noch schweigsamer geworden. Von Pierre redete er nie, und das tat ihr weh.

Das Haus ohne Kinder, ohne Lachen und ohne gernvernommene Schritte, die kamen und gingen, war meist wie ausgestorben, wie ein verlassenes Schiff. Eines oder das andere der Ochsnerleute holte Isolinas Kinder für ein paar Stunden, und geduldig hörte Hans-Peter das Toben und lachende Gekreisch an. Georgine aber holte Honig aus dem Keller und strich den beiden grosse Butterbrote.

Das half für kurze Zeit, doch um so stiller und um so leerer war die Stube nachher. Jedesmal, wenn die Kinder kamen, wollten sie die «schönen Sachen» anschauen, und man musste den alten Ochsnerschrank aufschliessen, und alles das glitzernde Zeug herausholen und es ihnen überlassen. Sie hingen sich die ehrwürdigen Ketten um den Hals, legten goldene Spangen um die dünnen Kinderärmchen und hingen Ohrringe, die zweihundert Jahre alt waren, unbesorgt um die Ohrmuscheln, an Fäden, die sie dem Arbeitstisch der Tante Georgine entnommen hatten. So geschmückt, spielten sie das Christkind oder den Sankt Nikolaus, die beide ja mit Herrlichkeiten nur so um sich werfen konnten. Es war höchst unterhaltsam, ihnen zuzuhören, denn das dreisprachige Kauderwelsch der Mutter hatte auf die Kinder abgefärbt.

Ja, so stand es nun im Ochsnerhaus: Pierre fort, Tilly fort. Muss das sein? fragte sich Georgine.

Pierre fort, Tilly fort, dass ich so etwas erleben muss, ging es Hans-Peter durch Kopf und Herz. Er spürte es, der Vater, dass es da nicht nur um vorübergehenden Unmut oder um Gehorsam und Ungehorsam ging. Er wusste es, dass er beide Kinder verlieren würde, den Sohn so, die Tochter so. Er sah sie oft wie in weite Ferne verschwinden, wie Nebelgestalten, ohne Farbe und ohne Stimme.

War denn die Welt anders geworden? Dachten und fühlten die Menschen anders als früher? Galt nicht mehr, was früher gegolten hatte? Waren Gottes Gebote ausgewischt, und der Eltern Wille leerer Schall geworden? Habe ich je gefragt, ob die Chèbres Geld haben? Nein. Aber mit seinem Feind zusammengeschweisst zu werden – Feind aus Überzeugung –, das konnte nicht gut ausgehen. Eine derartige Last auf sich zu nehmen war er nicht gewillt. So rechtete Ochsner mit sich und der Welt.

Das geschah ihm nun oft zu seinem eigenen Erstaunen. Und überhaupt: Sollen die Eltern nachgeben? Weiss so ein blutjunges Ding etwas vom Leben, vom Manne, vom Schicksal? Von der Verliebtheit, dieser verfluchten Mausefalle, von der wissen sie, und riechen den Speck auf Meilen. Aber nachher? Um das Nachher kümmern sie sich nicht.

Ein verliebtes, widerspenstiges Mädchen – ein fauler, energieloser Sohn. Hans-Peter Ochsner, man kann dir Glück wünschen zu deinen Kindern. Er wurde gestört. Man brachte einen Brief vom Direktor der Mädchenschule. Er enthielt die erfreuliche Nachricht, dass Pierre Ochsner sich nur zu melden habe, um die freigewordene Klasse im Frühling oder Sommer übernehmen zu können. Man erwarte von ihm, dass er seine Doktorprüfung bestehen werde, um dann seinen Antrittsbesuch zu machen. Durchaus notwendig sei dieser Titel nicht, doch willkommen. Eine bestimmte Vorschrift sei nicht gegeben.

Hoffnung! Hoffnung! Warme Genugtuung erstand in Ochsner ob der neuauflebenden Aussicht, und rauschender Zorn flammte zugleich auf im Gedanken an Pierres Weigerung, sich weiterzubilden. Die Stellung war da, wartete, und der Nichtsnutz verlachte sie; wollte bleiben, wo er war. Wie ein angeschossener Eber lief Ochsner in der weiten Stube umher. Was sollte er zuerst in die Hände nehmen, was zuerst beginnen? Mit dem Sohn sprechen? Zu dem Präsidenten gehen und ihm danken? Ihm gestehen, was er von Pierre wusste, betonen, dass er ihn nicht für fähig halte, diese Stellung auszufüllen? Nicht um des Wissens willen. Am Wissen war nichts zu mäkeln, das genügte weithin, aber des schwächlichen Charakters willen und der gleich dem Unkraut unausrottbaren Trägheit, dieses am tiefsten sitzenden Übels.

Nein, so weit konnte noch wollte Ochsner sich nicht demütigen. Vielleicht hatte sich Pierre anders besonnen. Vielleicht lockte ihn eine ehrenvolle Lebensstellung, vielleicht begriff er doch noch, welch ein Unterschied bestand zwischen einem Lehrer, der in einem winzigen Dorf zu verfaulen vorzog, und einem, der den Kopf hoch trägt und dem jeder Aufstieg möglich wäre.

Ochsner brauste es im Kopf, und er fasste neue Zuversicht. Vielleicht war es noch Zeit. Er wollte hin zum Sohn, wollte noch einmal mit ihm reden. Als Freund, als Vater, einfach als Mensch mit Erfahrung, der das Beste wollte. Er stürmte hinüber ins Wohnzimmer, wo Georgine an ihrem Platz sass, eine grosse, grünglasierte Schüssel zwischen den Knien hielt und einen Kuchenteig rührte. Sie sang vor sich hin und passte ihren Gesang dem Rhythmus des Rührens an, einmal anhaltend, einmal vordrängend, wie es eben kam, auch leiser oder lauter, je nachdem sie sich anstrengen musste. Der verstümmelte Singsang lächerte Hans-Peter sehr. Er lachte laut, und Georgine sah erstaunt auf.

«Ich höre dich so gern lachen, Hans-Peter», sagte sie. Da entschloss sich Ochsner, seine Wirrsal für sich zu behalten und zu schweigen. Er wollte ihr die Heiterkeit nicht nehmen. Den Besuch beim Sohn schob er auf.

 

Tilly hatte sich in Lugano eingelebt. Sie nahm italienische Stunden und hatte wenig Mühe damit, denn, wie der Bruder, war sie sprachbegabt und hatte ein gutes Gedächtnis. Gern lernte sie nicht. Sie hatte den Kopf anderswo. Es wäre wohl das erstemal gewesen, dass ein Mädchen, das man von seinem Liebsten getrennt hatte, sich durch fremde Sprachen hätte trösten lassen.

Sie hatte Heimweh, und Heimweh hat nur eine Farbe. Sie ist und bleibt grau. Tilly weinte oft des Abends und noch öfters am Morgen, denn da sah sie den blauseidenen See und malte sich aus, wie schön es wäre, mit Maurice über die weiche Fläche zu segeln.

Das Heimweh wuchs ins Ungemessene, und Tilly meinte, es nun nicht länger aushalten zu können. Es war kalt, und es windete, und über den See flogen verdächtig grosse Wolken.

Eines Morgens sass sie vor ihrer französisch-italienischen Grammatik und suchte das Wort «unmöglich» im Wörterbuch, als die Haustochter hereinkam und ihr ein Telegramm überreichte. Tilly erschrak und sagte laut: «Maurice ist tot!» Endlich zerriss sie den Umschlag mit bebenden Händen. Es hiess da: «Bin Freitag bis Montag Lugano. Ankunft 2 Uhr 20 Bahnhof. Tausend Grüsse M.»

Das Telegramm flog flatternd zu Boden. Starr vor Freude stand Tilly, und ihr erster Gedanke umkreiste die Frage, wie sie es anstellen müsse, den ganzen Tag ungestört mit Maurice zusammensein zu können. Gleich stellte sich eine geschickte Ausrede ein: Der Zahnarzt. Sofort begab sie sich ans Telephon. Es hing neben der offenen Küchentür, hinter der man die Signorina hantieren hörte, und wo man jedes Wort verstehen konnte, das gesprochen wurde.

Tilly begann dem Fräulein des Zahnarztes zu erzählen, dass sie Zahnweh habe, sich sicherlich Zähne ziehen lassen müsse, und eine Brücke für unumgänglich notwendig halte. Die Dame in der Küche spitzte die Ohren. Der Dialog ging weiter. Ja, der Freitag passe gut. Ja. Gewiss. Den ganzen Nachmittag könne sie sich bereit halten? Samstag von neun bis zwölf. Ja. Ja. Auch Nachmittags, wenn es sein müsse. Sonntags? Den ganzen Tag. «Es ist ja sehr freundlich, dass mir der Herr Doktor den Sonntag opfern will», hauchte Tilly ins Telephon. «Gut, also abgemacht.» Sie rüttelte ein wenig mit dem Hörrohr, denn sie hatte gar nicht angeläutet, oder vielmehr nach dem Anruf abgehängt. Sie sprach in die blaue Luft hinein. Ach, sogar Lügen ist schön, wenn man liebt.

Drinnen tanzte sie in der Stube herum und zog sich ein hübsches Kleid an aus lauter Vorfreude. Dann erzählte sie der alten Pensionsdame vom Zahnarzt, von Brücken und Schmerzen, und bat um die Erlaubnis, am Sonntag mit Freunden das Mittagessen einnehmen zu dürfen. Es seien Bekannte der Mutter aus Bern. Man habe ihr telegraphiert.

«Aber um neun Uhr spätestens sind Sie da?» Eigentlich sollte sie nein sagen. Sie sagte aber ja. Tilly hatte noch einige andere praktische und glaubwürdige Ausreden bereit für alle Fälle.

Freitag, zwei Uhr zwanzig, stand sie auf dem Bahnsteig, und sie und Maurice lachten sich schon an, als der Zug rasselnd noch einlief. Sie sahen sich in die Augen und begrüssten sich kurz. Sie küssten sich nicht. Tilly legte ihren Arm in den ihres Freundes, und schweigend liefen sie bis zum Gasthof, wo Maurice absteigen wollte, und ein Zimmer verlangte. Kaum hatte der Kellner es verlassen, fielen sie sich in die Arme, ausser sich vor Glück.

«Man sieht uns von der Strasse aus», sagte Maurice und schloss die schweren roten Vorhänge.

 

Sie fuhren zum See hinunter. Sie wollten allein sein und begehrten den Tag mit niemandem zu teilen. Trotzdem es kalt war, setzten sie sich in ein Boot und fuhren nach Caprino. Oft lag der Kahn still auf dem unruhigen Wasser, und die zwei, die sich liebten, sassen eng aneinandergeschmiegt und sprachen von all dem, was sie sich so lange nicht hatten sagen können. Sie vergeudeten ihre Küsse und zählten sie nicht. Es mochten so viele sein, wie Tropfen von den Rudern fielen. In Caprino tanzten sie. Ich und du, und ich und du, und ich und du sangen die Geister. Sie tanzten, bis sie zurückfahren mussten. Viele Sterne standen am Himmel, unzählige goldene Augen sahen auf sie herab. Still glitt das Boot dahin. – Morgen! Morgen! Gott, wie herrlich. Es gibt für uns ein Morgen!

Das Mädchen in der Pension schloss unwirsch die Türe auf.

«Spät», sagte sie. «Gut, dass es die Signora nicht weiss.» Tilly legte einen Franken auf die flache Hand und bot ihn so dem Mädchen an. Es nahm ihn und lachte ein wenig.

«Erzählen Sie nicht, dass ich so spät nach Hause kam», befahl Tilly. Wieder lag ein Franken auf der ausgestreckten Hand. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es legte den Finger auf den Mund. Es hatte Erfahrung und wusste Bescheid.

 

Am Sonntagmorgen bat Tilly sie um den Hausschlüssel. Sie hatte ja die Erlaubnis, zwischen den Stunden beim Zahnarzt bei Freunden zu speisen. Das Mädchen bekam den dritten Franken und übergab den Schlüssel.

Scheusslich, dachte Tilly, so zu lügen und zu betrügen. Ich weiss es. Aber ich will es, ich muss es und kann nicht anders. Sie hatte Lust, zu weinen. Aber stärker als ihr Gewissen und triumphierend über ihren gewöhnlichen Widerwillen gegen Schliche, stand ihre Liebe zu Maurice.

Es ist eigentümlich, wie die Menschen, wenn sie verliebt sind und Ideen und Ausreden brauchen, sie auch finden. Da regnet es nur so von Einfällen, da wimmelt es von Ausflüchten. Man sollte die Ideenkraft in jener Liebeszeit ausnützen. Es könnten möglicherweise wichtige Erfindungen gemacht werden.

Erst am Montagmorgen, nachdem sich Zärtlichkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl ausgetobt hatten, kam Maurice dazu, richtig zu erzählen, was daheim vorgegangen war. Vor allem, dass er vom Vater die Zusicherung eines anständigen Gehaltes und sogar eines Gewinnanteils erhalten habe. Er habe sich überhaupt viel zugänglicher gezeigt als bei der früheren Unterredung. Es sei begründete Hoffnung vorhanden, dass er sich überhaupt gegen die Heirat gar nicht mehr sträuben werde.

«Mein Ochsner ändert seine Meinung nicht», sagte Tilly betrübt. «Ich weiss nicht, was geschehen müsste, um ihn dazu zu bringen. Wir wollen gar nicht davon reden, es frisst einem ja alle Freude auf.»

Nachmittags reiste Maurice ab. Am gleichen Abend schrieb Tilly einen Brief, glücklich, aber in Tränen.

Wie die Menschen, Väter zum Beispiel, einem doch mutwillig die Liebe vergällen können, stand da. Wenn Heiraten eine Sünde wäre, könnte man es ja noch begreifen. Aber es sei ja gerade umgekehrt. Sich lieben und nicht heiraten wollen, müsse verworfen werden. Der Vater aber wolle sie nicht heiraten lassen, und das Umgekehrte, Liebe ohne Heirat, wolle er natürlich auch nicht. Warum wohl der liebe Gott den Vätern so viel Macht gegeben habe, möchte sie wissen. Sie schlug, als sie das schrieb, mit der kleinen Faust auf den Brief, dass man die Spuren davon ohne weiteres sehen konnte.

Jeden Monat einmal fuhr Maurice nun hinunter nach Lugano. Es wusste es niemand. Er begegnete niemandem, der ihn hätte verraten können. Im August oder September sollte Tilly zurückkehren. Der Vater hielt die Gefahr für überwunden.

 

Ohne besondere Ereignisse war der Winter vergangen und ging der Frühling vorüber. Es war Sommer geworden.

Isolina und Gabriel kamen aus dem Stall, wo sie das neugeborene, nasse und noch ganz erstaunte Kälbchen gebettet hatten. Sie sahen neben der Türe am Fenster eine mächtige Spinne, die ein haardünnes Gespinst mit wunderbarer Sorgfalt und Kunst am Fensterrahmen befestigte. Sie wandelte bedachtsam hin und her, zog ihren Faden im Kreise schöpferisch nach sich, stand ruckweise still, übersah ihr Netz, ging weiter, nimmermüde und sehr genau webend. Die Sonne beglänzte die Arbeit, und die Fäden schimmerten wie Perlmutter. Zuletzt stand die Spinne in der Mitte still, unbeweglich und lauernd. Sie wartete auf der Arbeit Lohn.

«Wenn sie nur nicht so grausig wäre», sagte Isolina. «Der Körper sieht aus wie ein grosser Bauch, den sie auf ihren fadendünnen Beinen trägt. Mich wundert, dass die acht ihre plumpe Mutter tragen können. Aufgedunsen wie eine gespannte Trommel sieht das Geschöpf aus.»

«Sie kann aber das Wetter aussagen, weisst du», erklärte Gabriel. «Wenn es regnen will, zerreisst sie ihr Netz. Kommt es wieder besser, baut sie sich ein neues. Auf alle Fälle versteckt sie sich, wenn schlechtes Wetter kommt.»

«Gar nicht so dumm ist so eine Spinne», sagte Isolina nachdenklich. «Aber grausig bleibt sie doch.» Gabriel verzog den Mund zum Lachen.

«So schön wie du ist sie nicht», gab er zu. Und nun lachte auch Isolina.

 

Ochsner war Besitzer einer der grossen amerikanischen Mäh- und Bindemaschinen, die er auszuleihen pflegte. Wochenlang vorher musste man sich ihrer versichern. In einem Tag konnten mit ihrer Hilfe kleinere Ernten bewältigt werden. Ochsner fuhr selbst.

Gabriel half seit vielen Jahren mit. Als er auf dem Ochsnerhof ankam, schaute er bedenklich zum Himmel auf. Er war blau.

«Weiss nicht, Hans-Peter, ich traue der Sache nicht. Warte bis übermorgen. Es könnte allerlei kommen, vielleicht Hagel. Es ist so schwül.»

«Ach, dummes Zeug», sagte Hans-Peter.

«Anzeichen sind da. Der Hund frisst Gras, die Mücken sind bös. Die Schwalben fliegen tief, und die Spinnen verziehen sich.» Ochsner lachte.

«Spinnen, die fürchte ich nicht.»

«Gestern haben Isa und ich eine beobachtet, die ein mächtiges Netz spann und danach mitten drin sitzen blieb. Heute ist sie fort und hat sich verkrochen. Schlechtes Zeichen.»

«Du mit deinen Tierzeichen, lächerlich. Mein Korn ist reif, auf zwei Feldern überreif, die Maschine ist vermietet, ich kann nicht warten. Ich riskiere es.»

«Gut», sagte Gabriel, «es ist dein Korn.»

 

In aller ihrer fürstlichen Pracht ging die Sonne auf. Es zeigten sich zwar zarte, rosafarbene Streifen am Morgenhimmel, gleich Fahnen, die vom leisen Wind behutsam hin und her geschwenkt werden. Aber sie verflatterten bald darauf.

Auf dem Ochsnerhof wimmelte es von Menschen. So oft sie die Maschinen hatten arbeiten sehen, immer wollten sie das grosse eiserne Ungeheuer, das Menschen ersetzte und ihre Arbeit tat, bestaunen. Der uralte Jacques Jeanneret prophezeite jedesmal, dass es Feuer spucken werde, um eines Tages mit seinem unsichtbaren Herrn, dem Teufel, unter Gestank zur Hölle zu fahren. Bisher war es nie geschehen. Der Alte hoffte, dass er die Neunzig noch erreichen werde, um das schaurige Geschehnis mitansehen zu können.

Breit und hoch stand die rote Maschine da. Sie schnob, stöhnte, polterte und ratterte. Wie ein eiserner Hengst vor der Schlacht lärmte und rasselte sie über den gepflasterten Hof. Auf der Strasse warteten die leeren Wagen, die den Ernteertrag später heimführen sollten.

Die Sonne brannte und strömte eine Hitze aus gleich einem glühenden Hochofen. Die Luft war beinah sichtbar und wabernd, kaum erträglich. Der Himmel war dunkelblau, und der Gedanke an ein Unwetter kam niemandem. Nur Gabriel traute dem Tage nicht, weil er an Spinnen glaubte. An anderes auch, heute aber an Spinnen.

Die Männer meinten, sie müssten von Stunde zu Stunde dunkler und brauner werden, so heftig stachen die Sonnenstrahlen. Die Stirnen glänzten, der Atem stockte oft, und die spärlichen Worte versickerten. Durst, Durst! Den Hunger vergass man –.

Es läutete Mittagszeit. Das donnernde Rattern wurde langsamer, leiser und schwieg endlich. Die Männer, Frauen und Mädchen warfen sich erschöpft in den Schatten der Bäume.

Von weitem sah man Georgine mit den Mägden herankommen. Diese trugen schwerbeladene Körbe auf dem Kopf. Als sie den Hügel überstiegen, hoben sie sich in ihrer ganzen fraulichen Fülle scharf vom Himmel ab, und das war ein Erntebild von allerschönster Wahrheit und Lebenstreue. Brot in Körben, Wein in Krügen.

Ein buntes Tuch wurde über das Gras gebreitet, rot und weiss war es gewürfelt. Eine mächtige Schüssel mit noch prazelndem Schweinebraten kam darauf zu stehen. Salat gab es dazu, und eine Rösti, das Meisterwerk einer Bäuerin. Dann folgte eine Platte mit geschnittenem rosafarbenem Schinken, der wie ein Rosenkranz dalag. Die weissen und gelben Viertel dickgesottener Eier lagen dazwischen. Teller mit ganzen Strüblibergen drauf prahlten in der Mitte. Obst, Most, Wein, alles war im Überfluss vorhanden. Man ass mit Lust, trank mit Freude. Man lachte und sang. Wenigstens versuchte man ein paar Töne, doch es war zu heiss dazu. Die Stimmen blieben im Sommerdunst hängen.

«Wir müssen vorwärtsmachen», flüsterte Gabriel und blinzelte dem Bruder zu.

«Jetzt, zum Kuckuck, halte deine Gosche!» sagte Hans-Peter ungehalten. «Der Himmel ist blau wie das Wasser in einer Waschbütte, Schwarzseher, langweiliger.» Er hob das Glas. Die aufsteigenden Wolken hinter seinem Rücken sah er nicht.

«Trinkt, trinkt!» rief er. «Es ist Euch gegönnt.» Und sie taten, wie er geraten. Plötzlich streckte der Dieter seinen braunen Finger gen Himmel.

«Es kommt», sagte er. «Ein Wetter kommt. Da ist sie!» Eine kleine runde graue Wolke schwebte mutterseelenallein daher. Wie ein Engelein kam sie geschwommen durch das Blau, kugelrund, harmlos, ohne Vater und Mutter. Kein Mensch kümmerte sich um sie. Als der Dieter wieder hinsah, flog kein Engelein mehr den Bergen entlang, wohl aber flatterten schwarze, krächzende Raben unruhig umher, und lange grauschwarze Wolkenbänder verdeckten das Himmelsblau.

Man tafelte weiter. Man tat, als habe man nichts gesehen und nichts gehört, denn die guten Dinge auf dem Gras wollten gegessen und getrunken werden.

Ein wenig schneller hoben und senkten sich die Gabeln und Löffel, und ein wenig rascher leerten und füllten sich die Gläser. Ochsner trank bedächtig, absichtlich. Von einem grauen Wölklein liess er sich nicht ins Bockshorn jagen. Nur von Zeit zu Zeit blinzelte er hinauf zum Himmel und merkte es wohl, dass aus dem kindlich und geruhsam dahinrudernden Ball eine breite und schwarze Schlange geworden war. Dann sprang er auf, und das Arbeiten begann wieder.

Eine Stunde später lagerten Wolkenberge über den grünen Hügeln, und wieder nach einer Stunde zuckten die Blitze aus dem Grau.

«Zorn Gottes», sagte der alte Jeanneret. «Hört auf ihn! Hört auf ihn! Die Maschine, das rote Untier, soll fort!» Aber es kümmerte sich niemand um ihn. Das eiserne Untier stampfte weiter, schnitt, rollte die Garben, stöhnte und pfiff, packte mit seinen Zähnen die Halme, hob sie und legte sie unter den eisernen Arm, der sie band.

Es verführte bei alledem einen Lärm, den man noch unten im Städtchen vernehmen konnte.

«Die Mähmaschine hat Eile», sagten die Leute. «Sie mag auch nicht nass werden. Aber so wie heute hat sie noch selten getobt.»

Die Halme fielen, fielen, fielen. Die hochgetürmten Wagen fuhren einer nach dem andern schwerbeladen und ächzend nach Hause. Den Männern lief der Schweiss über Hals und Brust, und unwirsch wischten sie ihn mit den zurückgestülpten Hemdsärmeln weg. Niemand sprach. Sie schafften, dass ihnen die Knochen knackten. Der Wind war mit einem Satz über die Berge in die Ebene gesprungen, wühlte sich in die noch aufrecht stehenden Kornfelder ein, drückte sie wütend zu Boden und raste weiter.

Einer Sündflut gleich stürzte der Hagel aus den Wolken herab auf die Stoppeln, aber auch auf die noch ungeschnittenen Felder. Verlassen stand die Maschine auf dem Feld, ein lebloser roter Block. Die Männer hatten alles stehenlassen und waren unter die erreichbaren Dächer geflüchtet. Blitz folgte auf Blitz. Schlag auf Schlag. Betäubend war der Donner, fast unerträglich das Heulen des Windes. Der Gewitterlärm kam dem Ochsner wie ein höhnisches Gröhlen vor. Als höhne ein Riese hinter den Wolken, schlage sich aufs Knie, und freue sich, dass er ihn, den klugen Bauern, mit seinem einen Wölklein so listig übertölpelt habe.

Es pfiff, es heulte, es brüllte.

«Ihr hättet auch zur rechten Zeit das Maul auftun können», schrie der Ochsner in den Sturm hinaus. Die Knechte schüttelten die Köpfe. Sie verstanden nichts. Hans-Peter versuchte es noch einmal.

«Ihr habt ja auch Augen, Meister», schrie Dieter zurück, zog seine Pfeife heraus und versuchte es, unter dem teuflischen Gelärm zu tubaken. Er versuchte es mit einem Zündholz. Es erlosch, ehe es brannte.

Ein kleineres und zwei mächtig ausgedehnte Kornfelder, die morgen hätten geschnitten werden sollen, hatte der Sturm verwüstet, zerstampft. Die Halme des goldenen Weizens waren geknickt, bogen sich zur Erde herab, blieben liegen, flach und nass und geschlagen vom Regen, vom Hagel, von Wind. Unbrauchbar geworden. Streu fürs Vieh.

«Der Ochsner hat Pech», sagten die Leute.

 

Die Katrin im Weissen Hause brachte einen Brief. Aus Lugano, sagte sie, und hielt ihn hin, als sei er ein Geschenk. Zweimal las ihn Monika, ehe sie begriff, um was es sich handle. Tilly bat um Unterkunft. Sie bat darum, ein paar Tage bei der Patin bleiben zu dürfen. Sie bat, im Ochsnerhof darüber zu schweigen. Sie flehte darum. Sie müsse mit ihr reden, sie habe ja niemanden, keinen Menschen, dem gegenüber sie es wagen würde, das zu sagen, was sie bedrückte.

Das Rätsel war für Monika nicht schwer zu lösen. Sie setzte sich, denn sie hatte stehend gelesen. Sie stand wieder auf und ging in den Garten, kehrte in die Wohnung zurück und läutete ihrer alten Hilfe.

«Katrin, mache das blaue Zimmer zurecht, es kommt Besuch.» Katrin nickte.

«Ich weiss, dass du schweigen kannst, Katrin.»

«Hoffentlich, Frau Laurent. Natürlich, wenn's nötig ist.»

«Es ist nötig. Ich bitte dich darum.» Dies Wort galt als Siegel. Keine Macht hätte Katrin darnach zum Schwatzen bringen können. Ihr Gesicht drückte aber Staunen und Neugier aus.

«Tilly kommt. Sie will ein paar Tage bei mir bleiben. Es soll niemand davon wissen. Vorläufig.»

«Kurios», sagte Katrin und sperrte die alten Augen auf. «Vor allem sollen es die da unten nicht wissen, oder?» Sie deutete mit dem Daumen nach der Gegend des Ochsnerhofes.

«Ja», sagte Monika kurz, und die Magd ging zurück in ihre Küche.

«Solch ein Mädchen!» sagte sie nach ihrer Gewohnheit laut. Solch ein Mädchen! Denn auch sie hatte erraten, warum Tilly heimlich kommen wollte und Zuflucht bei ihrer Frau suchte. Katrin war auch einmal jung gewesen und verliebt und wusste, wie der Hase läuft.

 

Es war schon recht dunkel. Der Mond stieg auf über den Raimeux, ruhig und gleichmässig sich hebend, sanft leuchtend wie ein Trost der Nacht. Er war plötzlich da, und wer vorher den Weg nicht gefunden hatte, fand ihn nun.

Die beiden jungen Menschen, die heimlich, langsam und bedrückt durch die Nacht den Wiesenpfad zum Weissen Haus hinanstiegen, brauchten ihn nicht zu suchen. Sie kannten ihn längst. Ach, wie oft waren sie ihn gegangen! Maurice begleitete Tilly bis zum Hoftor. Er war voll Dankbarkeit, dass er sie Frau Monika bringen durfte, ihr, die ihr Herz nicht verschloss, und ihre Hände ausgestreckt hielt, Tilly entgegen, die seine Frau nicht werden durfte, und die nun die Mutter seines Kindes werden sollte. Dass sie sich zu Frau Laurent flüchtete, gab ihm Zuversicht und nahm ihm die schwerste Sorge der letzten Wochen aus den Händen.

Monika hatte auf den Brief Tillys kein Wort geantwortet, das sie hätte verletzen können. Nicht mit einer Silbe hatte sie das junge Geschöpf betrübt, als es ihre Hilfe erbat.

Sie hatte ihres Mannes Zustimmung zu einer Einladung Tillys erhalten. Gerne. Ihr schien, als freue er sich, dass sie Gesellschaft bekomme.

Als die beiden oben ankamen, sahen sie, dass die Torflügel, wie so oft, weit geöffnet waren. Tilly ging die wenigen Schritte allein, ohne Maurice. Er kehrte vor dem Tore um und verschwand in der Dunkelheit. Eine liebe Gestalt stand da. Tilly warf sich ihr in die Arme.

«Gotte Monika, ach, Gotte Monika», schluchzte Tilly. «Ich danke dir. Nun ist mein Konfirmationsspruch wahr geworden.»

«Ich habe ihn vergessen», sagte die Patin und küsste das Kind.

«Ich habe meinen Engeln befohlen, über dir ... so hiess er.» Sie fiel der liebsten Frau wiederum um den Hals. «Was würde ich ohne dich anfangen, Gotte, du mein Schutzengel?»

Monika führte das Mädchen ins Haus und half ihm ablegen. Dann gab es Tee und Süssigkeiten. Und später brachte Katrin einen Punsch auf eigene Verantwortung. Das hilft, hatte sie gedacht. Ein bisschen Alkohol schadet nichts.

Das Gastzimmer lag neben Monikas Schlafgemach. Sie hörte Tilly lange noch hin und her gehen.

Dann wurde es still. Monika aber wachte alle Augenblicke auf. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie wusste, konnte es sich vorstellen, was auf Tilly wartete.

Sie wusste auch, wie sehr man eine solch betrübliche Niederlage dem stolzen, bewunderten und beneideten Ochsner gönnen werde.

Es muss etwas geschehen, sagte sie sich. Es muss durchaus etwas geschehen. Ich muss mit Tom sprechen. Tom weiss immer einen Ausweg. Endlich schlief auch sie.

 

Als Tilly am nächsten Morgen erwachte, wusste sie im ersten Augenblick gar nicht, wo sie war. Sie fuhr verschlafen auf.

Morgenhelle strömte herein, aber noch war die Sonne nicht da. Ein zarter, durchsichtiger Schleier lag über der hohen Hügelkette. Tilly setzte sich auf, noch ohne das deutliche Bewusstsein dessen, was drohend vor ihr lag.

Ihr schien, als rege sich hinter dem blauen Berg die Sonne, als entstehe dort sichtbar Licht und Leben und Wärme. Die Sonne erhob sich in leicht gedämpftem Glanze. Tilly starrte hin und vermochte die Blendung auszuhalten, um des weissen Schleiers willen, der da vor der fast silberweissen Scheibe lag.

Es geschah nun ein Wunder, so herrlich, wie es Menschen nicht manches Mal offenbar wird: Um die Silbersonne legte sich ein leuchtendes Blau, daneben glühte königliches Purpurrot, wechselnd mit tiefem und klarem Violett. Wunderbar wogte alles rings um die Sonne. In steter Bewegung flossen die zauberhaften Bänder, jedes in seiner eigenen Farbe.

Mit Herzklopfen staunte Tilly ob der unfassbaren himmlischen Herrlichkeit.

Der dünne Nebel verzog sich, und nun begann die Sonne ihren Tageslauf. Tilly aber, als sei von dem Farbenwunder ein Teil auf sie übergegangen, sah nun alles, was sie anschaute, in einem hellen, schönen Grün. Minutenlang.

Sie war erschüttert. Sie konnte sich nicht fassen, so tief hatte die seltsame Naturerscheinung auf sie gewirkt.

Ihr war das Erschaute mehr als ein Wunder, ihr war es ein Zeichen. Sie hatte Herrliches erleben dürfen, also war sie nicht verworfen. Sie legte sich zurück in die Kissen. Sie musste nachdenken.

Sie konnte sich von dem Geschauten nicht lösen. Neues gewann Leben in ihr und Farbe. Gedanken kamen und begehrten angehört zu werden. Gedanken, denen sie vordem nie begegnet war. Es erwachte das Bewusstsein ihrer eigenen Unzulänglichkeiten dem All gegenüber, der Unwichtigkeit des Daseins, verglichen mit dem Wunder, das sie eben erlebt. Unklar, schattenhaft kamen die stillen Mahnungen über sie.

Es war das Erwachen eines bisher sorglosen Gewissens. Tilly begegnete vielleicht zum ersten Male ihrem eigenen Ich. Bisher hatte es allein geherrscht und niemanden neben sich geduldet. Nun erkannte sie, wie klein, wie gedemütigt dieses Ich geworden war. Zum ersten Male sah sie sich mit den Augen der Nebenmenschen. Und sah, dass sie fehlbar war.

 

Monika und ihr Gast sassen nebeneinander im Erker und schwiegen. Der gehobene und beinahe weltentrückte Zustand, in dem Tilly den Morgen begonnen und darauf mit glücklichem Gesicht die Patin begrüsst, hatte seine Flügel zusammengelegt. Die harten Hände der Wirklichkeit griffen nach ihr. Die Angst vor dem Vater wuchs, nun sie in seiner Nähe war.

Das Grauen, welches dem geängstigten Geschöpf «die bösen Urteile der Menschen», die vorgeahnten, einflössten, warf sich über sie. Sie erinnerte sich noch gut, wie sie selbst einstens ein Mädchen benannt hatte, das eine Beichte ablegen musste, wie sie eben eine abgelegt.

Aber umsonst hatte die Sonne sich nicht in ihrem Festgewand gezeigt.

Nicht mit Trotz hatte Tilly zu Monika gesprochen, nicht mit jener Sicherheit, die ihr sonst so geläufig war, wenn man sie irgendeiner kleineren oder grösseren Missetat beschuldigte. Sie sprach mit gesenktem Kopf, und dankbar und ergriffen liess sie sich umarmen und trösten.

«Verachtest du mich ganz gewiss nicht, Gotte Monika? Du hast mir ja kein einziges böses Wort gesagt.»

«Das hast du jetzt nicht nötig», sagte die Gütige. Hätte Tilly gewusst, wie wenig Monika Laurent sie beschuldigte, ihre Augen würden wohl aufgeleuchtet haben. Aber es wäre nicht klug gewesen, jede Strenge dem jungen Menschenkind gegenüber auszuschalten. Sie war fest entschlossen, Tilly zu helfen. Wie, wusste sie noch nicht. Sie verliess sich auf Tom und auf ihre eigenen Einfälle. Nach der ersten stürmischen bewegten Stunde, nach der zweiten, dankbar als Erlösung empfundenen, sprach Tilly von der Himmelserscheinung, die sie mit staunendem Entzücken miterlebt und in sich aufgenommen hatte.

«Es hat mich fast überwältigt», erzählte das Mädchen. «Es hat mich gedemütigt, so etwas zu sehen. Ich habe gemerkt, wer ich bin. Wie ich bin, wie ich nicht bin und wie ich sein sollte. Ich habe plötzlich die Wunder aus der Bibel begriffen. Man begreift oder man versteht es, nach einem solchen Erlebnis, wie Menschen plötzlich bekehrt werden können. Ich habe gewünscht, ein guter Mensch zu werden. Das ist mir bis jetzt gar nie eingefallen. Oder dann nur für einen Augenblick, und darauf vergass ich meinen Vorsatz wie so eine Sternschnuppe, die erlischt, kaum dass man sie gesehen hat.»

«Vielleicht ist es diesmal anders, und der Eindruck bleibt», sagte Monika. «Und nun wollen wir etwas tun. Ich habe herrliche Hefte über Gartenkunst, die wollen wir uns ansehen. Und nachher gehen wir die Geranien im Keller schneiden. So wird dich niemand sehen. Dass du Blumen liebst, weiss ich ja.»

«Und ich habe Glück mit den Blumen.»

«Man hat nicht Glück. Man pflegt sie gut, das ist es.»

Getröstet und sich in ihrer Arbeit vergessend, verging Tilly der Morgen.

Als man des Abends das Auto Tom Laurents anfahren hörte, wollte Tilly hinauflaufen in ihr Zimmer.

«Nein», sagte Monika, «bleib du nur da. Ein Soldat läuft nicht vor der Schlacht davon.»

«Ach, Gotte Monika ... gerade der Onkel Laurent ... ach, lass' mich gehen.» Es war zu spät. Tom kam und begrüsste Tilly, wie er sie immer begrüsst hatte.

Nach dem Abendessen wollte Tilly, die ja ein vollgerütteltes Mass von Aufregungen hinter sich hatte, schlafen gehen.

Es dauerte keine halbe Stunde, bis sie ihre feurigen schwarzen grossen Augen schloss und einschlief.

Tom und Monika gingen langsam in der wachsenden Dunkelheit der Nacht vom Weissen Haus zur Eiche. Sie waren noch nicht sehr weit gekommen in ihren Entschlüssen und Plänen um Tillys willen, das heisst sie waren sich noch nicht vollkommen klar, wie geholfen werden konnte. Dass geholfen werden musste, schien ihnen selbstverständlich.

«Weisst du, Tom, dir gegenüber kann ich es ja sagen – bei Tilly habe ich geschwiegen –, ich finde es gewissenlos von Maurice Chèbres, dass er es so weit kommen liess.» Tom schwieg.

«Oder nicht?» fragte Monika. «Oder etwa nicht? Er wusste es von Ochsner selbst, dass von einer Heirat keine Rede sein konnte. Er hätte nicht nach Lugano fahren dürfen.» Tom schwieg.

«Es geschieht eben viel, was man nicht darf», sagte er dann. «Ja, natürlich, aber gerade darin, im Unterlassen dessen, was man nicht darf, besteht doch der Wert des Menschen.»

«Gewiss», sagte Tom. «Man überschätzt ihn ohnehin, den Menschen. Immer.»

«O Tom, dich überschätzt man gewiss nicht. Du Lieber, Bester.» Schweigen. Langes Schweigen.

«Der Ochsner ist wohl das grösste Hindernis, der Stein im Weg», begann er dann. «Alles andere lässt sich oder hätte sich einrichten lassen. Es ist übrigens zu allem noch früh genug.»

«Der Ochsner gibt nicht nach.»

«Den Ochsner muss man zwingen. Seine und seines Hauses Ehre ist ihm wichtiger als Geld und Gut. Man muss dies Gefühl benützen», überlegte Tom, indem er sprach. «Ja, zwingen muss man ihn, dass er Tilly heiraten lässt. Und zwar bald. Und zwar sofort. Ist Tilly verheiratet, kommt alles in Ordnung.»

«Wie willst du der Katze die Glocke umhängen?» fragte lächelnd Monika.

«Nicht ich, du! Du verstehst das viel besser als ich. Und dich verehrt der Herr Ratsherr seit langem. Auf dich hört er.»

«O Gott, Tom, ich kann doch nicht nur so kommen und ihm sagen, dass er Tilly heiraten lassen müsse! Er würde mich ja auslachen.»

«Er wird nicht lachen. Das weiss er, dass der Hochzeitsschleier vor dem Taufschleier kommen muss. Du musst bestimmt auftreten und reden. Musst es kurz machen, deine Worte sparen. Musst deine Sätze zusammenfassen, man kann oft mit dreien mehr sagen als mit zwanzig.»

«Ach, Tom, es graut mir», sagte kläglich Monika.

«Entweder-Oder, musst du sagen. Entweder Heirat und keine Schande, oder sich dem Gerede, Gespött, Gelächter und verächtlichem Hohn aussetzen: Herr Ochsner, Sie haben die Wahl. So musst du auftreten.»

«Er tut mir aber leid, der Ochsner, der Hans-Peter. Es ist ein Donnerschlag für ihn. Und eines nach dem andern ist über ihn gekommen. Er frisst mich ja auf, wenn ich davon anfange.»

«Dich nicht, Monika. Mich würde er fressen. Von einem Mann erträgt man so etwas schwer. Ihr Frauen fühlt es, wenn Halt gemacht werden muss. Und du mit deinem Zartgefühl wirst ihn schon überzeugen. Dir tut kein Mensch etwas ...» Er schwieg ... ‹zuleide›, hatte er sagen wollen. Es fiel ihm ein, dass gerade er ihr das grösste Leid antat.

«Also gut. Ich will gehen. Melde mich an, wenn du vorbeifährst. Sage morgen. Nein, sage übermorgen, oder doch besser morgen um 2 Uhr. Es muss ja sein. Aber, offen gestanden, ich fürchte mich.» Tom strich ihr über die herrlichen Haare.

«Was kann der Mensch dir antun? Bist ein Hasenfuss. Ich nähme es gern auf mich. Ich bin an derartiges gewöhnt. Und weisst du, was mir eben einfällt? Wir werden dem jungen Paar das kleine Haus drüben mietweise überlassen. Was verdient der Chèbres denn eigentlich?»

«Genug. Und vom Neujahr an bekommt er Tantième. Ich weiss aber nicht wieviel.»

«Ich wollte den Roux ohnehin fortschicken», sagte Tom. «Das Häuschen ist sehr hübsch. Ich werde es reparieren lassen. Und zwei Minuten weit von hier. Gefällt dir der Einfall?»

«Gut», sagte Monika mit einem Seufzer der Erleichterung. «Da haben die beiden eine nette Unterkunft.»

Es war dunkel geworden. Sie hatten den langen Weg wohl siebenmal gemacht, hin und her, und wussten nun, was sie wollten und für das Beste hielten für ihren jungen Gast. Tom machte sich fertig, um in die Stadt zu fahren, was nun beinahe jeden Abend geschah. Er hielt unten beim Ochsnerhof an, verschwand für einen Augenblick, kam wieder und rollte davon.

Jetzt muss es sein, dachte Monika, die auf dem grossen Platz vor dem Tor gestanden und ihm nachgesehen hatte.

Tilly kam am nächsten Morgen mit roten Wangen zum Frühstück und erfuhr, dass Monika und Laurent sich ihrer annehmen wollten.

«Mir ist zumute, als sei ein Erdbeben angesagt», sagte sie. «Und du, arme Frau Monika, sollst ihm das alles mitteilen? Es ist nicht recht von mir. Ich müsste selbst gehen. Ich will –»

«Nein, das würde alles verderben. Und bedenke, dass man dich hier nicht sehen darf, soll alles in Ordnung kommen. Ich würde auch den Vater nicht bitten, fände ich nicht, dass er mit dem Verweigern eurer Heirat unrecht hat. Also um 2 Uhr.»

«Ach Gott, um 2 Uhr», sagte Tilly. «Alles findet immer um 2 Uhr statt.»

«Was denn? Wieso?»

«Weiss nicht. Mir schien so. Maurice ist auch um 2 Uhr in Lugano angekommen. 2 Uhr 10.» Monika lachte.

 

Es schlug 2 Uhr.

Das grosse Tor ging auf und schloss sich wieder. Zuerst zögernd, dann immer schneller ging Monika die schmale gelbliche Strasse hinunter und sah weder nach links noch nach rechts. Sie ging, wie jemand geht, der sich vor dem Ziel fürchtet.

Es lagen Äpfel unter dem Baum, von denen sie wusste, dass sie auserwählt wohlschmeckend und schön waren. Sie blieb einen Augenblick stehen. Man sollte sie herunternehmen, ehe sie fallen, überlegte sie. Dann aber dachte sie nichts mehr und ging wie in leerer Luft, je näher sie dem Ochsnerhof kam.

Sie hatte das schöne Kleid mit den grossen Blumen angezogen und trug einen Hut. Sie kam heute nicht als Landfrau zum Bauern. Sie kam als Verkünderin und Bringerin schlechter Nachrichten. Mit Schicksalsnachrichten kam sie.

Sie begegnete niemandem. Zwar der Hund lief ihr entgegen und begleitete sie wedelnd bis vor die Haustüre. Monika klopfte an der Türe an, hinter der Ochsner seine Bücher überprüfte und sich seine Schreibereien überlegte. Erste Türe links. Eine Stimme, tief und rund, gleich einer rollenden Kugel, rief herein. Einen Augenblick brauchte Monika, um Mut zu fassen, dann öffnete sie die Tür. Ochsner stand auf und schien ihr heute gross wie ein Riese zu sein. Sie hatte ihn nicht so breit und gewaltig in Erinnerung. Er streckte seine Hand aus.

«Was, Sie kommen zu mir, Frau Monika? Wie soll ich dieses Fest feiern? Was kann ich für Sie tun?» Er packte einen Lehnstuhl und trug ihn ans Fenster.

«So, und nun setzen Sie sich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was Sie zu mir führen vermag. Es ist alles von vornherein gewährt, wenn es überhaupt möglich ist», sagte er freundlich. Monika wurde von heftigem Herzklopfen befallen. Mein Gott, wie er redet, dachte sie. Als wisse er, warum ich komme. Und nun begann sie ihren Feldzug.

«Lieber Herr Ochsner, zürnen Sie mir nicht, wenn ich mit einem Anliegen, ja einem Anliegen komme, das Tilly betrifft. Sie wissen, wie lieb ich sie habe, und wie ihr Schicksal mir – mich ...» Sie stockte. Sie sah, wie Ochsners Gesicht rot anlief und seine grossen Augen dunkel wurden.

«Was hat das zu bedeuten? Sie kommen zu mir wegen Tilly? Wahrscheinlich betrifft es diese Liebesgeschichte, diese kindliche Liebelei mit dem Chèbres? Ich nehme an, dass Sie mich weichmachen und dahin bringen wollen, die Heirat zu erlauben? Oder irre ich mich, Frau Laurent? Aber, meine liebe Gute, Sie wissen doch, dass mein eigener Vater mich einen Stierenkopf genannt hat?» Monika fasste Mut.

«Das galt aber dem ungebärdigen Jungen, nicht dem erwachsenen Manne. Sie jetzt noch einen Stierenkopf zu heissen, würde Ihr Vater kaum wagen, wenn er noch lebte. Das wäre ja eine Beleidigung.»

«Nicht in meinen Augen. Ein rechter Mann wechselt seine Gesinnung nicht wie eine Schlange ihre Haut. Ich will versuchen, Ihren Standpunkt zu begreifen, Frau Monika, reden Sie nur weiter!»

«Meine Überzeugung ist es, dass Sie nicht recht damit tun, Tilly zu verbieten, einen jungen Mann zu heiraten, den sie liebt und dem nichts» – einen Augenblick hielt sie an –, «ja, nichts vorzuwerfen ist, als dass er einen Vater hat, den Sie missachten oder hassen.»

«Sie machen sich die Sache leicht, Frau Laurent. Sie sprechen eine einfache Sprache! Ich will von Ihnen lernen und mich ebenso kurz, so einfach und verständlich ausdrücken. Also: Nein. Nicht ja, nein. Das bedeutet in der ganzen Welt immer das gleiche, nicht?»

Monika zitterte beinah. Sie fühlte es, dass die Gefahr wuchs. Sie stand vor dem Abgrund. Eine Brücke gab es nicht. Es hiess also, den Sprung hinüber wagen.

«Herr Ochsner, es wäre vielleicht für Tilly besser, für alle besser, Sie würden die Heirat erlauben. Der Ordnung wegen. Es ist doch schon oft vorgekommen, dass Väter es bereuten, ihre Einwilligung nicht gegeben zu haben.» Ochsner schaute sie an.

«Das Umgekehrte kommt ebenso oft vor», sagte er.

«Es gibt aber Umstände, Fälle – Ehe ist immerhin Ehe –, ich meine, dass Kinder, in der Ehe geboren, geschützt sind, während das bei andern nicht geschieht. Sie sind schutzlos, gleichsam.»

Nun hatte Ochsner verstanden. Er stand auf. Mit funkelnden Augen sah er auf sie herab, die zart und ein wenig geduckt vor ihm sass, als trüge sie die Schuld.

«Frau Laurent, heraus mit der Sprache! Was wollen Sie sagen?»

«Ich will sagen, dass Sie Tilly heiraten lassen müssen.» Sie schaute auf ihre Schuhe, als sie dies sagte. Das Gesicht des Mannes veränderte sich in furchtbarer Weise.

«Habe ich Sie richtig verstanden, Frau Nachbarin?» Ochsner stand da und packte die Lehne seines Stuhles. Monika sah, dass seine Hand das Holz krampfhaft hielt. Er sagte kein Wort mehr, wurde nur langsam fahl. Er ging zu dem kleinen Schrank in der Ecke, worin er allerlei Schnäpse stehen hatte. Er trank ein kleines Glas, darauf ein zweites. Er ging an das andere Fenster seines weiten Zimmers und schaute hinaus, nachdem er es aufgerissen.

«Woher wissen Sie das?»

«Von Tilly selbst. Sie hat sich zu mir geflüchtet. Vorgestern abend kam sie.» Ochsner antwortete nicht. Schwieg. Eine lange, schwere Pause entstand, eine herzbeklemmende Stille. Sie sprach lauter als Donnerworte es gekonnt hätten.

«Lassen Sie mir Zeit, Frau Monika», sagte Ochsner endlich. «Lassen Sie mich einen Augenblick Luft schöpfen.» Er ging hinaus und liess die arme Helferin in grosser Pein zurück.

Es wird ihm doch nichts geschehen? Er wird sich doch nicht etwas antun? Aber das lag Ochsner fern. Um einer Dirne willen, wie er Tilly schon nannte, sich etwas antun? Ihm kam der Gedanke nicht einmal. Es verging aber eine gute Viertelstunde, die Monika unendlich lang vorkam, ehe er wieder eintrat.

«Das Mädchen, von dem Sie gesprochen haben, Frau Monika, hat gut daran getan, sich zu Ihnen zu flüchten, wie Sie vorhin sagten. Hier wäre sie nicht eingelassen worden. Es gibt keinen Schlüssel, der stark genug wäre, ihr die Türe zum Elternhaus wieder aufzusperren. Sagen Sie ihr das.»

Er wischte sich die Stirn. Das Rot war in sein Gesicht zurückgeflutet. Monika konnte nicht sprechen. Das Weinen war ihr zuvorderst, doch sie bezwang sich, denn sie wusste, dass sie mit Tränen Tillys Sache nicht gefördert hätte.

«Ihnen, Frau Monika, danke ich. Wenn Sie sich dieses Mädchens in der Tat annehmen wollen, so schützen Sie mich und Georgine vor vielem, vor Schande. Ich werde Sie genügend mit Geld versehen für Unterhalt und dergleichen. Daran soll es nicht fehlen. Bringen Sie sie unter, wo Sie es für gut finden. So weit von hier als nur möglich. Ich werde Sie unterstützen, wann immer Sie mich nötig haben. Die junge Person will ich nicht mehr sehen.»

«Aber Hans-Peter Ochsner, es wäre so viel einfacher und würde jeder Schande und jeder bösen Nachrede die Spitze abbrechen, wenn Tilly verheiratet wäre. Wenn Sie so rasch als möglich getraut würde, beide sind ja Einheimische – wäre alles gut und in kurzer Zeit in Ordnung. Später ...»

«Es schiene gut, und es wäre in Ordnung. Aber es ist nicht gut. Ihre Nachricht bindet mir zwar die Hände. Ich sehe, dass ich nachgeben muss. Da ich nicht unvernünftig bin, werde ich mir selbst gegenüber wortbrüchig und gebe die Heirat zu. Ich, will auch das unschuldige Kind schützen. Sie haben recht, Frau Monika. Sonst aber, was das übrige betrifft, bleibt es dabei, was ich gesagt habe: Tilly betritt mein Haus nicht mehr. Ebensowenig ihr zukünftiger Mann. Ich habe keine Tochter mehr. Alles übrige, Geldsachen zum Beispiel, erledigt vielleicht Herr Laurent? Ich möchte den Namen der zukünftigen Frau Chèbres nicht mehr hören. Ich werde ihn nicht mehr aussprechen. Ich danke Ihnen. Bleiben Sie mir eine getreue Nachbarin, auch wenn ich es nach Ihrer Meinung nicht verdiene.» Monika nickte. Ochsner drückte ihr die Hand.

Langsam ging sie den Weg, den sie mit so viel Angst vor einer Stunde in umgekehrter Richtung gegangen war, zurück.

Hans-Peter Ochsner suchte seine Frau. Sie sass im Garten hinter dem Lorbeerbusch und nähte. Die Herbstsonne war mild und warm, und Georgine sonnte sich behaglich. Der Bauer setzte sich neben sie. Er schwieg. Seine Frau sah ihn an.

«Hans-Peter, was hast du? Was ist geschehen?» Er antwortete nicht, senkte aber plötzlich den mächtigen Kopf auf ihre Schulter. Er stöhnte, und sie meinte, ihn schluchzen zu hören. Einen Augenblick nur, dann nahm er sich zusammen.

«Ich kann heute nicht davon reden, gute Georgine. Morgen vielleicht, oder übermorgen. Ja, übermorgen sage ich es dir. Es eilt nicht.»

 

Tilly wartete oben vor dem grossen Tor. Sie sass auf dem Mäuerlein, das den Platz umrahmte. Als sie Frau Laurent kommen sah, wurde ihr plötzlich sehr angst. Wie mochte sich alles verhalten? Kam sie mit guten oder schlechten Nachrichten? Ihr wurde schwach, sie schwankte beinahe, als sie aufstand, um Monika entgegenzugehen. Aber die Patin schwieg. «Später», sagte sie nur: «Ich bin sehr müde.» Angstvoll sah Tilly sie an.

«Nein, es ging gut. Wenigstens zum Schluss ging es gut.»

«Ach, Gott sei Dank», flüsterte das Mädchen. «Gott sei Dank! Und dir, Gotte Monika!» Frau Laurent ging auf ihr Zimmer und schlief vor Ermattung ein. Eine Stunde darauf sass sie mit Tilly beim Tee.

«Die Sache verhält sich nun so, dass Hans-Peter Ochsner eurer Heirat nicht mehr entgegensteht. Sagtest du mir nicht einmal, Maurice Chèbres habe erklärt, er werde nicht ohne des Vaters Segen heiraten?»

«Doch, das sagte er. Aber er sagt es nicht mehr. Er wird froh sein, dass er heiraten darf, um meinetwillen froh sein, verstehst du?» Monika nickte.

«Wir haben ja nun Vaters Erlaubnis, aber darum haben wir seinen Segen nicht. Glaubst du, dass er schon in der Erlaubnis enthalten ist?»

«Das glaube ich nicht. Sie zu erteilen, war doppelt schwer für deinen Vater, denn er muss gegen seinen Willen und gegen seine Überzeugung handeln. Sich selbst nicht Wort halten, sich selbst untreu werden, das ist eine Leistung für einen Mann wie ihn.»

«Ach, Gotte Monika, ich merke es aus deinen Worten, ich höre es aus deiner Stimme, ich fühle es, dass du mich nicht mehr so lieb hast wie vorher. Ich weiss es, ich weiss es.» Sie kniete neben ihrer angebeteten Patin nieder und legte den Kopf auf deren Hände, die weiss und zart ihr im Schoss lagen, weinte bitterlich und konnte nicht aufhören. Monika strich ihr über die Haare. «Doch, Kind, ich habe dich lieb, sicher nicht weniger als vorher. Aber ich fühle meine Liebe nicht wie sonst. Ich bin so erschüttert und kann mich immer noch nicht fassen.»

«Wir haben uns so lieb, Gotte Monika, Maurice und ich, wir haben uns so lieb.»

«Du bist noch sehr jung. Du bist noch ein Kind, und schon streichen die Schicksalsschatten über dich hin.» Sie raffte sich auf, sass gerade auf in ihrem Stuhl. Lächelte.

«Wir wollen froh sein, dass dein Vater ja gesagt hat und dich nicht aus Trotz und Zorn böser Nachrede aussetzen will. Dass du das Elternhaus nun missen musst – es konnte nicht anders kommen. Heute abend erwarten wir Maurice, und mein Mann will ernstlich alles, eure Zukunft Betreffende, mit ihm besprechen. Verlassen seid Ihr nicht. Und das Schwerste, das Allerschwerste ist dir erspart geblieben. Dein Kind wird von Vater und Mutter begrüsst werden.» Tilly küsste Monikas Hand. Liebe, gute Frau Monika!

Das Gespräch zwischen Laurent und Maurice verlief ohne jede Störung, aber kühl von Toms Seite, befangen von der des Chèbres.

Laurent führte sein eigenes Leben nicht so, dass er Maurice gegenüber auch nur den leisesten Vorwurf gewagt hätte. Er umging alles, was das Verhältnis der beiden jungen Menschen betraf, und sprach nur von notwendigen äusseren Verhältnissen.

Im Laufe des Abends kam Tom Laurent auf einen Brief zu sprechen, den er schon vor geraumer Zeit erhalten habe. Man hatte ihm aus Japan geschrieben, aus Honda, aus Kyoto. Laurent wurde gebeten, einen jungen Schweizer ausfindig zu machen, womöglich aus dem Jura, der Wiege der Uhrmacherei, der, vollständig ausgebildet und von tadellosem Charakter, imstande wäre, eine neugegründete Uhrmacherschule während eines Jahres zu leiten. Es sei alles bereit, jedoch fehle der tüchtige Leiter noch. Verschiedene Versuche seien missglückt. Nun sei ihm der Brief wieder eingefallen, berichtete Tom.

Er empfand dieses aussergewöhnliche Zusammentreffen wie einen Wink des Schicksals. Im Falle Maurice einverstanden wäre und sein Vater ihn entbehren könne, denn ohne dessen Einwilligung würde Maurice kaum reisen wollen, böte sich hier eine unverhofft günstige Möglichkeit. Maurice hatte mit stürmischem Herzklopfen zugehört. Gleich einem Meteor stand diese fast unmöglich scheinende Aussicht vor ihm. Ein Jahr Fremde – Japan! Die Reise, das schöne Einkommen, die Befreiung aus der Enge der Kleinstadt, die Möglichkeit, seine Ehe nun fern des erzürnten Elternpaares beginnen zu können, das alles wäre wundervoll und schönste Wunscherfüllung. Er fand kaum Worte.

«Sie werden schwerlich auf mich gewartet haben», sagte er endlich.

«Die Chancen sind nicht gering. Die japanische Firma hat mehrere Fehlschläge hinter sich. Sie beschäftigte Leute, die sich nicht eingewöhnen konnten, die krank wurden, sich fremd fühlten, oder sonstwie nicht für diese Stellung taugten. Dazu kommen der noch immer nicht beendete Krieg zwischen China und Japan, das gespannte Verhältnis Amerika gegenüber, die unruhig und drohend aufziehenden Schatten in Europa. Sind Sie entbehrlich, Maurice?»

«Für ein Jahr, ja. Wir haben einen ausgezeichneten zweiten Chef. Der kennt den Betrieb durch und durch. Es wäre unausdenkbar angenehm, wenn ich diesen Posten erlangen könnte. Mein Vater würde sich fügen, ihm ist das geruhsame Leben wichtig, und das kann er ohne mich ungestörter geniessen. Tillys Einwilligung bin ich sicher. Wann werden wir erwartet?»

«Ende des nächsten Monats. Die Reise wird von den Japanern bezahlt. Beneidenswerter junger Mann. Die Firma will denjenigen, den ich mir ausgesucht habe, als ihnen verpflichtet betrachten.»

«Bis morgen mittag werden Sie Bescheid haben, Herr Laurent. Die Abreise könnte drei Tage nach unserer Hochzeit stattfinden, Tilly ist mit allem eingedeckt, was überhaupt denkbar ist. Wie wunderbar, wie herrlich, wenn sich dieser Plan verwirklichen lässt.»

Tilly war überglücklich im Gedanken an eine solche Reise. Sie umarmte Monika mit Inbrunst, lief durch das Nebenzimmer, lief durch die Veranda, lief hinaus in den Garten, wo die Kosmeen sich auf ihren langen, dünnen Stengeln wie Schmetterlinge wiegten und über den Stauden schwebten.

Sie lief weiter zur Eiche und wieder zurück. Ach, was für ein Zeichen, was für ein Glück! Ganz gewiss bedeutete es, dass des Vaters Segen ihnen dennoch nicht mangeln werde. Dass er verzeihen werde. Sie konnte sich kaum fassen. Und dann der Hintergedanke: fort, nur fort! Ach, wie meinte es der liebe Gott doch so gut mit ihnen beiden.

 

Die Einwilligung des Vater Chèbres wurde nach einem zweistündigen Kampf erteilt. Die Unterredung verlief keineswegs stürmisch. Es gab nicht einmal böse Worte. Was die Hochzeit betraf, gab der Vater sofort nach, als ihm Maurice die Wahrheit sagte. Chèbres wusste, was für Folgen es haben würde, wenn er sich der Heirat auch jetzt noch widersetzte. Er würde den Sohn verlieren, ihm in den Augen der Mitbürger schaden.

Und schliesslich hatte sich sein Zorn Ochsner gegenüber verzogen.

Mauricens Mutter aber war stolz im Gedanken, ein Mädchen aus so angesehenem Hause zur Schwiegertochter zu erhalten. Die Umstände, die eine rasche Heirat förderten, würden ihr ohne Zweifel dazu verhelfen, sich wie bisher die Überlegenheit in der Familie zu erhalten. Telegramme wurden abgeschickt. Telegramme kamen.

Die nötigen Papiere zur Hochzeit wurden eingereicht, die unerlässlichen Schritte getan, die Hochzeit angesagt, die Gäste geladen. Tilly war glücklich wie ein Kind. Sie umschmeichelte Monika, sie diente ihr, sie dankte ihr, und Monikas getrübtes Gefühl ihrem Liebling gegenüber war wie weggewischt. Sie zählten gemeinsam die Tage: Noch vierzehn, noch acht, noch drei –

So sah denn die schmucke Stadt nach wenigen Wochen fünf Hochzeitskutschen durch das alte steinerne Tor rollen, die grosse Hauptstrasse entlang.

Die Braut in Schleier und Kranz im ersten Wagen. Erschöpft lehnten sie und Maurice aneinander, im Gefühl einer gewonnenen Schlacht, einer überstandenen Gefahr. Hand lag in Hand. Kameraden, Freunde, Liebende.

Im zweiten Wagen sassen die Eltern Chèbres. Im schweren Damastkleid die Mutter, im Frack und Zubehör der Vater.

Junge Mädchen und junge Männer scherzten und lachten im dritten Zweispänner und beneideten, je nachdem, die Braut oder den Bräutigam. Sie ersehnten heimlich ihren eigenen Hochzeitstag oder machten andächtig und überzeugt ein Kreuz davor. Die letzten Wagen waren mit den Prominenten der Fabrik, den langjährigen Dienstboten und den wenig zu beachtenden Verwandten angefüllt. Je fünf in der letzten und vorletzten Kutsche.

Auf den Strassen standen die Neugierigen. Alle wussten, dass das Hochzeitsmahl in «La fourmi» gefeiert wurde, bei dem ehemaligen Koch des Grand Hotels Paris, der sich zurückgezogen hatte und aus Langeweile bei Hochzeitsessen kochte und kommandierte.

Dass der Ratsherr Ochsner und seine Frau fehlten, begriff man. Er hatte die Hochzeit nicht gewünscht. Er war den Chèbres feindlich gesinnt. Es war sein gutes Recht, dies öffentlich kundzugeben. Es glich dem Ochsner, dass er einfach nicht mitmachte.

Die Leute billigten seine Haltung.

Auf der grünen Bank hinter dem Lorbeerbusch sass Georgine und weinte bitterlich. Sie konnte es nicht glauben und nicht fassen, dass sie keine Tochter mehr haben sollte. Sie mochte nicht essen, sie konnte nicht schlafen.

Ochsner sass neben ihr und streichelte ihre Hand.

«Ich kann es nicht aushalten, Hans-Peter. Ich kann nicht sein ohne Tilly. Ich will sie noch sehen, ehe sie fortfährt. Ich will noch ins Weisse Haus und von ihr Abschied nehmen. Ich will, Hans-Peter.»

«So gehe. Tue, wie du musst.» Er ging zu den Pferden, denn er konnte Georginens Tränen nicht ertragen. Sie kann ja nichts dafür, dachte er. Das Kätzchen, das kleine. Sie hat nicht geschworen wie ich. Sie kann tun, wie es ihr ums Herz ist. Ich nicht.

 

Eine Fahrt durch unbekannte Länder und Meere ist eine der eindrücklichsten Kostbarkeiten des Lebens. Ist man gar zu zweit, ein Liebespaar, ein junges Ehepaar vielleicht, dann sollte man in seiner Kabine einen kleinen, bescheidenen Dankaltar errichten.

Denn nur so dahinzugeniessen, gedankenlos das Gute einfach hinnehmen und es selbstverständlich finden, das rächt sich. Dankbar sein schützt vor Verlust. Dankbarkeit hält die Hand des Schicksals zurück, wenn es zuschlagen will.

 

Wer hätte mehr Grund gehabt, Dankopfer zu bringen, als Maurice und Tilly? Wem reiht sich, wie diesen beiden, ein kostbarer Stein an den andern zu einer Glückskette?

Es ist nicht aufzuzählen, was sich ihnen alles zu gutem Ende gefügt hatte, wieviel Freundschaft sie geniessen durften, wieviel Hilfe, wieviel Erfüllung dessen, was sie erhofften und wünschten; wieviel äusserliche Annehmlichkeiten ihrer warteten, wieviel Unangenehmem sie entronnen waren. Hand in Hand gehen zu können vom Morgen bis zum Abend, um ihrer Liebe willen von keinem mehr getadelt zu werden, niemand beneiden zu müssen, niemand zu fragen, keinem zu gehorchen – unaussprechliches Glück.

Vielleicht ist es Jungverliebten nicht immer möglich, den bewussten inneren heiligen Ort zu gründen. Die Gedanken wollen sich nicht führen und fesseln lassen, auch mag man nicht hinstehen und gleichsam die Hände falten und dankbar sein.

Ach, ein paar stille Gedanken genügen. Eine Erinnerung am wehenden Kleidchen zurückhalten: Warte einen Augenblick! Mehr brauchte es nicht.

Vielleicht ein Gedankengruss über das Meer an die einsam gewordene Georgine? Ein warmes Gedenken an Gotte Monika, Tom Laurent, denen sie es verdankten, dass sie glücklich waren? Ein Fünklein der Reue gegenüber dem Vater, dessen Stolz und starken Willen sie geschädigt und herausgefordert hatten? Vielleicht hätte das genügt. Maurice und Tilly aber fuhren selbstvergessen und glückverloren dahin über das blaue, ruhige, glanzvolle Meer. Sie sahen dies und sahen das. Sie sahen sich an und lachten, sie neigten sich zueinander und küssten sich.

Sie liebten sich so sehr, sie waren so glücklich, so jung, viel zu verliebt und eines im anderen lebend, um sich voneinander zu lösen und um der Welt und der Menschen zu gedenken, die ausserhalb des winzigen Kreises lebten, der augenblicklich ihr Leben umfasste. Sie vergassen, dankbar zu sein.

Sie fuhren auf den grossen Wassern dahin. Sie wussten nicht, dass ihnen das Schicksal in seinen grauen Schleiern folgte, unsichtbar, unerbittlich, streng und willkürlich.

 

Sie passten gut zueinander, die temperamentvolle, Welt und Leben stark in sich aufnehmende Tilly und der ruhige, jeden Eindruck weder heftig noch trotzig empfindende Maurice. Ein jedes fand im andern die Eigenschaft, die ihm fehlte und die es zu besitzen wünschte. Sie ergänzten sich.

Die beiden Glücklichen durchquerten Meere, landeten in manch grossem Seehafen, für einen Tag, für mehrere Tage. Sie ritten während eines Aufenthaltes auf dem Festland auf Eseln, Maultieren, Kamelen und Pferden. Sie sahen Menschen von allen Farben und Arten. Sie fuhren in Eisenbahnen, Wagen, Sänften und Rikschas und waren kaum imstande, alle die Eindrücke zu verarbeiten, mit denen sie überschüttet wurden. Sie durchquerten den Suezkanal, sie fuhren an einem Land nach dem andern vorbei, an Griechenland, an der Türkei, Ägypten, Syrien, an Hinterindien und Siam, und landeten endlich am Ort ihrer Bestimmung, im Hafen von Yokohama. Von dort brachen sie auf nach der Stadt, die sie erwartete, nach Kyoto.

Würdig wurden sie empfangen. Mit grossen Augen sah Tilly auf die gebückten Rücken, hörte überhöfliche Worte, freute sich an den gemessenen, untertänigen Gebärden und hatte das deutliche Gefühl, in einem interessanten Stück auf einem grossen Theater mitzuspielen.

 

Längst schon hatte sich Ochsner auf den Weg nach Roggenberg aufmachen wollen, teils um den Sohn in seinem Beruf und unter den Leuten, die ihn umgaben, zu sehen, teils um sich in aller Stille davon zu überzeugen, dass Pierre fähig sein würde, sein Amt in der Vaterstadt zu versehen. Vor allem aber wollte er wissen, ob der Junge seinen Vorsatz, den Doktor nicht zu machen, wirklich durchzuführen wage. Es erschien ihm kaum möglich, dass der Sohn allen seinen Wünschen entgegen, dem eigenen Vorteil entgegen, die sich ihm darbietende Stellung verscherzen könnte.

Es war Hans-Peter viel zwischen Wollen und Durchführen gekommen. Eine Woche um die andere verstrich, in die er eine Bresche hätte schlagen können, um einen Ferientag einzuschieben. Aber stets hemmten ihn die Dinge und Pflichten des Alltags.

Zur Hochzeit seiner Schwester war Pierre nicht gekommen. Unmöglich, hatte er geschrieben, könne er auch nur einen Sonntag opfern. Zuviel Arbeit, hatte er hinzugefügt.

Und auf einen an Tilly gerichteten Zettel kritzelte er, dass er dem Vater nicht gern begegnen möchte. Tilly lag nicht besonders viel an ihrem Bruder. Sein eigentümlich schleicherisches, zärtliches Wesen um sie herum hatte sie abgestossen. Ein Bruder braucht seine Schwester nicht alle Augenblicke zu küssen, hatte sie damals ärgerlich gesagt und sich mit dem Taschentuch das Gesicht gerieben, wenn es doch geschah.

Seit ihrer Hochzeit und Abreise nach Japan war Hans-Peter Ochsner kaum von seinem Gut fortgekommen. Was hatte er ausserhalb zu suchen? Was kümmerten ihn die abendlichen Zusammenkünfte mit den Bürgern, den Ratsherren, den Freunden? Alles kam ihm wie fremd und weit entfernt vor. Er bedurfte ihrer nicht und sah so vieles mit anderen Augen an als früher.

Der Schlag, den Tilly ihm versetzt, hatte so gut getroffen, dass er sich lange nicht davon erholen konnte. Sein Lieblingskind war fort. Es fehlte ihm sehr. Tillys Singen im Haus, ihr lustiges Necken, ihr temperamentvolles Widerreden, ihr kindlicher Eigensinn, alles das, was ihn unterhalten und belustigt hatte, war verschwunden. Es war nicht nur Heimweh nach seiner Tochter, das ihn quälte. Es war die Niederlage seiner Liebe zu ihr, und die Niederlage der Macht über sie, die Niederlage, die sein Willen erleiden musste durch ihre Schuld. Seine Selbstachtung hatte Schaden genommen.

Ochsner hatte das unheilvolle Gefühl, dass ihm sein Sohn ebenfalls die Fahne entreissen werde. Vielleicht schob er auch deshalb seinen Besuch immer wieder hinaus, weil er heimlicherweise befürchtete, es könnte noch mehr auf ihn warten.

Aber eines Tages machte er sich trotzdem auf den Weg. Ein paar Stunden Gehens kümmerten ihn wenig.

Wer ihn so daherkommen sah, weit ausholend mit seinen festen, bestimmten Schritten, alles beobachtend, den Kopf nach allen Seiten drehend, um sich nichts entgehen zu lassen von allem, was es draussen Schönes zu sehen gab, der hätte sich an dem Manne gefreut. Man sah es diesen mächtigen Augen an, dass sie richtig zu sehen verstanden und ein Kornfeld nach seiner Dichte beurteilen konnten, einen Weinberg nach den angesetzten Trieben, und dass sie einen Waldbestand nur zu überblicken brauchten, um zu wissen, wie der Schlag ausfallen würde und wieviel dem Besitzer seine Bäume einbringen könnten.

Aber sein Blick ging in die Weite, ging höher, überflog die Juraberge, das Band, das die ganze Gegend zusammenhielt, und sein vaterländisches Herz begann freudig zu klopfen. Und noch höher stieg sein Blick. Hinauf zu den Himmeln, nach denen er sich schon als kleiner Bub den Hals beinah ausgereckt hatte, weil er wissen wollte, wer denn da oben wohne.

Er kam an prachtvollen und dunklen Stechpalmenhecken vorüber, die dicht und üppig wuchsen, an silbernen Disteln, an Eibischbüschen, deren rote Beeren sich bescheiden unter dem Laub versteckten. Er atmete mit Freuden, stand eine Weile still, hoch auf einem überwundenen Hügel, und hob sich, gross, stark und schön, Bild eines kraftvollen Mannes, scharf vom Himmel ab. Seiner Sorgen gedachte er nicht. –

 

Während dem Vater Freude und Kraft der Seele aus Himmel und Erde und dem glückspendenden Heimatgedanken erstand, beendete der Sohn seine in enger Schulstube abgehaltene Geschichtsstunde, die Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft betreffend.

Nachdem er das Buch geschlossen, dessen Lehren er auswendig kannte, aber sie nie in ihrer Tiefe verstanden hatte, nie in ihrer Grösse zu erfassen versuchte, klopfte er mit dem gekrümmten Zeigefinger auf den Tisch.

«Aufgabe Seite 296 wird wiederholt. Der erste Vers des Liedes: ‹O Haupt voll Blut und Wunden ...› wiederholt, der zweite und dritte auswendig gelernt.» Er wandte sich an ein Mädchen.

«Dorette Ammann, du kannst nach der Stunde die Liederbücher einsammeln.» Sie nickte, aber er sah es nicht. Er schaute sie nicht an, während er sprach.

Es war ein schönes Kind, strahlend von Gesundheit, und mit Augen, deren Blau dem schönsten Septemberhimmel nichts schuldig blieb. Es lief ein jähes Rot über die runden Wangen, als der Lehrer sie anrief.

«Ja, Herr Lehrer.» Eine Mitschülerin zupfte sie dabei am Kleid, und sie musste lachen.

Das Schulzimmer leerte sich. Aus dem Fenster sah man hinaus in die weiten Wiesen, in einen grossen Obstgarten, zu den Bienenhäuschen unten. Zum grossen Birnbaum mit den sammetigen, summenden kleinen Arbeitern. Pierre schloss die Fenster.

Im Schulhaus war es still geworden. So still, dass man sich hätte allein in der Welt glauben können. Pierre sah das Mädchen langsam herankommen und die gesammelten Bücher neben seinem Pult niederlegen. Er winkte. Es kam näher. Pierre nahm seine Hand und hielt sie fest. Er legte die seine auf des Kindes Schulter. Dann hob er es auf seine Knie und streichelte es.

«Wollen wir wieder zusammen spazieren gehen?» fragte er. Dorette nickte. «Wann? Morgen?» Pierre nahm aus seinem Pult eine Tafel Schokolade. Er gab sie dem Mädchen. Sie möge es nicht allen zeigen, denn allen könne er nicht solche Tafeln schenken. Sie aber sei die brävste von allen seinen Schülerinnen. «Und die allerhübscheste», flüsterte er vor sich hin, aber so, dass sie es verstand. Darauf verabschiedete er sich von ihr und legte seine Hand einen Augenblick um ihr braunes, weiches Hälschen. Dann liess er sie gehen. Sie lief davon. Unruhig blieb Pierre zurück.

Er ging ans Fenster, rückte die Wandtafel gerade, nahm den Karton mit den Insekten herab von der Wand und vertauschte ihn mit dem der Pilze. Darauf löschte er, was auf der Wandtafel geschrieben stand, aus und schrieb «Dorette» – mit rosafarbener Kreide darauf. Er schrieb es mit französischen, dann mit deutschen Buchstaben. Er schrieb es, als sollte der Name gedruckt werden. Er schrieb ihn auch mit grossen Buchstaben und schlang ein Gewinde von Blumen darum, zierlich und mit Geschmack. Und dann nahm er den Schwamm und wischte das Ganze aus.

Pierre wählte mit Sorgfalt die Wege, auf denen er mit Dorette lange Spaziergänge machte. Selten trafen sie Leute. Etwa einen Bauern, der seine Ziege nach Roggenberg brachte. Einen Vagabunden vielleicht, der sich ein Obdach für die Nacht suchte.

Die Gilde der Landstreicher hatte ihre bestimmten Gesetze. Sie kamen einander nicht in den Weg, sie störten sich ihre Kreise nicht. Grosse Gefilde betrachteten sie als ihnen zugehörig und wechselten gegenseitig ihre «Streifen».

Pierre und Dorette hatten sich schon etwa mit dem einen oder andern getroffen. Der Vagabund hatte dann grüssend genickt und viel Vergnügen gewünscht und gelacht. Pierre aber hatte nur ablehnend an den Hut gegriffen. Einmal hatte einer «Grüss Gott, Ochsner» gerufen, «grüss mir die schöne Schwester» und darauf ein Hohngelächter angestimmt.

Sonst war ihnen auf ihren Wegen nichts Unangenehmes begegnet. Pierre verstand es, glückliche Umwege zu machen, und kannte die Köhlerhütten im Jura, für den Fall, dass Regen drohte.

Er kannte auch alle Pinten im Umkreis und deren Töchter und nichtsnutzigen Aushilfen, Schlampen.

Aber Dorette war ihm lieber als alle.

 

Als Ochsner die ersten Häuser von Roggenberg erreicht hatte, setzte er sich unter eine Linde, die, rund geschnitten, von Bienen umschwärmt und schattig, den Wanderer einlud, auf der Steinbank Platz zu nehmen. Wie überall, umschloss ein Ring von Granit den Stamm, und Hans-Peter liess sich nicht bitten.

Einen Augenblick wollte er ruhen, darauf den Vorsteher aufsuchen und, wenn er günstigen Bericht erhalten sollte, eine oder zwei Stunden mit dem Sohn verplaudern. Er fand den Bauern zu Hause, jedoch im Begriff, mit einer Fuhre Holz zu Tal zu fahren.

«Ich habe Euch grüssen wollen, Vorsteher, und will Euch nicht lange aufhalten. Ein paar Fragen habe ich zu stellen, die bald beantwortet sein werden.»

Er wurde in die kühle Stube geführt und erhielt ein Glas Wein aufgetischt. Behaglich setzte sich der Vorsteher Ignaz hin, um den Ochsner nicht merken zu lassen, wie unbequem er ihm kam. Das gestattete man sich dem Ratsherrn gegenüber nicht leicht.

«Um es kurz zu machen, Schulvorsteher, wie seid Ihr mit dem Sohn zufrieden?» begann Hans-Peter. Das war grad heraus gefragt, und dem Ignaz wäre es lieber gewesen, es wäre ihm Gelegenheit geboten worden, seinerseits ein paar Umwege machen zu können.

«Weil Ihr mich so ohne weiteres fragt, Ochsner, so will ich Eure Frage ebenso beantworten. Und da muss ich sagen und tue es ungern, dass ich gar so zufrieden nicht sein kann. Viel zu loben ist da nicht.» Hans-Peter zuckte mit der Wimper.

«Was werft Ihr dem Sohne vor?»

«Ja, so absolut etwas vorwerfen, irgend etwas ganz Bestimmtes, das kann ich nicht. Viel Eifer seinerseits merken wir im Dorfe nicht. Gar besonders gut haben die Kinder am Examen nicht bestanden. Der Inspektor war unzufrieden.» Der Bauer kratzte sich sein graues Haar.

«Weiter, Vorsteher!» befahl Ochsner.

«Jugend hat keine Tugend, Ochsner. Wir waren auch keine Muster. Und ich habe nichts dagegen, wenn die jungen Leute ihre Freude haben, suchen und finden. Aber ... ja ...» es war Ignaz peinlich, solche Sachen, solche unangenehmen Dinge sagen zu müssen.

«Nur weiter, Vorsteher, nur weiter», ermunterte ihn Hans-Peter, obgleich ihm das Herz in der Brust hämmerte.

«Ja, eben. Der Pierre geht nicht auf den Tanzboden. Der will auch nicht mit den anderen Burschen ins Wirtshaus am Sonntag. Dem laufen unsere Töchter umsonst nach. Der bleibt in seiner Klasse sitzen bei seinen Schulmädchen. Der flattiert seinen Schülerinnen.»

«Vorsteher!» rief Ochsner.

«Man hört so dies und das. Die Kinder erzählen so dies und das. Man weiss nichts. Man sieht nichts, man hört nichts, aber es ist ein Getuschel und Geflüster da. Etwas ist nicht in Ordnung mit dem jungen Kerl, dem allzu hübschen Kerl. Etwas stimmt da nicht.» Ochsners Gesicht wechselte den Ausdruck. Er hob abwehrend die Hand.

«Eine Frage, Ignaz. Dem Sohn ist die Stellung eines Lehrers an der Mädchenschule unsrer Stadt in Aussicht gestellt worden. Wohlverstanden nach einem weiteren Jahr Studierens und dem Doktorexamen. Es wäre eine sichere und gute Versorgung. Kann, nach Eurer Meinung, dem Pierre eine solche Stelle anvertraut werden? Würde er sie zur Befriedigung der Vorgesetzten ausfüllen?»

«Nein, Ochsner, das kann er nicht, und wenn er auch weiterstudiert. Er ist nicht hinter der Sache her. Er nimmt es nicht ernst. Er macht es sich zu leicht. Und eben – man trifft ihn auf Spaziergängen im Wald, mit Mädchen, und zwar nicht etwa mit der ganzen Klasse, nota bene.»

«Man trifft ihn also mit einer allein, wollt Ihr sagen, Ignaz?»

«Genau das will ich sagen. Genau das.»

«Hat man ihn gesehen? Hat ihn jemand mit solch einem Schulmädchen angetroffen?»

«Man hat ihn gesehen und getroffen. Glaubwürdige Leute», sagte der Vorsteher und suchte nun seine harte Mitteilung erträglich zu machen. «Bedenket, Ochsner, dass Gelegenheit Diebe macht, und dass so junge Leute – man muss warnen –, man muss ...»

«Ihr habt mir einen Dienst geleistet, und ich danke Euch, Vorsteher.»

«Keine Ursache», sagte eifrig der andere. «Aber nun muss ich fahren, sonst komme ich zu spät mit meinem Fuder. Nichts für ungut, Ochsner, kommt Ihr mit?»

«Mitfahren will ich nicht. Es gibt allerhand zu verdauen. Da ist man besser allein. Und noch eine letzte Frage: Wird der Pierre nächstes Frühjahr wieder gewählt hier oben in Roggenberg, wenn er ein weiteres Probejahr auf sich nähme?»

«Das glaube ich kaum. Ich könnte natürlich meine Stimme geltend machen, möchte es aber doch lieber nicht, denn ich glaube kaum, dass ich damit Eurem Sohn einen Dienst leisten würde. Es ist besser, wenn er fortkommt. Er vertut viel zuviel Zeit. Und eben, auch sonst.» Sie waren langsam bei der wartenden Fuhre angekommen. Ignaz stieg auf, grüsste und fuhr davon.

Gerade und aufrecht ging Hans-Peter wiederum bergab. Er sah starr vor sich hin und merkte nichts mehr von all dem Schönen, das ihn beim Aufstieg so erfreut hatte. Den Hut trug er in der Hand, den Stock hatte er vergessen.

Es ist ja nicht möglich, dachte er immer wieder. Solch ein Lump ist er? Vielleicht schlimmer als ein Lump? Das wird also aus ihm, aus meinem einzigen Sohn: ein Lump.

Er war wie benommen, stolperte auf dem schmalen Waldweg, stand still und stützte sich mit dem Ellbogen an den Baumstamm, der ihm zunächst stand. Sein ganzes rechtschaffenes, gesundes und echtes Wesen wehrte sich.

Dass das nun auch noch über mich kommt, habe ich nicht verdient, dachte er dumpf. Warum muss mir das geschehen, einen solchen Sohn zu haben? Warum? Ich weiss, nach dem «Warum» soll man nicht fragen. Das hat mir der Pfarrer gesagt, als mir der Stall voll Kühe ausstarb. Man soll nicht? Wer verbietet es? Das sind Rätsel. Warum gibt mir Gott solche Rätsel auf? Wie soll ich die lösen? Knacke du, denkt er. Knacke, Ochsner, will sehen, ob du starke Zähne hast.

Höhnisch lachte der Mann, der nun mit weiten Schritten vorwärtsstürmte und nicht links und nicht rechts sah. Nein, so starke Zähne habe ich nicht, um diese Nuss zu knacken, du Herrgott im Himmel! Dazu reicht es nicht. Er blieb wieder stehen.

Gut, ich frage nicht. Ich frage also nicht. Aber ich wehre mich dagegen, dass man mir die Schuld aufladet. Schuld habe ich. Ja, man irrt eben auch. Ich habe mich geirrt, als ich Pierre Lehrer werden liess. Bin ich mit meinen Wünschen und Meinungen danebengeraten? Gut, das kommt vor. Bessere als ich haben sich geirrt. Aber das ... das ... das darf man mir nicht in die Schuhe schieben. Diese Bürde nehme ich nicht auf mich. Wiederum blieb er stehen. Dann setzte er sich auf die Wegböschung, um zu ruhen und Atem zu schöpfen. Nach einer Weile sah er sich um.

Alles wäre so schön, dachte er erschüttert. Alles ist wohlausgedacht und so kunstvoll. So erfreulich anzusehen. Alles ist ganz das, was es sein soll. Jeder Baum ist vollendet und ganz ein Baum. Die Blume ein Schmuck, der Berg voll Wucht. Die ganze Schöpfung ein Meisterwerk. Aber der Mensch? Eine Schülerarbeit vom Herrgott. Ein Machwerk. Da schafft er ein Geschöpf, das stark sein und allem Bösen widerstehen soll. Doch wie schwach, wie schwankend ist solch Geschöpf! Es soll den geraden Weg gehen und ist doch von Anfang an voll Ungeradem. Er ist schlecht erfunden, der Mensch. Um ihn zu schaffen, hätte der Herrgott Eisen nehmen sollen, Erz oder Granit. Und ein Herz aus Marmelstein hätte er dem Menschen in die Brust einsetzen sollen, kein solch unruhiges und hilfloses Ding. So hätte er vielleicht dem Bösen besser widerstehen können. Ochsner lachte bitter. Das Leben wäre leichter zu ertragen. Ein Kinderspiel wäre es. Zornig schüttelte er den Kopf.

Und was ist nun geworden aus diesen Nachkommen Adams? Aus den Kindern eines Kerls, den der Herrgott aus Erde und Dreck geschaffen hat? Was ist dabei herausgekommen? Ein Doppelgeschöpf, gut und böse, kaltherzig und voll Leidenschaft, stark im Wollen, schwach gegen Begierden, Mörder und Diebe und Kerle wie Tiere; Ungeheuer, Engel und Teufel in einer Person. Mit beidem zusammen, mit Hörnern und Flügeln! O du Herrgott, du Herrgott, warum hast du den Menschen gemacht und lässest ihn stecken im Sumpf?

Hans-Peter liefen die grossen Tränen über das braune Gesicht. Er wischte sie mit den Ärmeln ab und lief weiter. Mit Wucht riss er einen Ast vom nächsten Baum und peitschte damit das Gras am Weg, die Steine und die Blumen, dass sie fielen, flogen und rollten. Blindlings schlug er um sich.

Ein Lump, mein Sohn, und vielleicht Schlimmeres. O du mein Herrgott!

Zu Hause ass er nicht, sprach mit niemandem, suchte Georgine nicht auf und ging mit müden, schweren Schritten hinüber in seine Stube. Er machte nicht Licht. Er blieb im Dunkeln.

 

Schlafen konnte Ochsner nicht. Es half ihm nichts, dass er seinen sonst so sicheren Willen ins Feld führte, um sich zu zwingen, der Gedanken Herr zu werden, die der Verstand ihm wie harte Kieselsteine vor die Füsse geworfen hatte.

Also hinter den Schulmädchen ist er her? Hinter den Unmündigen? Er gedachte der übertriebenen Zärtlichkeit Pierres seiner Schwester gegenüber. Also die Schwester, wenn anderes nicht zu haben ist? Ihn ekelte. Er hatte es ja gespürt, geahnt, dass sich da Unerlaubtes einschmuggeln wollte. Ungesundes Gebaren, ungesundes Fühlen.

Aber ahnen ist nicht wissen. Ahnen ist umschleiert und kann verflattern. Wissen ist gepanzert und trägt das Visier offen. Und nun wusste er.

So, Hans-Peter, da stehst du nun. Was kann nun noch kommen, was fehlt noch? Die Tochter verloren, den Stall verwüstet, die Ernte vernichtet, der Sohn auf üblen Wegen. Was kannst du noch verlieren, woran dein Herz hängt?

Georgine? Ja, Georgine. Aber sie ist Vergangenheit, wie ich Vergangenheit bin. Mir geht es aber um die Zukunft. Mir geht es um die Nachfolge, die Nachkommen. Um die Fortsetzung meiner selbst und meines Geschlechtes. Darum.

Nacht um Nacht schlug er sich mit der Schlaflosigkeit herum. Sieger blieb er nie. Mitten in der Nacht stand er auf und nahm den grossen, schweren Schlüsselbund, den ihm der Dieter jeden Abend im Zimmer neben die Tür hängen musste. Dann ging er hinunter, ohne Lärm, leise, als gehe er im Traum.

Da wurde ein Fenster hell und wieder dunkel. Dort knarrte eine Türe und schloss sich wieder. Man hörte das Stampfen eines aus dem Schlaf geweckten Tieres. Es blitzte ein kurzer Lichtstrahl über den Hof oder über den mächtigen Speicher, worin die Schätze des Hofes ruhten. Freudig wieherte ein Pferd, das seinen Herrn witterte. Wie ein Geist, ruhelos und verwunschen, erschien der Herr des Ochsnerhofes überall; schloss auf und schloss zu. Machte Licht und löschte es. Ging zurück in seine Stube und schlief nicht.

Wenn er aus oberflächlichem Schlummer aufschreckte, war ihm, er sei an allen Gliedern gebunden. Sein Kopf brannte, sein Herz schlug heftig, und Durst quälte ihn. Kaum mochte er aufstehen.

Ich muss um zehn Jahre älter geworden sein in diesen Tagen, dachte er. Vor dem Spiegel, den er befragte, fuhr er sich durchs Haar. Sind sie noch nicht weiss geworden? Er schüttelte den Kopf.

 

Aber wie jeder Sturm, legte sich auch der im Herzen Hans-Peters. Der Steuermann eines jeden Lebens, die Vernunft, lenkte auch das seine. Er begann zu überlegen, die Einzelheiten des Erfahrenen zu zergliedern, sie abzuwägen, um schliesslich zum Schluss zu kommen, dass er sich blindlings allzusehr hatte beeindrucken lassen. Schreck und Zorn hatten ihn geblendet. Tatsachen waren keine gemeldet worden. Spaziergänge? Gut. Ochsner war kein Kind, kein Idealist, keiner, der lauter fröhliche, helle Farben auf seiner Palette hatte. Spaziergänge konnten etwas bedeuten. Aber Pierre war nicht mehr achtzehn, war gebildet und kannte die Folgen von Verirrungen.

Ochsner selbst hatte nie auch nur einen Augenblick lang gezaudert, wenn es irgendwie oder irgendwann galt, vor Verbotenem haltzumachen. Ihm kam jegliche Art von Gesetzesübertreten als unverzeihlich vor.

Selten, sehr selten hatte das Gericht derartige Fälle zu erörtern. Und musste es geschehen, so nahm an der Empörung die ganze Lehrerschaft teil, um ihrer Ehre und des Standes willen. Ebenso die Bevölkerung, die unerbittlich war, wo es Unmündige betraf.

Ochsner kam nach gründlichem Nachdenken zum Schluss, dass er vorläufig nichts unternehmen wolle. Er wollte nicht, wie er es sich zuerst zu tun vornahm, Pierre aus Schule und Versuchung herausreissen. Das würde Aufsehen erregen, seinen Weg versperren und ihn schliesslich als Vagabunden doch noch nach Batavia, Mexiko oder auf die Balearen gelangen lassen. Besser war es vorläufig, zu schweigen, im Frühjahr ging ja sein Probejahr ohnehin zu Ende. Ignaz hatte ihm ja deutlich genug verraten, dass der junge Lehrer nicht wiedergewählt würde.

Ochsner wollte an seinen Sohn schreiben, ebenso an den Schulvorsteher. Das Schreiben an Pierre sollte in allen Farben schillern und Zeugnis ablegen von seines Vaters Kummer und Empörung. Es sollte den Sohn wie mit eisernen Ketten zurückhalten und ihm alle Lust an weiteren Spaziergängen mit Schülerinnen austreiben. Es sollte ihm in diesem Brief ein derartig schauderhaftes Zukunftsbild gezeichnet werden, dass eine heilsame Ernüchterung unausbleiblich sein musste. Der Brief wurde geschrieben, und Ochsner fand seinen Schlaf wieder.

Pierre Ochsner las ihn. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Angst und Schrecken packten ihn. Was wollte der Vater? Was konnte er wollen? Was wusste er? Nichts wusste er. Nichts konnte er wissen. Aber wer mochte ihn verklagt haben? Und wo waren dessen Zeugen? Es gab keine.

Er las den Brief ein zweites Mal. Dann legte er ihn in die unterste Schublade seiner Kommode zu den vier Tafeln Schokolade, die er sich kürzlich gekauft hatte, und die darauf warteten, verschenkt zu werden. Er steckte den Schlüssel in die Tasche.

Ochsner hatte von allem, was er erfahren und durchgemacht hatte, Georgine nichts erzählt. Er wollte sie schonen, denn in seinem Herzen lebte immer noch ein mitleidiges, zärtliches Gefühl für sie. Wurde er auch ärgerlich um ihres ängstlichen Sichduckens willen, ihres demütigen Gehabens wegen, leiden sollte sie nicht, wenn er es verhindern konnte. Es war genug, dass sie den Sohn, den sie liebte, entbehren musste. Sie sollte wenigstens glauben dürfen, der Junge sei ihrer Liebe wert.

Er wusste nicht, dass Georgine mit dem schmerzvollen Ahnungsvermögen der Mutter längst erfasst hatte, dass Pierre wenig taugte und niemals dem Vater gleich werden würde.

Aber einstweilen, wie um diese Zweifel, diesen Verrat ihres Zutrauens zu bestrafen, schickte sie Pierre von allem, was der Hof hergab: Der Speicher die Würste und Speckseiten, die Bienenstände den Honig, die Bäume die Früchte, der Keller den Käse, die Schublade ihres schönen ererbten Schreibtisches das Geld.

 

Georgine durfte aber auch eine Freude erleben. Das Herz klopfte ihr rasch und hart, als sie den Brief mit der sonderbaren japanischen Marke auf der rechten Ecke des Briefumschlages in der bebenden Hand hielt. Sie drückte ihn an sich und suchte hastig den Brieföffner aus Bernstein, den ihr Hans-Peter einmal mit nach Hause gebracht hatte. Aber sie hielt ihn gezückt in der erhobenen Hand. Durfte sie den Brief aufmachen? Durfte sie ihn lesen, nachdem das strenge Wort des Vaters gefallen war, das ihre Tochter verbannt hatte? Musste sie erst Ochsner fragen und um Erlaubnis bitten? Ihn bitten, ihr das Lesen zu gestatten?

Sie ging und suchte ihren Mann auf, den verschlossenen Brief in der Hand. Aber einer der grossen Holzhändler stand da in der Mitte der Stube. Ochsner machte eine kleine Bewegung mit seinen ausdrucksvollen Brauen nach Georgine hin, und sie verschwand.

Sie legte den Brief auf ihren Arbeitstisch. Hie und da drehte sie ihn um und besah den Stempel. Sie drehte ihn wiederum auf die andere Seite und betrachtete die Marke. Nach einer Stunde kam Ochsner.

«Was wolltest du mir sagen, Kätzchen?» fragte er. Georgine wurde dunkelrot. Und wenn er mir verbietet, ihn zu lesen? Was tue ich, dachte sie, und fasste Mut.

«Da ist ein Brief von Tilly», sagte sie. Sie legte die Spitze ihres Zeigefingers darauf, gleichsam, um sich seinen Besitz zu sichern. Hans-Peter schwieg.

«Darf ich ihn lesen?» fragte die Frau.

«Der Brief ist an dich gerichtet. Da wirst du ihn lesen wollen, also mach ihn auf.» Verblüfft sah Georgine ihn an. Ochsner runzelte ungeduldig die Stirn.

«Ist dir etwas untersagt worden? Hast du irgend etwas versprochen? Hast du deiner Tochter das Haus verboten? Nein, soviel ich weiss. Lies deinen Brief und lass mich ungeschoren damit.»

«Aber wenn ich dir nichts erzählen darf, so freut es mich nur zur Hälfte», sagte kläglich die kleine Frau.

«Das ist nun deine Sache, Georgine. Dein Brief ist dein Brief, nicht meiner. Wir sind keine siamesischen Zwillinge. Jedem das Seine.» Und damit strich er ihr über ihre Haare und ging hinaus. Es ging aber ein Riss durch sein Herz, er presste die Lippen zusammen, und seine Augen glänzten sonderbar.

Glücklich öffnete die Herrin des Ochsnerhofes ihren Brief. Er war viele Seiten lang. Nachdem sie ihn gelesen, erst hastig, wie man einen Saum am Kleid zu Faden schlägt und dann erst richtig näht, so las sie erst das zweite Mal das, was wirklich drin stand. Und darauf lief sie hinauf zum Tannenhof, um Isolina daraus zu erzählen. Die hörte mit brennendem Interesse zu und musste sich mit dreimaligen «Dio mio» Luft machen, wenn es gar zu wild zuging auf dem weissen Papier, und man hätte meinen können, Tilly löge das Blaue vom Himmel herunter, solch merkwürdige, kunterbunte Sachen erzählte sie.

Es wurde der Mutter und der Zia – «Zia» klinge viel hübscher als das pedantische «Tante», behauptete Isolina – erst wieder wohl, als die Schreiberin von der Schweizerkolonie sprach, von den Volksgenossen, mit denen sie fast ausschliesslich verkehre. Denn in Ewigkeit würde sie die Landessprache nicht lernen können, bei der man das Gefühl habe, als seien alle Buchstaben durcheinandergefallen.

Es gäbe auch Geschäfte mit ganz europäischen Kleidern, erzählte Tilly. Nur die Ausländerinnen dürften allein ausgehen. Sie könnten überhaupt tun, was ihnen behagte, aber die Japanerinnen rümpften über sie die Nase.

Ihr gehe es gut und Maurice ebenfalls – nein besser, denn er geniesse hohes Ansehen. Es stehe ihm ein Auto zur Verfügung, und sie benutzten es jeden Sonntag und auch des Abends. Sie habe zwei Dienstmädchen, denn keine könne alles. Sie hätten auch nur winzige Löhne. Sie, Tilly, könnte drei oder vier sich halten, was ihr aber nicht einfalle. Und im grossen und ganzen sei alles merkwürdig.

Nicht dass die Männer etwa noch alle Zöpfe trügen, aber lange Kleider, meist blaue oder schwarze, und es gäbe noch immer viele Männer, die mehr als eine Frau hätten. Aber jede hätte ihren eigenen Haushalt und ihren eigenen Hof mit einem Haus. Es sei nicht so schamlos wie daheim, wo der Mann auf der gleichen Etage mit der Stubenmagd ein Verhältnis habe. Sauber werde alles gehalten. Die Kinder seien entzückend, und sie hoffe, dass das ihre aussehen werde wie ein kleiner Japaner. Maurice aber sei nicht dafür. Ihm gefielen Schweizerkinder, kleine Jurasserchen, besser, sagte er.

Die beiden Frauen hatten so lange und ausgiebig über den Brief zu reden, dass sie die Zeit darob vergassen. Plötzlich rannte Isolina davon und mit einem Schreckensschrei in die Küche. Gabriel hatte den Schrei gehört und kam aus dem Stall, um zu helfen.

Aber ehe Georgine mit fröhlichem Herzen und roten Bäcklein wieder zum Ochsnerhof hinunter pilgerte, kam Isolina noch einmal gelaufen.

«Und was sagt Hans-Peter dazu?»

«Nichts! Er will den Brief nicht lesen. Und ich darf ihm nichts daraus erzählen.»

«Nichts? Der Kerl, der! Den Brief von seiner leibhaftigen Tochter liest er nicht? Das ist einer! Aber weisst du, Georgine, er gefällt mir doch. Mit Sägemehl ist der Ochsner nicht ausgestopft.» Damit rannte sie wieder in ihre Küche zurück.

 

Mochten die Rosen in Tom Laurents heimlichem Liebesgarten noch so üppig blühen, duften und Farben tragen, es fehlten auch die Dornen nicht, die kleine, schmerzende, kaum sichtbare Wunden hinterliessen.

Dagmar, die Schöne, hatte ein zweites Kind, ein Mädchen geboren. Sie ertrug es schwer, von einer Frau zu wissen, die zu Tom gehörte. Sie mochte den quälenden Gedanken verjagen, mochte das Wort, das ihn gestaltete, nie aussprechen, beide: Gedanke und Wort waren da und verfolgten sie. Unaufhörlich musste sie jener Frau gedenken, in dumpfem Leid und zehrendem Hass, jener Frau, die ihr im Wege stand.

Mitten im zärtlichsten Zusammensein überfiel es sie und mahnte sie, dass das Herz ihres Geliebten nicht ausschliesslich ihr gehörte, dass sie es mit jener andern teilen musste. Aber sie wollte nicht teilen. Was ihr gehörte, sollte ihr gehören, ganz. Liebe war kein Apfel, den man entzweischnitt und höflich die Stücke andern anbot.

Sollten Papiere den Ausschlag geben? Vergilbte Fetzen, denen es nicht zukam, in Dingen des Gefühles mitzubestimmen? Dies Recht habe die Liebe allein, entschied Dagmar. Sie und ihre Kinder gehörten an Tomas' Seite, gehörten in das Weisse Haus. Sie, nicht jene Schattenfrau, von der Laurent nie sprach, und von der sie selbst nichts wusste. Sie, Dagmar, sollte in der Sonne, Arm in Arm mit Tom, den gewundenen Weg zur Eiche gehen, von dem er ihr so oft erzählte.

Tom umging solche Gespräche, wenn es irgend möglich war. Er wollte gerecht bleiben. Er wahrte und verteidigte seinen Standpunkt, den der Anhänglichkeit, der Dankbarkeit, der Freundschaft und grossen Achtung Monika gegenüber.

Aber Dagmar hatte immer nur die eine Antwort: «Mich liebst du. Und darum, da du mich liebst, gehöre ich zu dir, und nicht sie.» Tomas antwortete nicht. Sie hatte recht, sich selbst und ihm und der Liebe gegenüber, Rechte aber hatte sie keine. Denn seine Liebe allein konnte ihr keine verschaffen.

Sie ergab sich nicht. Dazu war sie zu leidenschaftlich, dazu loderten Eifersucht, Schmerz und Stolz zu flammend hoch, liebte sie Tom zu sehr. Sie schwieg, aber sie wartete. Sie quälte sich und quälte ihn. Was sie seit langer Zeit sich brennend wünschte, war, einen Besuch im Weissen Haus machen zu dürfen. Zu wissen, wo Tom wohnte, und auf den Wegen zu gehen, die er liebte.

Immer und immer wieder bat sie darum. Die Kinder sollten den Vater in seinem Reich sehen, mit ihm zur Eiche laufen, seine Blumen pflücken und den Fischen zusehen, die in dem grossen Brunnen aus Granit umherschwammen.

Lange Zeit gab Laurent nicht nach. Das war Monikas Reich. Sie hatte es geschaffen, und alles, was da wuchs und gedieh und blühte, war Monikas Werk. Und wie sollte er die Bahn freimachen? Wie Katrin entfernen? Wie verhindern, dass Gabriel und Isolina nicht über den Zaun sahen? Und Monika? Lügen und immer wieder lügen?

Endlich gab er nach, ermüdet von den stets neu unternommenen Angriffen Dagmars und immer wieder von ihrem Liebreiz überwunden. Er begann das Unternehmen vorzubereiten. Vor allem wählte er den Tag des Sommerfestes, das alle Jahre gefeiert wurde unten im Städtchen, und an dem die vom Tannenhof nicht fehlen durften. Er erinnerte Monika an ihre Eltern, die sie lange nicht besucht habe. Er bestellte einen zum Hochofen gehörenden Wagen, dessen Chauffeur Monika fahren sollte, um mit dem seinen Dagmar holen zu können. Er veranlasste Katrin, Monika zu begleiten und am Wohnort der Eltern ihre Patenkinder zu besuchen. Er flocht ein Gewebe von Ausreden und war verschwenderisch mit Einfällen, hinter denen er sich und seinen Besuch vor Entdeckung zu schirmen suchte.

Monika freute sich, die Eltern wiederzusehen, dankte Tom für die Fahrt, sorgte sich um seine Bequemlichkeit und ruhte nicht eher, bis er ihr versprochen hatte, auch seinerseits einen Ausflug zu machen und sich ein schmackhaftes Mittagessen zu bestellen.

Er telephonierte – sie hörte es und überhörte nur das eine Wort, dass er für vier Personen bestellte, nicht nur für eine. Im Werk hatte er einen geschlossenen Wagen bestellt. Besser, man wisse nicht, wen er mit sich führte.

Zwischen den weit zurückgeschlagenen Torflügeln fuhr Dagmar hinein in den Garten des Weissen Hauses. Gleich einer Königin, triumphierend. Die Kinder, vier und drei Jahre alt, waren weiss gekleidet und sahen entzückend aus mit ihren vor Erwartung und Neugier glühenden Wangen und glänzenden Augen. Auch Dagmar kam ganz in Weiss, in einem durchsichtigen verlockenden Gewand und in durchbrochenen Schühlein. Mit ihren grossen Augen überschaute sie alles, von den beiden tiefliegenden Gärten an, dem rosenüberfluteten Gartenhaus, den herrlichen Anlagen mit Rhododendron, bis zu der langen Reihe von Sommerblumen, die den Weg begleiteten, und erst hinter dem Gebüsch, jenseits der Eiche, zu Ende waren. Sie sah die grossen Wiesen, die Hühnerhöfe, sie sah das Glashaus, die Terrassen und vor allem, vor allem sah sie sich als Herrin des Weissen Hauses, der Gärten und Wiesen und der tausend Rosen.

Tom Laurent aber sah nicht nur das unbeschreiblich reizvolle Geschöpf neben sich, sondern er sah auch Monika, seine Gefährtin, und freute sich nicht so unbefangen, wie er es an einem solchen Tag Dagmar schuldig gewesen wäre. Er war nicht so heiter zum Spielen bereit, wie die Kinder es sich erhofft und er es ihnen eigentlich versprochen hatte.

Ihr Getobe und Geschrei, als sie das Wäldchen mit dem kleinen Haus entdeckten, war ungeheuer, milderte sich aber, als sie Puppen, Bälle, Soldaten und Bilderbücher vorfanden, damit zu spielen begannen und sich nicht mehr um die grossen Leute kümmerten.

Einmal sahen sie aber zwei Kinder etwas zögernd gegen den Zaun des Gartens kommen, sie wollten ihnen entgegenlaufen, aber da rief Laurent plötzlich die zwei Kleinen zu sich, wonach sich Isolinas Kinder etwas eingeschüchtert zurückzogen.

Laurent seufzte, wenn er des Stadthauses gedachte, worin seine Kinder aufwuchsen, und des kleinen Gartens, den die Sonne nur wenige Stunden bestrahlte. Was für Wiesen hätten sie hier zu durchstreifen, wie nahe wäre der Wald, wie müsste ihnen die warme Milch der Kühe oben auf dem Tannenhof schmecken. Hierher gehörten sie, Dagmar hatte recht. In Luft und Sonne sollten sie baden können, toben, rennen, sich im Gras wälzen. Das wäre natürlich, gesund und selbstverständlich. Und er durfte ihnen dies schöne Heim nicht bieten, die vergilbten Papiere verboten es, mehr noch sein Anstandsgefühl.

Ihr Jubel und Dagmars zärtliche Gegenwart liessen ihn seinen Kummer vergessen. Gegen Mittag unternahmen sie die Fahrt nach Gänsbrunnen, den Felsen entlang, an den herrlichen breitästigen Tannen mit ihrem weissen, wehenden Behang vorüber, zwischen erschreckend hohen Felsen hindurch. Neben schäumenden Wassern fuhren sie, bis sie endlich auf einem grossen schattigen Platz landeten, wo ein blendend weiss gedeckter Tisch auf sie wartete.

Das Mahl war ausgezeichnet und nicht ganz gewöhnlich zusammengestellt. Nach Fleisch und Gemüse in vierfacher Auswahl wurden Berge von Walderdbeeren aufgetragen, Türme von geschlagenem Rahm, fest wie Marmor, ausgesuchtes Konfekt, duftender Kaffee und Kuchen. Es nahm kein Ende. Der Kinder Freude war gross wie ihre Esslust, und hernach machte sie das Spiel mit der Schaukel, am Reck, mit dem mächtigen Ball überglücklich.

Tomas und Dagmar waren sich bewusst und empfanden es schmerzlich, dass die ganze Reihe der kleinen Ereignisse und das herrliche, ungestörte Beisammensein, geliehene und vergängliche Freuden waren, Eintagsfliegen, die nicht dauern konnten noch durften.

Tomas genoss den Tag mit den Kindern unendlich. Ihm war warm ums Herz und traurig zugleich. Schöneres Glück gab es nicht als das Spiel mit den Kleinen, als das Zusammensein mit Dagmar, stundenlang im Sonnenschein, im Waldesdunkel, ungekürzt und unbeschwert. Es musste anders werden. Es konnte so nicht weitergehen. Zudem stand es nun so, dass Dagmar, die Mutter seiner Kinder, Rechte hatte. Er wusste plötzlich, dies war ausschlaggebend. Er beschloss, am nächsten Tag mit Monika zu reden.

Nicht morgen, heute schon. Als Krone des Tages, als Geschenk, als funkelnden Edelstein, mit dem er Dagmar schmücken wollte, sprach er ihr von seinem Entschluss und gab ihr das feierliche Versprechen, den Tag nicht vorübergehen zu lassen, ohne mit Monika zu reden. Ihre entzückende Dankbarkeit, ihre heisse Zärtlichkeit, ihr Freudengestammel und ihre glitzernden Tränen zeigten ihm, was der Gedanke an ein Leben an seiner Seite ihr bedeutete.

Seine und ihre Kinder im Weissen Haus! Oh, Kränze von Blumen würden sie winden und Tom lieben, lieben, und nie würde er sie verlassen wollen, nie es können.

Auf der Heimfahrt blieb Tom still. Während die anderen plauderten und lachten, gedachte er der Aufgabe, die seiner wartete. Gedachte er Monikas. Vielleicht würde sie ihn verstehen. Sie verstand ihn ja immer, oder versuchte es, ihn zu verstehen, wenn sie im Grunde auch anderer Meinung war als er, oder seinen Wünschen nicht zu entsprechen vermochte.

Sie wird mich begreifen, jubelte er innerlich. Und weder Zweifel noch Vorwürfe meldeten sich, so glücklich war er.

Im Flug war der Tag vergangen, allzu schnell die Stunden. Dagmar blieb bis zuletzt im Glanze ihrer Lieblichkeit und Tom unter dem Zauber ihrer Zärtlichkeiten. Sie umfing ihn, und er verfiel ihr immer wieder aufs neue, heute doppelt, im Bewusstsein seiner eben gefassten Entschlüsse.

Kaum vermochte er sich von Dagmar und den Kindern zu trennen. Ja, ins Weisse Haus gehörten sie. Es war selbstverständlich. Es musste so sein.

Auf der Heimfahrt waren die Kinder eingeschlummert. Dagmar hielt einen mächtigen Strauss von dunklen Lilien und hellen Rosen auf den Knien. Einen zweiten neben sich. Ein Seufzer des Glückes begleitete ihren letzten Kuss.

Morgen, dachte sie, als sie einschlief. Morgen ... steige ich.

 

«Es sind Kinder auf Besuch bei Frau Monika gewesen», erzählte Mageli.

«Sie hatten weisse Kleidchen an, und auch die schöne Frau, die dabei war, trug ein weisses Kleid. Aber Frau Monika war fort, und die Katrin auch. Als sie fortfuhren, war Herr Laurent auch dabei und hat sie gefahren.»

«– So?» sagte Gabriel. «So?»

«Warum kommen aber Leute auf Besuch, wenn niemand da ist?» wollte Isolina wissen. «Das ist doch unhöflich, nicht, Gabriel?»

«Sie wollten wahrscheinlich die Laurents überraschen. Es gibt Besucher, denen das Spass macht. Aber oft geht der Schuss daneben, und es ist keiner zu Hause.» Mehr sagte Gabriel nicht.

 

Am Morgen nach Dagmars Besuch im Weissen Hause erzählte Monika beim Frühstück, wie sie den gestrigen Tag zugebracht hatte. Recht lebhaft und anschaulich schilderte sie ihren Ausflug, das Leben der zwei alten Leutchen, die sie durchaus munter angetroffen, und die kleinen Vorkommnisse, die sie unterwegs gesehen und erlebt hatte. Kuhherden, singende Schulkinder, einen ganzen Wagen voll, einen Betrunkenen im Strassengraben, und einen kleinen Bergsturz, durch ein lokales Hagelwetter verursacht. Während sie erzählte, bereitete Tom sich vor, seine gewichtige, für sie vernichtende Mitteilung zu machen.

«Und du, Tom, hattest du einen schönen Tag?»

«Teilweise», sagte er. Gewiss. Er scheute sich, wie ein Kind zu lügen. Er sprach von Gänsbrunnen und dass er dort gut zu Mittag gespeist habe. Er sei gern gefahren auf dem ihr so wohlbekannten, schönen Weg. Und im «Sankt Joseph» hätten sie Erdbeeren aufgetischt, berghoch. Er redete und redete, und das Blut stieg ihm zu Kopf vor Scham ob seinem Geschwätz. Deckmantel eines schwer auszuführenden Entschlusses.

Wenn er nur nicht das vertraute und ihm so liebe Gesicht vor sich gehabt hätte! Das hinderte ihn. Das verschloss ihm den Mund. Es musste aber sein. Er hatte es Dagmar versprochen. Es musste Klarheit in die Verhältnisse kommen zwischen ihm und den beiden Frauen. Er musste sich entscheiden, gewählt hatte er längst. Am nächsten Morgen, beim Frühstück, nahm er sich zusammen. Es musste sein.

«Monika», begann er, sprach aber nicht weiter. Nein. Er konnte ihr nicht sagen, was er sagen musste. Er konnte es nicht. Er konnte die gläubigen Augen nicht voll Tränen sehen, er würde sich bei ihrem Weinen wie ein Räuber vorkommen. Ihm wäre ja zumute, als wolle er ihr einen Dolch ins Herz stossen. Es war ihm unmöglich. Er schwieg.

«Tom, was hast du? Du bist so sonderbar. Ist auf dem Werk etwas geschehen? – Oder – dein Gesicht ist rot, als hättest du Fieber ...»

«Nichts ist geschehen. Ich habe kein Fieber. Ich muss dir sagen. Ich habe dir etwas mitzuteilen, das für uns ...» Wieder schwieg er. Monika wartete.

Feigling, dachte er. Elender Feigling, rede endlich! Rede! Fange an, du musst, musst, musst ... Da klopfte es, und das Mädchen meldete, dass der Gärtner die Frau Laurent sprechen möchte. Monika stand auf und ging hinaus.

Unbeweglich sass Tomas da und stellte die Worte zusammen, die den Anfang seiner Erklärung bilden sollten, sobald Monika wieder da sein würde. Er war noch nicht so weit gekommen, als sie kam.

«Ein dummer Kerl ist der Rauberger. Ich werde ihn entlassen müssen, er weiss und versteht nichts. Nicht einmal zum richtigen Blumengiessen kann ich ihn gebrauchen. Nimmst du noch Kaffee, Tomas?» Sie schenkte ihm ein in seine hübsche, innen vergoldete Tasse, obgleich er abwehrte. Sie müsse noch einmal in den Garten und den Gärtner beaufsichtigen. Sie bleibe aber nicht lange fort.

Tomas stand am Fenster und trommelte einen endlosen Marsch auf den Scheiben.

Was nun? Was nun? Wieder habe ich geschwiegen. Ob ich ihr schreibe, oder zu ihrer Mutter fahre und sie bitte, Monika zu besuchen, und ihr von der Absicht, der Tatsache, dass er sich scheiden wolle, Mitteilung zu machen? Die alte Frau könnte aber den Tod davon haben. Also ging das nicht.

Vielleicht reise ich ab und schreib ihr. Oder soll ich die Kinder kommen lassen und durch sie Monikas Herz rühren? Die Kinder einer Frau, mit der ich Monika jahrelang betrogen habe? Unmöglich. Ich werde noch krank oder verrückt. Wie sagte doch Gabriel? Wenn es nur nicht Frau Monika wäre. Ja, eben. Es ist aber Frau Monika, die ich liebhabe und verehre und die mir nie ein böses Wort gesagt hat in all den Jahren. Eben, eben, es ist Frau Monika. Ich muss fort. Ich muss ihr schreiben. So, hier daheim, ihr gutes Gesicht mir gegenüber, werde ich nie den Mut haben, ihr zu sagen, dass ich sie verstossen will.

Ohne weiteres Besinnen ging er hinunter zu ihr, die neben dem Kirschbaum stand und sich überlegte, ob sie den Baum nicht pfropfen lassen sollte, damit er endlich Früchte tragen könne. Und wenn es auch nur gewöhnliche Kirschen sind, dachte sie, und keine Sauerkirschen, mir werden sie recht sein. Mir tut's einfach leid um den armen Baum. Jedes Frühjahr blüht er so herrlich und trägt doch keine Frucht. Tomas kam. Hastig und unklar sagte er Monika, er müsse fort.

Er habe Wichtiges vergessen. Es seien Bauten in den Filialen vorzunehmen. Zudem seien unangenehme Dinge vorgekommen, denen er begegnen müsse. Es könne tagelang dauern, ehe er zurückkommen könne. Er redete, und Scham packte ihn, als er sich so seine Lügen Monika anbieten hörte, als sei es Zuckerwerk.

Endlich bat er, das Stubenmädchen beordern zu wollen, ihm zu packen, sie hätte es oft getan und wisse, was er brauche. Zeug für acht Tage mindestens. Mindestens! Monika nickte. «Es werden lange acht Tage sein, Tom», meinte sie.

Zwei Stunden später fuhr Laurent zur Stadt. Monika sah ihm nach. Es war ihr schwer ums Herz, doch sie wusste nicht warum. Es war alles so gut und freundlich und friedlich gewesen, seit der Zeit, da Tomas ihr den schönen Ring geschenkt hatte. Es war, als sei ein Zauber von ihm ausgegangen. Tomas war allerdings viel fort, ja, aber er war nie anders ihr gegenüber als liebevoll besorgt, fröhlich, oft voll übermütigen Scherzes. Ich bin recht glücklich, dachte sie. Wie hätte sie auf misstrauische Gedanken kommen sollen?

 

Unzufrieden mit sich selbst, unruhig, trotzdem er Monika geschont und in Frieden zurückgelassen hatte, fuhr Tom zu Dagmar, um Abschied zu nehmen für die paar Tage. Er hatte ihr versprochen, sie zu benachrichtigen, sobald er seiner Frau das Notwendige mitgeteilt haben würde, sobald die Kette gelöst worden und er frei sei. Es war ihm peinlich, sie enttäuschen zu müssen. Es war ihm unangenehm, ihr gestehen zu müssen, dass er wiederum unverrichteter Sache zu ihr kam. Doch war ja die Lösung nur hinausgeschoben, verzögert durch den kleinen Zufall, dass Monika im entscheidenden Augenblick in den Garten gerufen wurde. Trotzdem, er wäre froh, wenn er das unerquickliche Geständnis schon hinter sich hätte.

Er ahnte nicht, dass Dagmar an nichts anderes dachte als daran, dass sie in wenigen Stunden von dem demütigenden Gefühl, nichts zu bedeuten, nichts zu sein, keine Rechte zu haben, befreit sein würde ... Befreit von der peinigenden Eifersucht, die sich in glückliche Besitzerfreude wandeln würde. Beglückt, dass sie ihren Kopf hoch tragen dürfe. Hoch! Hoch! Sie strahlte über das ganze Gesicht. Lachen wollte sie, lachen! Stolz, du herrliches Gefühl, du sollst mir niemals mehr fehlen. Sie machte Pläne, sie baute Luftschlösser.

Wenn sie künftig an ihren Bekannten vorbeifahren würde, an Tomas' Seite, die Kinder bei sich, ah, welche Genugtuung! Wie schön, wenn er sie dahin führen würde, wo sie bis heute keinen Einlass gefunden hatte. Wo sie demütig hatte zurückbleiben müssen wie eine Ware dritten Ranges, ein Kunstwerk ohne Wert, ein unechtes Goldstück. Das würde nun alles anders werden.

Sie schmückte sich wie zu einem Fest. Sie kleidete sich in Seide und in zarte, goldgeränderte Schleier, die das blasse Rosa ihrer Arme verbargen und betonten.

Sie erwartete Tomas in der Stunde, zu der er sich angesagt hatte. Sie hörte den Wagen vorfahren. Sie hörte Tomas die Treppe hinaufsteigen, sie hörte die Türen gehen. Strahlend erwartete sie ihn. Einen einzigen Blick nur warf Dagmar auf Tomas' Gesicht und wusste, dass ihre Feenschlösser zusammengefallen waren. «Tomas!» rief sie beinahe drohend.

«Ich habe es ihr nicht sagen können, Dagmar. Ich bitte dich, Dagmar ...» Sie klammerte ihre feinen Finger ineinander, blieb unbeweglich stehen, sah ihn dann an und schwieg. Plötzlich wandte sie sich und war fort.

«Dagmar!» schrie er. «Dagmar!» Er stand lange wartend da, erschöpft, geschlagen. Er klopfte bei ihr an, doch sie liess ihn nicht herein. Er bat, und sie antwortete nicht. Er hörte nichts, keinen Laut. Er hörte weder weinen noch seufzen, weder jammern noch zornig lachen.

Da ging er zum Kinderzimmer. Es war leer. Die Kleinen waren fort, im Park, in Sonne und Luft. Noch einmal versuchte er anzuklopfen.

«Dagmar, nur ein Wort, Dagmar, Süsse ...» Es rührte sich nichts. Sie hatte sich den Schleier vom Nacken gerissen, den Diamanten auf den Tisch geschleudert, das duftige Kleid einfach fallen gelassen und sich aufs Bett geworfen.

Die Enttäuschung war zu gross gewesen, ihr Stolz zu sehr verletzt, und ihre Empörung mischte sich mit Verachtung. Sie blieb unbeweglich liegen. Sie wollte Tomas Laurent nie mehr sehen.

Als sie nicht kam, ging er. Am nächsten Tag schrieb er ihr. Er bat und flehte. Er versprach. Es kam keine Antwort. Sie strafte ihn für seine Feigheit.

Dagmar wusste viel von Leidenschaft und Glut, von süsser Zärtlichkeit, doch wenig nur von freundschaftlichen, verantwortungsvollen und innigen Gefühlen, die in schönem Gleichmass lebendig bleiben ein Leben lang. Sie wusste nichts von den engverschlungenen Wurzeln zweier Bäume, die in der gleichen Erde ihre Nahrung finden und sich nicht lösen können, auf Leben und Tod verknotet, auch wenn ihr Blühen andern gilt.

Sehr unglücklich und in grosser Unruhe um Dagmars willen ging Tomas seinen Geschäften nach. Er stürzte sich in Arbeit, die bis nach Mitternacht dauerte, setzte überall seinen Willen durch, wo er es sich vorgenommen, und liess es an Energie nicht fehlen, die er weder Monika noch Dagmar gegenüber in Taten umzuwandeln vermocht hatte.

Dagmars Schweigen beunruhigte ihn sehr, ja ängstigte ihn. Ein paar Worte hatte er auf sein Flehen erhalten. Es hiess da, dass sie ihn bitte, ja ihm befehle, seine Besuche einzustellen. Über das Befinden der Kinder werde er unterrichtet werden. Die wenigen Worte standen auf einer Karte.

Tomas wartete. Er hoffte auf einen Brief. Es kam keiner. Er telegraphierte. Es kam keine Antwort. Geldsendungen brauchte er nicht zu regeln, denn Dagmars und der Kinder Unterhalt und Einkommen waren an dem Tag geordnet und festgelegt worden, als das Älteste geboren wurde. Haus und Vermögen waren Dagmars Eigentum. Sie hatte für nichts zu danken. Sie konnte auch nichts zurückweisen. Vierzehn Tage fuhr Tomas kreuz und quer im Lande umher. Ausser sich, geängstigt, empört. Die Sehnsucht nach Dagmar nahm ihm Ruhe und Kraft, die Angst um sie den Schlaf.

Endlich entschloss er sich, nach Hause zu fahren.

Er begegnete, wie zum Hohn, Gabriel Ochsner. Scharf sah der Bauer zu dem Mann auf, den er schuldig fand, und den die Fäden des Schicksals schon wie ein Spinnennetz umfingen. Müde grüsste Laurent.

 

Laurent fuhr, sobald er mit seiner Rundreise zu Ende gekommen war, sofort zu Dagmar. Er fand die Haustür geschlossen, die Fensterläden ebenfalls, die Giesskannen, die sonst stets neben dem Zaun standen, weggeräumt. Im Haus regte sich nichts.

War es denn möglich, dass sie fort war? Mit den Kindern fort, ohne ihn mit einem Wort davon zu verständigen? Stechendes Entsetzen packte ihn.

So tief war Dagmar verletzt? So schwer hatte sie an dem Gefühl des Zurückgestelltseins getragen?

Ihre Ehre als Frau, als Mensch, die alte, ererbte Gewohnheit der Anständigkeit, die noch ältere weibliche Tugend, das alles mochte an Dagmars Wesen, ihrer Weltanschauung, an ihrem Rechtsgefühl oder Gefühl für das Richtige, mitgestaltet und ihrer Liebe das Blut entzogen haben.

Lange sass Tom auf der Gartenbank, die neben dem Eingang stand.

Sie liebt mich aber, dachte er verzweifelt. Sie liebt mich, ich weiss es. War vielleicht die Qual der Eifersucht so gross, dass sie ihr erlag und lieber verzichtete, um nicht schmerzhaft neiden und hassen zu müssen? Darüber konnte Tomas nicht im Zweifel sein.

Dagmar hasste Monika. Sollte er das nicht verstehen? Würde er es ertragen, Dagmar mit einem anderen Manne verbunden zu wissen? Der blosse Gedanke brachte ihn schon ausser sich.

Wie von jäher Erkenntnis durchzuckt, erkannte er plötzlich, was es für ein stolzes Herz bedeuten musste, gleichsam unsichtbar zu sein. Seiner Güte, Gnade, anheimgegeben zu sein, rechtlos zu sein, wo sie liebte. Kinder zu haben, die man verstecken musste. Ein Haus zu besitzen, bei dessen Kauf man nicht mitunterschrieben hatte, das einem geschenkt wurde, und das man gegen Liebe eingetauscht hatte.

Wie ein Gewitter, ein Hagelwetter, prasselte das Heer seiner Gedanken auf ihn herunter.

Es muss anders werden, sagte er sich. Das muss sofort anders werden. Der graue Schleier der Scham umfing ihn. Wie eine Puppe habe ich sie herausgeputzt und mich gefreut an ihrer Schönheit, sagte er sich. Wie ein Spielzeug, das man aus dem Schrank nimmt und wieder hineinstellt und hinter ihm die Tür zuschliesst. Wie ein Ding liess ich sie neben mir leben, die stolze Frau, die entzückende Frau, die schillernde, mit dem Feuerwerk ihrer Liebe mich überschüttende Frau, die immer Neue, immer Begehrenswerte. Tom sprang auf, ging hastig über den kurzen Gartenweg und fuhr aufs Geratewohl hinaus zu einem schattigen Wäldchen mit ebenen und sanften Wegen. Dort setzte er sich auf eine der zierlichen Bänke. Es wurde zuviel der Reue, zuviel der Sehnsucht. Das hielt er nicht aus. Er wollte heimfahren und mit Monika reden. Er wollte sie bitten, ihn freizugeben. Ohne ein Wort würde sie zustimmen. Das übergrosse und überreiche Geschenk seiner Freiheit würde sie ihm in die Hände legen. Und das war es, was Tomas alles so schwer machte: die Scham über seine Handlungsweise. Wollte er ewig schwanken? War das Schwachheit, Feigheit, oder war es Güte?

Müde lehnte er sich zurück und riss seine Mütze vom Kopf. Einen Augenblick stellte er das Denken ein. Es wurde schwarz in ihm, dunkel, aber dann wachte er auf, und es wurde hell. Er hatte entschieden. Er atmete auf. Er war nun seiner sicher.

Darauf fuhr er noch einmal vor Dagmars Haus. Es hatte sich nichts geändert. Als er wieder einsteigen wollte, sah er den Briefträger auf der anderen Seite der Strasse und ging rasch hinüber.

Er kannte ihn, und der Mann wusste von Laurent. Er hatte allzu oft an Dagmar gerichtete Briefe abgegeben. Tom bat um ihre augenblickliche Adresse, und bereitwillig nannte der Beamte ein unbekanntes Gasthaus, das nicht mehr als eine Stunde von der Stadt entfernt, auf einer mässig hohen bewaldeten Hügelkette stand.

Laurent bat den Briefträger darum, sofort zu telegraphieren, sobald die Hausbewohner zurück sein sollten. Er belohnte ihn im voraus. Er nannte seine Geschäftsnummer und Adresse, und der Mann lächelte. Er habe sie auch schon gelesen. Tom lächelte ebenfalls, zum erstenmal seit vielen Tagen.

 

Unruhig und bewegt wartete Laurent auf Nachrichten. Monika fiel ihres Mannes dunkle Schweigsamkeit auf, seine kurzen, farblosen Antworten und seine Blässe. Auf freundliche Fragen zuckte er, leicht ungeduldig, die Achseln. Willkommene Speisen entgingen seiner Aufmerksamkeit, die Worte des Lobes, der Köchin Katrin gegenüber, blieben aus. Sie wartete umsonst, schmunzelnd, und die harte Hand in die Hüfte gestemmt, einen Augenblick vor der Türe haltmachend, auf seine Anerkennung.

Die Abende verbrachte er auf seinem Zimmer, schreibend. Er blieb auch wohl ganz weg und entschuldigte sich kurz am Telephon. Katrin nahm die Berichte in Empfang, berichtete darüber und schloss meist mit ihrem «Punktum», mit dem sie ihr Missvergnügen auszudrücken liebte.

Die erwartete und ersehnte Nachricht blieb aus. Eines Tages aber telephonierte der Briefträger, Briefe seien keine eingetroffen. Doch sei die Herrschaft angekommen. Er habe heute Fenster und Laden geöffnet vorgefunden, auch sei der Milchmann dagewesen, was er ebenfalls beobachtet habe. Laurent hängte ab. Seine Stirne rötete sich, und seine Augen bezeugten den Wert der Nachricht.

Soll ich mich anmelden? Und Dagmar die Möglichkeit nehmen, sich zu verleugnen oder fortzulaufen? Aber das ist doch einfach unmöglich. Sie kann mir doch nicht so zürnen, ernstlich und endgültig? Sie liebt mich doch. Sie war doch glücklich. Hat sie mich strafen wollen für mein Zögern und Schwanken? War sie verletzt, dass es überhaupt für mich ein Schwanken gab? Er entschloss sich, einfach hinzufahren.

Als er anhielt, sah er ein Auto vor dem Hause stehen. Er bemerkte im Vorübergehen, dass ein Instrumentenkasten auf den Polstern lag, eine hingeworfene Zeitung, ein Paar Handschuhe, ein Lederetui, lang und schmal. Auch das enthielt offenbar Instrumente.

Der Arzt, dachte er. Um Gottes willen! Blindlings rannte er die Treppe hinauf. Um Gottes willen, Gottes willen ...

Im Vorraum wischte das Mädchen den Staub.

«Herr Laurent!» schrie sie, fing sogleich an zu weinen und stopfte sich die Schürze vor das Gesicht.

«Was ist, Anna, was ist? Schnell!» Er schüttelte sie am Arm.

«Sie stirbt!» schrie das Mädchen. «Sie muss sterben, sie verblutet sich. Sie ...» Laurent hörte nicht mehr. Er stand vor Dagmars Zimmer und hörte nebenan die Kinder. Er hörte die Stimme des Arztes, eine zweite, tiefe Stimme, öffnete leise die Tür und trat ein.

«Was ist geschehen?» Der Arzt hob die Hand.

«Ruhe, Ruhe», sagte er. Dagmar musste Toms Stimme erkannt haben. Sie bewegte das marmorne Gesicht und lächelte schwach.

Er kniete neben ihr Bett und hielt ihre Hand in seinen zwei heissen Händen. Er war unfähig, zu reden. Die Ärzte verliessen das Zimmer.

«Dagmar, Dagmar ...», er sah, dass ihre Augen sich schlossen und dass ihr Gesicht sich zu verändern begann. Sie atmete kurz, wurde unruhig, bewegte die Hände, und Tom fuhr auf und holte den Arzt.

«Sie stirbt!» schrie er unter der Tür. Die Ärzte kamen.

«Wir sind zu spät gerufen worden», sagte der eine. «Eine Frühgeburt. Wir haben das Mögliche getan. Alles Nötige ...»

«Nachher, nachher», sagte Tom ohne Stimme. Der Arzt stellte sich abwartend an das Fenster.

Toms Kopf lag neben dem von Dagmar. Er hielt ihren Arm umklammert und küsste ihre Schulter. Sie öffnete die Augen nicht mehr. Wenige Minuten danach lag die Stille des Todes über dem Antlitz der schönsten und geliebtsten Frau, die nun in das Nichts eingegangen war.

 

«Ich muss an ein Begräbnis», sagte Tom zu Monika. «Bitte, lass mir meine Kleider herauslegen.»

«Ist es ein Freund von dir?» fragte sie. «Oder ein Verwandter? Ich las nichts in der Zeitung.» Tomas antwortete nicht. Sie fragte nicht mehr. Er muss ihn gern gehabt haben, dachte sie.

Tomas fand im Hause Dagmars Freunde und Verwandte ihrer Familie. Nachbarn, die ihn und seine Beziehungen zu der Verstorbenen kannten. Er fand die paar Freunde, die er Dagmar vorgestellt und die bei ihr verkehrt und oft an Dagmars Tisch gesessen hatten. Damen seiner Bekanntschaft waren keine da. Von Frauen nur die beiden Mädchen, die Näherin und die Waschfrau, die schüchtern ihre Blumen gebracht hatten.

Dagmar, ganz in weisse Rosen gebettet, war unirdisch schön. Tom stand und starrte sie an.

Hinter dem Sarg fuhren die nächsten Verwandten. Tom fuhr in einem andern Wagen. Ein Onkel Dagmars wies ihm seinen Platz an. Er streckte seinen dicken Finger aus, und Tom stieg ein.

Er hatte es um des Andenkens der Toten willen für angemessen gehalten, kein Aufsehen zu erregen. Zuerst wollte er sich den ersten Platz hinter dem Sarg erzwingen. Doch war es wohl besser so. Der erste Geistliche der Stadt hielt, von Laurent darum gebeten, die Abschiedsrede. Er tat es mit viel Takt. Herrliches Orgelspiel zog durch die Kirche, von Laurent bestellt. Eine Flut von roten, nicht weissen Rosen lag über dem Sarg, als die kühle Erde ihn aufnahm.

Tomas wurde von niemandem angeredet. Man wusste, man fühlte es heraus, dass dieser Mann getroffen war.

Tomas liess seinen Wagen auf dem Ochsnerhof zurück und ging zu Fuss zum Weissen Haus hinauf und sogleich in sein Zimmer. Er schloss es ab. Erst dann erlaubte er seinem Schmerz, über ihn herzufallen.

*

Die wilden Wasser, die eine lange Zeit die Ruhe auf dem Ochsnerhof bedrohten, hatten sich beruhigt.

Wie ja nie eine einzelne Wolke genügt, ein Gewitter zu entfesseln, so brauchte es mehr als ein Unheil, um den Bauern und Ratsherrn Ochsner zu demütigen, zu biegen, zu fällen. Dazu hatten sich in Wahrheit alle bösen Geister zusammengetan. Voran die Seuche, das schleichende Untier, dann die Tücke des Hagelwetters, die unnütze und in des Vaters Augen unreife Liebschaft Tillys, der öffentliche und geheime Streit mit Chèbres. Maurices Besuch in Lugano, der niederschmetternde Bericht Monikas, und als die Krone des Verletzenden, Demütigenden, das Wissen um die beängstigende Neigung seines Sohnes. Genug und übergenug. Ein schwelendes Feuer, vom Satan angefacht und geschürt, das Hans-Peters Seele ausgebrannt hatte.

Wie soll ein Mann das alles ertragen? Wie soll sich einer wehren können gegen die Sündflut böser Gedanken im eigenen Herzen? Gegen das Unglück im Stall und Feld, gegen die Missachtung seines väterlichen Willens?

Waren sie, alle diese Feinde, wirklich seiner Herr geworden? Den Ochsner überfällt man, schädigt ihn, schindet ihn, aber man macht ihn nicht schwach. Der Ochsner steht jetzt wie immer auf seinen zwei Beinen, schwankt, aber fällt nicht. Der Ochsner macht die Faust, schüttelt sich, und das Ungeziefer fällt von ihm ab.

Der Ochsner ist der Mann der Tat. Er durchwacht eine Nacht, zwei Nächte, drei, und aus seinem zuerst verworrenen, dann strengen Denken steigt eines Morgens eine Idee auf, ein Gedanke, ein Entschluss.

Er weiss, was er will. Er will seinen Betrieb ändern. Das Furchtbare einer Seuchenepidemie und das Sterben so vieler Tiere will er kein zweites Mal an sich herankommen lassen.

Er will sich auf den Holzhandel verlegen, er will aus seinen besten Knechten sachkundige Leute machen, um den Holzhandel im grossen betreiben zu können.

Ihm fällt ein, dass er sich mit dem Eidgenössischen Militärdepartement in Verbindung setzen könnte, um das Holz für die Gewehrkolben der Armee zu liefern. Umsonst lebt er nicht in der Gegend der Nussbäume. Der Gedanke packt ihn und lässt ihn nicht wieder los. In grossen Umrissen macht er seinen Plan, durchdenkt ihn bis aufs kleinste, schreibt auf, rechnet, zählt zusammen, vervielfältigt, fügt Zahl an Zahl. Dann ist er bereit. Er lässt seinen Gaul satteln und reitet, und reitet seinen Gedanken nach weit umher im Land. Er kennt sich aus mit Bäumen, Wald und Holz, mit Buchen, Eichen, Fichten und den stolzen Nussbäumen. Sie gedeihen üppig da umher, bis weit zur französischen Grenze hin. Er kennt den früheren Zöllner dort, mit dem er schon öfters auf seinen Gängen eine Flasche Elsässer getrunken. Er lässt sich von ihm erzählen. Er horcht, er lockt, er merkt sich jedes Wort, denn der Mann weiss alles und kennt alles. Voran den Stand schöner Bäume. Er weiss, wo einer Land geerbt hat, auf dem Nussbäume stehen, weiss, wo einer verkaufen will, und nun verspricht er, sich umzutun, vorzuarbeiten, Bauern aufzusuchen, Händler aufzuspüren. Ochsner verspricht, überall anständig zu bezahlen.

Drauf reitet er bis Pruntrut, denn auch dort kennt er brauchbare Leute. Bis Bellelay dringt er vor, hinauf bis Saignelégier, Moutier und Gänsbrunnen. Um die ganze weite Gegend zieht er seine Kreise. Überall findet er Leute, die sich für seine Pläne interessieren, die über Nussbäume und Sägemühlen Bescheid wissen. Jeden einzelnen Besitzer, jede Mühle, jeden Standort eines Baumes merkt er sich.

Tagelang reitet er so. Tagelang ist er von zu Hause fort. Und als er endlich wieder heimkehrt, ist sein Gesicht dunkelbraun gebrannt, ist es wiederum das schöne alte Ochsnergesicht und bergen die Augen wieder – wie kostbare Güter – seinen starken und unbeugsamen Willen.

Nachdem er all das verrichtet hatte, machte Ochsner sich auf, fuhr in die Stadt zu der weitbekannten Schreinerei Schneider & Co., und bestellte dort hübsche, viereckig geformte, glänzend polierte Modelle seiner Holzarten. Grosse Sorgfalt sollte dem Nussbaum gewidmet werden, womit er seine besonderen Pläne hatte. Das Material für diese Sammlung entstammte seinem eigenen Waldbesitz, den er längst gehörig vergrössert hatte und weiter vergrössern wollte.

Zur Pflege der Waldungen hatte er sich einen älteren Förster gesichert, der sich auf die grüne Jungmannschaft verstand und seit Jahren im Gründen von Baumschulen bewandert war. Ein tüchtiger Mann, wie denn Hans-Peter keine anderen je in seine Dienste nahm, keine, die nicht von ihren Meistern dank ihrer Leistung die höchsten Löhne zugesichert erhielten. Er wusste, warum er das tat. Wer kauft billig ein, wenn er gut kaufen will?

Darauf suchte er sich einen Buchhalter aus, der nicht die Augen niederschlug und blinzelte, wenn er gefragt wurde, und der selbst Fragen stellte. Er wählte einen jungen Menschen, der schon am nächsten Tag wissen wollte, ob er nicht reiten lernen dürfe. Frech, dachte Ochsner, frech, aber unternehmend und furchtlos. Das Reiten wurde ihm gestattet.

Ochsner zog sich an seinem Dieter eine tüchtige Hilfe heran, denn in Dingen des Waldes, des Holzes, der Bäume überhaupt kannte er sich aus, wusste, wo sie stehen mussten, um zu gedeihen, und kannte ihre Feinde, die Raupen und Insekten und Vögel.

Dieter lernte mit Feuereifer, und Hans-Peter drillte ihn gehörig. An des Grossknechts Statt hantierte nun der Jungknecht Jeremias in den Ställen, wo nur noch Preiskühe standen, die zur Feldbestellung notwendigen Pferde und Ochsners Reitpferd.

Als alles im Gang war, es nichts mehr zu ordnen galt, der schwierige Anfang gemacht und auch für die Zukunft nach allen Richtungen gesorgt war, begab sich Ochsner nach Bern und liess sich im Bundeshaus anmelden. Den Chef der wirtschaftlichen Abteilung des Militärdepartements wünsche er zu sprechen. Er wurde vorgelassen. Die kleine Kiste mit Proben wurde hereingebracht und auf den Tisch gelegt. Die notwendigen Papiere in roter Mappe danebengelegt. Die viereckigen Proben glänzten in verschiedenen Farben und in anderer Maserung.

Das Gefecht des Handelns ging hin und her zwischen dem Offizier und dem Ratsherrn Ochsner. Es blitzten die Augen, es wetzten sich die Zungen, es formten sich die passenden Worte zu überzeugenden Sätzen, denn es waren ebenbürtige Gegner, die da kämpften, der eine gewandt, der andere wohlgewappnet.

Es sah aus, als ob der Handel zwischen dem Militärdepartement und dem Ochsner Aussicht hätte, abgeschlossen zu werden. Jeder der beiden schien zufrieden zu sein, jeder hatte vor dem andern Respekt. Es sollten noch die vorgelegten Preislisten und Bedingungen geprüft und die Holzproben strengster Musterung unterworfen werden, denn Holz ist nicht einfach Holz. Da helfen Boden, Sonne, Bewässerungsmöglichkeiten, Wind und alles Mögliche mit, seine Gesundheit und sein Wachstum günstig oder ungünstig zu beeinflussen. Danach sollte der Entscheid fallen.

Die Männer schieden, sich die Hände schüttelnd.

Nach einem Monat kam das Telegramm: Genehmigt.

Ochsner wurde mit der Zeit der Eidgenossenschaft grösster Holzlieferant.

Triumph! Triumph! Der Ochsner war wieder der Ochsner. Wer ihn kannte, grüsste ihn. Wer ihn nicht kannte, meinte ihn und das kraftvolle Gesicht zu kennen, das den Gruss verdiente.

 

An einem trüben Tage – die Herbstbestellung war getan, und Gabriel war eben daran, seinen Ligusterhag zu beschneiden, da sah er den Laurent langsam auf sich zukommen. Es fiel Gabriel, dem nicht leicht etwas auffiel, wenn es nicht sein Vieh betraf, auf, wie elend der sonst so kräftige Nachbar aussah.

Der Bauer hörte mit Schneiden auf, hielt seine grosse Baumschere an einem ihrer Schenkel fest und liess sie hin und her baumeln. Dann grüsste er.

«Wollen wir uns einen Augenblick setzen?» fragte Tomas Laurent. «Hier am Abhang. Nur einen Augenblick?»

«Warum nicht», sagte Gabriel, obgleich es ihn sonderbar dünkte, dass zwei erwachsene Männer sich an einem Vormittag ins grüne Gras setzten, auf einen Hügel, wo die Ameisen hin- und herliefen.

«Ochsner», sagte Laurent nach einer Weile. «Ich habe Euch etwas sagen wollen. Erinnert Ihr Euch daran, dass Ihr mich einmal in der Stadt getroffen habt?»

«Denke wohl», sagte Gabriel.

«Erinnert Ihr Euch, dass eine ... eine Frau neben mir ging?»

Gabriel nickte. Er fand diese Frage wenig am Platz.

«Sie ist tot», sagte Laurent. Dann schwieg er. Gabriel schwieg auch. Was sollte er sagen?

«Das ist wohl recht schwer für Euch», brachte er endlich heraus. Nun tat ihm der Laurent doch leid. Der hing wohl sehr an der Toten und sah darum aus wie das graue Elend.

«Und die Kinder», fragte er noch. «Wer sorgt für sie?»

«Niemand. Natürlich habe ich Leute, eine Person, die mir empfohlen wurde, aber ...»

«Traurig», sagte Gabriel.

«Ich habe Euch das sagen müssen, Ochsner. Ihr habt meine Handlungsweise missbilligt, vielleicht verdammt. Ich habe es wohl gefühlt. Glaubt mir, dass ich jetzt büssen muss für das, was Ihr als Unrecht betrachtet habt. Das habe ich Euch sagen müssen und sagen wollen.»

«Ja», meinte Gabriel in grosser Verlegenheit. «Aber die Kinder? Die habt Ihr doch noch, das ist sozusagen ein Trost ...»

«Sie sind dort, und ich bin hier», sagte Laurent. «Sie gelten nicht als meine Kinder.» Gabriel schwieg, weiter vermochte er mit Reden nicht zu gehen. Was er dachte, wollte er nicht sagen, das war seine Sache nicht. Nimm sie doch zu dir, dachte er.

Laurent erhob sich, gab dem Bauern die Hand und behielt die harte treue Bauernhand in der seinen.

«Wollt Ihr nun mit mir Euren Frieden schliessen?» fragte er.

«Ja», sagte Gabriel. «Ja, ja!» wiederholte er in grosser Pein ob dieser Worte, die er nie über die Lippen gebracht hätte. Mitleidig und freundlich nickend ging er zu seinem Zaun zurück und schnitt rasch, die grosse Schere handhabend, an seinem Liguster herum.

 

«Gabriel», fragte Isolina beim Mittagessen. «Was hast du denn so lange mit dem Herrn Laurent zu reden gehabt? Das möchte ich wissen.»

«Er hat geredet, nicht ich», sagte Gabriel. «Ich habe nur geantwortet.»

Das war verdächtig. Diese Antwort trug eine Maske. Sie war hinterhältig. Da steckte etwas dahinter.

«Gabriel, sind wir Mann und Frau, oder sind wir nicht Mann und Frau? Haben wir alles zusammen zu teilen in unserem Leben, oder haben wir es nicht? Also?» Er wand sich. Er überlegte. Seine Gedanken, gemischt mit dem Bedürfnis, wahr zu bleiben, und zugleich mit dem Wunsch, seine Schwarzhaarige nicht zu betrüben, schillerten in allen Farben.

«Es ist des Laurents Sache, nicht die meine», sagte er endlich. «Ich will nicht davon reden.» Isolina sah ihn an, tief in die Augen.

«Du treuloser Mensch», sagte sie, drehte sich um und ging in die Küche.

Was hat sie gesagt? fragte sich Gabriel. Treuloser Mensch hat sie zu mir gesagt. So etwas habe ich noch von keinem hören müssen. Von keinem einzigen Menschen. Treulos? Es schlug ihn nieder. Wenn es nicht erst Mittagszeit wäre, ginge ich ins Bett, dachte er. Er blieb. Er liess den Kopf hängen, so schwer lastete der Vorwurf auf ihm. Er musste ihn abschütteln. Es ist wahr, sagte er sich, Eheleute sollten alles miteinander teilen. Sie hat recht.

Als er am Abend auf der Stabelle, die er selbst geschnitzt hatte, am Tisch mit Isolina sass und Kochlöffel für sie zurechtbastelte, begann er zu reden.

«Isolina», sagte er. «Ich will dir sagen, was ich mit dem Laurent geredet habe. Du musst aber schweigen. Versprichst du, zu schweigen?»

«Ich verspreche», sagte sie und hob die Hand, feierlich und neugierig, in die Höhe.

Und nun erzählte ihr Gabriel alles, von Anfang an bis zu Ende, alles in wenig kurzen Sätzen. Erschüttert sass Isolina da. Dann fuhr sie auf.

«Was, Kinder hat er, zwei Kinder, und Frau Monika weiss nichts davon? Und eine andere Frau hat er gehabt? Sollte man das nicht Frau Monika ...», aber da sah Gabriel sie an. Ihr wurde kalt vor Schreck.

«Ich habe geschworen, Gabriel, ich sage nichts. Nie werde ich darüber reden. Ich kann schweigen. Ich dachte nur ...»

«Eben», sagte Gabriel. «Wer geschworen hat, darf nicht denken.»

 

Hans-Peter Ochsner war oft vom Hof abwesend. Sein Holzhandel nahm ihn unerwartet viel in Anspruch, denn hier wie überall und wie immer war die Gegenwart des Führenden notwendig. Seine Augen allein sehen alles.

Georgine beklagte sich oft über das viele Alleinsein. Sie war ihr Leben lang nicht allzufest auf ihren Füssen gestanden, meist gab ihr Hans-Peters Hand Halt und Mut, wenn er nur in der Nähe war.

Sie fürchtete sich, wenn sie so allein blieb in dem weiten Schlafzimmer und darin hin und her ging. Sie blinzelte dabei in die dunkeln Ecken und hätte auch unter das Bett geschaut, ob einer darunter liege, wenn sie das gewagt hätte. Von jeher war sie ein Häslein, das Ochsners Spott still über sich ergehen liess, denn neben dem Spott ging das Beschützergefühl des starken Mannes, der sein ihm Anvertrautes um seiner Schwäche willen liebte.

Über ihrem Zimmer polterten die Mägde herum, allein war sie also nicht im Haus. Aber allzu viele geschlossene Türen und leere Stuben mahnten sie an grausliche Überfälle oder geheimnisvolle Dinge, die sich ereignen könnten. Die Knechte schliefen im Anbau des neuen Stalles ihren tiefen Schlaf.

Eines Abends, nachdem Georgine ihren Gang durch Hof und Haus, den Mann vertretend, hinter sich hatte, und sie müde vom Tag in ihr Schlafzimmer kam, befiel sie das unerklärliche Gefühl, sie sei nicht allein in der Stube. Sie stand still und wollte eben behutsam den Arm ausstrecken, um Licht zu machen, als sie eine dunkle Gestalt neben dem mächtigen Schrank sich regen sah.

«Mutter», hörte Georgine flüstern.

«Um Gottes willen!» schrie sie. «Du, Pierre?» Sie blieb stehen. Es war wie eine Lähmung über sie gekommen. Tränen rannen ihr über die schmalen Wangen, was ihr den Schreck überwinden half. Pierre nahm sie beim Arm und führte sie zu ihrem Lehnstuhl.

«Warum kommst du?» fragte sie.

«Setze dich erst, Mutter. Und wenn du dich beruhigt hast, so hole mir etwas zu essen. Ich bin sehr hungrig. Sehr. Aber gibt acht, dass man dich nicht sieht mit den Sachen. Es darf keiner wissen, dass ich da bin oder da war.» Hilflos sah sie zum Sohn in die Höhe. Er zündete eine Kerze an, die bereitstand, um bei Gewittern zu dienen, und trug sie auf den kleinen Tisch in der Ecke. Schwach leuchtete sie, kaum blieb ein heller Fleck auf dem Fussboden.

Georgine hatte keine Ruhe mehr, sie musste wissen, was das alles zu bedeuten hatte. Sie stand auf und ging, um ein Brett mit Essen zu holen. Sie huschte umher in Küche und Speisekammer und brachte so viel, dass man damit drei Mann hätte ernähren können. Ihre Hände zitterten vor Schreck und Angst, und das Porzellan klirrte, als sie es vor Pierre hinstellte.

Er ass und hörte nicht auf, bis nichts mehr auf den Tellern lag. Unbeweglich wartete Georgine. Was wird er mir sagen? dachte sie in unbeschreiblicher Herzensangst. Was hat er getan? Was kann er getan haben? Sie wollte fragen, denn sie hielt die Spannung kaum aus. Endlich hörte Pierre mit Kauen auf.

«Ich muss fort, Mutter. Ich muss noch diese Nacht fort. Morgen möchte es zu spät sein. Kannst du mir Geld geben?»

«Jetzt sage mir um Gottes willen zuerst, warum du fort musst! Du hast doch nichts Böses getan? Sag's auf der Stelle! Hast du einen erschlagen? Hast du gestohlen?» – «Nein.»

«Aber was denn, was denn, rede doch! ...»

«Ich bin mit einer Schülerin spazieren gegangen. Wir haben uns verspätet. Wir kamen erst nachts nach Hause ...»

«Pierre!» Entsetzt rief es die Mutter. «Mit einer Schülerin?»

«Man hat uns gesehen. Der Waldhüter lungerte umher. Stracks ist er heimgelaufen zum Vater der ... und hat's berichtet. Als ich in meine Stube kam, stand der Alte da und hat mich unmenschlich durchgeprügelt.»

«Pierre», stöhnte die Mutter. «Pierre, Pierre, ist das möglich! Du?! ...»

«Ich muss fort, Mutter, weg, sofort. Vielleicht ist die Polizei hinter mir her. Wenn ich mich noch irgendwo sehen lasse, hat der Alte gerufen, hetze er die Polizei auf mich. Wenn es nicht um seines Mädchens willen wäre, das er sich nicht verschimpfen lassen wolle, würde das sofort geschehen.»

«Es ist nicht möglich», flüsterte Georgine. «Du ... Hans-Peters Sohn ...»

«Mutter, gib mir Geld, ich habe keine Stunde zu verlieren. Hast du Geld im Haus?» Sie antwortete nicht. Sie ging zu dem kleinen Safe, der in die Mauer eingebaut war, öffnete ihn mit dem zackigen Schlüssel, griff in die verschiedenen Fächer und nahm heraus, was da war: Noten, Geld, grosse und kleine Münzen, damit er nicht in Verlegenheit gerate. Sie legte alles in Pierres Hände, und er steckte das Geld in seine Tasche, die sich bauschte.

«Ich danke dir, Mutter.» Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte keinen Dank.

«Wo willst du hin?»

«Mich anwerben lassen.»

«In die Fremdenlegion?»

«Ich weiss den Weg, ich weiss den Ort, ein Freund von mir war dort. Leb wohl, Mutter.» Er wollte sie umarmen. Sie wehrte ab.

«Helf dir Gott», sagte sie. Er streckte nochmals seine Hand aus. Sie nahm sie nicht.

«Das tust du deinem Vater an», sagte sie und barg ihr Gesicht in ihre beiden Hände. «Einem solchen Mann tust du das an? Diese Schande. Du gehst ja verloren. Das mag der liebe Gott dir vergeben.» Da ging Pierre, und wie damals, als er seinen Vater zornig zurückgelassen hatte, zündete er sich draussen eine Zigarette an. Plötzlich fiel ihm ein, dass sie leuchtete, und er warf sie weg.

Als Georgine seine Schritte nicht mehr hörte, fiel sie zusammen. Die Arme auf der starken Lehne ihres Stuhles, den Kopf darauf gelegt, so lag sie lange da.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, hatte sie Mühe, sich zurechtzufinden. Die Wirklichkeit packte sie aber bald wieder an: Pierre – Flucht – Polizei – Fremdenlegion. Wie ging es nun weiter? Was kam nun? Zuerst kam die Heimkehr Hans-Peters. Alles andere stieg nur als ein grauer Nebel an ihrem Horizont auf. Aber in blutrotem Leid sah sie sich mit ihrem Ochsner sprechen. Sie wusste nichts von dem Gespräch, in dem der Schulvorstand wenig verhüllte Andeutungen, Pierre betreffend, gemacht hatte. Ihr graute davor, die Vermittlerin eines solchen Vorkommnisses zu sein. Polizei – Schande! Polizei – Schande, klang es in ihren Ohren. Sie fürchtete sich. Sie betete kindlich und voll Vertrauen, der liebe Gott möge ihr doch helfen. Sie betete, er möge doch verhindern, dass Hans-Peter etwa vom Schlag getroffen werde. Sie betete, dass der Vielvermögende ihr doch kluge Worte eingeben solle, damit sie alles auf richtige Weise erzähle. Der liebe Gott wusste aber viel besser als sie, dass die klugen Worte ihr wenig nützen würden. Besser, sie rede wie sie es immer tat, ein wenig ängstlich, ein wenig kindlich, ein wenig rührend und hilflos. Das war es, was der Ochsner vom Kätzchen erwartete, und was ihm – er hätte es nie zugestanden – im Grunde gefiel.

Es kam eine Karte. Georgine betrachtete zuerst das Bild des wundervollen Käppeli-Joch auf der Mittleren Brücke in Basel. In dem winzigen Kapellchen möchte sie beten, dachte die kleine Ochsnerin, als sie das schöne Bauwerk betrachtete. Darnach las sie, was auf der anderen Seite stand. ‹Morgen abend um sieben Uhr bin ich wieder daheim. Ich hoffe, es stehe alles wohl.›

Also ein Tag blieb ihr, um sich vorzubereiten. Sie bereitete sich vor, aber nichts wurde deshalb anders. Die Tatsachen wichen nicht, blieben bestehen, hatten sich nicht verändert.

Ochsner kam. Er sprang aus seinem Wagen, als seien nie die Wellen des Leides über ihn dahingegangen. Mit einem allzukräftigen Händedruck begrüsste er Georgine. Ein Blick auf ihr Gesicht, und er wusste, dass etwas geschehen sein musste und auf ihn lauerte.

«Ist alles in Ordnung?» fragte er.

«Es ist alles auf dem Hof in Ordnung», antwortete die Frau, die um Klugheit gebetet hatte.

«Niemand erkrankt? Die Simmentalerin gesund?»

«Ganz gesund. Keinem der Tiere fehlt etwas.» Ochsner sah seine Frau an.

«Du hast etwas, das dich quält. Lehre du mich dein Gesichtlein kennen.» Da nahm sich Georgine zusammen, liess ihre Züge sich entspannen, liess den Schürzenzipfel fahren und hielt sich gerade.

Ochsner sollte noch ohne Sorge die schöne Rindszunge verzehren, die sie mit grünen Kapern und einer guten weissen Sauce selbst gekocht hatte, so wie er sie liebte. Ochsner ass denn auch mit Herzenslust. Aber den ganzen Abend so dahinzureden, mit dem schweren Geständnis im Hintergrund, das wollte Georgine nicht. Das durfte sie gar nicht. Als Hans-Peter in seinem Lehnstuhl sass, eine Flasche seines alten Rotweines vor sich, die zerlesene Zeitung schief zusammengefaltet dabei, war der Augenblick gekommen.

«Hans-Peter, ich muss dir etwas sagen. Etwas Trauriges.» Schon wankte ihre Stimme.

«Ich habe es dir ja angesehen. Ich wusste es ja. Sag's schnell. Sag's! Betrifft es Pierre?» Erschrocken, verblüfft ob seines Hellsehens, sagte sie ja. Ehe sie noch zu reden angefangen, veränderte sich Ochsners Gesicht zum Erschrecken. – «Also.»

Da sprach Georgine von allem, was sich zugetragen hatte, und sagte nicht zu viel und nicht zu wenig. Sie bat auch nicht um Milde und beschönigte nichts, schwächte nichts ab. Unbeweglich und lautlos hörte Ochsner sie an. Er schwieg eine Weile.

«Ja, meine Liebe, das ist nun so», sagte er endlich. Kein Wetter brach los, keine bösen Worte fielen. Es war eben zu viel, da mag der Mensch nicht aufbegehren. Da bleibt er stumm. Was hätten Worte bedeutet oder geändert?

«Ja, du arme Mutter, es ist nun so. Wir müssen unsern Sohn abschreiben. Ich bin froh, dass wir keinen zweiten haben.» Er stand auf, holte ein anderes Glas und stellte es gefüllt vor seine Frau hin.

«So, da trink.» Er hob sein Glas. «Wir tragen es zusammen, Georgine.» Da brach sie in jämmerliches Schluchzen aus. Ochsner erwähnte den Sohn nie mehr. Sie hörten nichts mehr von ihm. Er kam nie zurück.

 

Es sah aus, als ob das Schicksal sich bewusst geworden wäre, dass es dem Ochsnerhof einen Lichtstrahl schuldig sei. Wenn auch nur einen recht bescheidenen. Es vertraute ihn erst dem Schiff und dann dem Ozean, darauf der Eisenbahn und dann der eidgenössischen Post und dem jurassischen Briefträger an, der denn auch beflügelten Schrittes daherkam und das Dokument verheissungsvoll in der Hand schwenkte. Er hatte Frau Ochsner unter der Tür stehen sehen. Seit Tilly fort war, hatte sie sich das angewöhnt.

«Einer aus Japan», rief die Stimme dieses irdischen Himmelsboten und übergab Georgine das wichtige Papier. Wie es denn der Frau Chèbres gehe, wollte er wissen. Und wie es ihr denn in Japan gefalle? Und ob es eigentlich wahr sei, dass man dort die frischen Eier vergrabe, sie ein Jahr lang verfaulen lasse und sie dann erst esse? Gewissenhaft gab Frau Ochsner zu, dass sie davon noch nie gehört habe. Sie glaube aber versichern zu können, dass, wenn ihre Tochter etwas wüsste, sie es auch geschrieben haben würde. Auf alle Fälle esse sie selbst niemals derartige Speisen. Das mit den Vogelnestern werde auch nur ein Märchen sein. Jedoch gebe es dort drüben allerdings mancherlei Kuriositäten. Leider musste der Briefträger seinen Weg fortsetzen und nahm Abschied.

Georgine, die ja ein für alle Male sich um die Zustimmung ihres Mannes Ochsner nicht mehr zu kümmern brauchte, begab sich freudestrahlend in ihre behagliche Wohnstube und setzte sich neben den schönen alten Kachelofen, denn schon hatte der Frost die Dahlien im Garten umgebracht und den Hennen das Legen verleidet.

Da sass sie nun und las ihren Brief, und glänzte über das ganze Gesicht. Was für ein übermütiges Geschöpf, diese Tilly! Welch gelungene Dinge sie schrieb. Wie sie glücklich war. Das konnte eine Fledermaus im Dunkeln merken. Ach, Gott sei Dank, ist diese böse Sache so gut ausgefallen.

Gott zu danken war für Georgine keine Redensart, kein abgedroschenes Wort, das sie so hinsagte. Ihr Herz verlangte danach, diesen Dank auszusprechen. Klagte man nicht auch im Leid? Warum also im Glück nicht danken?

Sie war noch mitten im Lesen, als Ochsner hereinkam und seine Frau mit glücklichen Augen am Ofen sitzen und lesen sah.

«So, so», sagte er, fragte aber nichts. Georgine überlegte es sich, ob sie nicht ungeheissen ein wenig erzählen sollte, unauffällig, als sei es selbstverständlich? Sie wagte es.

«Es geht ihnen gut drüben», begann sie und sah es genau, dass Hans-Peters Augen sich einen Augenblick erhellten.

«Das freut mich für dich, Georgine», sagte er und ging hinaus. Ach, dieser Hans-Peter, dachte die Ochsnerin betrübt. So streut er mir Asche auf die schöne Stunde. Aber, konnte er anders? Nein, er konnte nicht anders, denn er war der Ochsner.

Kurze Zeit darauf begegnete sie dem Dieter im Hausflur, der im Zimmer links seinen Bericht abstatten wollte. Er sah den Brief in ihrer Hand.

«Sind gute Nachrichten von der Tochter gekommen?» fragte er.

«Ja, Dieter. Soll ich sie von Euch grüssen, wenn ich schreibe? Es würde sie sicherlich freuen.» Dieter war es recht, denn er war seinerzeit tüchtig in das reizende und lustige Ding verliebt gewesen und hatte dem Chèbres alles nur mögliche Böse gewünscht. Freilich, er wäre ja doch nie in Betracht gekommen. Das half ihm über die schlimme Zeit hinweg.

Georgine begann nun ihren Rundgang, erst zu Isolina hinauf und dann ins Weisse Haus zu Frau Monika, und beide Frauen teilten der Mutter Freude und lachten ob der drolligen Briefstellen und den stets so lustigen Bemerkungen Tillys über Japan und seine Sitten.

Monika erhielt übrigens von Zeit zu Zeit selbst Briefe aus Japan, die allein an sie gerichtet waren und jedesmal die Frage enthielten, ob denn der Vater wirklich noch immer nichts von ihr wissen wolle. Aber vielleicht müsse das so sein, denn sonst wäre sie allzu glücklich.

Tilly glaubte fest an ein göttliches Walten und an göttliche Gerechtigkeit, aber mehr als eine Art Rache Gottes empfand sie nicht. Nicht als einen Ring, der Anfang und Ende verband, Aussaat und Ernte in Zusammenhang brachte.

Als Georgine, ermüdet vom Tag, das Licht löschte, dankte sie dem Herrgott noch einmal für die grosse, grosse Freude und empfahl ihm ihre Tochter aufs angelegentlichste.

 

Frau Monika war nicht frei von Sorgen. Sie fühlte deutlich und stark, dass Tomas irgend etwas erlebt haben musste, das ihm seine unbesorgte Lebensruhe untergraben hatte. Er war anders geworden, er war ein anderer Mensch. Nicht nur stiller, weniger bestimmt im Auftreten, langsam in seinen Bewegungen, sondern er sah oft fast verfallen aus und starrte manchmal geistesabwesend vor sich hin. Er überhörte Fragen und erzählte – denn etwas muss man doch zusammen reden – nur vom Werk, vom Hochofen, vom Ertrag der Filialen, die er in Betrieb gesetzt hatte, und vom Ausmass der ganzen grossen Sache.

Er las des Abends in ihrer Gegenwart, er schrieb viel und oft geschäftliche Briefe, Arbeiten, die er sonst stets an seinem Schreibtisch geleistet hatte.

Monika versuchte zu erfahren, was ihm wohl begegnet sein möchte. Aber ohne Erfolg. Sie ging wie im Nebel.

Laurent wurde ungeduldig, wenn sie ihn ängstlich ansah und Fragen nach seinem Befinden stellte. Er zermarterte sich mit Vorwürfen. Das grausame «zu spät» quälte sein Gewissen.

Hätte ich zur richtigen Zeit mit Monika gesprochen, sagte er sich, alles wäre nicht geschehen. Dagmar wäre nicht fort, hätte ihn nicht geflohen, und – vor allem – lebte, lebte, lebte noch. Wie eine übergrosse Last lag das alles auf Toms Seele, verdoppelt, verdreifacht durch die Sehnsucht, die ihn zermürbte, und den Schmerz um seine verlorene Liebe.

Das Haus ohne Dagmar, die Kinder ohne Mutter zu finden, wenn er sie aufsuchte, von kühler Sorgfalt umgeben, war ihm eine stete Pein. Das Bewusstsein, die zwei Kleinen in ihrem bürgerlichen Stand schwer geschädigt zu haben, quälte ihn ohne Unterlass. Sie waren seine Kinder und waren es nicht. Unbeschützt standen sie in der Welt. Mutterlos, ohne Vater. Das alles zehrte an ihm.

Monika fragte nicht mehr. Sie sah, wie er magerer und zu allem unlustig wurde.

Eines Tages schlug sie ihm vor, eine Reise zu machen. Es sei lange her, seit sie die Freude gehabt habe, mit ihm hinauszufahren und eine Weile den Alltag hinter sich zu lassen. Der Gedanke packte ihn, und er nahm sich Urlaub. Beinahe freute er sich. Aber schon während den Vorbereitungen zur Abreise erschlaffte die Freude. Ja, wenn er mit Dagmar reisen könnte. Jeder seiner Reuegedanken frass den anderen auf, aber keiner schonte ihn.

Ein kaltes, unfreundliches Gefühl packte ihn Monika gegenüber. Er blieb auf der ganzen Reise allem gegenüber gleichgültig. Sie fühlte das natürlich, und die erhoffte Freude wandelte sich in Tränen, die nachts in aller Verborgenheit flossen.

Was ist das nur, fragte sie sich immer wieder. Was mag es sein? Ob ich doch noch einmal mit ihm darüber spreche? Aber sie liess es und schwieg. Nach vier Wochen hatte sich nichts geändert.

Da erfuhr Tomas Hilfe von einer Seite, von der er es am wenigsten erwartet hätte. Von Gabriel. Von dem schweigenden Gabriel. Allerdings kam der Anstoss dazu von Isolina. Sie sprach einmal bei Tisch darüber, wie doch der Herr Laurent gar nicht mehr der Herr Laurent von früher sei. Eine ausgegrabene Leiche könne auch nicht schlimmer aussehen. Entweder sei er irgendwie auf den Tod krank, oder sein Werk gehe pleite, oder er habe jemanden ermordet und fürchte sich vor der Polizei.

Gabriel lachte. Isolina war ein Schalk und konnte sich wohl denken, was den Nachbar quälte. Gewissenhaft hatte sie aber über all das geschwiegen, was sie wusste.

Was seine Schwarze gesagt, machte Gabriel nachdenklich. Das war nicht dies und das, was den Mann so ausschauen machte, das war wegen der Frau, die ihm gestorben war. Vielleicht grämte er sich um die beiden Kinder, die er einem fremden Menschen anvertrauen musste.

Kleinen Kindern schadet es, wenn keine Mutter da ist. Die Sache ging ihm im Kopf herum. Acht Tage brauchte er, bis ihm der erste richtige Gedanke kam, der sich später zu so gutem Ende auswachsen sollte. Acht weitere Tage, bis er alles hin und her überdacht hatte, und noch vierzehn, bis er zu dem Entschluss kam, es zu versuchen und sich zu erlauben, den bedrückten Mann wenigstens auf den Weg hinzuweisen, der zu einer neuen Lebensfreude führen und den Vorwurf, seine Kinder führten nicht seinen Namen, hinfällig machen könnte.

Aber nun erst begann das Werweisen. Soll ich, oder soll ich nicht? Darf ich, oder darf ich nicht? Wage ich es, oder ist das Wagnis zu gross? Der Laurent könne ja selbst auf den Gedanken kommen, wenn er sich ein bisschen besinnen würde. Der Laurent war gescheiter als er und brauchte ihn nicht. Und wie er so etwas überhaupt vorbringen solle? Und wie die Worte stellen? Er war nahe daran, auf die Verwirklichung seines Einfalls zu verzichten. Dagegen wehrte sich aber sein Gewissen. Fiel es dir ein, so hatte das einen Zweck, schalt es. Ein netter Soldat, der zurückweicht! Er nahm es sich zu Herzen.

Als Tomas Laurent von seiner schönen Reise zurückgekehrt war und nicht besser und nicht gesünder aussah als vorher, da nahm der Gabriel seinen Mut zusammen und verjagte die Scheu, die ihn hinderte, zu tun, was ihm von innen her anbefohlen war. Zeit hatte er.

Der Herbst ging zu Ende, die weissen Rüben waren eingetan. Holz wurde gehauen und gespalten, und es wurde noch ein Rest des Weizens gedroschen. Aber nichts hatte Eile. Die Winterruhezeit begann langsam ihre sanften Flügel über die Bauersame auszubreiten. Die Zeit der gebratenen Kastanien – aus Airolo kam jeden Winter ein Sack voll – rückte heran. Die Zeit der stillen Abende und des Holzschnitzens, des Obstdörrens war vorüber. Tag für Tag hatte es in Isolinas Küche nach schmorrenden Birnen und Äpfeln gerochen. Bauer, Bäuerin, Knecht und Magd hatten des Abends die Äpfel geschält, bis keiner mehr da war. Es gab dabei Most und frisches Schwarzbrot, und die vier sangen dazu, dass man es unten im Ochsnerhof hörte. Dort aber sang niemand.

Die Zeit zu einer Unterredung war also gut gewählt. Am Martinstag, so hatte Gabriel es sich vorgenommen, wollte er seinen Vorsatz ausführen. Warum gerade am Martinstag? überlegte er. Dass da eine Gans gebraten und die Paten und Patinnen der Kinder dazu eingeladen waren, konnte der Grund nicht sein, denn was er vorhatte, war nichts Festliches.

Der Martinstag kam. Um 6 Uhr, der Zeit, da der vom Weissen Haus heimzukehren pflegte, stellte sich Gabriel oben am Weg auf und brachte, vor dem Wagen stehend, langsam und stolpernd heraus, dass er gern etwas geredet hätte mit dem Herrn Laurent.

«Was habt Ihr mir Gutes zu sagen?» fragte Tomas. Gabriel meinte, ob sie vielleicht einen Gang dem Wald entlang machen wollten? Erstaunt zeigte sich Laurent einverstanden, fuhr seinen Wagen auf die Terrasse hinan und kam sogleich wieder zurück. Langsam gingen die beiden dem Wald zu. Laurent wartete auf irgendein Wort von Seiten Gabriels. Aber es kam keines.

«Nun?» fragte Tom. «Was habt Ihr mir zu sagen?»

«Nicht gerade etwas zu sagen. Aber ... Ihr seht alle Tage schlechter aus, Herr Laurent. Es könnte einem angst machen. Ihr müsst es mir nicht übelnehmen, wenn ich darüber nachgedacht habe. Gwundrigkeit ist es nicht. Aber weil ich mir so ungefähr denken kann, was Euch so den Rahm von der Milch wegstiehlt ...» Er hielt an. Er wog noch einmal seine Worte, er prüfte sie. Laurent wartete geduldig, er kannte ja den Nachbarn.

«... So bin ich darauf gekommen, dass Euch vielleicht geholfen würde, wenn Ihr Eure beiden Kinder zu Euch nehmen würdet. So Kinder, Herr Laurent, sind im Kummer eine Gabe Gottes. Ich weiss nicht, ob ich weiterreden soll ...» Laurent war aufgefahren, beinah erschrocken über des anderen Worte, die mitten ins Schwarze, mitten ins Herz getroffen hatten.

«Redet, Ochsner, redet! Schön von Euch, dass Ihr Euch meinetwegen Gedanken macht.»

«Ja, das wäre vielleicht gut. Dreierlei würde geschehen. Ihr brächtet Euch Glück ins Haus. Ihr könntet ein Unrecht gutmachen und den Kindern einen ehrlichen Namen mit ins Leben geben. Und – ich weiss nicht, ob ich das sagen darf ... Ihr könntet vielleicht Frau Monika ... vielleicht einmal mit ihr über die ganze Sache reden, wie es Euch ums Herz ist und ...»

«Ochsner, das ist es ja, warum ich die Kinder noch nicht bei mir habe. Das kann ich Monika nicht sagen. Kann sie mir die vielen Jahre, in denen ich eigentlich ohne sie gelebt habe, je verzeihen? Kann sie das?»

«Wie ich Frau Monika kenne, so gehört sie zu denen, die verzeihen können. Das ist eine Frau wie eine Mutter. Eine geborene Mutter. Mütter verzeihen. Hab's bei der meinen erlebt.»

«Gabriel, wer hat Euch das gelehrt?» fragte Laurent ergriffen.

«Das werde ich wohl etwa von selber lernen können, das ist etwa nicht schwer. Es steht ihr ja auf der Stirn geschrieben.»

«Gabriel, Ihr seid ein guter Freund. Meint Ihr wirklich, das dürfe man wagen, einer Frau zuzumuten, das zu begreifen?»

«Nicht jeder Frau, Herr Laurent, nicht jeder. Ich möcht's bei meiner Isolina nicht versuchen. So ein kleiner Feuerteufel verträgt derartiges nicht. Aber nicht etwa, dass ich eine andere möchte. Gotts Donner, nein! Eine lustigere gibt's nicht, und eine – eine herzigere ... und eine schönere auch nicht. Aber die Sorte verträgt es nicht, dass ihr da andere in die Liebe pfuschen. Die Frau Monika aber ... ich würde es wagen, Herr Laurent.«

«Ochsner», sagte Tomas. «Ochsner, Ihr wisst nicht, welch' Liebeswerk Ihr an mir tut mit Euren Worten. Ich bin sonst kein Weicher, keiner, dem das Gefühl leicht durchgeht, aber hier, bei Monika ... ich kann ihr nichts zuleide tun.»

«Ist aber schon geschehen. Ich habe es früher schon gesagt. Nun kommt das Wiedergutmachen. Das ist nicht leicht, das, weiss wohl. Aber es muss sein. Hinter dem Gitter wartet viel Gutes. So, und nun will ich umkehren. Ihr könnt Euch nun selber in die Sache hineindenken. Habt morgen den ganzen Sonntag Zeit. Und nichts für ungut. Und ich wünsche, dass das ... dass es sich gut löse.» Er drehte sich rasch um, ging vor Laurent her bis hinauf zum Weissen Haus und sah sich nicht um. Kein einziges Mal drehte er den Kopf. Aber mit Backen, so rot wie die eines Beppo, erschien er vor Isolina. Wenn sie gewusst hätte, was er da über sie geredet hatte zu einem fremden Menschen aus lauter Mitgefühl, sie würde ihm den Meister gezeigt haben.

«Gabriel», sagte sie, «wenn du meinst, ich sei kurzsichtig und sehe nicht bis hinunter zum Wald, so irrst du dich.» Und weiter sagte sie kein Wort und tat keine Frage.

Was das für eine Frau ist, dachte Gabriel. So eine gibt's nicht ein zweites Mal.

 

Heftig aufgestört aus dem trüben und unfruchtbaren Knäuel seiner aus Schmerz und Reue geballten Gedanken, ging Laurent auf einem grossen Umweg nach Hause. Ihm war zumute, als sei es Tag in ihm geworden. Hell! Dieser Gabriel, wie er gesprochen hatte. Einfach, klar, den Nagel auf den Kopf treffend. An den paar Sätzen musste er tagelang herumgesucht haben, wie hätte er seine Rede sonst fertiggebracht?

Wer von allen seinen Freunden und Bekannten hatte sich nach Dagmars Tod überhaupt noch um ihn gekümmert? Die von ihr gewusst hatten, waren zum Begräbnis gekommen. Das ja. Das ging nicht anders. Sie hatten ihm sogar die Hand gedrückt.

Ja, wäre Dagmar seine Frau gewesen, dann natürlich würde es an den herkömmlichen Worten, Fragen und Besuchen nicht gefehlt haben. Sie war aber nicht seine Frau, und in diesem Fall viel Wesens zu machen, war nicht üblich. Im Gegenteil, unpassend wäre es gewesen.

So war Gabriel der einzige Mensch, der ihm die Hand bot und ihm helfen wollte die schwere Zeit zu überwinden, der einzige, der überhaupt an ihn gedacht und sich um seinetwillen gesorgt hatte. Er, der ihn mit strengen Augen hatte merken lassen, dass er sein Leben mit einer anderen Frau nicht billige.

Laurent wurde das Atmen leichter. Ein merkwürdiges Herzklopfen befiel ihn, ein hoffnungsvolles und freudiges, und er musste lächeln. Die Kinder hier oben? Dagmars Kinder im Weissen Haus? Sollte das möglich sein? Er spielte mit Bildern der Zukunft. Er sah Monika mit ihnen bei der Eiche, er sah die Kleinen, wie sie sich jubelnd und lachend auf der Wiese tummelten.

 

Monika und Tomas sassen an einem von Gewittern bedrohten Abend im Erker und wussten beide nicht so recht, wovon sie sprechen sollten. Er nicht, weil er Überwichtiges zu sagen hatte, und sie nicht, weil sie in den letzten Wochen nur zerstreute oder gleichgültige Antworten auf ihre Fragen erhalten hatte.

Tom suchte nach einem Anfang, einem packenden Wort, das nachklingen sollte. Es war so wichtig, das, was er zu sagen hatte, es hing so unendlich Wichtiges davon ab, wie Monika es aufnehmen würde. Er konnte sie für immer verlieren oder einen Schatz von unendlichem Wert gewinnen. Er war es nicht gewohnt, Gott um Hilfe in irdischen Dingen zu bitten. Dazu schien ihm alles, was geschah, nicht wichtig genug zu sein. Er hatte ihn in seiner grossen Not an Dagmars Sterbebett angerufen und keine Antwort erhalten. Mit erschüttertem Vertrauen, sein eigenes Gefühl, das ihn dazu trieb, verleugnend, wandte er sich, unbewusst, gleichsam Gott übergehend, an irgendeinen Helfer.

Vielleicht war es das Richtige, denn ohne es zu wollen, sagte er das, was Monikas Herz am sichersten bewegen konnte.

«Monika», sagte er, «du hast mir schon oft geholfen. Hilf mir auch jetzt.» Erstaunt, etwas ängstlich, schaute sie auf.

«Wie könnte ich anders, Tom?» fragte sie und streckte die Hand aus. Er nahm sie. Er streichelte und drückte sie.

«Darf ich sie behalten? Auch wenn ich dir weh tun werde?»

«Tom?» Ein wenig lächelte sie, denn er hatte ihr schon oft weh getan. «Ich glaube, dass ich es versprechen kann.»

Und nun begann er. Er erinnerte sie an das Bild, das Angelika Kauffmann gemalt und das er Monika, als sie verlobt waren, gezeigt hatte. Dann sprach er von dem Mädchen, das der Herrlichen so ähnlich gesehen, so sehr, dass er sie zu lieben begonnen habe. Und davon sprach er, wie er gekämpft habe, und Monika um keinen Preis habe Schmerzen zufügen wollen. Und dass alles umsonst gewesen sei. Darauf schwieg er. Auch Monika schwieg.

Sie hatte immer nur Tom geliebt. Keinen andern. Wie sollte sie ihn verstehen? Langsam war sie rot geworden, rührte sich aber nicht. Beinahe stand ihr Herz still. Wie sollte es nicht? Es barg ja alles, was ihr Leben lebenswert machte, in sich. Es wusste nur von Tom, es begehrte nur ihn, gehörte einzig und allein ihm. Es klopfte so masslos heftig, weil ihm jetzt eine allzu grosse Last aufgebürdet wurde. Am liebsten hätte es zu pochen aufgehört.

Laurent erschrak, als er die Wirkung seiner Worte auf ihrem Gesicht wahrnahm. Der Ausdruck abgründiger Verzweiflung war so gross, dass er kaum mehr zu Ende zu reden wagte.

«Soll ich weiterreden, Monika?» Sie hob die Hand wie abwehrend. Es graute ihm, ihr die Wahrheit zu sagen. Und wenn sie daran starb? Einer seiner Freunde hatte seine Frau dadurch verloren, dass sie in seiner Bibliothek in einem vergessenen Buch einen Brief fand, worin Dinge standen, die sie nicht wusste. Sie musste den Rest ihres Lebens in einem Irrenhaus verbringen.

«Monika, ich konnte dir ja nichts von all dem sagen. Ich wagte es nicht. Ich wusste, wie schwer es für dich sein würde ...» Sie unterbrach ihn.

«Du bliebst bei der Fremden? Du spieltest eine jahrelange Komödie mir gegenüber? Du sprachst liebe Worte zu mir und liessest mich an deine Liebe glauben, als ich dich längst verloren hatte? Ich wusste nicht, dass deine Liebe nur noch ein Schatten war, ohne Blut und Kraft. Und ich glaubte ... ich glaubte an dich!»

«Monika, um Gottes willen, sage nichts mehr. Verzeih mir. Glaube mir, dies Neue war stärker als ich. Es war ein Sturm, es war eine fremde Gewalt, die mich gepackt hatte und mich festhielt. Ich konnte nicht mehr anders und wollte bald nicht mehr anders. Und sie liebte mich.»

«Und ich?» flüsterte Monika. «Und ich?» Tom sah sie an und erkannte, was er ihr antat. Er sah, dass sie gleichsam einen Tod zu erleiden hatte.

«Glaube mir wenigstens, dass ich mich unendlich quälte um deinetwillen, dass ich dich um keinen Preis verlieren wollte, dass du mir teuer warst und bliebst, mein Lebenskamerad, meine Hilfe in so vielen Jahren.»

«Und nahmst mir das einzig Kostbare, woran mir lag: Deine Liebe. Und lebtest mit einer anderen Frau, und liebtest sie. Und gingst von mir zu ihr. Und kamst von ihr zu mir zurück, und küsstest sie, und küsstest mich – dass das möglich ist, dass man so spielen kann mit einem Menschenherzen und es hintergehen, und» – plötzlich schwieg sie. Ihr Blick war auf ihren Ring mit dem Edelstein gefallen. Sie hob die Hand, streifte den Ring ab und legte ihn in die kleine indische Schachtel aus Sandelholz, die da lag. Sie sprach weiter, aber ihre Stimme hatte einen fremden, herben Klang.

«Darum hast du mir den Diamanten geschenkt, Tom? Als Busse, als Entschädigung, um dich zu entlasten! Einen Ring gegen meine Liebe ... und ich ... ich hatte mich so sehr darüber gefreut, als ein Geschenk von dir, als ein Zeichen deiner Liebe.»

Wenn sie doch weinen würde, dachte Tom. Ihr würde leichter. Aber sie weinte nicht.

Es entstand eine lange Pause, eine traurige, mühselige, hoffnungslose Pause. Mit belegter Stimme redete nun Laurent. Das hatte er nicht gewusst, dass seine Beichte so auf Monika wirken würde. Dass seine Liebe ihr Boden, Hintergrund, Halt, Kraft, Freude, überhaupt alles war. Das hatte er nicht bedacht. Aber er musste sein Ziel erreichen.

«Monika, ich habe dir noch mehr zu sagen.» Beinah entsetzt sah sie ihn an.

«Nein», sagte sie. «Nein, mehr nicht. Ich kann ...»

«Monika, ich muss es dir sagen: Ich habe zwei Kinder.» Sie fuhr auf.

«Das ist nicht wahr! Du hast zwei Kinder? Die Frau, die du liebtest, hat zwei Kinder gehabt? Und ich ...» Sie konnte vor Erregung nicht weiterreden. Es kam wieder eine lange Pause, eine grosse, gewichtige, beinah sichtbare Stille. Wie Nebel zog es durch den weiten Raum.

«Ist es wahr? Ist es gewiss wahr?» fragte sie.

«Wie dürfte ich dir so etwas vorlügen. Monika, ich wusste nicht, dass es so weh tut, dass du nicht einmal weinst. Verzeih mir, ich konnte es mir nicht vorstellen.»

«Du hast Kinder, Tom?» Sie sah vor sich hin, sie sah ihn nicht an. Er hat Kinder.

«O Gott, warum durfte ich keine haben?» sagte sie endlich. «Es ist zuviel, es ist zuviel, Tom!» Sie legte ihr Gesicht in die beiden Hände. «Er hat zwei Kinder», sagte sie vor sich hin.

«Monika», sagte nun Tom und vermochte kaum zu sprechen. «Die Kinder haben keine Mutter mehr. Sie starb diesen Sommer.»

«Sie starb», sagte sie erschrocken und erschüttert. Sie nahm seine Hand. «Mein Gott, Tom, das ist ... du Armer.» Das Mutterwort fällte ihn. Er legte sein Gesicht auf ihre Hand, und sein ganzer Körper bebte vor Leid und Aufregung. Sie strich ihm über das Haar. Sie dachte nicht mehr an sich, nur an ihn. Sie musste ihn trösten. Wie nur die Mutter trösten kann, dachte Tom.

Das war Monika. Das war noch immer Monika. In ihr vollzog sich das Wunder, dass eine Frauenliebe, jene des Weibes zum Manne, sich in die der barmherzigen Mutter zum leidenden Kinde wandelt.

«Tom», sagte sie. «Das tut mir von Herzen leid. Aber dir bleiben die Kinder. Danke Gott dafür.»

Laurent hoffte von Tag zu Tag, dass Monika wieder von den Kindern zu sprechen beginnen werde. Aber es geschah nicht.

Im Zustand heftiger Gemütserschütterung zeigt sich der Mensch grösser als er eigentlich ist, hingebender, weitherziger. Es sind seelische Höhepunkte, die nicht von Dauer sein können. Auch die Sonne kann nicht im Zenit verharren, sie muss wieder Schatten bilden auf Erden. Sie muss untergehen.

Monika hatte noch viel zu überwinden. Die Qual einer verspäteten, aber heftigen Eifersucht, die Bitterkeit über Toms Benehmen, das ihr als Falschheit, Heuchelei, Betrug vorkam, wollten sie nicht verlassen.

Eine Magd schalt sie sich, eine niedrige Haushälterin, die sich Essen und Wohnen und Kleider verdiene. Was war sie anderes? Ihre Liebe hatte sie ins Leere getragen. Mit beiden Händen hatte sie geschenkt, und seine Liebe brachte er der fremden Frau.

Wie sollte sie das ertragen, so plötzlich herausgerissen zu sein aus Glauben und Vertrauen? Liebe, Stolz, Zorn, Trauer wechselten. So war ihr, der stets geduldigen, immer verzeihenden, der sanften Monika zumut. Aufgewühlt ihr Innenleben, zertrümmert ihr Liebeshaus, verschmäht ihre Liebe.

Was galten ihr Besitz, Garten, Haus und Geld ohne Tom? Was half ihr der reinste Diamant, der goldene Reif, der strahlend an ihrer Hand geprangt hatte und ihr von Toms Liebe eine Bestätigung gewesen war?

Es kamen aber auch Tage, da sie ruhig war und Tom wieder mit freundlichen, warmen Augen ansah, an denen sie Mitleid mit ihm hatte und seine Trauer begriff. Sie fragte ihn nicht, wohin er gehe, wenn er des Sonntags wegfuhr zu seinen Kindern. Sie fragte aber auch nicht nach ihrem Ergehen. Sie wollte nicht Worte gebrauchen, denen ihr Gefühl nicht entsprach.

Aber Zeit und guter Wille sind grosse Helfer. Eines Tages hielt sie eine kleine Rede beim Frühstück und meinte, da Isolinas Kinder doch zum Sankt Nikolaus herunterkämen, ob nicht auch die Zwei – deine Kinder vermochte sie noch nicht zu sagen – gerne dabeisein möchten? Tomas blieb stumm. Die Frage erschütterte ihn. Vielleicht war das ein erster Schritt, ein erstes Zugeständnis.

«Du Liebe, ich danke dir», sagte er dann und sah dabei so glücklich aus, wie Monika ihn lange nicht gesehen hatte.

Der Nikolaustag kam. Die rosigen Kindergesichter rührten an Monikas Herz. Das waren also Toms Kinder und Kinder einer andern Frau. Einer geliebten Frau, nicht die ihren. Wer kann ermessen, welche Opfer da gebracht werden mussten?

«Guten Tag», sagten die Zwei und streckten die Händchen aus.

«Bist du eine andere Mama?» fragte Judith. Da hob Monika sie in die Höhe und küsste sie, und von dem Augenblick an brauchte sie sich nicht mehr dazu zu zwingen, Toms Kinder liebzuhaben. Die wunderbare unbewusste Kraft der Kinder, an jedes Herz zu rühren, hatte sich auch Monika gegenüber bewährt.

Die Nacht darauf brachte Tom seit langem den ersten ruhigen Schlaf, und am folgenden Morgen erwachte er seit langem erstmals wieder ruhigen Herzens.

Jeden Sonntag und jeden Samstagnachmittag sollten die Kinder nun im Weissen Haus verbringen.

Aber nie sprach Monika davon, die Kinder ganz zu sich nehmen zu wollen. Nie sprach ihr Tomas davon.

 

Mageli und Beppo waren glücklich und beladen mit Nüssen, Schokolade und anderem Zuckerzeug nach Hause gekommen. Sie überstürzten sich im Erzählen aller Neuigkeiten, die sie erlebt hatten.

Zwei Kinder seien dagewesen, die gleichen wie im Sommer. Sie hätten Kleider aus Sammet getragen und Locken auf dem Kopf gehabt, gelbe, nicht schwarze wie sie. Und, so erzählte Mageli, sie hätten Papa zu Herrn Laurent gesagt, und zu der Frau Laurent hätten sie Frau Monika gesagt, wie sie beide. Eine Mama sei keine dagewesen.

Gabriel sah Isolina an. Aha, bedeutete sein Augenzwinkern. «Das ist aber eine Neuigkeit», sagte Isa mit grosser Zurückhaltung, denn sie brannte darauf, mit ihm über diese wichtige Sache zu sprechen.

Ob die Kinder im Weissen Haus geblieben seien? fragte sie Mageli. Nein, sie seien heimgefahren, antwortete das Kind. Aber am nächsten Sonntag kämen sie wieder, und dann dürften sie alle vier köcherlen.

«Zieht einstweilen eure schönen Kleider aus», befahl die Mutter. «Ihr werdet kaum damit zu Bett gehen wollen?»

 

Unten im Ochsnerhof war man schon am anderen Tag über den St.-Nikolaus-Nachmittag unterrichtet. Hans-Peter hörte so abwesend zu, dass man hätte glauben können, er höre überhaupt nicht. Da kamen Kinder ins Haus, dachte er, und aus dem meinen sind sie geflohen. Geflohen ... wenigstens fort.

Streiften seine Gedanken den Sohn, so meinte er darob die Hände ballen zu müssen. Zeigten sie ihm die Tochter, so kostete es ihn einen schweren Seufzer. Nie sollte man Machtworte sprechen, die sich gegen einen selbst richten und einen unglücklich machen können.

Hätte ich das Mädchen heiraten lassen! Der Bursche war nicht übel. Wenn ich an Pierre denke, was gäbe ich darum, er wäre wie der andere. Was gäbe ich darum, den im Hause oder in der Nähe zu haben!

So ein Haus ohne Kinder. Laurent hatte nie welche. Ich aber – bin ich denn des Herrgotts, dass ich über schwächliche Gedanken nicht mehr wegkomme? Sie haben beide ihr Schicksal selbst gewollt, die meinen, haben es sich geschaffen. Nun bleibt es, wie es ist. Zu ändern ist nichts mehr.

 

Eine kurze Woche nach Tillys Brief läutete der Briefträger. Es tobte ein heftiges Gewitter. Georgine holte den Mann herein und setzte ihm ein Gläschen ihres Nusswassers vor. Er stampfte sich den Schmutz von den Schuhen und nahm mit Dank die kleine Erquickung an. Zugleich übergab er ein Telegramm, wie der ausgedehnte Holzhandel Ochsners es oft mit sich brachte, und machte sich dann wieder auf den Weg.

Einen Augenblick gedachte sie des erwarteten Enkelchens, und ein froher Schein flog über ihr Gesicht. Sie legte den gelben Umschlag auf den Tisch und holte sich ein Tuch, denn sie fröstelte. Dann nahm sie das Papiermesser und öffnete das Telegramm. Es war lang. Dr. Niggeler war es unterzeichnet. Wer war das? Ach, der Arzt aus der Schweiz. Georgine erblasste. Der Arzt? Mein Gott, der Arzt? Sie las: Maurice Chèbres ist gestern seiner schweren Krankheit erlegen. Beerdigung am 29. Juni. Georgine setzte sich. Ihre Finger zitterten, und das Telegramm fiel ihr zweimal aus den Händen. Sie las weiter. Es stand noch mehr darin: Frau Chèbres von einem Söhnchen entbunden, das, weiss geboren, nur wenige Augenblicke gelebt hat. Es wird am gleichen Tag wie der Vater begraben. Frau Chèbres befindet sich den Umständen gemäss wohl. Mit Teilnahme: Dr. Niggeler.

Alles war noch, wie es vor fünf Minuten war. Das Telegramm lag da, das leere Glas des Briefträgers stand auf dem Tisch, und links die Flasche. Sie selbst sass auf ihrem niederen Stuhl, und doch war ein schönes Glück und eine freudige Hoffnung in Stücke geschlagen. Draussen hagelte, blitzte und donnerte es wie schon so oft. Nur zwei Menschen waren nicht mehr da, atmeten nicht mehr. Ach, es geht wohl jedem so, der eine Todesnachricht erhält, dass er meint, die Welt müsse still stehen. So war es auch Georgine zumute.

Es kann nicht sein, dachte sie. Es darf nicht sein. Alle beide. Und mein armes Kind, meine liebe, liebe Tochter. Tilly, ach, du armes. Sie weinte nicht. Sie rührte sich auch nicht. Sie war wie verwirrt. Es war kein Denken, und es war kein Beten. Es war wie ein Nebel, der aufstieg und alles bedeckte und verhüllte und sich dann verlor. Aber als er verschwunden war, stand die Wirklichkeit nur um so grausamer da. Tilly, Tilly.

Und Ochsner, fiel es ihr schwer aufs Herz, erdrückend beinahe. Jeden Augenblick konnte er kommen und lesen, was da stand. Sie wartete auf seine Schritte. Sie hörte ihn im Zimmer nebenan umhergehen und sprechen. Sie stand aber nicht auf und brachte ihm das dünne Papier nicht. Sie weinte immer noch nicht. Es stand alles still in ihr. Es fehlte ihr noch der Glaube an das Unfassbare, an das, was sie eben gelesen hatte.

Ihre Seele verschluss sich dem Schmerz. Schwere Wunden schmerzen anfangs kaum. Ein Soldat fühlt nur den Schlag, der Schmerz kommt später. Da trat Ochsner ins Zimmer. Er wusste, dass der Briefträger dagewesen war, und wollte sich nach den Briefsachen erkundigen. Warum sie nicht gebracht worden seien? Da sah er den gelben Umschlag und sah Georgine an.

«Georgine? Was ist? Was sitzest du so da?» Sie reichte ihm das Papier, und er las. Zwei-, dreimal las er. Er begriff, was er schon beim Anblick des Telegramms geahnt, gefürchtet. Ein Unglück, Tillys Mann war tot. Und noch etwas stand darin. Tillys Kind war tot.

«Hans-Peter», flüsterte Georgine. Er trat neben sie und streichelte ihr Haar nach seiner Gewohnheit. Er drückte ihren Kopf an sich. Sie weinte nicht, wie sie es sonst bei jeder Gelegenheit tat und er es nicht leiden konnte.

«Ja, so ist es nun. Das muss das junge Kind nun erleiden. In dem fremden Land.» Es fuhr ihm wie ein stechender Blitz durch den Kopf, dass er es sei, der sie dorthin gejagt hatte. Ohne ihn wäre sie hier geblieben. Ihr Mann wäre vielleicht hier nicht gestorben, und das Kind wäre infolgedessen nicht tot. Es wurde ihm eine schwere Last auf die Schultern gelegt, eine Schuld, die wuchs und wuchs, schwerer und schwerer wurde. Sie drückte sehr.

«Du hast es gut», sagte er zu Georgine. Sie sah zu ihm auf mit ihren geröteten Augen und begriff nicht, was er meinte. Wie kann ich es gut haben, dachte sie. Aber das ist ja nun gleichgültig. Ach, mein armes, armes Kind. In diesem Japan ist sie so ganz allein. Und dann stirbt ihr auch das Kindchen, das ist zu viel. Ja, das ist zu viel. «Für einen Menschen ist das ein zu grosses Leid. Was denkt sich nur der liebe Gott», sagte sie laut.

«Ich weiss, was er denkt. Er denkt: Nun ernte, was du gesät hast. Das denkt er.»

«Meinst du Tilly?» fragte erschrocken Georgine.

«Nein, ich meine mich, nicht Tilly. Antworte nicht, Georgine. Da gibt es nichts zu antworten. Da heisst es nur: einsehen. Und in dem armen Kind straft er mich. Und recht hat er. Aber grausam ist er.»

Georgine nahm das Telegramm und las es noch einmal. Sie ahnte, was Hans-Peter meinte, sie wollte ihn nicht unterliegen sehen. Sie wollte ablenken.

«Da liegt sie nun in ihrem Bett und hat keinen Menschen, und der, den sie liebte, ist begraben ...» Ochsner ging hinaus.

Er ging in den Stall zu den Tieren. Sie waren seine Freunde geblieben, trotz seines grossen Handels. Er blieb in seinem Herzen ein Bauer, vor allem ein Bauer. Er schaute den Kühen in den Rachen, einer nach der andern. Denn das hatte er sich nach der Seuche angewöhnt. Er fand alles in Ordnung. Er sah nach in den Rampen, ob genug oder zu viel gefüttert worden sei und ob die Tiere Hunger hätten. Kein Hälmlein lag am Boden. Er ging zu den zwei Kälbern. Auch die gediehen vortrefflich.

Ja, dachte er und tätschelte die Mutter, die hat nun, was sie freut. Und meine arme Tilly ... er ging hinüber in den Pferdestall. Auch da war alles untadelig in Ordnung, die Fenster klar, und der Stall ohne Fliegen, das Stroh frisch und sauber, und die Pferde wohlgestriegelt und glatt. Sein Reitpferd glänzte. Es richtete seine Augen grüssend auf seinen Herrn und wieherte.

Ochsner wurde es warm ums Herz. Mir ist nirgends so wohl wie im Stall, dachte er. So ein Tier ist ein Trost. Es schweigt und will nichts von dir. Es weiss auch nichts von dir. Er strich dem Rappen liebevoll über die Flanken.

Das alles tat und dachte er, um die schwere Bürde, die auf seiner Seele lag, weniger zu fühlen.

Ja, Trauer herrschte im Haus. Aber die grosse, wirkliche, qualvolle Trauer war es dennoch nicht, denn es war nicht die eigene, die einem ins Herz schneidet.

Maurice Chèbres hatten die Ochsners kaum gekannt. Lanzen und Schwert standen zwischen ihm und ihnen. Er war der Stein des Anstosses gewesen, die Ursache der grossen Entfremdung zwischen Vater und Tochter. Wie konnte im Ochsnerhof tief um ihn getrauert werden? Das tote Enkelkind aber bedeutete eine zertrümmerte Hoffnung. War es nicht schon vor der Geburt mit dem Zwist der Alten beladen? Es war das Kind des unerwünschten Vaters, das Enkelkind des gehassten Grossvaters. Auch die Trauer um das tote Geschöpflein schlug keine Wurzeln.

Nur der Tochter Leid wurde erlitten, ihr Leid wurde mitgefühlt, und den Schmerz um den geliebten Mann begriff man. Ihre grosse Einsamkeit im artfremden und ungewöhnlichen Land warf weitere Schatten auf Tillys Unglück und wurde bedauert.

 

Sehr warm nahm Monika teil an allem, was ihr Georgine unter Tränen erzählte. Es schien ihr nicht möglich, dass ein so junges und verheissungsvolles Glück so vorzeitig und jäh zerrissen worden sei. Tagelang begleitete der Gedanke an Tilly sie auf Schritt und Tritt. Tom tröstete sie, wie man eben tröstet. Sie möge doch an alle die Frauen denken, deren Männer im Kriege fielen. Und sie wisse doch, dass die alten Griechen es als einen Vorzug empfanden, früh sterben zu dürfen, und dass die Götter einen frühen Tod nur ihren Lieblingen verleihen.

«Die Götter», sagte Monika verächtlich.

«Nenn es, wie du willst», gab Tom zurück.

«Reden nützt nichts, Tomas. Tilly hat Mann und Kind verloren, also Gegenwart und Zukunft. Sie ist allein in diesem Japan, sie hat keinen Menschen. Soll ich hinfahren zu ihr? Sie holen?» Aber davon wollte Tom nichts wissen. Er habe allerorten Bekannte, ihm geschäftlich verbunden, die Tilly auf der Reise jeden Dienst leisten würden. Lande sie in Brindisi, endete er, so könnte er hinfahren und sie in Empfang nehmen.

«Ich danke dir, Tom», sagte Monika. Sie streichelte seinen Arm. Sie hatte ihn, seit er von Dagmar gesprochen, nie mehr Tom genannt. Freudig sah er auf. –

 

Auch Gabriel und Isolina hatten getreulich und ehrlich an der Trauer im Ochsnerhof teilgenommen. Isolina hätte gerne gewusst, wo Tilly wohnen sollte nach ihrer Heimkehr. Bei Frau Monika? Bei ihnen auf dem Tannenhof? Sie hatten ja ein hübsches und helles Zimmer, um sie zu beherbergen.

Gabriel aber meinte, das sei doch selbstverständlich, dass sie bei ihren Eltern wohnen würde, die eigene Tochter, die unter so traurigen Umständen heimkomme. Er lieh seiner Empörung scharfe Worte, als Isolina meinte, dessen sei sie gar nicht sicher. Er wisse doch, was Hans-Peter geschworen habe.

«Mit Freuden wird er sie zu sich nehmen», blieb Gabriel bei seinem Glauben. Der Bruder habe doch kein Herz aus Stein.

«Nein» sagte Isa, «ein Herz von Stein nicht, aber einen Kopf von Stein. Er kann nicht anders, der Mensch. Er würde ja meinen, die Welt müsse zusammenfallen, wenn er sein Wort nicht hielte. Könige halten es, denkt er, wie sollte ich, der Ochsner, es nicht halten, denkt er. Kann er nicht einfach sagen: Ich habe gefehlt. Es tut mir leid. Ich will es wieder gutmachen. Was würde ihm das schaden?» Gabriel deutete an, dass er auch etwas sagen möchte.

«Die Sache ist so», zählte er an den Fingern her. «Der Hans-Peter hat zuviel Ehre im Leib. Die regiert bei ihm», sagte er bedächtig. «Es ist möglich, dass das eine Frau nicht verstehen kann.» Er wurde sich sofort klar, dass er das nicht hätte sagen sollen. Isolina stemmte die Fäuste in die Hüften.

«Wie sagst du, Gabriel? Wir und keine Ehre? Und in meinem alten Kalender wird die Frau nicht anders als ‹Hausehre› genannt. Und in der Bibel der Mutter, die eine Protestantin war, steht etwas, das der Vater uns öfters vorgelesen hat. Es heisst: Lob des tugendsamen Weibes. Und jetzt kommst du und willst uns Frauen die Ehre abstreiten?»

«Ich habe nur gesagt, der Hans-Peter hat zuviel Ehre im Leib ...»

«Du Windspiel! Jetzt drehst du wieder alles um ...» sagte Isolina.

«Warum ist der Vater ein Windspiel?» hörte man ein Stimmlein neben ihr. «Der Vater ist doch so ein Lieber ...» Da drehte sich Gabriel um und lachte, und freute sich, dass sein Töchterlein seine Partei genommen hatte und ihn verteidigen wollte. Isolina aber schaute flugs zum Fenster hinaus.

 

Im Ochsnerhof hatten Mann und Frau zusammen zu sprechen und waren nicht einer Meinung, was selten vorkam. Das heisst, sie waren es oft, doch trat diese Tatsache nie in Erscheinung, denn ehe es scharf den Berg hinunterging, fügte sich gewöhnlich Georgine. Sie brauchte sich nicht einmal zu fügen. Sobald Hans-Peter seinen Willen geäussert hatte, war er auch der ihre geworden. Nicht oft in ihrer Ehe hatte sie ihr Wollen seinem Nichtwollen entgegengestellt. Diesmal war es geschehen. Frau Ochsner wollte bei Frau Chèbres einen Besuch machen. Sie meinte, dass dieses Ehepaar genug gestraft sei durch den Verlust des Sohnes, des einzigen Kindes. Sie fand, dass es an der Zeit sei, die alte Feindschaft aufzugeben. Ja, das war ihre Absicht. Und zwar müsse es bald geschehen, ehe Tilly wieder da sei und etwa in den Fall käme, zwischen ihren eigenen Eltern und denen ihres Mannes wählen zu müssen. Das gehe denn doch nicht an.

Sie sah auf, denn bis dahin hatte sie an Ochsner vorbeigesehen. Jetzt aber sagte sie laut und deutlich, er möge doch um's Himmels willen den alten Streit aufgeben und ruhen lassen, um so mehr, als der Charles Chèbres ja längst seinen Sitz im Rathaus aufgegeben habe, während er, Hans-Peter, immer noch des Rates angesehenstes Mitglied sei.

«So, so», sagte er. «Dir laufen ja die Worte leicht über die Zunge. Nur weiter.» Georgine liess es sich gesagt sein.

Man müsse doch Anzeigen verschicken. Das müsse doch gemeinsam geschehen. Sie nur von ihrer Seite in die Welt hinauszusenden, wäre ja wie eine Fahne, die beweisen würde, dass Ochsner und Chèbres immer noch Feinde seien. Und drittens – sie liess erstens und zweitens meistens beiseite –, drittens gebe Hans-Peter Ochsner mit seiner Feindschaft ein schlechtes Beispiel, er, der Ratsherr. Das war gewagt. Aber das Wort wirkte.

«So, so», sagte er. Schön. Einen Besuch dort zu machen, scheine ihm Komödie zu sein. Womöglich gäbe es Umarmungen und Tränen, von ihm aus Krokodilstränen. Er werde aber Chèbres auf schickliche Weise anfragen, ob er einverstanden sei, gemeinsam eine Anzeige in der Zeitung erscheinen zu lassen.

«Bist du damit zufrieden, Frau Georgine Ochsner, geborene Rötlisberger?» Verblüfft über die Willfährigkeit ihres Mannes und von einer Sorge befreit, nickte sie eifrig.

Die Anzeige erschien in angemessener Form. Gediegen. Kurz. Eindrucksvoll. Links auf der einen Seite zeigten Chèbres an, rechts auf der anderen Ochsners. Tadellos. Gottlob, dachte Georgine.

Die beiden Feinde scheinen sich versöhnt zu haben, hörte man im Städtchen sagen. Es war Zeit, fügte man hinzu. Der Tod beendet eben manchen Streit. Über den Tod hinaus soll man nicht zürnen. Derlei recht schöne Aussprüche wurden herumgeboten.

Ochsners Nachgiebigkeit hatte aber einen besondern Grund. Er war in Sorge. Sie hatten seit dem trauerbeschwerten Telegramm keine Nachricht von Tilly mehr erhalten. Weder einen Brief noch eine Karte, keinen Gruss, auch nicht die kleinste Mitteilung. Sie waren in Sorge und begriffen nichts. Dass sie sich körperlich erholt habe, hörten sie von Isolina, die es von Monika erfahren hatte.

Frau Laurent hatte also Nachricht erhalten. Einen langen Brief, wie Isa behauptete, und es stehe in dem Brief, dass die Nichte bald heimkehren werde. Denn – so habe sie geschrieben – was sollte sie noch in Japan? Jedoch sei noch manches zu ordnen. Aber man helfe ihr. Der Dr. Niggeler und seine Frau seien freundlich und behandelten Tilly, als sei sie ihre Tochter. Der Arzt ordne ihre Angelegenheiten, die Lebensversicherung betreffend, welche das grosse Unternehmen ihr laut Vertrag auszuzahlen hätte. Noch etwas erzählte Isolina. Es sei zum erstenmal seit Mauricens Tod in Tillys Brief kein Wort über die Eltern zu lesen gewesen. Auch nichts über ihr eigenes grosses Leid. Die arme junge Person müsse sehr verzweifelt sein, schloss Isolina ihren Bericht.

Sehr vernünftig, habe Frau Laurent gesagt.

So? Vernünftig? Zu sehr, zu sehr verschlossen, habe sie, Isolina, zu Monika gesagt. Und sie würde froh sein, sie wieder hier daheim zu wissen. Was Isa nicht erzählte, war, dass sie Frau Laurent gefragt habe, warum denn das Kind seinen Eltern nicht schriebe.

Es stehe zuviel zwischen ihnen, habe Monika geantwortet. Es stehe zwar davon nichts in dem Brief, aber man merke es. Das arme Ding. Sie sehe noch ihr glückliches Gesicht, als sie mit Maurice ausgezogen sei, Arm in Arm. Isolina, das Schicksal ist grausam verfahren mit ihr, habe sie zum Schlusse gesagt.

Ja, hatte die gläubige Tessinerin bestätigt. Aber: Ehre Vater und Mutter, das steht geschrieben, und das kann keiner durchstreichen.

 

Bald darauf kam wiederum ein Brief an Monika. Die gleiche Bitte stand darin, die Tilly schon einmal an sie gerichtet hatte. Ob Tilly zu ihr kommen dürfe? Vorläufig. Was später geschehen solle, müsse sie mit Monika besprechen. Eine Last wolle sie nicht werden. Sie werde den Garten besorgen, sobald die Jahreszeit es erlaube. Sie werde auch nicht jammern, dafür sei ihr Schmerz zu gross. Da schweige man. Aber auf sie, die beste Frau auf Erden, den treuesten Menschen, freue sie sich sehr. Das Grab müsse sie zurücklassen. Aber für sie lebe Maurice noch. Keine Minute im Tag erlebe sie ohne ihn. Dann folgten kleine Nebensachen. Sie bringe Samen von herrlichen Chrysanthemen mit. Damit schloss der Brief.

Monika sass nachdenklich da, Tillys Brief in der Hand. Also den Ochsnerhof umging sie? War denn das Zerwürfnis zwischen Vater und Tochter nicht getilgt durch den Tod? Gewiss würde sie unten mit Freuden erwartet und aufgenommen. Wie denn nicht? Wer so verarmt ins Vaterhaus zurückkehrt, der war bestraft genug. Mit offenen Armen würde das Kind aufgenommen werden, dessen war sie gewiss. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen Georgine aufzusuchen. Von Tillys Bitte an sie wollte sie gar nicht sprechen, denn sie war überzeugt, dass die Eltern nicht erlauben würden, dass die junge Frau anderswo wohne als im Ochsnerhof.

Sie machte ihren Besuch. Sie wunderte sich, dass Georgine kein Wort von Tillys Absichten, heimzureisen, sprach. Ochsner hatte seiner Frau gegenüber betont, dass sie es unterlassen solle, sich über die fehlenden Briefe zu beklagen. So kam es, dass sie schweigend zuhörte, wenn Monika von der beabsichtigten Heimkehr sprach. Sie äusserte aber ihre Freude in erstaunlich zahmer Weise, denn Hans-Peters Gebot hinderte sie.

Als er heimkam, erzählte sie von dem Besuch.

«Hans-Peter, Tilly hat an Frau Laurent geschrieben, dass sie demnächst heimreisen werde. Bald. Sie werde ihr ein Telegramm senden.» Ochsner antwortete nicht.

«Tilly nimmt an, dass das Verbot, unser Haus zu betreten, noch immer gelte», fuhr Georgine fort. «Der Grund, warum das geschah, ist ja dahingefallen. Ihren eigenen Anteil hat sie schwer büssen müssen.»

«Ich vielleicht nicht?» fragte Ochsner. «Aber ich werde telegraphieren.»

«Ach ja, Hans-Peter, tue es. Ich bin so froh, dass wir das Kind wieder bei uns haben werden.»

«Auch ich», sagte Hans-Peter. «Lass ihr das Zimmer schön herrichten.»

 

Ja, Tilly kam wieder. Aber nicht auf den Ochsnerhof. Der Onkel Tomas möge sie auf dem Bahnhof abholen, hatte sie gebeten. Er tat es gerne, fuhr aber nicht nur nach der Stadt, sondern hinunter durch ganz Italien bis Brindisi. Dort nahm er sie in Empfang.

War das Tilly? Das kaum zwanzigjährige Ding, das da über die Schiffsbrücke kam, mager, blass, düster und herb, schwarz gekleidet, den langen Schleier, der vom Luftzug gehoben aufflog und hinter ihr her wehte, ungeduldig an sich riss und sich hastig umsah, ob Tomas wirklich da sei. War das wirklich Tilly?

Sie umklammerte seinen Hals, und er hörte sie leise stöhnen, aber sie weinte nicht. Ein bescheidenes Rot war ihr in die Wangen gestiegen, als sie ihn sah.

«Ja, Onkel Tom, so komme ich heim», war alles, was sie sagte.

Einen Tag blieben sie in Brindisi. Das Meer, das so blau ist wie kein anderes, lag glatt und glänzend und gleissend da, und die weissen flachen Häuser blendeten. Im gelben Sand sassen die Frauen der Auswanderer, kämmten ihre Kinder und suchten nach Ungeziefer, das sie im schon heissen Sand vergruben.

Die bunten Boote glitten wie farbige Fische durch das Wasser, und über Tillys junges Gesicht flog ein Schein von Freude.

Sie stellte Fragen, aber sie erzählte nicht. Sie wollte vor allem wissen, was im Weissen Haus und im Tannenhof geschehen war, aber nach dem Ochsnerhof fragte sie nicht. Ob Monika sie aufnehmen wolle? Ob er nichts dagegen habe? Ob sie den Garten anbauen dürfe? Er wisse doch, dass sie etwas von Gärtnerei verstehe? Es sei ja inzwischen beinahe Sommer geworden. Und ob sie das kleine Haus mieten dürfe, das, in dem sie und ...

Ja. Gewiss, sie könne es mieten.

Und auf Monika freue sie sich schrecklich.

Kein Wort von Vater und Mutter. Keine Silbe von den beiden Telegrammen, die der Vater ihr noch zugesandt. Und den Namen Maurice sprach sie nicht aus. Es war eine stille Heimreise.

 

Dass Tilly erwartet werde, hörte Georgine durch die Dienstboten. Sie waren von Katrin davon unterrichtet worden, mit dem leise triumphierenden Ton, den sie annahm, wenn vom Ochsnerhof gesprochen wurde. Sie mochte den herrischen Mann da unten nun einmal nicht leiden und seine untertänige Frau ebensowenig. Gefühlsmässig ermangelte sie der Logik, um die sie sich auch sonst wenig kümmerte. Das «Warum-Darum» war ihr gleichgültig. Sie machte es kurz. So ist es, weil es mir so scheint, war die Philosophie, der sie diente.

Sie kam mit ihr ebensogut durchs Leben wie andere mit einer anderen.

 

Isolina, die Tag und Ankunft Tillys kannte, stand vor der Haustüre. Sie beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können, und hatte vor Erwartung und Ungeduld Herzklopfen.

Endlich kam der Wagen beim Ochsnerhof um die Ecke, fuhr hinauf und mit elegantem Schwung durch das Tor auf die grosse Terrasse.

Dort wartete Monika. Ihr war ängstlich und schwer zumute, doch sie wollte es nicht zeigen. Tilly stieg aus, kam langsam auf sie zu und legte ihre Arme schweigend um der Getreuen Hals. Monika hielt sie fest, mit all der Liebe, die sie dem Kinde von jeher geschenkt hatte.

«Du, mein Armes», flüsterte sie. Tilly weinte nicht. Sprechen konnte sie ebensowenig. So gingen sie denn zusammen Hand in Hand hinauf in Tillys Zimmer, worin nichts fehlte, was ihr hätte Freude machen können.

Die schwarze Gestalt mit dem jungen Gesicht und den trauernden Augen sass am Fenster und regte sich nicht. Sie konnte immer noch nicht glauben, was ihr das Schicksal angetan hatte. Sie konnte es nicht fassen, nicht verstehen. Die vielen sonnenbeschienenen Tage, die unzähligen glücklichen Nächte, das jubelnde Erwachen des Morgens, und neben diesen Bildern der Freude das andere Bild: der stille, schweigende Mensch mit den geschlossenen Augen, ohne dessen Wärme, Zärtlichkeit und liebende Fürsorge sie nicht leben zu können vermeinte.

Und das kleine Särglein. Wollte Gott, sie läge bei den beiden und schlösse den Ring. Tot, dachte sie, tot. Fort, fort für immer. Sie dachte es, sie wusste es, sie sagte es, doch glauben konnte sie es nicht. Nie.

Ihr schien, als sei alles in ihr erstorben. Sie konnte nicht richtig denken. Alle ihre Gedanken blieben am Sarge des geliebten Menschen hängen und kamen nicht weiter. Sie blieb sehr lange am Fenster sitzen.

Endlich stand sie auf, wusch und kämmte sich und holte frische Kleider aus ihren Koffern. Dann trat sie an das andere Fenster und sah den Ochsnerhof geruhsam da unten liegen, alle Fenster von der sinkenden Sonne rot beleuchtet. Auch jetzt schwieg alles in ihr. Weder Anklagen noch die Sehnsucht, die Mutter zu sehen, regten sich. Auch der tief verankerte Widerstand dem Vater gegenüber erwachte nicht zu lebendigem Groll. Bin ich am Ende auch tot, dachte sie, und weiss es nicht? Wie eine Raupenhülse zurückbleibt, oder wie die abgestreifte Haut einer Schlange? Ich fühle ja nichts, und alles ist mir gleichgültig. Nicht einmal traurig bin ich mehr. Es klopfte. Katrin kam und holte Tilly zum Abendbrot. Sie drückte ihr die Hand, netzte die Lippen und begann zu reden.

«Ja, so kommt es eben. Das Böse wie das Gute, wie der Winter nach dem Herbst kommt. Es ist schon vielen so gegangen, ich habe es auch erlebt. Musst lernen ‹ja› zu sagen. Plötzlich geht's dann wie am Schnürchen.»

«Ja», sagte Tilly. Sie lachte ein wenig dabei, denn es hatte sie bei Katrins Worten eine kleine Schalkhaftigkeit erfasst.

«Hab' es nicht so gemeint», sagte die alte Magd. «Du weisst schon, was ich meine. Und dann habe ich noch sagen wollen, dass ich dir jetzt wieder du sage. Und dann, es tut mir sehr leid. Aber Gottes Wille gilt.»

Nach dem Kindchen fragte sie nicht. Sie wusste, wie einem in dem Falle zumute war. Nur hatte das ihre nicht in einem ehrlichen Bettchen gelegen, als es starb. Heimlich, in ihrem abgelegenen Stübchen war alles vor sich gegangen. Kein Hahn hatte nach ihr und dem Kindlein gekräht. Vierunddreissig war sie damals alt, und dreiundzwanzig Jahre waren es her. Eine alte Scheune, die lichterloh brenne, hatte der Bruder sie genannt. Wenn sie an ihre späte Liebe dachte, schüttelte es sie heute noch. Man sollte es nicht für möglich halten, du alte Krähe, schalt sie sich.

Monika hatte sich damals ihrer angenommen und war der Katrin Idol geworden.

 

Unten im Ochsnerhof sassen Hans-Peter und Georgine hinter dem Lorbeergebüsch und sprachen nicht viel zusammen. Er sass mit gerunzelter Stirne und schälte eine Haselnussrute, um dem kleinen Beppo eine Flöte daraus zu verfertigen. Die Ochsnerin strickte. Gott sei Dank, dachte sie, ist das Stricken erfunden worden. Man legt dabei die Hände nicht in den Schoss, wird ruhig, denkt, denkt nicht, muss nur aufpassen, und tut dabei noch etwas Nützliches. Aber leicht war ihr trotzdem nicht zumute. Sie blinzelte manchmal zu ihrem Ochsner hinüber, aber der war schon in gewöhnlichen Zeiten nicht leicht zu ergründen.

Am folgenden Tag kam Isolina frisch und hübsch, ein wenig neugierig und sehr teilnehmend herunter ins Weisse Haus. Sie war nicht ganz sicher, ob sie zuerst ihre Freude, Tilly wieder zu sehen, ausdrücken sollte, oder ihr Mitgefühl über Mauricens und des Kleinen Tod. Sie wollte die Reihenfolge dem Zufall überlassen. Als sie aber das ihr sehr liebe, bekümmerte Geschöpf in seinem schwarzen Kleid sah, da entschied sie sich zu einem starken, aber warmen Händedruck, einer tüchtigen Mähderin würdig.

«Was ich für dich tun kann, Tilly, das will ich tun. Komm du morgen mit uns zum Heuen – reichlich spät ist es ja – und hilf uns. Die Arbeit heilt alle Wunden. Das Zusammenrechen wirst du auch nicht verlernt haben. Und einen alten Kittel finden wir schon.»

Dann kam sie endlich auf das zu sprechen, was ihr das Wichtigste war. Sie streichelte bewegt Tillys Arm.

«Was das andere betrifft, Tilly, so kann ich dir sagen, dass es mich manches Heulen gekostet hat. Ich darf gar nicht daran denken, dass mir der Gabriel so wegsterben könnte. Bist ein Armes, Armes. Du tust mir furchtbar leid.»

Es zuckte um Tillys Mund, aber auch jetzt weinte sie nicht. Anderntags kam sie zum Heuen. Sie arbeitete, als sei sie nie fort gewesen.

Gabriel hatte sie kommen sehen und ging ihr entgegen.

«Musst den lieben Gott nicht anklagen», sagte er, ihre Hand zwischen der seinen. «Musst jetzt so leben, dass er dich einmal gern zu sich nimmt und dich brauchen kann. Dann seid ihr wieder beisammen, du und er. Und zwar für alle Ewigkeit. Ich spreche dir auch mein Beileid aus, Tilly.» Darauf wandte er sich rasch um, denn er war nicht sicher, ob ihm nicht die Tränen kommen wollten, als er Tillys dunkle Augen glitzern sah.

Als später Mageli und Beppo gerannt kamen und ihre frühere Spielgefährtin mit Freudengeschrei und Umarmungen begrüssten, da brach das Eis, und sie rannte fort, hinunter in ihr Zimmer. Monika, die sie die Treppe hatte hinaufstürmen sehen, hörte lange ihr jammerndes Weinen.

Die Zeit hat Riesenkräfte. Sie zerstampft Berge zu Sand, sie zieht sich aus einem Samenkorn eine Eiche, sie heilt Schmerzen, die untragbar schienen. Sie gewinnt Herzen und lässt Flammen der Liebe erlöschen.

Sie arbeitet leise, man hört wohl das Rieseln, aber das Abbröckeln wird man kaum gewahr, und plötzlich stürzen die festesten Mauern zusammen. Es gibt kaum etwas, das der Zeit zu widerstehen vermag. Eines: der Hass. Was auch geschehe, er behält sein hartes, düsteres Antlitz und den grünen Glanz seiner Augen. Er widersteht dem Erdbeben, dem Krieg, den Wasserfluten, der Liebe, dem Tod.

Wenn Tilly den Weg zur Eiche ging, tat sie keinen Blick hinunter zum Ochsnerhof. Kein einziges Mal versagten ihre Augen dem Willen den Gehorsam. Sie kannten den Befehl und waren gute Soldaten. Das änderte sich nicht, solange sie, ein Bild der Trauer, langsam dahinging, die Augen auf den Boden, die Gedanken auf die Vergangenheit gerichtet und die Hand zur Faust geballt. Es änderte sich aber auch dann nicht, als sie das schwarze mit einem weissen Kleid vertauschte, als sie sich die ersten Blumen ansteckte, als sie wieder zu lachen begann, auch dann noch fiel kein Blick auf den würdigen, schönen alten Hof, wo Vater und Mutter daheim waren und auf sie warteten.

 

Monika hatte Tilly lange mit der Frage verschont, ob sie nicht ihre Eltern begrüssen wolle. Als sie endlich doch fragte, wurde Tilly dunkelrot und schüttelte heftig den Kopf. Monika erkannte, dass es noch zu früh sei. Die Zeit würde dafür sorgen.

Bei der Familie Chèbres hatte Tilly schon wenige Tage nach ihrer Ankunft ihre Pflicht getan. Sie wurde von Madame Chèbres warm und tränenreich empfangen, aber davon, wie die gute Frau das Wiedersehen mit Tilly und das darauffolgende gemeinsame Leben sich ausgemalt hatte, davon war keine Rede. Sie hatte gehofft, die Schwiegertochter werde weich und hingebend und froh über einer Mutter Hilfe und Liebe sein und Trost bei ihr suchen. Nichts von alledem geschah. Es blieb lange Zeit bei diesem ersten Besuch, dem einzigen, den Tilly machte. Sie zeigte sich nirgends. Von ferne sah man sie, aber hinunter in die Stadt ging sie nie. Sie war zu Tode getroffen und war hart geworden. Ihre junge fröhliche Seele verkroch sich. Ihre Liebe hatte sie so ganz und gar dem einen Menschen geschenkt, dass sie, als sie ihn verlor, unter den Trümmern verschüttet wurde.

Monika versuchte es noch einmal, zwischen Vater und Tochter zu vermitteln. Umsonst. Tilly schüttelte den Kopf.

«Tante Monika, der Vater ist schuld an Mauricens Tod. Ohne ihn, seinen Zorn und sein Verbot hätten wir nicht nach Japan ziehen müssen, und mein Mann wäre nicht an der Cholera gestorben. Wenn der Vater uns hätte heiraten lassen, als wir darum baten und er Maurice mit Schimpf fortjagte, wären wir in der Schweiz geblieben. Wir hätten nicht fortgemusst. Alles wäre gut gewesen, auch das, was nicht gut war. Und fortgejagt hat er mich, aus seinem Hause und meinem Heim fortgejagt.

Tante Monika, ein Vater hilft. Ein Vater wirft nicht Steine auf sein Kind. Auch wenn es gefehlt hat. In das fremde Land mussten wir fahren, in eine Stadt, wo die Matrosen kamen und gingen und das gelbe Fieber und die Cholera brachten.»

«Aber Liebes, dass ihr fort musstet, ist doch nicht deines Vaters Schuld. Ihr ginget freiwillig.»

«Freiwillig, wenn man verjagt wird? Wenn man kein Heim mehr hat? Wenn man sich vor Schande fürchtet und nicht geschützt wird? Er ist schuld. Schuld auch an meines Kindchens Tod, denn die Pflege und das Entsetzen über Mauricens Sterben haben ihm das Leben gekostet.»

«Nein», sagte wiederum Monika, «das Bübchen kam weissgeboren zur Welt, so hast du geschrieben. Es konnte nicht leben. Im besten Fall zwölf, achtzehn Monate. Es hatte einen Herzfehler, vielleicht weisst du das nicht?»

«Und wenn es ihm am Herzen fehlte, wessen Schuld ist das? Mein Herz wurde gequält, und das Kind hatte es zu büssen ...» Tilly bog sich hinunter auf ihre Knie und weinte. Ihre Haare fielen ihr über das Gesicht.

«Ach, Liebes, glaube es doch, es konnte nicht leben.»

«Sage nichts mehr, Tante Monika. Ich kann nicht anders denken. Ich kann nicht. Ich muss so denken.» Monika wollte nicht weitergehen.

«Aber deine Mutter willst du doch aufsuchen? Sie hat ja keine Schuld.»

«Keine Schuld? Wie denn keine Schuld? Ist sie dem Vater vielleicht in den Arm gefallen, als er mir das Haus verbot? Hat sie ihn gehindert, Maurice mit Spott fortzujagen, als er kam und um mich bat? Versteckt hat sie sich. Wenn du wissen willst, wie eine Mutter ist, so will ich es dir erzählen: Ich hatte einen grossen Hühnerhof. Und wenn ich die Tiere fütterte, kamen Hund und Katze und der grosse Truthahn und die Truthenne und die vielen Hühner gelaufen. Eines Tages flog meines Bruders grosse Eule herbei, mitten unter die Schar der Tiere, und ging mit ausgebreiteten Flügeln und zornigen gelben Augen auf die Kücken einer der Hennen los.

Alle rannten fort, Hund, Katze, Truthahn, Hühner, alles jaulte und miaute und kollerte, aber allein die Mutter der Hühnchen hielt stand und plusterte sich auf und schwoll an und kreischte und schlug mit den Flügeln, bis das Ungeheuer sich davonmachte. So wehrt sich eine Mutter. Solch eine Mutter möchte ich sein.»

Tilly war feuerrot geworden, und ihre Augen funkelten. «Glaube es mir, Monika, eher würde ich sterben, als meinen Mann gegen meine Kinder wüten sehen. Nie würde ich sie im Stich lassen.»

«Liebes, deine Mutter ist zart ... sie fürchtet, glaube ich, ein wenig deinen Vater, sie ist schwach ihm gegenüber ...»

«Schwäche ist auch Schuld. Untertänigkeit kann zum Mörder werden, das hast du nun erlebt. Sie hat durch diese Schwäche geholfen, meinen Lieben umzubringen und mein Kind ...» Tilly warf sich auf einen der breiten Lehnstühle und verbarg ihr Gesicht. Ihr ganzer Körper bebte. Sie konnte kaum sprechen.

«Ich will dich nicht drängen. Ich will warten», sagte Monika.

«Warte nicht, Monika, da ändert die Zeit nichts. Es wird nicht anders werden. Nie gehe ich hinunter. Ich habe keinen Vater mehr, und so hat er mir auch den Vater genommen.» Ihr tränenüberströmtes Gesicht hatte einen erschütterten Ausdruck.

«Nur dich, du Liebes, habe ich noch, sonst niemand mehr. Ich wollte, ich gehörte dir. Ich wollte, du wärest meine Mutter.»

«Ich bin eine Mutter für dich. Liebe ich dich nicht? Bewegt mich dein Schicksal nicht? Ist es denn nur der Körper, der ausschlaggebend ist?» Sie umfasste die junge Frau und liebkoste sie und sprach behutsam mit ihr, bis der Sturm sich gelegt hatte.

 

Hans-Peter und Georgine Ochsner hatten Stunde um Stunde, dann Tag um Tag darauf gewartet, dass die Tochter bei ihnen anklopfe. Sie kam nicht. Man sah sie auf dem Weg zur Eiche hin und her gehen. Auch mit Schaufel und Hacke ging sie und bearbeitete ein Stücklein Land, das jenseits der Steinbank des Baumes und des buschigen Zaunes noch zu Laurents Besitz gehörte. Man sah, wie sie sich stundenlang bückte, die Hacke gebrauchte, sich ausruhte am Rain, die Arme auf die Knie gestützt und den Kopf in die ausgebreitete Schale der Handflächen legte.

Vater und Mutter sahen das alles. Die Mutter, wenn sie in ihrer getäfelten Wohnstube am Fenster sass mit Fingerhut und Strumpfkugel, emsig stopfend, dann wieder weinend, sich die Augen wischend, und endlich wieder hinaufschauend zum Weissen Haus. Der Vater, wenn er in seiner Stube wohl zwanzigmal hin und her ging, eine Pfeife rauchte, die Stirn runzelte und von den ihn quälenden Gedanken nicht loskam. Auch im Traum erschien ihm die schwarze Gestalt.

Georgine hatte hinaufgehen wollen zu Tilly. Sie war sich keines Unrechts ihr gegenüber bewusst. Denn, wenn jemand nicht anders sein kann, als er eben ist, so kann von Schuld keine Rede sein. Ein Lämmchen kann nicht den Löwen spielen, und ein Tiger brüllt, er blöckt nicht. Aber der Schwache und der Dumme sind eben übel dran, sie wissen nicht, dass sie schwach und dumm sind.

Ochsner aber kannte und machte sich, bis hinunter zur tiefsten Tiefe, nichts vor. Und darum kannte er auch seine Tochter. Blut von meinem Blut, dachte er mitten im Zorn. Eine Ochsner, sagte er sich grimmig. Aber sein väterlicher Stolz war tief getroffen durch Tillys feindliche Haltung. Er hatte einlenken wollen. Er war bereit gewesen, das Kind wieder aufzunehmen, und hatte – zum zweitenmal – sein sich selbst gegebenes Wort zurücknehmen wollen. Da warf sie ihm den Fehdehandschuh hin, ohne Worte. Sie kam einfach nicht. Wenn er seine schlanke Tochter oben gehen sah, zuckte sein Vaterherz jedesmal zusammen. Dass er sie nicht liebe, auch mitten im Zerwürfnis, auch das hatte er sich nie vorgemacht. Es hätte ihm das auch nichts genützt, denn sein Gefühl wusste es besser. Er litt, weil er sie liebte. Aber dass er nicht mehr der Herr sein sollte in der Familie, bei Frau und Kindern, das war ihm ein fremder Gedanke. Es war gegen seine Natur. Wozu gäbe es sonst das Wort «Herr»? Wohl nicht, um Sklaven damit zu bezeichnen.

Abwarten, sagte er sich. Abwarten. Nicht in einer Nacht wächst ein Apfelbaum.

Dass aber Tilly seines Feindes Haus betreten – Ochsner hatte es längst erfahren –, den Chèbres womöglich umarmt, ihn Vater genannt hatte, er sie Tochter nennen durfte, das waren die Dornen an der Rute, die das Schicksal dem Hans-Peter zugedacht hatte. Er fuhr wohl zusammen bei seinen Schlägen, aber er ergab sich nicht. Das durfte der Ochsner vom Ochsnerhof sich nicht erlauben.

 

Eine Woche überholte die andere.

Die Wolken an Tillys Himmel lichteten sich. Der Mantel der Gewohnheit hüllte sie ein, und das mildeste aller Heilmittel, die Ruhe, das kräftigste, die Arbeit, fingen zu wirken an.

Sie pflegte Monikas Rosen, sie grub ihren Gemüseplatz um, sie machte Jagd auf Rosenkäfer und Blattläuse, sie begoss die Blumen, las Schnecken von den Erdbeeren, pflückte Johannisbeeren und Himbeeren, versetzte den Salat und versuchte sich sogar am Pfropfen junger Obstbäume.

Ihre grosse Freude waren Toms Kinder, die jeden Sonntag regelmässig kamen. Sie liebte die Kleinen und verstand sich gut mit ihnen. Sie holte sich zu den zweien noch Isolinas Mageli herunter und den dicken Beppo, und dann gingen sie alle zusammen Beeren sammeln im Wald. Irgend etwas war dort immer zu holen. Im Herbst die goldgelben Reizker, die im Jura so üppig wuchsen, und die Hagebutten an den Waldrändern.

Es fiel ihr bei den Spaziergängen auf, dass die Sonntagskinder Laurent mit «Papa» anredeten. Das war doch sonderbar. Papa hier und Papa dort. Eingelernt konnte das nicht sein, wie etwa der Titel Onkel, mit dem viel anderes vertuscht wurde, und der kein Gewicht hatte. Papa? Das verpflichtet.

Tilly fragte nicht, das Geheimnis würde sich schon lichten, das Rätsel gelöst werden. Denn ein Rätsel war es, wenn man den Hausherrn zum Vater erhob und die Herrin mit Tante Monika anredete.

«Haben die Kinder keine Mutter mehr?» fragte Tilly eines Tages. Die Geheimnistuerei dauerte ihr zu lange.

«Nein, sie ist gestorben», sagte Monika ruhig.

«Wie heissen sie eigentlich?»

«May. Judith und Kaspar May.»

«Und ihr Vater, wo steckt denn der?» Plötzlich wurde sie rot, und zugleich verklärte sich ihr Gesicht. «Ist er tot? Dann nimm sie doch zu dir. Das wäre ja wunderschön, Kinder hier oben zu haben. Onkel Tom tut ja jetzt schon wie närrisch mit ihnen. Man könnte geradezu denken ...» Sie hielt inne. Ein neuer Einfall war ihr gekommen. Mit grossen Augen sah sie Monika an. «Du, Frau Laurent, ist vielleicht der Herr Laurent der Vater der Sonntagskinder?»

Trotz aller Selbstbeherrschung Monikas, trotz ihrer Ergebung und ihrem Verzeihen fuhr diese Frage doch wie ein Dolch in ihr Herz. Sie nahm sich zusammen.

«Er ist ihr Vater», sagte sie nur. Es fiel ihr sehr schwer, dies zu bekennen. Der kurze Satz bedeutete ihr die grosse Niederlage. Jede Frau weiss das.

«Liebste, liebste Monika», sagte leise Tilly und legte ihre Wange an die der andern. «Du bist ja eine Heldin, dass du das erträgst. Eine Heldin aus Liebe.» Tilly sah der Freundin Aufregung, die sie hervorgerufen. «Das hast du tun können? Die Kinder einer andern Frau zu dir holen? Aber über Onkel Tom muss ich mich wundern.»

«Das ist meine Sache, Kind. Es ist besonders darum meine Sache, weil ich überwunden habe.»

«Nie hätte ich das vermocht, nie hätte ich mich herauswinden können aus einer solchen ... nie könnte ich das verzeihen, und jemand, der mir das angetan hätte, könnte ich nicht mehr liebhaben. Ach, liebhaben! Hassen würde ich ihn!» Monika sah auf und lächelte.

«Man lernt vieles, und nicht jeder Frau fällt es gleich schwer. Und du siehst ja, wie wir glücklich zusammen sind.» – Tilly sah sie an und hob die Augenbrauen.

«Ja, schon. Glücklich seid ihr schon. Aber so zahm glücklich.» Monika lachte.

«Weisst du noch, als du sagtest, deine Liebe sei wie eine feuerrote Blume? Du bist eben eine Löwin, Tilly.»

«Und du bist ein Engel. Ganz einfach ein Engel. Ich habe es schon oft gesagt. So ein zarter, rosenroter, und du liebst eben auch, wie Engel lieben können. Ich glaube nämlich, sie wissen gar nicht so recht, was Liebe ist. Natürlich, wüssten sie es, so wären sie eben keine Engel. Du gehörst in den himmelblauen Himmel, und ich in den feuerroten.» Monika lachte.

«Ich weiss schon jetzt, wohin es mich einmal verschlagen wird», fuhr Tilly fort. «Und mein Ochsner und ich treffen dort zusammen.» Nun musste sie selbst lachen. Ihr war aber, als sie sich dieses Zusammentreffen ausmalte, als freue sie sich, den Vater zu sehen. Auch noch gar, dachte sie. Das fehlte noch, dass ich ihn immer noch liebhabe.

Bald danach – sie sass mit Monika im Erker – fing sie wieder von den Kindern zu reden an.

«Das begreife ich einfach nicht, Monika, wenn du doch Tomas verziehen hast, dich die ganze Woche so auf die Kleinen freust und betrübt bist, wenn sie fortgehen, warum nimmst du sie nicht gleich ganz zu dir? Ich verstehe ja», sagte die in Dingen der Liebe hellsehende junge Frau, «dass du es nicht könntest, lebte die Mutter noch. Dann um keinen Preis. Nein, nicht einmal ein echter Engel könnte das leisten, geschweige denn eine gewöhnliche Frau mit irdischem Blut. Wenigstens, wenn sie ihren Mann liebt.»

«Tilly, was redest du da für Sachen zusammen!»

«Ja, ich rede. Und da nun keine solche Mutter mehr da ist und Tom so glücklich wäre mit seinen zwei Kuckucken, warum nicht? Du hast ja gewonnen, denn du lebst mit ihm, und sie ist tot. Tomas würde dir ewig dankbar sein. Auch sind die Kinder nun einmal da, und es wäre doch eine wunderschöne Sache, sie aufzuziehen.» Monika sah beinah verlegen auf. Dann lächelte sie.

«Ich weiss, warum du lachst», sagte Tilly. «Weil du an mich denkst und meinst, gar so herrlich sei es für Eltern nicht immer, Nachkommen zu haben. Aber alle Kinder sind nicht so, wie ich war, und alle Väter sind nicht Wüteriche, wie mein Ochsner einer ist. Wild und widerspenstig. Nimm sie doch zu dir!» Monika schwieg.

«Ich helfe dir. Bedenke, dass, wenn du alt sein wirst, es doch schön wäre, einen Kranz von Enkeln um dich zu haben, statt allein sitzen und mit einer Glocke nach Menschen läuten zu müssen, und es kommen keine. Monika, warum sagst du nichts?»

«Du denkst dir das leicht, eine solche öffentliche Adoption und Namensänderung und Übersiedlung. Das macht grosses Aufsehen. Kein Mensch weiss bisher etwas von den Beziehungen zwischen Tom und den Kindern. Es wird ihn in den Augen seiner Bekannten herabsetzen ... da kommen alle Zungen in Bewegung ...»

«Ach du, Monika, ihr lebt ja wie die Einsiedlerkrebse. Ihr habt ja gar keine Bekannten. Und lass doch die Leute Onkel Tom herabsetzen. Er hat es ja reichlich verdient, und es geschähe ihm ganz recht.»

«Tilly!»

«Tilly! Tilly!» spottete sie. «Lass du sie reden. Also gut, es sind nun einmal nicht deine Kinder, wen geht das etwas an? Die Bösen werden sich nicht daran stossen, und die Guten sind auch irgendwie Sünder, nur nach einer anderen Seite.»

«Tilly, ich muss mich über dich wundern. Was du nicht alles weisst! Bist kaum zwanzig.» Tillys Gesicht wurde ernst.

«Leid lehrt denken. Und Sünde lässt den Sünder begreifen. Aber jetzt, Monika: Nimmst du sie, oder nimmst du sie nicht? Oder soll ich sie nehmen? Ich hätte grosse Lust dazu. Das gäbe mir einen Lebenszweck.»

«Ich werde es mir überlegen. Nicht zum erstenmal, das kannst du mir glauben. Aber dir lasse ich sie auf keinen Fall. Überhaupt niemandem.» Tilly sah Monika an.

«Aha, so so, Frau Laurent, Sie sind also eifersüchtig auf die Kinder? Im Grunde möchtest du sie am liebsten gleich heute holen? Und bringst es nicht übers Herz, es dem Onkel Tom zuliebe zu tun? Jetzt habe ich dich erwischt. Gelt, ja? Gelt? So eine bist du, Tante Monika? Gott sei Lob und Dank habe ich endlich einen Fehler an dir entdeckt.» Sie sprang auf und küsste Monika und tanzte in der Stube umher und sang es dazu laut heraus, dass Monika nicht ja sagen wolle ... Aber plötzlich hielt sie inne. Die grausame Wirklichkeit, die sie für Augenblicke vergessen hatte, überfiel sie.

«Tante Monika», sagte sie mit zitternden Lippen. «Ich singe, und Maurice ist nicht mehr da.»

«Ach, Kind, ich freue mich darüber. Es wachsen doch aus verbranntem Grund auch Blumen.»

 

Es nahm Tomas Laurent beinahe den Atem, als Monika ihm anbot, seine Kinder in das Weisse Haus aufzunehmen. Er wehrte sich, es zu glauben, um nicht enttäuscht zu werden. Aber sie blieb dabei. So nahm er denn seine Zigarette, legte sie sorgsam in den kleinen Becher, der da bereitlag, stand auf und nahm Monikas Hand in die seine. Endlich sprach er.

«Du weisst nicht, was für eine Last du mir vom Herzen nimmst. Du kannst nicht wissen, was für ein Glück du mir schenkst, und wie du mein Gewissen befreist. Aber kannst du die Kinder wirklich liebhaben?»

Monika nickte, denn auch sie war ergriffen.

«Und Tilly war es, die dich drängte? Ich will es ihr nie vergessen. Monika, du willst mir wirklich Judith und Kaspar schenken? Jetzt erst werden sie meine Kinder sein. Und wenn sie mich Vater nennen, verdiene ich es endlich.»

«Und wie werden sie zu mir sagen?»

«Das überlasse ich ihnen. Sie werden das Richtige herausfinden.»

«Aber nun habe ich noch eine Bitte. Monika, liebe, möchtest du nicht den Diamanten wieder tragen? Sage ja.»

«Ja», sagte Monika.

Am nächsten Morgen fuhren sie gemeinsam zur Stadt und in Dagmars Haus. Zögernd hielt Monika ihren Fuss einen Augenblick an, ehe sie die Schwelle überschritt. Die Kinder sprangen Monika wie Tom entgegen. Mit Freudengeschrei hörten sie die Nachricht von ihrer Übersiedlung. Wann? Jetzt gleich? Heute nehmt Ihr uns mit Euch? Sie waren kaum zu bändigen. Nein. Sie müssten warten. Das Zimmer müsste in Ordnung gebracht werden. Einen grossen Kuchen müsste die Katrin backen.

Sie wollten darauf verzichten, sowohl auf ein ordentliches Zimmer als auch auf den Kuchen. Es half nichts, sie mussten warten.

Tom war während des Jubels der Kinder still geworden. Sein Schmerz um Dagmar wurde wach und wurde brennend, jedesmal, wenn er die Räume wieder betrat, worin er so viel Glück empfangen hatte. Es war, als ob die Zeit mit ihm kein Mitleid habe. Der Garten seines Glückes blieb geschlossen, der Schlüssel war verloren. Unersetzliches kam nicht wieder. Die Sehnsucht wollte ihn übermannen, er drängte zum Abschied.

Sie blieben ein paar Tage in der Stadt und wohnten im Gasthof, obgleich Zimmer genug in Dagmars Haus gewesen wären. Monika seufzte. Sie fühlte es wohl, wie ergriffen Tomas war. Sie nahm sich zusammen. Sie würde es überwinden. Sie wusste, je näher dem Ziel, je schwieriger der Aufstieg. Das Opfer musste gebracht werden. Nun hatte das Schicksal dafür zu sorgen, dass es nicht umsonst gebracht wurde.

 

Als Monika Katrin mitteilte, dass die beiden Kinder nun ganz im Weissen Haus leben würden, wunderte sich die treue Seele durchaus nicht. Sie habe sich das längst gedacht, erklärte sie, und Monika wollte wissen, wieso sie auf diesen Gedanken gekommen sei? Katrin gab Auskunft.

«Die Marguerite Chardon von unten in der Stadt ist doch Stubenmädchen in der gleichen Strasse, wo ihr Bruder Briefträger ist. Der kennt doch unsern Herrn Laurent.» Der sei schon ein paar Jahre im Dienst, und er habe der Frau Lau... der Fräulein May manchen Brief gebracht. Monika fuhr zusammen. Gott sei Dank, weiss ich es schon, dachte sie. Es muss furchtbar sein, derartiges plötzlich zu erfahren. Sie musste die Tränen zurückhalten.

«Und du, Katrin, hast keinem davon erzählt? Das ist schön von dir, du bist eben die immer Treue und Zuverlässige.»

«O je, Frau Laurent, da habe ich nichts zu verschweigen brauchen. Die Spatzen haben es ja von den Dächern gepfiffen.»

«Was haben sie gepfiffen?»

«Eben das. Und dass die Kinder zu uns kommen werden, weiss doch schon das ganze Städtchen. Die ganze Geschichte stand in so einem Käsblättchen, einem, das dem Herrn Laurent etwas anhängen wollte. Alle haben es gelesen und gemerkt, wen es anging.» Monika war sprachlos. Dann musste sie lachen, wirklich lachen. Und sie hatte sich damit gequält, wie sie Tom die böse Nachrede ersparen könne.

«Tom», sagte sie beim schwarzen Kaffee, «wir brauchen unser Geheimnis nicht mehr zu hüten und keine Ausrede zu erfinden. Es wisse es ein jeder, behauptet Katrin. Und wenn ich es mir recht überdenke, was gehen uns eigentlich die Leute an?»

«Eigentlich nichts», sagte Laurent. «Den Kindern kann es nicht mehr schaden, sie werden geschützt sein und haben eine Heimat. Dank dir, du goldenes Herz. Könnte ich es dir vergelten!»

An einem flimmernd heissen Sommertag sass Tilly gegen Abend in ihrem mit Freude und viel Arbeit geschaffenen Garten, blickte sich mit dem Stolz des Schöpfers um und sah, wie wunderschön alles war, worauf ihre Augen ruhten. Das Ganze war ein Harfenspiel von Farben.

Tomas Laurent hatte sich von Tilly überreden lassen und ihr ein Stücklein Land nach dem anderen rings um das kleine Haus und dieses selbst pachtweise überlassen. Einstweilen war alles noch Wiesenland, sollte aber im Herbst angebaut werden. Diesen Sommer hatte sich die fleissige junge Frau mit der Pflege eines Gartens begnügt.

Gleich einem köstlichen Samen war die Liebe zur reifenden Natur, zu Land und Wald und Blume und Frucht in ihr verwaistes Herz gefallen, hatte Wurzeln gefasst und wollte sich betätigen.

Wenn sie so sass und hinüberschaute zu den blauen Bergen, gewann ein Plan nach dem anderen Gestalt. Ein wechselvoller Einfall nach dem anderen tauchte auf und umtanzte sie. Wo beginnen? Wo den Samen streuen und den Boden bereiten?

Das wusste sie nun, sie wollte Bäuerin werden. Wie ihr Vater Bauer gewesen war, wie ihre Vorfahren Land bebaut und die Äcker bepflanzt hatten. Das soll meine Arbeit sein, dachte sie. Die Erde will ich hegen und pflegen.

Durfte ich mein Kind nicht betreuen und es lieben, so werde ich Korn und Gras und Bäume und Blumen lieben. Sie fühlte es, dass ihr mit dieser Arbeit Zufriedenheit, Freude und ein Lebenszweck geboten wurden. Sie brauchte sich nicht mehr zu fragen: Was tue ich heute? Womit beschäftige ich mich morgen? Monika, hast du keine Arbeit? Und vor allem: Wem nütze ich? Genug und übergenug Arbeit würde auf sie warten. Kleine, zarte Arbeit, grosse und schwere.

Säen – Ernten – ihr wurde heiss vor Schaffenslust. Jeden Morgen freute sie sich darauf, anzufangen. Das allein ist schon ein Gottesgeschenk. Als sie – nicht zum erstenmal – diesen keimenden und ernsten Gedanken nachgesonnen, sie zergliedert und geordnet hatte, sprang sie auf und lief hinüber in das Weisse Haus. Sie begann zu reden und zu erklären und zu beweisen und glänzte vor Freude.

Erstaunt, aber nach kurzer Zeit mitgerissen – Monika und Tom wunderten sich längst über Tillys ausdauerndes und kluges Arbeiten – hörte die Freundin zu.

Das war es, was der schwer erschütterten jungen Frau gefehlt hatte: Arbeit! Und genau jene, auf die nun Tilly von selbst verfallen war und die sie als junges Mädchen schon über alles gern getan hatte: die Landarbeit. Die Beschäftigung mit der dunklen Erde.

«Weisst du, Monika», erklärte Tilly, «mit einem Äckerlein, mit einem schmalen Streifen Gerste, um Hühnerfutter zu erhalten, einem Garten mit Gemüse und einem mit Blumen fange ich an. Ich will dann Jahr um Jahr ein Stücklein zum andern fügen, wie die Mädchen es hier mit ihren Hochzeitsdecken machen, und immer ein buntes Fetzlein Seide an das nächste nähen. – Ja, Monika, die Tilly Chèbres fängt heute an zu lernen und zu schaffen, und die Bäuerin Chèbres hinterlässt, wenn sie stirbt, ein schönes Gut. So wird es kommen. Du kannst dich darauf verlassen.»

Als Tomas am Abend nach Hause kam, legte ihm Tilly einen fertigen Plan, woran sie seit Tagen gearbeitet hatte, vor. Er war auf dickes bräunliches Papier gezeichnet. An alles hatte sie gedacht, alles berechnet und in ihre Sorgfalt einbezogen: Sonne, Schatten, Wind, gute Erde, schlechte Erde. Ob Flachsland, Wiesenland, ob Äcker, ob Apfelbaum und Birnbaum zum Obstgarten, ob Himbeeren, Johannisbeeren oder Erdbeeren vorgezogen werden sollten, und welche Sorte, und in welcher Erde und wieviel. Nichts war vergessen. Sogar an die nötige Bewässerung hatte sie gedacht und Kanäle vorgesehen. Die Ecke für den Mist, das Fass für den künstlichen Dung, auch sie waren eingezeichnet.

Auf einem besonderen Blatt war von einem Apothekengärtlein die Rede. Zum Hausgebrauch zuerst. Dann aber sollten die heilsamen Kräuter in grösseren Mengen angebaut werden. Denn, so sagte Tilly wichtig und geheimnistuerisch, sie kenne einen Mann, einen Freund des Vaters, der Säcke voll solcher Kräutlein nach der Türkei verschicke. Allerdings müsse man Einheit bevorzugen, sonst lohne es sich nicht. Darauf berührte sie sogar die Geldfrage. Sie werde, sobald die erste Zeit vorüber sei, pünktlich die Zinsen zahlen.

«Wärst ja nicht deines Vaters Tochter», warf Laurent ein, «der Respekt vor deiner Weisheit überwältigt mich. Was zuviel ist, ist zuviel», scherzte er. «Ich wundere mich wirklich über dich. Und ich freue mich. Und beinah muss ich auch über dich lachen. Aber bedenke: Klein anfangen ...»

«O Gott, Onkel Tom, komme mir nicht mit weisen Sprüchen, ich kenne sie alle, seit meiner Kindheit her: ‹Klein anfangen und gross aufhören.› Das habe ich vom Vater. ‹Früh übt sich, was ein Meister werden will ...› vom Dieter. ‹Morgenstunde hat Gold im Munde ...› von der Mutter. Und: ‹Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht›, von dir, Onkel Tom, als ich dir deinen Tabakhafen zerbrach und du mir eine Ohrfeige gabst. Nein, sag mir nichts ‹von klein anfangen›. Inwendig bin ich schon klein genug, es sieht nur auswendig so herrlich aus.»

 

Dass die Spatzen die Neuigkeit vom Einzug der beiden Sonntagskinder von den Dächern pfiffen, war eine arge Übertreibung von Katrin. Freilich, man munkelte. Aber munkeln ist nicht pfeifen.

Tomas Laurent und seine Frau lebten viel zu einsam, zu abseits und geradezu versteckt, als dass von ihnen je grosser Lärm gemacht worden wäre. Aber diesmal war doch allerhand durchgesickert. Liebesgeschichten, einerlei, ob glückliche oder unglückliche, sickern immer durch.

So spazierten denn allerlei Neugierige den Weg hinauf, der unten als Privatweg bezeichnet war. Sie kamen nicht auf ihre Rechnung, denn was war zu sehen? Ein paar Kinder, meistens vier, von denen man nicht einmal wusste, welches die Berüchtigten und welches die von jeher Bodenständigen waren.

Man sah auch hie und da von fern eine Dame, man sah ein junges Mädchen, nein, eine junge Frau, von der auch allerlei zu erzählen war. So zogen denn die Spaziergänger enttäuscht weiter, an Gabriels Acker und Wiesen vorbei, bis zum Waldweg, den Tilly so oft gegangen und den sie nun nie mehr ging.

Ja, die Kinder waren da und liefen über Wiesen und kletterten über Zäune und spielten im Häuschen des Beckerwäldchens und waren glücklich. Ausserdem hiessen sie jetzt Judith Laurent und Kaspar Laurent, Gaspard auf französisch, und vergassen es, dass sie einst eine strahlend schöne Mutter gehabt hatten. Eines Tages liefen sie Monika entgegen und schrien: «Mama, wir haben Hunger!»

Um dies Wort und seine Bedeutung würdig zu feiern, sollte ein Kinderfest stattfinden.

Allen voran wurden Mageli und Beppo eingeladen, dann die Kinder des Pfarrers, die vier des Doktors, die des Lehrers, zu dem Judith demnächst in nähere Beziehung zu treten hatte, vier, fünf andere, so dass es zuletzt eine lange Reihe war, die sich zum Feste einfand.

Die Vorbereitungen hatten mehr als eine Woche in Anspruch genommen. Kuchen und Puddings, teils in der Form von Fischen, teils eine Platte mit Obst darstellend, standen bereit.

Die fünfhundert rot-weissen Fähnchen, die sonst nur am 1. August ihre grosse Schachtel verliessen, zogen sich flatternd vom Weissen Haus bis zur Eiche hin. Ebenso hingen an dünnen Bindfaden die chinesischen Lampen, rote, blaue, grüne, gelbe, und baumelten in der linden Abendbrise hin und her.

Irgendwo gab es einen Schiessplatz und einen Gabentisch mit Ehrengaben. Eine für jeden, nur war ihr Wert je nach der Kunst des Schützen abgestuft. Irgendwo sperrte ein Löwenkopf seinen Rachen auf, und man konnte ihm Wollbälle ins Maul werfen, ohne dass er husten musste.

Hinter der Schwelle der Veranda, zwischen Oleanderbäumen und Palmen, stand das grosse Ereignis, ein Kasperlitheater. Eine Überraschung, die mit Jubel begrüsst wurde. Auf der Terrasse waren die Stühle der Zuschauer aufgestellt, und mit glänzenden Wangen und erwartungsvollen Augen sass das kleine Publikum da. Auch Isolinas Magd, Gabriels Knecht und das Gesinde vom Ochsnerhof hatten sich zu dem Festtag eingefunden. Einem Kasperlitheater geht keiner aus dem Wege. Atemlos warteten die Zuschauer.

Ein Trompetenstoss. Kaspar erscheint, nicht ohne zweifarbige Mütze und nicht ohne einen weissen grossen Kragen und nicht ohne seine grosse Nase. Die Keule im Arm, beginnt er: «Seid ihr alle da?» Das Ja-Geheul der Kinder dröhnt den Erwachsenen in die Ohren, wie seinerzeit das ihre der vorigen Generation in die Ohren gedröhnt hatte. Die Kinderzeit erstand. Alles vergeht, der Kaspar, der Klassische, bleibt. Und nun begann das Spiel, und wie man später erfahren wird, blieb er wie jedesmal Meister und Sieger, trotzdem es diesmal nicht darum ging, wer besser prügeln konnte, sondern wer am besten und schnellsten und am wirkungsvollsten antworten konnte. Es begann, und es schrie der Ausrufer.

«Nur hereinspaziert, meine Herrschaften! Es wird gezeigt der berühmte Wachtmeister, der im letzten Krieg General geworden ist. Und es wird gezeigt: Kaspar, der ewige Rekrut.»

Man hört Schreien, Lachen, Poltern hinter der Szene. Die Kinder trampeln, rufen, johlen, bis die Trompete gellt. Unter dem Gejohl der Kinder erscheint der Wachtmeister, um seinen Rekruten zu drillen. Links guckt Kaspar um die Ecke. Plötzlich steht er in Achtungstellung da, als er den Wachtmeister erblickt, steht stramm und schneuzt sich dann mit grossem Lärm.

Das lustige Stück gefiel sehr. Der Jubel, das Händeklatschen und Gelächter bewiesen es. «Noch einmal!» schrie der ganze Kinderchor. «Noch einmal, bitte, bitte!» Und der Kaspar und der Wachtmeister erschienen zum zweitenmal, und zum Schluss purzelt der Wachtmeister noch über die Rampe herunter, was ein unbändiges Gelächter zur Folge hatte.

Es wurde nun Kaspar und Wachtmeister gespielt, und die Kinder überboten sich im Erfinden von Dummheiten.

Die beiden neuen Bewohner des Weissen Hauses waren allseitig in Gnaden aufgenommen worden, Monika freute sich, und Tomas' Dankbarkeit war grenzenlos.

 

Rechts neben dem grossen Brunnen hatte Ochsner eine Steinbank anbringen lassen. Eine zum Ausruhen, mit bequemer Rückenlehne. Hinter der Bank stand die alte Linde. Vater, Grossvater und Urgrossvater hatten an den Abenden da gesessen, hatten im Herbst dem Geläute der grasenden Kühe zugehört, im Frühling den Blühet bewundert, und im Sommer sich ausgeruht nach den strengen Tagen des Heuens oder der grossen Ernte.

Heute sassen Hans-Peter und Georgine da und schauten dem Getriebe oben zu. Da lief nun ihre Tochter hin und her und fühlte sich daheim, wo sie nicht daheim war, und Vater und Mutter waren allein. Mehr als allein. Dem Ochsner half, als Zeichen noch immer starken Lebensgefühls und ungebrochenen Temperamentes, sein stets aufs neue aufsteigender Zorn. Georgine hatte nur trauernde Gedanken und bittere Tränen. Eine kärgliche Nahrung für ein bedürftiges Herz.

Als nun oben das Feuerwerk abgebrannt wurde, vom ganzen Kinderchor mit lustigen Liedern begleitet, als die bunten Lampen brannten und das Gelächter bis zu den beiden Verlassenen herunter zu hören war, da übernahm es Hans-Peter, und es wurde ihm zuviel.

Die, die er verloren hatte, zogen wie Gespenster an ihm vorbei. Er sah den Sohn, verlumpt oder in Ketten oder verhungert. Die Tochter in Fleisch und Blut, nur ein paar hundert Schritte weit von ihm fort, tot für ihn, auch sie. Zorn und Scham und Sehnsucht vereinigten sich zu einer trüben, unheilvollen Wolke. Das Blut stieg ihm zu Kopf, ihm wurde heiss und elend, und plötzlich meinte er, alle Kraft aus den Knochen verloren zu haben. Er sank, sich mit der linken Hand an Georgine anklammernd, zu Boden und wurde bewusstlos.

Die Frau schrie auf, rief nach der Magd, rief nach Jeremias, nach dem Jungknecht, keiner kam. Alle waren sie oben, um zuzusehen. Georgine versuchte, Hans-Peter aufzuheben, doch er fiel zurück, und sein Kopf sank neben ihr ins Gras. Von neuem schrie sie, und endlich kam von irgendwoher ein Knecht gelaufen.

«Hilf mir den Herrn hinauf in sein Bett tragen ...»

«Ja, um Gottes willen, was ist denn geschehen? Ist er gefallen?» fragte der erschrockene Bursche.

«Es ist eine Ohnmacht. Es war so heiss. Fass an, Ignaz!» Sie trugen den schweren Mann mit Mühe hinauf, standen hilflos da und wussten nicht, was nun zu geschehen habe. Georgine holte Hoffmannstropfen, das Allheilmittel der Familie. Sie legte ein nasses Tuch auf die Stirn des Erkrankten, stand danach bebend da und zerknitterte ihre Schürze.

Hans-Peters grosse Hand lag weiss und tot neben dem unbeweglichen Körper, als gehöre sie nicht zu ihm.

«Ignaz, rufe noch einmal nach dem Jeremi und geh und hole Frau Monika! Sie kommt gewiss, trotz dem Fest.» Der Junge lief.

Georgine sass neben Ochsners Bett und sah angstvoll zu, wie er unruhig und ungleich atmete. Da lag er. Wie würde es morgen sein? War es das Ende? War es der Anfang eines langen Krankenlagers? Waren dem Kämpfer seine Waffen entrissen worden, dem Arbeitenden seine Geräte? Diesem Mann, ihrer Stütze, ihrem Halt, ihrer Liebe, der einzigen in ihrem Leben? Sie rührte sich nicht und schaute unverwandt in Hans-Peters schönes Bauerngesicht. Plötzlich bewegte er sich, öffnete die Lippen, als wolle er etwas sagen. Dann sank er in seine vorige Unbeweglichkeit zurück.

Monika kam. Ein Händedruck, ein Blick auf den Kranken. Sie nahm den Turm von Kissen weg, öffnete die Fenster und bat um äusserste Ruhe. Dem Arzt hatte sie telephoniert.

Von oben klangen die ausgelassenen Melodien einer Handharmonika herunter. Die Hitze des frühen Herbsttages war noch gross, sie mochte mitgeholfen haben, den starken Mann zu fällen.

Monika blieb, bis der Doktor kam, und versprach Georgine, wieder zu kommen, sobald sie ihre Kinderschar verabschiedet haben würde.

Der Doktor gab seine Befehle und wandte sich nach kurzer Untersuchung zu Georgine.

«Ein Schlag», sagte er.

«Muss er sterben? O Gott, Herr Doktor, sagen Sie es mir!»

«Von Sterben ist jetzt keine Rede. Bald wird er seine Besinnung wieder erlangt haben. Allerdings, es wird eine Weile dauern, bis er wieder reiten kann», versuchte er zu scherzen, um ihr Mut zu machen.

«Ruhe vor allem ist nötig. Keine Gefühlsausbrüche. Hand und Arm sehen bedenklich aus. Und ich fürchte, das linke Bein sei in Mitleidenschaft gezogen.» Darauf lehrte er Frau Ochsner und dem Jungknecht ein paar Handgriffe beim Heben des schweren Mannes.

«Also, Frau Ochsner, ich bitte Sie, ruhig zu bleiben, wenn Ihr Mann die traurige Verfassung seiner Glieder wahrnehmen wird. Es wird ihm wie ein Todesurteil vorkommen. Es kann aber wieder besser werden. Viel besser sogar. Jedoch verbürgen kann ich mich für nichts. Es wird ihm sehr wahrscheinlich die Freiheit des Gehens genommen werden. Da müssen Sie dann einspringen. Da heisst es geduldig sein und dem braven Manne helfen. Frau Laurent steht Ihnen gewiss zur Seite. Sie ist ja in der ganzen Nachbarschaft dafür bekannt.» Er machte eine kleine Verbeugung vor Monika.

«Er rührt sich», sagte er plötzlich. Wirklich, Hans-Peter bewegte sich wieder, hob die rechte Hand, versuchte zu sprechen. Man hörte nur gurgelnde Laute. Endlich öffnete er die Augen. Sie waren voll Angst. Sie gingen von einem zum andern. Sie fragten, sie baten, sie flehten und schlossen sich wieder.

«Achten Sie darauf, Frau Ochsner, ihn nicht ungeduldig zu machen. Es ist eine harte Nuss, die der Mann da zu knacken bekommen hat. Für sein Leben kann ich augenblicklich so ziemlich garantieren. Ich nehme auch an, dass in einigen Wochen die Gefahr vorüber sein wird.» Er warf noch einen Blick auf den Kranken, grüsste die Frauen und ging.

«Frau Monika», flüsterte Georgine. «Warum ist das nun Gottes Wille, begreifen Sie das?»

«Warum? Ach, Liebe, das können wir heute nicht wissen. Wir werden es aber erfahren.»

«Ihm wird ja, wie dem Hiob in der Bibel, nichts erspart und alles angetan, was man einem Menschen antun kann. Ein Unglück nach dem andern.»

«Und wie dem Hiob wird auch ihm wieder gegeben werden, was ihm genommen wurde. In welcher Form es auch sei.»

«Das sagt man einem, wenn man im Unglück ist. Viermal schon hat mich der Herr Pfarrer damit trösten wollen. Sehen Sie Hans-Peter doch an! Was soll da wieder gut werden?»

«Ach, Frau Ochsner, es ist schon Schlimmeres wieder gut geworden. Wir wollen geduldig warten und hoffen. Beides hilft. Soll ich diese Nacht bei Ihnen bleiben? Ich komme wieder herunter, sobald meine Kinder verabschiedet sein werden.» Sie drückte der armen Frau die Hand, der Hilflosen, und ging betrübt und sehr ergriffen zurück zu ihren tanzenden Kindern. Den Anblick des schweigenden Mannes konnte sie keinen Augenblick vergessen.

Als im Weissen Haus wieder alles ruhig geworden und die kleinen Gäste fort waren, teilte Monika Tilly mit, was geschehen war.

Grosse Tränen standen in den Augen der jungen Frau.

«Gelähmt, sagst du? Mein Ochsner gelähmt, das ist nicht möglich. Das hält er nicht aus; besser, er wäre tot.»

«Er wird leben und vielleicht noch Freude erleben. Er wird es lernen müssen, sich zu fügen in das, was nun einmal geschehen ist. Aber er ist stark und nicht nur mit den Fäusten. Du sollst sehen, Tillykind, er bleibt der Hans-Peter Ochsner. Er hat noch immer standgehalten. Und jetzt geh schlafen.»

Tilly gehorchte. Aber statt zu schlafen, sass sie auf ihrem Bett und dachte an ihren Vater. Ihr Herz klopfte in grossem Mitgefühl und in plötzlich aus langem Schlaf erwachender Liebe.

«Mein Ochsner, der nicht mehr gehen kann?» schluchzte sie vor sich hin und konnte nicht aufhören zu weinen. Es kamen ihr aber wieder tröstliche Gedanken. – «Morgen geh' ich zu ihm. Ich will ihn pflegen. Ach, lieber Gott, mein Ochsner gelähmt! Da braucht er mich. Da ist er froh über mich.»

Und mit einem Gefühl, das gar nicht am Platze war und sogar einer kleinen Freude glich, schlief sie ein.

 

Auf einem von Georgine mit Liebe und Sorgfalt ausgesuchten Liegestuhl lag Hans-Peter Ochsner an der Sonne, zugleich im Schatten eines grossen dunkelblauen Schirmes, der sich mütterlich über ihn spannte, und der sich behutsam, vom leisen Wind getrieben, in der eisernen Röhre drehte, darin er steckte. Der Kranke, noch schwer darniederliegend, sah ihm zu. Er wettete mit sich selbst, ob der Schirm seinen Ausgangspunkt erreichen oder früher stehenbleiben werde. Das unterhielt ihn, denn mit seiner Genesung war es noch nicht weit her. Was die Fähigkeit, genau denken zu können, betraf, so war er erst auf dem Wege, sie wieder zu erlangen, aber noch nicht am Ziel.

Ein richtiges Ziel gab es eigentlich nicht, eines, das man mit zwei festen Beinen oder zwei flinken Füssen oder zwei starken Händen erreichen konnte. Das lag noch in weiter Ferne. Vielleicht konnte es gar nicht erreicht werden, sehr wahrscheinlich nicht, denn der Mann, der da lag und immer noch recht behutsam den Kopf drehte, war sehr geschädigt worden. Sein linkes Bein und sein linker Arm blieben gelähmt. Sie lagen da, als seien sie mit Kleie gefüllt. Sie bewegten sich nicht. Sie mussten hin und her geschoben oder gehoben werden. Als er sich dessen zum erstenmal bewusst wurde, stammelnd und gurgelnd darnach fragte und die Wahrheit hörte, da war sein erster Gedanke der zum lieben Herrgott, der ihm nun diesen neuen Tort angetan hatte. Er war noch nicht stark und nicht bewusst genug, um ihm schon den Kampf anzusagen. Es ging noch manches kreuz und quer herum in seinem Hirn, es blitzte einmal auf und blieb einmal dunkel, wie es ihm beliebte, ihm, dem Schicksal, das nun die Zügel in der Hand hielt. Er musste warten.

Aber sich einfach alles gefallen lassen, einfach so daliegen und den Herrgott einen guten Mann sein lassen, das war denn doch zuviel verlangt. Hans-Peter nahm seine Kraft zusammen, riss sich sein Kopfkissen mit der rechten Hand unter dem Kopf weg und schrie undeutlich, schwächlich, kläglich hinauf zum Himmel: «Warte du!» und warf das Kopfkissen, so gut es ihm seine Schwäche erlaubte, zornig in die Höhe. Es flog nicht weit, nur bis zurück auf Ochsners Gesicht. Er gab ihm noch einen Schlag und sagte noch einmal: «Warte du!» Dann schlief er plötzlich ein, wie es ihm jetzt oft geschah.

 

Damals, als der heimtückische Blitz den Ochsner traf, wollte Tilly am ersten Morgen schon zum Vater hinunterlaufen und seine Hand streicheln und ihm sagen, dass sie gekommen sei, um ihn zu bitten, sie wieder liebzuhaben.

Aber da hatte der liebe Gott einen Riegel vorgeschoben. Nein, meine Tilly, so einfach geht das denn doch nicht. Man kann nicht wochenlang und monatelang nahe vom Vaterhaus leben, ohne einen Blick darauf zu tun, und man kann nicht einen Vater Hand in Hand mit der Mutter unten sitzen und trübselig seufzend heraufschauen sehen zu der Tochter, ohne Strafe. Und immer kann man schliesslich nicht dem Vater alle Schuld in die Schuhe schieben, ohne auch nur nach der eigenen zu fragen. Ewig kann das so nicht weitergehen, liebe Tilly. Es war Tillys Gewissen, das mahnte. Auch Frau Monika sagte dazu ein paar Worte.

«Zum Vater willst du hinunter, Tilly? Du hättest den Weg früher tun müssen. Ich weiss nicht, ob du ihn noch wirst gehen können. Es steht recht schlecht mit ihm. Sein linker Arm, seine Hand und sein linkes Bein sind gelähmt. Ob diese Glieder wieder aufleben können, weiss man noch nicht.»

«Bleibt der Vater gelähmt?» fragte entsetzt Tilly. «Mein Ochsner? Aber da kann er ja nicht mehr leben. Wie soll er denn noch leben können? Ach Gott, Monika, sag, dass es wieder besser wird. Das hält er nicht aus, das ist ja, als ob man einen mit Schnüren umwickelt. Und ich darf nicht zu ihm? Und wenn er stirbt, und ich kann ihm nicht mehr sagen, dass ..., dass ...»

«Dass was?» fragte Monika.

«Dass es mir leid tut, und dass ich – ach Gott, Monika, dass ich ihn liebhabe. Mir ist ja, als stecke ich in einem Sack und könne nicht mehr hinaus vor Angst.»

«Liebes, ein jeder erntet, was er gesät hat. Im Kleinen, im Grossen, früh, spät, einmal muss er zahlen.»

«Das ist grausam, Monika, jetzt, wo ich zu ihm hinunter möchte, jetzt, jetzt ... sage wenigstens, dass ich nicht die ganze Schuld auf mich nehmen muss, sage, dass ich nicht allein schuld habe.»

«Auch dein Vater hatte Schuld. Aber wollen wir über seinen Anteil reden?» Sie nahm Tillys Hand. «Du wirst ihm vielleicht noch viel Liebe erweisen können, hoffe ich. Er wird dich nötig haben und du ihn, wenn er wieder sein wird wie er war. Der Doktor lässt es uns hoffen. Geh du heute zur Mutter, sie wird sich freuen.»

Am Nachmittag ging Tilly hinunter zum Ochsnerhof. Sie traf, als sie um die Ställe herum zum Wohnhaus einlenkte, Jeremias, den neuen Meisterknecht, auf ihrem Wege.

«Will die Jungfer zum Meister?» fragte er freundlich. «Wenn sie zum Meister will, so ist der Augenblick noch nicht da. Dieser Augenblick kann sich noch lange hinausziehen. Es ist möglich, dass er gar nicht mehr eintreten kann ...» Tilly hörte verblüfft zu.

«Ist die Frau Ochsner oben?»

«Das entzieht sich meiner Kenntnis. Aber wenn Sie zum Meister wollen, so ist der Augenblick noch nicht da, an dem das geschehen könnte ...»

«Aber Mann, das haben Sie mir ja eben gesagt! Wozu sagen Sie es noch einmal? Ich habe gute Ohren.»

«Ich muss aber erklären, warum in diesem Augenblick – – –»

«Ich weiss, ich weiss», sagte Tilly. «Aha, Ihr seid also der Jeremias?»

«Jawohl, aber ich möchte doch erklären, warum der Augenblick ...»

Tilly lief fort. Der darf dem Vater nicht in die Nähe kommen, der könnte einem ja den Verstand umdrehen, dachte sie. Aber das lächerliche Zwischenspiel hatte ihr die Angst etwas genommen, den Vater in allzu traurigem Zustand anzutreffen.

Als sie vor der Haustür stand, befiel sie starkes Herzklopfen. Es war lange her, seit sie die Hand auf die glänzende Türfalle gelegt hatte und fortgegangen war aus dem Elternhaus.

Sie ging an der Tür links vorüber zum Wohnzimmer. Da hatte der Vater damals mit Maurice gesprochen. Ihr Herz zuckte auf und schmerzte. Und von oben her hatte sie gehorcht auf die zwei Stimmen. Vielleicht, wenn sie und Maurice nicht so ungeduldig gewesen wären, wenn sie gewartet hätten und nicht getrotzt, wenn sie auf die Warnungsrufe geachtet hätten, vielleicht wäre alles anders geworden. Jetzt nützt es nichts mehr, das einzusehen, dachte sie traurig.

Sie stand eine Weile vor der Tür der schönen alten grossen Stube. Ob die Mutter drinnen war? Leise klopfte sie an, aber es kam keine Antwort. So setzte sie sich denn auf des Vaters Lehnstuhl und wartete.

Ihre Augen grüssten freundlich alle die schönen Sachen, die der Glasschrank barg, und die kleinen bunten Malereien an der Wand: Freudenbergers Frauen und Männer in Schweizer Tracht und das schöne Bild vom Katzenraphaël, das der Vater so gern gehabt hatte und darauf er so stolz gewesen ist. Alles alte Dinge, und doch gefielen sie noch heute und hingen da, wenn jene, die sie schufen, längst tot waren.

Es stieg eine Ahnung in Tilly auf vom Werden und Vergehen, von der Vergänglichkeit und dem, was ewig leben wird. Es überkam sie Unbehagen. Wie hatte der alte Doktor Kaiser gesagt, als sie ein wenig spöttisch meinte: Man wisse ja nicht, was aus einem werde nach dem Tode und wie man sich darauf vorbereiten könne.

«Leben Sie so, dass man Sie brauchen kann», hatte der Arzt ernst geantwortet. Und das hatte Eindruck auf Tilly gemacht. Das war so einfach. Daran konnte man sich halten. Sie wolle es versuchen, dachte sie. In dieser braunen getäfelten Stube, wo so viele Generationen umhergegangen, kamen einem wohl solche Gedanken. Da hörte sie die Mutter kommen. Mit ihren kleinen Schritten kam sie durch den Gang. Unter der Türe blieb sie stehen.

«Tilly!» Auch die Tochter vermochte die paar Schritte, die sie von der Mutter trennten, kaum zu machen.

«Mutter!» rief sie. Das Wort erstickte ihr fast in der Kehle, so sehr war sie ergriffen. Sie lagen sich in den Armen und hatten keine Worte nötig.

«Ach Mutter, ach Mutter», stammelte Tilly. Georgine, die so leicht weinte, vergoss nun keine Träne.

«Ich habe so gebetet, dass du kommen mögest», sagte sie. «Und nun bist du gekommen.» Und darauf sprachen sie vom Vater, und leise fragte Georgine nach Maurice und dem toten Kindchen. Aber Tilly schwieg und sah die Mutter nur an, und sie verstand. Sie hielt der Tochter Hand in der ihren.

«Der Vater darf nicht wissen, dass du da bist, der Doktor hat es verboten. Er darf dich noch nicht sehen, es würde ihn aufregen.»

«Ich will leise sprechen, Mutter.»

«Ach, wie er sich freuen wird!» Und nun kamen ihr doch die Tränen, und Tilly neckte sie in der alten Weise, in der sie sich lachend angemasst hatte, zu befehlen, und die Mutter, lachend zu gehorchen.

 

Endlich kam der Tag, an dem Tilly ihren Vater begrüssen durfte. Er lag, wie meistens, im Garten. Einen grossen, ja mächtigen Strauss hatte man neben ihn auf den kleinen runden Tisch stellen müssen, als begrüssendes Zeichen seiner Freude. Es hätte ja leicht sein können, dass die Tochter ihn unter weissen Blumen hätte liegen sehen müssen.

Tilly kam zögernd heran. Es lag so viel zwischen dem Vater und ihr. Sie hatte so viel erlebt, seit sie ihn zum letztenmal gesehen. Sie hatte ihn gehasst und liebte ihn wieder. Er hatte sie verstossen und freute sich nun auf sie. Viel Böses stand am Weg, den beide gegangen. Viel Liebes hatten sie verloren.

Man hatte Ochsner aufrecht in seinen Kissen gebettet. Er streckte seine Hand aus, und Tilly lief auf ihn zu, kniete neben ihn auf die Kieselsteine, nahm die Hand und küsste sie.

«Vater!» Und dann beugte sie sich hinab und flüsterte noch einmal: «Vater!» Mehr sagte sie nicht. Still sahen sie einander an.

«Tilly, mein Liebes, haben wir einander wieder? Ich kann dir nur die rechte Hand geben. Sie gilt für beide.»

«Vater, was kann ich tun für dich? Ich will alles tun. Ich kann dir vorlesen. Ich kann mich auf dem Hof umsehen. Ich kann dich vor dem Jeremias behüten. Ich will es wenigstens versuchen.» Jetzt lachte Hans-Peter.

«Hast du den auch schon kennengelernt? Der kann einem Geduld lehren. Aber einen besseren Meisterknecht habe ich nie gehabt.»

«Ach Vater, ich muss dir das sagen: Es tut mir so leid um dich. Ich kann's gar nicht ertragen, dich so zu sehen, meinen starken Ochsner. Gelt, es wird noch viel besser. Gelt, das ist ganz sicher?»

«Sie sagen es.»

«Gelt, so, dass du wieder umhergehen kannst?»

«Nein, nie mehr. Ja, mein Tillykind, nie mehr. Das kann ich dir sagen, und du wirst es verstehen: Mit dem Herrgott habe ich noch abzurechnen. Mit dem habe ich noch ein Wörtlein zu reden. Der muss noch Auskunft geben darüber, warum er den Ochsner so zugerichtet hat. Komm du mir nur nicht mit Trostworten und derartigem, Tilly. Hinterrücks hat er mich überfallen, da lag ich, und konnte kein Glied rühren. Gar nichts. Aus heiterem Himmel hat er mich überfallen als ihr oben getanzt und jubiliert habt. Und ich konnte nicht mehr reden. Du merkst es ja jetzt noch. Gelallt habe ich wie ein neugeborener Säugling, und gestottert, und kein Mensch hat begriffen, was ich sagen wollte. Das braucht sich der Ochsner nicht gefallen zu lassen.»

Feuerrot war er geworden, und die Rechte lag geballt auf der Decke.

«Bitte, Vater, lieg du ganz still, das schadet dir, wenn du so aufschnellst und zurückfällst. Bist ja der reine Haifisch.» Sie lachte.

«Nein, nein, Tilly, da ist gar nichts zu lachen. Darf sich Gott erlauben, was kein Mensch darf? Lass du mich gesund werden! Lass du mich wieder auf den Füssen stehen! So liegend macht nichts Eindruck.» Er schnaubte. Er knirschte mit den Zähnen, die stark und weiss waren und von keiner Beschädigung wussten.

«Vater, wenn auch die Füsse nicht mehr wollen, du bleibst doch der Ochsner. Da ist noch viel übrig, was die andern gar nie gehabt haben.»

«Kind, was nützt mir das Schwert, wenn die Hand lahm ist? Was nützt mir mein Wille, wenn ich gehorchen muss und nicht mehr befehlen kann? Da hilft kein Trost.»

«Ja, Vater, ich habe mich auch trösten lassen müssen. Ich habe das Liebste, was ich hatte und was ich nie mehr wiedererlangen kann, hergeben müssen ...»

«Was? Nie mehr? Junge Männer gibt's genug in der Welt.»

«Vater, natürlich gibt's Männer. Aber keinen Maurice, Vater, du kannst nicht wissen, wie er war und wie lieb ich ihn gehabt habe.»

«Nein. Aber ich wollte, ich hätte es gewusst», sagte er und suchte Tillys Hand. Sie liess sie ihm.

«Ich habe wieder eine Tochter. Gottlob», sagte Hans-Peter. «Nun lohnt es sich doch, weiterzuleben.»

«Und wie du noch leben wirst, Vater, das kannst du heute gar nicht wissen. Wir zwei werden noch viel fertigbringen. Meinen Garten kannst du dir jetzt nicht ansehen, aber warte bis zum Herbst, dann wirst du etwas erleben! Und Pläne habe ich, herrliche Pläne, die musst du prüfen. Und was ich noch alles lernen will! Vater, so viel, dass du keinen Grossknecht mehr brauchst.» Ochsner freute sich.

«Du Ding, du junges! Bringst mich am Ende noch in die Höhe. Machst mir ja Mut, du meine Einzige!» Es war beinahe, als zittere ihm die Stimme.

«Ausgezeichnet geht es dem Ochsner», sagten die Leute im Städtchen. Und der «Démocrate» brachte einen kleinen Artikel darüber. Sie kamen von unten gewallfahrtet, um sich selbst zu überzeugen, wie gut es dem Herrn Alt-Ratsherrn ging.

Mit braunen Backen sass er im Liegestuhl oder fuhr er umher und dirigierte seine Lokomotive dahin, wohin er sie haben wollte. Dem Jeremias hatte die Tilly eines Tages das Doppelgeschwätz abgewöhnt. Sie war ihm sofort mit einem «Halt!» über den Mund gefahren, wenn er Miene machte, seinen Satz zum zweitenmal zu beginnen.

«Denkt an den Vater, Jeremias! Soll der vor Ungeduld aus der Haut fahren? Einmal reden ist recht, zweimal dasselbe sagen ist dumm.»

«Ho, ho, Jungfer Ochsner», mahnte Jeremias.

«Frau Tilly! Denkt endlich daran! Ihr seid mir ein Grossknecht. Euch lachen ja die Kühe aus mit eurem Geschwätz.»

«Will daran denken. Will es mir alle Tage vorsagen. Einmal reden, Jeremias, nicht zweimal. Aber wenn es heisst: Einmal ist keinmal – was dann, dann muss ich doch noch einmal kommen ...»

«Schweigt lieber ganz still. Ihr verleidet einem ja.»

«Ihr nehmt kein Blatt vor den Mund, Frau Tilly.»

«Und nun vergesst es nicht wieder! Wann kalbt die Braune?»

«Morgen, denken wir.» Wahrhaftig, er sagte es nicht zum zweitenmal.

«Ich komme, Jeremias.»

 

Wer hätte nicht gesucht, Ochsner zu erfreuen? Isolina vergass Hans-Peter, ihren guten Freund, nicht. Alle Tage erschien sie, mochte sie Arbeit haben so viel sie wollte.

Sie sass dann an seinem Bett und fühlte sich unbehaglich und ungeschickt, denn sie konnte nie erraten, was der Kranke ihr sagen wollte, und sein gehemmtes Reden war ihr lange unheimlich. Seine Augen aber ruhten mit Freude auf ihr, auch streckte er ihr jedesmal seine Rechte entgegen. Die Linke lag versteckt und gelähmt unter der Decke.

«Es ist merkwürdig», sagte damals Isolina zu Gabriel, «Hans-Peter so zu sehen. Er kommt mir vor wie der Riese Goliath, als er am Boden lag. Und dazu redet er wie ein kleines Kind, und man versteht gar nicht, was er sagen will.»

«Du wirst nicht etwa lachen?» fragte Gabriel, und es lag ein Ton des Missfallens in seiner Stimme.

«Du bist aber auf einmal streng, du Eisbär», sagte Isa. «Gelt, du denkst – es ist aber nicht wahr –, du denkst, ich wäre keine so gute Pflegerin wie die Georgine, wenn du krank wärst, gelt?»

«Ich denke nichts», sagte Gabriel. «Aber ich danke unserm Herrgott, dass er mir das Schreckliche nicht auferlegt hat.»

«Oh, ich danke ihm auch. Wer weiss, was du alles ausspintisieren würdest, wenn du lange liegen müsstest. Es könnte einem grausen, wenn man daran denkt.»

Mageli, Beppo, Kaspar und Judith wiederholten das Spiel: Wer ist zuerst bei seinem Liegestuhl – alle Tage. Dann kamen sie gerast, warfen die Beinchen und rannten über Stock und Stein. Und das Ziel, der Ochsner, liess es sich gefallen, dass sie mit Johlen bei ihm ankamen und ihn womöglich noch anstiessen.

«Kannst du nie mehr laufen?» hatte Mageli ihn gefragt.

«Nie mehr.»

«Weisst du, wenn du einmal in den Himmel fliegen willst, brauchst du gar keine Beine mehr. Fein, gelt?»

«Wunderbar», sagte Hans-Peter Ochsner. «Wollt ihr der Tilly helfen? Sie nimmt Äpfel ab, die schönen grünlichen, im hinteren Garten. Ihr dürft davon essen soviel ihr wollt.»

«Auch mitnehmen?»

«Jedes zwei, nicht mehr. Und was macht denn bei euch im Tannenhof die graue Kuh? Hat sie ihr Kälbchen?»

«O je, schon seit vorgestern. Komm und sieh es dir an! Ach, gelt, du kannst nicht? Wir bringen es dir einmal herunter.»

«Schön. Und was gibt's dafür vom Onkel Hans-Peter?»

«Einen Batzen für jeden», jubelten die vier.

Ochsner hatte auch viel würdigeren, auch lieben und sogar lustigen Besuch. Tomas Laurent hatte ihm angeboten, das grosse Holzgeschäft zu verkaufen. Hans-Peter hatte diesen Freundesdienst gern angenommen, und so war der Nachbar oft unten bei ihm und berichtete, wie es stand. Und eines Tages kam er mit dem Vertrag in der Tasche.

«Gottlob», sagte Ochsner, «nun bin ich diesen Klotz los. Einmal brauchte ich ihn. Einmal war er mir von Nutzen. Aber gefreut hat mich die Sache nie. Dagegen so ein Kälbchen oder mein stolzer Stier – der neue heisst Kobold –, das ist ein ander Ding. Ein Feld voll dichter Halme, ein Baum voll roter Äpfel, ein Riesenwagen mit Heu, das sind Herrlichkeiten. Und der Jeremias und die Tilly, mit ihren Augen, die alles sehen – beinah kann ich es verschmerzen, dass ich nicht selber mehr umhergehen kann. Beinahe, sag' ich. Beinahe. Vergessen habe ich es dem Herrgott noch nicht.»

«Sie werden es ihm schon noch verzeihen», meinte Tomas Laurent. Dann ging er. Der hat sich aber gemausert, dachte er. Und er erzählte der Monika mit Eifer, wie er den Ochsner so wohl getroffen habe, kräftig und beinahe ohne Stacheln.

«Ja, solche Leute, wie er einer ist, sind es wert, durch die Feuertaufe zu gehen. Sie werden gut gehärtnet, und dann bleiben sie stark.»

Was nun den Gabriel und die Isolina betrifft, so waren sie getreue Besucher. Er ging jeden Sonntag hinunter zu seinem Bruder und wunderte sich, wie der so anders geworden war. «Hätte es keinem geglaubt», sagte er zu Isolina, «dass es etwas auf Gottes Erdboden gebe, das ihm seinen ‹Stieregrind›, wie der Vater selig sagte, weichschlagen könne. Ja, hätte es keinem geglaubt.» Er schüttelte den Kopf.

«Oh, weisst du», sagte Isa, «er hat's jetzt nicht schwer. Es machen ihm ja alle den Hof. Und alle tun für ihn, was sie können. Vorab die Georgine. Die weiss ja nicht, wohin mit der Liebe.» Sie lachte.

«Weisst du, was er zu mir gesagt hat, Gabriel? Er hat gesagt, wenn ich noch lange so jeden Tag herunterkomme und ihn anlache, so verliebe er sich noch in mich.»

«Der Heimtücker! Weisst du was, Isa, drum gehe ich künftig alle Tage zu ihm und du nur am Sonntag. So alle Wochen einmal ist es nicht gefährlich.»

 

Es war ein ganz wundervoller Herbsttag. Von oben leuchtete es blau, und die Sonne, aus der Jugend längst heraus, brannte nicht mehr lichterloh wie im Sommer. Die Luft war milde und still. Die Schmetterlinge und Bienen, die über die Blumen flogen, machten keinen Lärm.

Hans-Peter lag im Liegestuhl neben dem Springbrunnen in der Sonne, und Tilly sass neben ihm auf einem niederen Stühlchen. Sie hatte die Hände in den Schoss gelegt und ruhte sich aus.

«Tilly», sagte der Vater, «an diesem schönen Tag will ich dir sagen, dass ich meinen Frieden mit Ihm gemacht habe. Ich habe mich ergeben. Ich bin der Ochsner, das ist wahr. Aber Er ist der Herrgott, und Er ist stärker als ich. Ich habe ihm vergeben, und er mir.»

 

*

 


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