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Es war einige Wochen später, Mitte November, und Mr. Britling sass in seinem dicken Schlafrock und seinem dicken Pyjama aus Lamawolle gehüllt die Nacht an seinem Schreibtisch und arbeitete wieder an einem Aufsatz, einem Aufsatz, der einen lächerlichen Ehrgeiz verriet; denn sein Titel war: »Die bessere Regierung der Welt.«

In der letzten Zeit hatte er häufig unter dem Elend schlafloser Nächte gelitten. Am Tage war das Leben erträglich, aber des Nachts erschienen die Verluste und Grausamkeiten des Kriegs und grinsten ihn an, so dass es nicht auszuhalten war, wenn er sich nicht durch Arbeit verteidigte. Bald wurde er durch lange Züge von Flüchtlingen erschreckt, bald musste er an die Toten denken, die steif und krumm in tausenderlei furchtbaren Haltungen dalagen. Dann wieder überwältigte ihn der Ausblick auf die schrecklichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die noch in der Zukunft verborgen lagen ... Zu anderen Zeiten dachte er an die Wunden und Krankheiten des Körpers und Geistes, die die Verletzungen hervorriefen. Und manchmal dachte er an den Triumph des Bösen. Stumpfsinnige Gestalten schritten triumphierend durch eine Welt, die ihr Stumpfsinn verwüstet hatte; ihre Gesten prahlten, auf ihrem Gesichte strahlte ein Lächeln, das das Bewusstsein ihrer erhöhten Bedeutung verriet; ihr trotziger Hass alles massvollen, ausgeglichenen, freundlichen Wesens war in eine trotzige Verachtung umgewandelt. Und auf dem Boden, über den sie schritten, lag die Leiche Hugh's, das Gesicht zur Erde gekehrt. Im Hinterkopf des Knaben, umrändert von blutverklebtem Haar – dem Haar, das einst zart wie Vogeldaune gewesen – war ein grosses, rotes Loch. Dieses Loch sah Mr. Britling immer mit unbarmherziger Schärfe. Sie schritten über ihn weg, ohne acht zu geben. Sie traten die herumgespritzte Substanz dieses auserlesenen Hirns in den Schmutz.

Vor all diesen Schrecken und Aengsten fand Mr. Britling seine einzige Zuflucht im Lichtkreise seiner Studierlampe. Sein Werk sollte Gesichte beschwören, wie die Visionen, die das Opium erzeugt, Gesichte von einer Welt der Ordnung und Gerechtigkeit. Während der Bankrott der alten Welt noch in fahlem Lichte leuchtete, entwarf er den Prospekt einer neuen besseren Unternehmung – ohne Rücksicht auf die Chancen der Zeichner.

Aber in dieser Nacht konnte nicht einmal der Lichtkreis der Lampe seinen Geist festhalten. Zweifel schlichen sich in diese letzte Festung ein. Er zog die Papiere an sich und ging den Teil der Arbeit, den er ausführen wollte, nochmals durch.

Der Zweck des Buchs, das er jetzt zu schreiben begann, war die Untersuchung von Regierungsmethoden, die eine beständigere, gesündere Leitung der Welt ermöglichen sollten. Er glaubte auch jetzt noch an die Demokratie; aber er erkannte mehr und mehr, dass die Demokratie noch die ihr angemessenen Methoden zu finden hatte. Sie musste sich des Bewusstseins der Menschen bemächtigen, sie hatte sich mit bisher noch nicht gebildeten Organisationsformen auszurüsten. Endlose Jahre geduldigen Denkens, Jahre der Versuche und Diskussionen standen der Menschheit bevor, ehe der grosse Gedanke zur Wirklichkeit werden und Recht, erprobtes Recht, die Erde beherrschen konnte.

Inzwischen blieb die Welt noch die Szene eines blutigen Melodramas, betäubenden Lärms, ansteckender Torheiten, gewaltiger, sinnloser Zerstörungen. Ein edles Leben nach dem andern verliess Studierzimmer, Universität und Laboratorium, um erschlagen, zum Schweigen gebracht zu werden.

War es fassbar, dass die Menschheit, dies tolle Ungeheuer, sich endlich einmal fangen und in dem feingesponnenen Gewebe des Gedankens festhalten liess? War es schliesslich mehr als Hochmut und Torheit, wenn ein Mensch Entwürfe zur besseren Regierung der Welt plante? Waren es mehr, als die ehrgeizigen Pläne der Fliege, die von den Göttern der Romantik auf dem Rade gedreht wird?

Der Mensch war tappend, verwundend und leidend aus den schwangeren Finsternissen der Zeit herausgeschritten, die ihn wieder vernichten und aufsaugen wird. Warum sollte man nicht mit den andern weiter stolpern, warum nicht essen, trinken, kämpfen, schreien und beten, Hugh vergessen, aufhören über seinen Tod zu brüten, alle die anmassenden Träume von »Der besseren Regierung der Welt« verbannen und zu den froheren Seiten, den heiteren, abenteuerlichen Seiten des Kriegs sich wenden, zu Chesterton's Vergnügtheit und der Betrachtungsweise des »Punch«? Denkt ihr, weil eure Söhne tot sind, es gäbe keine Kuchen und kein Bier mehr? Ueberlasst es der Menschheit, aus Schmutz und Blut herauszutappen, wie sie auch hineingetappt ist.

Lasst uns vor allem unseren wertvollen Sinn für Humor aufrecht erhalten.

Er zog das Manuskript an sich heran. Eine Zeitlang sass er da und verschönerte die Buchstaben des Titels: »Die bessere Regierung der Welt« mit kleinen grinsenden Gnomenköpfen und possierlichen Schnörkeln – .

*

Oben auf Mr. Britling's Schreibtisch neben der Uhr lag ein Brief. Er war in schwerfälligem Englisch geschrieben, und sein Umschlag war durch ein Schildchen wieder geschlossen worden, das bewies, dass er »Vom Censor geöffnet« worden war.

Der freundliche Vermittler in Norwegen hatte an Mr. Britling geschrieben, um ihm mitzuteilen, dass auch Herr Heinrich (der Hauslehrer der jungen Britlinge, der bei Kriegsausbruch als deutscher Reservist nach Hause gefahren war) tot war. Nach argen Strapazen war er bei dem grossen Angriff, den die Russen im Beginn des Frühjahrs auf die Karpathenpässe gemacht hatten, verwundet und gefangen genommen worden, und seine Wunde war brandig geworden. Er hatte sich wieder teilweise erholt, aber bei einem Streit zwischen deutschen und kroatischen Gefangenen war er geschlagen und verletzt worden; er war dahingesiecht und gestorben. Vor seinem Tode hatte er seinen Eltern geschrieben und nochmals gebeten, die Violine, die er Mr. Britling zur Aufbewahrung überlassen hatte, möge ihnen, wenn es sich machen lasse, zugestellt werden. Es war klar, dass diese Violine jetzt für ihn und sie ein Symbol geworden war, an das sich vielerlei Gedanken anknüpften.

Das gelbrote Licht der Lampe fiel auf diesen Brief. Er musste beantwortet werden, und die verschiedenen Möglichkeiten der Abfassung dieser Antwort beschäftigten Mr. Britling's Geist so lebhaft, dass jede abstrakte Tätigkeit ausgeschlossen war. Er dachte an die alten Eltern im fernen Pommern – er glaubte, dass Heinrich der einzige Sohn gewesen war, wusste es aber nicht ganz sicher. Er dachte an das freundliche Gesicht mit der Brille, das jetzt in einem elenden Gefangenengrab zerfiel und verweste.

Wieder ein Sohn war dahingegangen – die ganze Welt verlor Söhne ...

Er dachte an den jungen Heinrich in der gleichen Weise, wenn auch mit geringerer Lebhaftigkeit, wie an seinen Sohn, als an einen Gegenstand sinnlos vernichteter Hoffnung. Sein Geist nahm keine Notiz von der Tatsache, dass Heinrich ein Feind war, und dass nach der Theorie des »Aufreibungskriegs« sein Tod ein Ausgleich und eine Entschädigung für den Tod Hugh's darstellte. Die wesentliche Tatsache war die, dass sie beide edle, freundliche Menschen gewesen waren und eine gleiche Ursache sie beide getötet hatte.

Es gab wirklich keine geistigen Turnkunststücke, mit Hülfe derer er sich die beiden als Gegner vorstellen konnte. Zwischen ihnen lag kein erkennbarer Streitpunkt. Sie hatten beide die gleichen wissenschaftlichen Anlagen; vielleicht hatte Hugh mehr den Blitz rascher Erkenntnis, Heinrich mehr Gelehrigkeit und Methode. Bis der Krieg sie beide gegeneinander geschleudert hatte.

Er erinnerte sich, wie er zum erstenmal Heinrich gesehen und sich über sein übertrieben deutsches Aeussere amüsiert hatte. Der kurzgeschorene leuchtendblonde Kopf hatte auf dem Bahnsteig aus der Menge herausgeleuchtet. Er suchte sich augenscheinlich zurecht zu fragen. Sein Gesicht war durch die Anstrengung, die ihm die ungewohnte Sprache machte, tief gerötet. Der junge Mann war in einen, durch eine rote Linie verschönerten, weissen Flanellanzug gekleidet; seine Stiefel waren von einem grünlich gelben Leder, das nur ein deutscher Student als chic betrachten konnte; den Rucksack trug er auf dem Rücken und die wertvolle Violine, in ihrem Kasten sorgfältig in der Hand, dieselbe tote Violine, an die er noch zuletzt gedacht hatte. Die andere Hand hielt einen Stock mit geschnitztem Knopf und scharfer Spitze. Er war deutscher, als man es für möglich gehalten hätte. »Herr Heinrich«, sagte Mr. Britling, und sofort fuhren die Absätze zusammen, und er machte eine Verbeugung mit dem ganzen Oberkörper, die durch eine alte, mit Gartenprodukten schwer beladene Dame erheblich gestört wurde. Von Anfang bis zum Ende hatte Herr Heinrich mitten unter den formlosen Engländern diese Verbeugung beibehalten, und immer war er dabei gestört worden.

Die Wirkung, die er hervorbrachte, blieb die gleiche; er war ein bisschen steif, ein bisschen komisch und immer sauber, rosig und methodisch. Die Buben hatten ihn ohne Rückhalt gerne gehabt, Mrs. Britling hatte ihn gerne gehabt, er war ein Wesen, das jeder, jeder gerne haben musste. Nie hatte er sich über etwas beklagt, als über die Picknicks. Aber gegen diese Picknicks wandte er sich entschieden, gegen dieses plötzliche Aufbrechen der Familie in eine wilde Umgebung, wo man mittags nur etwas kalte Nahrung ohne Messer und Gabel verzehrte. Er legte bei Mr. Britling, ehrerbietig, aber entschieden, Verwahrung ein. In ihrem Abkommen sei implizite ausgemacht gewesen, dass er mittags gekochtes Essen haben sollte. Sonst würde sein Magen in Verwirrung und Unordnung gebracht. Am Abend konnte er keine ernsthafte Mahlzeit richtig verdauen.

Die Neigung zur Unterernährung und ein gewisser Mangel an Sentimentalität waren die einzigen Fehler, die Herrn Heinrich in der Lebensweise der Engländer auffielen. Ganz gewiss empfand er die Engländer als gefühllos. Sein Herz blieb noch unbefriedigter, als sein Magen. Er liebte ausdrucksvolle Zuneigungen; er bedurfte grosser Freundschaften, geheimnisvoller Beziehungen, Liebe. Er versuchte ganz wacker, Mr. Britling zu verehren, zu verstehen und verstanden zu werden; er liebte lange Spaziergänge und tiefgründige Unterhaltungen mit Hugh und den Buben; er versuchte Cissie in sein Herz zu schliessen; er fand zuletzt Wunder an Unschuld und Zartheit in dem Hicksonmädel. Sie trug ihr Haar in einem langen Zopf, als er sie zum erstenmal sah, und das genügte, um ein Gretchen aus ihr zu machen. Der junge Mann schrie laut nach Liebe, Liebe, die warm sein und ihn ausfüllen sollte, wie das Mittagessen, das implizite in dem Abkommen mit Mr. Britling enthalten war. Und all diese Essexleute konnten ihn nicht befriedigen; sie waren schweigsam, sie waren spitzfindig, sie schlüpften ihm durch die fetten und doch gierigen Finger, so dass er sich auf sich, den Briefwechsel mit seinen deutschen Freunden, die Idealisierung Maud Hickson's und die moralische Erziehung Billy's zurückzog. Billy! In Mr. Britling's Bewusstsein tauchte schliesslich die Gestalt des jungen Heinrich mit dem Eichhörnchen auf der Schulter wieder auf, die so oft der Verurteilung Deutschlands in Bausch und Bogen im Wege gestanden hatte. Das war von der Nähe besehen der Stoff, aus dem ein brutaler Preusse gemacht war. Hatten wir irgend einen Hader mit ihm?

Andere Erinnerungen an Heinrich verwebten sich in Mr. Britling's Träumerei. Heinrich beim Hockey, wie er mit grösster Geschwindigkeit und geringem Geschick dahineilte, wie ihm Letty Streiche spielte und ihn aufs Glatteis führte, wie Hugh ihn zum besten hatte, wie er unbesonnen nach vorne und wieder ebenso unbesonnen nach hinten rannte und sich plötzlich mit einem Schrei erschöpft zu Boden warf. Oder Heinrich, wie er sehr ernsthaft mit rotem Gesicht durch die Brille auf seine Skatkarte starrte. Oder wie er in dem Boot auf dem grossen Teich sass oder schwamm, oder wie er sich auf Grund einer selbstausgeklügelten Theorie mit grosser List vor den Buben im Garten versteckte, oder wie er mit seltsamen Bewegungen das Damwild im Park von Claverings anpirschte. Eine Zeitlang war sein grosser Ehrgeiz gewesen, sich so nah an das Wild anzuschleichen, dass er es berühren konnte ... Oder Heinrich beim Katalogisieren. Er liebte es leidenschaftlich, von Büchern, Noten und allen Dingen, die beweglich waren und sich klassifizieren liessen, Listen und Kataloge anzulegen. Sein Lieblingsvergnügen waren Pläne für eine neuartige Kerbung der Blätter von Wörterbüchern zu entwerfen, damit man sofort das gesuchte Wort aufschlagen könne. Er hatte drei Wörterbücher gekauft und ihre Ränder beschnitten. Sein System war jedesmal verbessert worden. Er hatte sich grosse Hoffnungen gemacht, auf seine Erfindung ein Patent nehmen und viel Geld damit verdienen zu können. Und aus seinem Zimmer drangen seltsame Töne; er suchte auf seiner Violine nach Melodien. Als er nach Matching's Easy kam, hatte er gehofft, an einem Streichquartett teilnehmen zu können. Aber Matching's Easy brachte kein Streichquartett hervor. So musste er sich mit dem Pianola begnügen und versuchen, mit ihm Duette zu spielen. Der Fehler war nur der, dass das Pianola das Duett für sich allein spielte und unter den Fingern eines der Britlingbuben scherzhafte Launen zeigte, plötzliche Uebergänge von höchster Eile zu grösster Gemächlichkeit.

Dann sah Mr. Britling wieder Heinrich, wie er sehr ernsthaft sprach; seine Brille liess seine blauen Augen noch grösser erscheinen. Er sprach von den Gedanken, die er über das Leben hatte, an das, was er glaubte und was er nicht glaubte, von seinen ehrgeizigen Plänen und seinen Aussichten im Leben.

Er bekannte sich zu zwei ehrgeizigen Plänen, die zwar objektiv von sehr verschiedener Grössenordnung, aber für ihn von gleicher Bedeutung waren. Der erste ging dahin, sich der Verbesserung einer Weltsprache zu widmen, sobald er das philosophische Doktorexamen bestanden hatte; er wollte alle Vorzüge von Esperanto und Ido vereinigen. »Und dann wird es keine Kriege mehr geben, nie mehr«, meinte Herr Heinrich. Der zweite ehrgeizige Plan war die Ausarbeitung seines Systems der Randkerbung von Wörterbüchern und alphabetisch geordneter Nachschlagewerke aller Art. Seine Bedeutung bestand erstens darin, dass Herr Heinrich viel Vergnügen bei seiner Ausarbeitung empfand, und zweitens, dass es ihm grossen Reichtum geben sollte und damit die Möglichkeit für die Verbreitung der Weltsprache zu wirken. Dies System sollte so kompliziert sein, dass man das Buch, welches man benutzen wollte, nur in die Hand nehmen, den Rand ansehen und mit den Fingern darüberfahren brauchte, um es »gerade an der richtigen Stelle« aufzuschlagen. Er hatte sich vorgenommen, diese Sache mit echt deutscher Gründlichkeit zu studieren. »Jetzt muss ich erst die Maschinen untersuchen, mit denen Bücher aufgeschnitten werden«, sagte er. »Möglicherweise muss ich auch auf diesem Gebiet Erfindungen machen.« Das war das Doppelgesicht von Herrn Heinrichs Lehrplan. Und diesen Plan wollte er durchführen und nebenbei auch für sein weites Herz, das jetzt so unausgefüllt war, Befriedigung finden.

Dies war die kurze Geschichte von Herrn Heinrich.

Sie war aus, gerade wie die Geschichte von Hugh aus war. Auf diesen ersten Band würde nie mehr ein zweiter oder dritter folgen. Sie endete in Russland bei einem hastig aufgeworfenen Grab. Der grosse Plan der Randregister würde nie patentiert, die Duette mit dem Pianola nie mehr gespielt werden.

Die Phantasie sah eine kleine Gestalt, die sich wacker durch den Schlamm und Schnee der Karpathen arbeitete, sah sie unter dem Erlebnis des ersten Granatenfeuers zusammenfahren, sah sie bei Angriffen, auf der Flucht, müde und hungrig, bei einem Ueberfall in der Dunkelheit. Dann grübelte die Phantasie darüber, wie die Wunde entstanden wäre. Es kam die klägliche Wanderfahrt der Gefangenen ins Elend, in ein trostloses, verarmtes, erbittertes Land. Es kamen Wunden in schmutzige Lappen gehüllt, Schmerzen und Beschäftigungslosigkeit, und ein armer kleiner gebeugter, innerlich gebrochener Heinrich sass beiseite in einer überfüllten Baracke und pflegte seine Wunde, die brandig geworden war.

Er hatte die Gewohnheit, auf eine besondere Weise dazusitzen, die gekreuzten Arme auf den übereinandergeschlagenen Beinen, seitwärts hinter der Brille hervorschauend.

So musste er dagesessen haben, und dann lag er auf irgend einem rauhen Lager und litt, ungepflegt, ohne jede Bequemlichkeit; er lag bewegungslos und dachte vielleicht manchmal an Matching's Easy und fragte sich, was Hugh und Teddy wohl machten. Bis eines Tags eine unendliche Schwäche von ihm Besitz ergriff; sein Schmerz wurde schwächer, alle seine Gedanken und Erinnerungen wurden schwächer – und immer schwächer.

Die Violine war den Nachmittag in Mr. Britling's Studierzimmer gebracht worden, sie lag jetzt da drüben auf der Fensterbank. Ein armes zerbrochenes Stück Holz, ein armer Ueberrest eines vernichteten Lebens. In ihrem Kasten lag sie wie ein kleines Kind in einem Sarg.

»Ich muss an die alten Eltern einen Brief schreiben,« dachte Mr. Britling. »Ich kann nicht die arme kleine Violine senden, ohne einige Worte hinzuzufügen. Durch diesen kläglichen Sturm geistlosen Hasses darf wohl auch einmal ein Gruss gesendet werden, der keinerlei Hass enthält.«

»Aus meiner Finsternis in eure,« sagte Mr. Britling laut.

Er musste ihnen auf englisch schreiben. Aber selbst wenn sie kein Englisch konnten, würden sie jemand finden, der es ihnen übersetzte. Er musste ihnen ganz einfach schreiben.

*

Er schob das Manuskript seines Aufsatzes: »Die bessere Regierung der Welt«, beiseite und fing langsam, mit abgerundeten, deutlichen Buchstaben zu schreiben an:

»Lieber Herr Heinrich!

Der Zweck dieses Briefes ist, Ihnen mitzuteilen, dass ich Ihnen einige Kleinigkeiten zusende, die ich für Ihren Sohn auf dessen Wunsch bei Kriegsausbruch aufgehoben habe. Ich sende sie –«

Mr. Britling liess das folgende frei, bis er mit dem norwegischen Vermittler eine Vereinbarung über den Versand getroffen hätte.

»Besonders sende ich die Violine, die Ihnen zukommen zu lassen, er mich dreimal gebeten hat. Entweder ist sie ein Geschenk von Ihnen, oder sie war ihm ein Sinnbild vieler Dinge, die ihn mit der Heimat und mit Ihnen verbanden. Ich werde sie mit grösster Sorgfalt verpacken und mein möglichstes tun, dass sie unbeschädigt bei Ihnen anlangt.

Ich habe das Bedürfnis, Ihnen zu sagen, dass wir über allen Stürmen und Leidenschaften des Krieges unseren Freund, Ihren Sohn, nicht vergessen haben. Er war einer der unseren. Er hatte unsere Liebe, er hatte Freunde hier, die noch heute seine Freunde sind. Wir fanden in ihm einen ehrenhaften Menschen und guten Kameraden und nehmen Anteil an Ihrem Verlust. Ich habe einige Momentaufnahmen, die ich zufällig besitze, zusammengesucht, wo Sie ihn im Sonnenschein sehen können. Vielleicht wird Ihnen das die Möglichkeit geben, sich ein etwas besseres Bild von seinem hiesigen Leben zu machen. Auf eine, die ich mit einem Zeichen versehe, mache ich Sie besonders aufmerksam. Unsere Familie nimmt im Freien ihren Mittagsimbiss ein, und Sie werden neben Ihrem Sohn den meinen sehen, etwa ein Jahr jünger als er, wie er mit ihm anstösst. Ich habe über seinem Kopf ein Kreuz angebracht. Er war mein ältester Sohn, er war mir sehr teuer, und auch er fiel in diesem Kriege. Sie sehen, wie freundlich die beiden einander zulächeln.«

Während Mr. Britling schrieb, war ihm plötzlich der Gedanke an die Photographien gekommen, und er hatte sie aus der kleinen Schublade genommen, in der er sie aufzubewahren pflegte. Er nahm eine heraus auf der der junge Deutsche sich befand, aber es waren noch andere, hellbeleuchtete da, die jetzt eine besondere Bedeutung angenommen hatten. Da waren zwei, die die Kinder, Teddy, Hugh, Cissie und Letty im Gänsemarsch zeigten; da war eine mit Herrn van der Pant, der an dem Haupteingang lächelnd stand, Heinrichs zurückgelassene Pantoffeln an den Füssen. Da waren auch eine Unzahl Bilder von Teddy. Es ist ein glücklicher Instinkt des Kodaks, dass er an bedeckten Tagen nicht benützt wird und so die photographischen Erinnerungen des Lebens als eine Reihe sonniger Bilder aufbewahrt. In der Schublade lagen über diesen Momentaufnahmen Hughs Briefe und ein Mischmasch alltäglicher Dokumente, die mit seinem Leben zusammenhingen.

Mr. Britling unterbrach seinen Brief, blätterte in diesen Papieren und sann vor sich hin. Heinrichs Briefe und Postkarten waren zwischen sie geraten, auch ein Brief Teddys war dabei.

Die Briefe verstärkten den Eindruck der Photographien; sie bewiesen zusammen, ein wie frohes und freundliches Geschlecht die Menschen sein können. Bis die wilden Esel des Nationalismus, tretend und um sich schlagend, zwischen sie rannten, bis Argwohn, neidische Gier und Gehässigkeit ihren Geist vergiftete, bis Narren mit ihren Sprengstoffen die natürliche Güte in schreienden Hass und verspritzendes Blut verwandelten. Wie freundlich sind die Menschen, bis unmittelbar vor dem Augenblick, wo sie Grausamkeiten begehen müssen. In seinem Geist wimmelte es plötzlich von Anekdoten und Geschichtchen, die bewiesen, wie die Güte der Menschen durch die Schlechtigkeit des Krieges hervorleuchtet. Sie erzählten, wie sich schwerverwundete Deutsche und Engländer, die in Schmutz und Finsternis nebeneinander zwischen den Schützengräben lagen, sich gegenseitige Hülfe gewährten, wie Soldaten mit den Gefangenen, die sie gemacht hatten, freundlich verkehrten, wie die Sachsen auf Weihnachten den Engländern Brüderschaft zutranken. Photographien solcher Szenen waren in den Zeitungen gewesen.

Von diesen Wanderungen kehrte jetzt sein Geist zu der Aufgabe zurück, die vor ihm lag.

Er versuchte, sich Heinrichs Eltern vorzustellen. Er nahm an, dass sie gutartige, gebildete Menschen waren. Es war augenscheinlich gewesen, dass der junge Mann aus einem ordnungsvollen, von einem edlen Geist beseelten Elternhaus zu ihm gekommen war. Er stellte sie sich – warum wusste er selbst nicht – als Leute vor, die viel älter waren, als er. Vielleicht hatte der junge Heinrich bei der einen oder andern Gelegenheit erzählt, dass sie alte Leute waren – Mr. Britling konnte sich aber nicht mehr recht erinnern. Und er hatte eine merkwürdige Neigung, ihnen Worte des Trostes zu schreiben, als ob ihr Verlust beklagenswerter als der seine sei. Er zweifelte daran, dass sie den Trost seines sanguinischen Temperaments hatten, dass sie so schnell eine Zuflucht finden würden, wie er sie in seinem Glauben gefunden hatte, dass in Pommern die gleiche Möglichkeit sei, sich mit einem Aufsatz über »Die bessere Regierung der Welt« zu trösten. Er hatte von alledem keine klare Vorstellung, aber es waren Gedanken, die in seinem Unbewusstsein lagen. Er fuhr zu schreiben fort:

»Wenn Sie daran denken, dass unsere beiden Söhne nicht für eine gemeinsame edle Sache starben, sondern gegeneinander fochten in einem Streit um Dynastien, Grenzen, Handelswege und tyrannische Gelüste, so meine ich, muss Sie mit mir ein gleiches Gefühl verbinden, dass dieser Krieg das tragischste und fürchterlichste Ereignis ist, das je der Menschheit zustiess.«

Er sass einige Minuten in Gedanken versunken da, nachdem er dies geschrieben hatte, und dann setzte er seinen Brief mit einer neuen Gedankenreihe fort, die schon in dem ersten Satz zu erkennen war.

»Wenn Sie die Toten und Verwundeten zählen, ist dies der schrecklichste Krieg der Geschichte; für Sie und mich war er die erschütterndste persönliche Tragödie ... Schwarze Sorge.

Aber ist es wirklich der schrecklichste Krieg?

Ich wage es auszusprechen und Ihnen zu sagen, dass ich wahrhaftig glaube, unsere beiden Söhne sind nicht vergebens gestorben. Unser Schmerz und unsere Qualen waren vielleicht nicht umsonst – vielleicht waren sie notwendig. In Wahrheit glaube ich, vielleicht waren sie nötig. Hier stehe ich, meines Sohnes beraubt und elend – und doch habe ich Hoffnung. Nie war das Gewebe des Kriegs so schwarz, das gebe ich zu. Aber auch nie war das schwarze Gewebe des Kriegs so fadenscheinig. An tausend Punkten scheint das Licht durch.«

Mr. Britlings Feder stand still.

In dem Zimmer, das zum Schlafen und zur Arbeit diente, herrschte vollständige Stille.

»Der reinste Zeitungsstil«, sagte Mr. Britling schliesslich, und seine Stimme klang voller Bitterkeit.

Er begann einen wilden Kampf mit seinem Stil. Er vergass die alten Eltern in Pommern gänzlich über den Aerger, den er über seinen Mangel an Ausdrucksfähigkeit empfand. Er ärgerte sich, dass er die rebellischen Worte und Satzbilder so unvollständig in seiner Gewalt hatte. Jedes von ihnen schleppte seine eigenen Gedankenverbindungen und Beziehungen hinter sich her und war so seinem eigentlichen Zweck im Wege. Er las den Satz, der ihm nicht gefallen wollte, nochmals durch.

»Schliesslich ist er ganz richtig«, sagte er. »Es ist genau das, was ich sagen wollte ...«

Genau?

Seine Gedanken knüpften sich an das Wort »genau«. Wenn man viel zu sagen hat, wirkt der Stil störend ... Aber das ist gerade so, als wenn man sich vor einer Schlacht mit dem Anlegen einer Uniform abquält ... Und doch muss man es tun ... Alles muss in Ordnung sein ...

Er nahm ein neues Blatt Papier und entwarf drei verschiedene Anfänge.

»Der Krieg gleicht einem schwarzen Gewebe ...«

»Der Krieg ist ein Vorhang von schwarzem Gewebe, der über dem Weg hängt ...«

»Der Krieg ist ein Vorhang aus dichtem, schwarzem Gewebe, der alle Güte der Menschheit verhüllt. Und doch hat er immer einige Lichtstrahlen durchgelassen, und jetzt – ich träume nicht – ist er fadenscheinig geworden, und hier und da und an tausend Punkten bricht das Licht durch. Dies danken wir all den teuren Jünglingen.«

Seine Feder stand wieder still.

»Ich muss erst einen Entwurf machen«, sagte er.

*

Drei Stunden später arbeitete Mr. Britling bei Tageslicht, obgleich seine Studierlampe noch brannte, und sein Brief an den alten Heinrich war nicht mehr als die Materialsammlung zu einem Brief. Aber das Material nahm allmählich Umrisse an, und Mr. Britling's Absichten wurden deutlich. Es war ihm jetzt klar, dass er nicht als sein begrenztes persönliches Ich den beiden bekümmerten Einzelpersönlichkeiten schrieb, die da ferne in dem Hause mit den hohen Mauern und dem steilen Dach inmitten von Fichtenwaldungen wohnten, dem Hause, von dem Heinrich ihm einst ein Bild gezeigt hatte. Er kannte sie zu wenig, um sich persönlich an sie wenden zu können. Er schrieb, wie er jetzt bemerkte, nicht als Mr. Britling, sondern als ein Engländer – das war ja das einzige, was er für sie war – und er schrieb an sie, als an Deutsche – als etwas anderes kannte er sie nicht. England, das seine Söhne verloren hatte, schrieb an Deutschland, das auch seine Söhne verloren hatte.

Er schrieb nicht mehr an die besonderen Eltern eines besonderen Sohns, er schrieb an die Masse hinter der Front, die Masse, die litt, die Kummer, Bitterkeit und Müdigkeit empfand. Langsam, unaufhaltsam, wurden die deutschen Männer vernichtet. Während er so in der Stille sass, musste er an die zwei Millionen denken, die die Zentralmächte bereits an Toten verloren hatten, an die gleiche Zahl Verstümmelter und untauglich Gewordener. Wenn die britischen Verluste im Vergleich zu denen früherer Kriege auch ungeheuer und allumfassend erschienen, so waren sie doch sehr leicht im Vergleich zu den Verlusten der Gegner; unsere grösseren Heere sollten erst in der Zukunft leiden, wir hatten bisher nicht mehr als eine Viertelmillion unwiderruflich verloren. Aber die Tragödie kam auch uns näher. Wir wussten schon genug, um uns die deutschen Heimstellen vorstellen zu können, zu denen die toten Männer nimmermehr zurückkehrten.

Wenn England den grössten Posten der Rechnung erst in Zukunft bezahlen sollte, hatten die Franzosen bereits bis an die Grenzen des Möglichen geleistet. Sie hatten schon jetzt über eine Million ihrer Männer verloren und bluteten immer weiter. Auch Russland im Osten hatte bei diesem fürchterlichen Austausch von Toten für jeden Mann bei weitem mehr als einen Mann hergegeben. In kurzer Zeit würde kein Zensor mehr die Stimmen der Völker zurückhalten. Dann würde kein Geschwätz von Ehre und Annexionen, Vorherrschaft und Handelswegen mehr ertönen; man würde nur noch Europa um seine Toten klagen hören.

Das Deutschland, dem er schrieb, würde dann eine Nation von Witwen und Kindern, von halbverhungerten Knaben und Mädchen, Krüppeln und Greisen und von Männern sein, die ihre Brüder, Vetter, Freunde und Zukunftshoffnungen verloren hatten. Kein Triumph zu Land oder zur See konnte Deutschland davor retten. Frankreich würde in der gleichen Lage sein, Russland und schliesslich Britannien, jedes Land in einem gewissen Grade. Vor dem Krieg hatte es kein Deutschland gegeben, an das sich ein Engländer wenden konnte; Deutschland war eine beständige Drohung gewesen, ein steter Lärm gewappneter Männer war von da drüben gekommen. Es wäre ebensowenig möglich gewesen, daran zu denken, mit diesem Deutschland zu reden, als den Kaiser, wenn er in rasender Fahrt in seinem tutenden Auto Unter den Linden fuhr, anzuhalten und ihn um eine ruhige Unterredung zu ersuchen. Aber Deutschland, das dieses Rasen mit einem Stolz, in das sich ein leiser Zweifel mischte, beobachtet hatte, hatte jetzt seine Augen voll blutiger Tränen. Deutschland hatte geglaubt, es hatte gehorcht, und es war kein wahrer Sieg gekommen. Es focht noch, blutete unter schweren Leiden, verschwendete seine Güter und die Güter der ganzen Welt, es kämpfte, und doch war kein anderes Ende möglich als Erschöpfung, so tüchtig es war, so hingebend, so stolz und doch so fürchterlich unklug. Und die Gesinnung Deutschlands, wie sie auch immer vor dem Kriege gewesen sein mochte, war jetzt die eines Uebriggebliebenen, verwaist Zurückgelassenen, der traurig bei seiner Studierlampe sitzt, gerade wie Mr. Britling bei seiner Studierlampe sass, voll Gedanken und Sorgen die traurige Bilanz aufstellte und in eine trübe Zukunft schaute.

Und diesem Deutschland schrieb er, dieser Gestalt, die man im Lichtkreis einer Lampe unklar erkennen konnte, einer Gestalt, die seiner glich, an Heinrichs Vater, der ihm das grosse Deutschland darstellte, das Deutschland, das schon lebte, ehe die Fittiche des Preussenaars rauschten, und das auch nach ihm noch leben wird.

Er schrieb:

»Unsere Knaben starben im Kampf gegeneinander. Sie fochten aus Ursachen, die so dunkel waren, dass Ihre deutsche Presse heute noch eifrig dabei ist, sie aufzuklären. Für uns war die Ursache der Einfall in Belgien und die Gefahr der Vernichtung Frankreichs. Kein anderer Grund hätte die Engländer auf dem Schlachtfeld Ihnen gegenüberstellen können. Aber warum Sie in Belgien und Frankreich einfielen, und ob die Möglichkeit bestand, dies abzuwenden, wissen wir nicht bis zu dem heutigen Tag. Und immer noch geht der Krieg fort, und noch mehr Knaben werden sterben; und die Männer, die nicht kämpfen, die auf den Zeitungsredaktionen und Ministerien sitzen, entwerfen Feldzüge, Angriffe und Gegenangriffe, ohne dass irgend ein leitender Gedanke zu erkennen ist. Höchstens, dass es für sie noch etwas Schrecklicheres geben wird als den Krieg. Das ist der Tag der Abrechnung mit ihrem eigenen Volke.

Wofür kämpften wir? Wofür kämpfen wir noch? Wissen wir es? Weiss es irgendeiner? Warum gebe ich das, was von meinem Vermögen noch übrig ist, warum geben Sie das, was von Ihrem Vermögen noch übrig ist, dahin, um diesen Krieg gegeneinander durchzuhalten? Was haben wir davon, dass wir uns noch weiter Schaden zufügen? Warum wollen wir länger Puppen in den Händen gekrönter Narren und geistloser Diplomaten sein? Selbst wenn wir vorher stumpf und geduldig gewesen waren, schreit jetzt nicht das Blut unserer Söhne laut gen Himmel, dass diese Torheit ende? Wir haben solchen Menschen erlaubt, unsere Söhne in den Tod zu führen.

Sie und ich, wir müssen diesen Kriegen ein Ende machen, diesem Abschlachten der Knaben.

Abschlachten der Knaben! Das ist in Wahrheit das Wesen des modernen Krieges. Das Hinmorden der Jugend! Er bedeutet die Vernichtung des Erbes der Menschheit, es ist die Verschwendung des Lebens und Vermögens der Zukunft, um den Hass und die Gier von heute zu befriedigen. Narren und Schelme, Politiker und Betrüger, und die, die mit dem Argwohn und den sinnlosen, aber edlen Befürchtungen der Menschen Handel treiben, die machen die Kriege. Der Stumpfsinn und die falsche Bescheidenheit der Massen erlauben sie. Wollen wir, Sie und ich, solche Dinge dulden, bis das ganze Gewebe unserer Zivilisation, das so langsam und mit so vieler Mühe geschaffen wurde, gänzlich zerstört ist?

Als ich mich hinsetzte, Ihnen zu schreiben, wollte ich Ihnen nur von Ihrem Sohn und dem meinen schreiben. Aber ich empfinde jetzt, dass das, was besonders über unseren Verlust gesagt werden kann, nicht erst gesagt werden braucht: das versteht man, ohne es auszusprechen. Was aber gesagt werden muss, und worüber geschrieben werden muss, das ist eines, nämlich, dass dem Kriege ein Ende gemacht werden muss, und dass dies durch niemand anders geschehen kann als durch Sie und mich und uns alle. Wir müssen es tun aus Liebe zu unseren Söhnen, zu unserem Geschlecht, zu allem, was menschlich ist. Der Krieg ist nicht länger mehr etwas Menschliches. Der Chemiker und der Metallurg haben sein ganzes Wesen verändert. Mein Sohn wurde ins Auge geschossen. Sein Hirn von einem Manne verspritzt, der nie wissen wird, was er getan hat. Denken Sie darüber nach, was das bedeutet! Es ist mir klar, und sicherlich ist es auch Ihnen und der ganzen Welt klar, dass der Krieg heute darin besteht, mit der Fackel fürchterliche Sprengstoffe zu entzünden, die dann zu allgemeinem Verderben aufflammen. Heute darf ein vernünftiger Mann an einen andern nur über eine Sache schreiben, die Rettung des Menschengeschlechts vor dem Kriege.

Jetzt bitte ich Sie, Geduld zu haben und mir bis zum Ende zuzuhören. In der ersten Periode des Kriegs gab es eine Zeit, wo es schwer war, Geduld zu haben, weil uns die Furcht vor Verlusten und Unheil quälte. Jetzt brauchen wir nicht mehr zu fürchten. Das, was wir befürchteten, ist eingetreten. Wenn wir jetzt zusammensitzen neben den verstümmelten Körpern unserer Toten, können wir so geduldig sein wie die Berge.

Ich möchte Ihnen offen und einfach sagen, dass ich der Ansicht bin, dass Deutschland, die Hauptgestalt und der Mittelpunkt in diesem Krieg, den stärksten Tadel verdient. Wenn ich zu Ihnen, als ein Engländer zu einem Deutschen schreibe, so soll zwischen uns über diesen Punkt keine Unklarheit herrschen. Ich bin überzeugt, dass in dem Jahrzehnt, das mit der Niederlage Frankreichs 1871 endete, Deutschland sich zum Schlechten wandte, und die Weigerung, Frankreich edelmütig zu behandeln und eine der andern Weltmächte sich zum Freunde zu machen, die wesentliche Ursache dieses Krieges ist. Deutschland triumphierte und trat den Besiegten in den Staub. Es tat ihm unerträglich Schmach an. Es begann, sich auf neue Angriffe vorzubereiten; lange bevor das Morden begann, führte es schon Krieg zu Wasser und Land, liess Kriegsschiffe vom Stapel, baute strategische Eisenbahnen, sammelte Kriegsmaterial in ungeheuren Mengen an, und seine Drohung zwang die ganze Welt, mit ihm Schritt zu halten ... Schliesslich war für jedes europäische Volk nur eine Wahl, sich dem deutschen Willen zu beugen oder in den Krieg zu gehen. Und dieser Wille war kein gerechter Wille, dem sich Menschen möglicherweise hätten unterwerfen können. Es war ein engherziger, gehässiger Wille. Es war der Wille, der in Zabern zum Ausdruck kam. Sie hatten nicht beschlossen, das Volk eines Weltreichs zu werden und die Welt in Ihre Arme zu schliessen und zu einigen. Sie wollten den Fuss eines durchaus nationalen Deutschlands, eines sentimentalen und engherzigen Deutschlands, eines Deutschlands, das die Bilder Ihres Kaisers und seiner Söhne anbetete, eines Deutschlands, das Uniform trug, in gothischen Lettern druckte und jede Kultur ausser der seinen verachtete, einer gespaltenen und gedemütigten Menschheit auf den Nacken setzen. Diese Aussicht war unerträglich. Lieber als das hätte ich die ganze Welt tot gesehen. Verzeihen Sie mir, wenn ich »Sie« geschrieben habe. Sie sind so wenig für dieses Deutschland verantwortlich, als ich es für – Sir Edward Grey bin. Aber es bildete sich in Ihrer Gegenwart; Sie taten nicht das Aeusserste, es zu verhüten, gerade wie das heutige England sich bildete, und ich es ruhig geschehen liess ...«

»Es ist so trocken, so allgemein,« flüsterte Mr. Britling vor sich hin. »Und doch hat dieser Krieg unsere Söhne getötet.«

Er sass eine Weile still, und las dann ein neues Blatt seines Manuskriptes durch.

»Wenn ich diese Anklagen gegen Deutschland erhebe, so bin ich wenig geneigt, das Recht Englands zu behaupten. Weder Deutschland noch Britannien noch Russland haben in diesem Krieg geglänzt; wir drei waren zufälligerweise die mächtigsten Kämpfer, aber den Ruhm trägt das unbesiegbare Frankreich davon. Frankreich, Belgien und Serbien strahlen im Glanze des Heldentums. Sie kämpften zu ihrer Verteidigung und leisteten über alles Erwarten Widerstand, für ihren Heimatboden, ihre Freiheit. Dieser Krieg war für sie ein Krieg unter klaren, bestimmten Gesichtspunkten; sie entsprachen ihnen in vollkommenem Edelmut. Engländer und Deutscher müssen beide diese eindeutige Lage mit Neid betrachten. Ich halte Sie für einen ehrenhaften Mann, der in der bitteren Schule dieses Kriegs gelernt hat, und ich erwarte, dass Sie sich mit mir in meinem leidenschaftlichen Wunsche treffen, Frankreich, Belgien und Serbien aus Blut und Kampf auftauchen zu sehen, wiederhergestellt, innerhalb des Rahmens ihrer Nationalität vergrössert, entschädigt und sicher. Ueber Russland will ich hier nicht schreiben; lassen Sie mich sogleich auf mein Vaterland eingehen, wobei ich nur bemerken will, dass es zwischen England und Russland endlose Parallelen gibt. Wir haben ähnliche Verwicklungen, verwandte Schwierigkeiten. Wir haben beide zum Beispiel eine importierte Dynastie, eine die Seelen zerstörende Staatskirche, die die Erziehung der herrschenden Klasse einschnürt und vergiftet. Wir haben ein Volk, das mit der im geheimen arbeitenden Regierung in keinerlei Beziehung steht, und wir haben dieselbe hergebrachte Verachtung der exakten Wissenschaften. Wir haben Irland und Polen. Selbst unsere Herrscher sind merkwürdig ähnlich.«

An dieser Stelle befand sich ein Bruch, und Mr. Britling schien, wie von neuem, anzufangen.

»Politisch ist das Britische Reich eine ungeschickte Sammlung seltsamer Zufälle. Es ist etwas, worüber man so wenig stolz sein kann, als über die Kontur eines Feuersteins oder die Gestalt einer Kartoffel. Für die Masse des englischen Volkes bedeuten Indien und Aegypten und diese ganze Seite unseres Systems weniger als nichts; unser Handel ist etwas, das sie nicht verstehen; der durch das Reich hereinströmende Reichtum ist etwas, woran sie nicht Teil haben. Britannien war eine Gruppe von vier Demokratien gewesen, die in dem Netz eines gewaltigen, aber durch zufällige Umstände bedingten Imperialismus verschlungen sind; der gemeine Mann ist bei uns von der Wiege bis zur Bahre in einem Zustand politischer Verblüffung. Nichtsdestoweniger sind wir ein grosses Volk, wie auch die Russen ein grosses Volk sind, ein Volk mit eigener Seele und eigenem Charakter, ein Volk von nie versiegender Gutherzigkeit und einem besonderen Genius, der noch danach ringt, seinen Willen und seine Ausdrucksform zu betätigen. Wir haben mit dem gleichen Versuch begonnen, den Frankreich, Amerika, die Schweiz und China eben machen, dem Versuch der Demokratie. Sie ist die neueste Form menschlichen Zusammenlebens, und wir haben die für sie notwendigen Bedingungen erst halb erkannt. Denn es wäre töricht, zu behaupten, dass die kleinen Stadtdemokratien des Altertums mit den grossen Versuchen praktischen Republikanismus zu vergleichen wären, die das Menschengeschlecht jetzt unternimmt. Das Zeitalter demokratischer Republiken, das jetzt heraufdämmert, ist ein neues Zeitalter. Es hat noch kein Jahrhundert gedauert, noch keine lumpigen hundert Jahre. Alle neuen Dinge sind schwach; eine Ratte kann einen neugeborenen Menschen mit Leichtigkeit töten; je grösser die Schickung in der Zukunft ist, desto schwächer kann der Selbstschutz in der Gegenwart sein. Und mir scheint es, als ob Ihr vollendeter, durchgedachter Imperialismus, der Gedanke eines Weltreichs, das durch Deutsche als solche beherrscht wird, in seinem Gesichtskreis und seinem Zweck veralteter, kleiner und weniger edel sei, als diese noch im Wachstum begriffenen Riesendemokratien des Westens, die noch so voller Verwirrung gegen diesen Imperialismus kämpfen.

Dass wir so voller Verwirrung kämpfen, mit kläglichen Führern, unendlicher Verschwendung und Verzögerung, dass unserem Mangel an Manneszucht, den Unredlichkeiten und Gaunereien, den Folgen unserer ungenügenden Organisation, die Verlängerung des Krieges zuzuschreiben ist, gebe ich willig zu. Bei Ausbruch des Kriegs glaubte ich, dass der Militarismus in einem Jahr besiegt werden könnte.«

*

Von dieser Stelle an wurden Mr. Britlings Aufzeichnungen fragmentarisch. Sie behielten ihre Folgerichtigkeit, aber manche Zusammenhänge fehlten. Sein Gedanke war über die Klüfte hinweggesprungen, die auszufüllen seine Feder noch keine Zeit gefunden hatte. Und er begann sich klar zu machen, dass dieser Brief an die alten Leute in Pommern unmöglich wurde. Er war in eine Abhandlung ausgeartet.

»Aber es gibt Abhandlungen, die geschrieben werden müssen«, sagte er. »Bis Männer, wie wir, die Dinge in die Hand nehmen, werden wir immer missregiert werden, werden immer Söhne sterben.«

*

»Ich glaube nicht, dass die Deutschen sich klar machten, wie unaufhaltsam sie die Welt eroberten, ehe der Krieg begann. Hätten Sie die Hälfte der Energie und Intelligenz, die sie für diesen Krieg verwandt haben, zur friedlichen Eroberung der Geister benützt, so glaube ich, würden Sie in aller Ruhe die Leitung der Welt an sich genommen haben; niemand hätte sie Ihnen bestritten. Ihre Naturwissenschaften waren fünf Jahre, Ihre soziale und wirtschaftliche Organisation war ein Vierteljahrhundert der unseren voraus. Nie hatte ein grosses Volk so die Möglichkeit gehabt, die Menschheit der Weltrepublik und dem allgemeinen Frieden zuzuführen. Nur eine gewisse Grosszügigkeit der Phantasie war dazu nötig ...

Aber Ihre Junker, Ihr Hof und Ihre Prinzen, was waren ihnen solche Träume ... Mit der Befriedigung, die der Neid erzeugte, schleuderten sie Deutschland mit all seinen Vervollkommnungen in die Feuer des Kriegs.

*

Ihr Sohn träumte, wie Sie zweifellos wissen, immerfort von einem Weltfrieden, wie den, der mir vor Augen steht. Er war edler als sein Land. Er konnte Kriege und Feindseligkeiten nur als Missverständnisse fassen. Er glaubte, dass eine Welt, in der sich alle vollständig verstünden, eine Welt des Friedens sein müsse. Er plante daher immer die Vervollkommnung und Verbreitung von Esperanto, Ido oder einem ähnlich allgemeinen Bindeglied. Auch mein Sohn war von einem verwandten und noch weiter ausschauenden Traum erfüllt, dem Traum der Wissenschaft, die weder König, noch Vaterland, noch Rasse kennt ...

Diese Söhne, diese Hoffnungen hat dieser Krieg getötet ...«

So endete dies Bruchstück. Mr. Britling las einige Zeit nicht weiter. »Aber hat er sie wirklich getötet?«, flüsterte er. »Wenn du am Leben geblieben wärest, mein lieber Junge, hättest du und dein England mit dem jüngeren Deutschland geredet – besser als ich es je tun kann.«

Er blätterte weiter und las hier und dort mit wachsendem Missvergnügen.

*

»Abhandlungen«, sagte Mr. Britling.

Nie war es ihm so zum Bewusstsein gekommen, dass er nur ein schwacher, törichter, schlechtunterrichteter, voreiliger Schriftsteller sei, und gleichzeitig war er noch nie so fest überzeugt gewesen, dass der Geist Gottes über ihm war, und dass er bei der Neugestaltung des Lebens auf der Erde auch sein Teil beitragen müsse; im Verhältnis zu der Grösse der Aufgabe mochte es ein ganz unbedeutender Teil sein, aber für ihn war es jetzt seine höchste Bestimmung. Und er empfand es als einen beinahe unerträglichen Schmerz, dass trotz seiner innigsten Wünsche, seine Dienste so armselig sein sollten. Immer schien es ihm, dass er eine so geringe Gestaltungskraft bewies, als stehe er unmittelbar davor, seinen Standpunkt auf das herrlichste zu beleuchten, und immer fand er, dass das niedergeschriebene der Grösse des Gedankens nicht entsprach, ein schwächlicher Verrat an den Regungen seines Herzens war; immer fand er seine Arbeit schwach und unzulänglich. Hier zum Beispiel war ihm von Anfang an die Botschaft der Verbrüderung, der Vergebung, der gemeinsamen göttlichen Berufung in goldener Klarheit erschienen. An wen konnte er seine Botschaft besser richten als an diese bekümmerten Eltern? Von wem konnte sie mit besserer Wirkung ausgehen als von ihm? Und nun hatte er gelesen, was aus dieser Botschaft geworden war. Seinem ermüdeten Geist schien sie kläglich und matt. Sie verbreitete kein Licht, sie hatte keine Tiefe. Sie glich einer Abhandlung aus einem Debattierklub.

Er musste sich ein altes deutsches Ehepaar mit Brillen vorstellen, das seinen Brief erstaunt betrachtete. Vielleicht würden sie sich durch seine überraschenden Verallgemeinerungen verletzt fühlen. Warum, würden sie sich fragen, hält dieser Engländer uns eine Predigt?

Er lehnte müde in seinen Stuhl zurück; sein Kinn sank auf seine Brust. Eine Zeitlang dachte er gar nichts. Er las den Satz wieder, den er gerade vor Augen hatte.

»Diese Söhne, diese Hoffnungen hat dieser Krieg getötet.«

Die Worte wollten eine Zeitlang nicht weichen.

»Nein!«, sagte Mr. Britling auf einmal mit fester Stimme.

»Sie leben«.

Und plötzlich erwuchs in seinem Hirn der Gedanke, dass er nicht allein war. Es gab tausende und abertausende von Männern und Frauen gleich ihm, die mit der ganzen Kraft ihres Herzens, wie er, das versöhnende Wort aussprechen wollten. Nicht nur seine Hand stiess gegen Hindernisse ... Franzosen und Russen sassen in der gleichen Stille vor gleichen Schwierigkeiten; es gab Deutsche, die einen Weg zu ihm hin suchten. Jetzt sogar, während er sass und schrieb. Und zum erstenmal fühlte er jetzt deutlich eine Gegenwart, an die er so oft in diesen letzten Wochen gedacht hatte, eine Gegenwart, die näher war seinen Augen, in seinem Hirn, in seinen Händen. Es war keine Täuschung einer Vision; es war unmittelbare Wirklichkeit. Es war Hugh, Hugh von dem er geglaubt hatte, dass er tot sei; es war der junge Heinrich, der noch lebte; es war er selbst, es waren die andern, die suchten; es waren diese, und es waren mehr noch; es war der Meister, der Führer der Menschheit, es war Gott, hier ihm gegenwärtig, und er fühlte, dass es Gott war. Es war ihm, als habe er sich alle die Zeit durch die Dunkelheit getastet, sich allein geglaubt zwischen Felsgestein, Fallgruben in mitleidloser Oede, und plötzlich habe eine Hand, eine feste, starke Hand die seine berührt. Und eine Stimme in ihm sagte, er solle guten Mutes sein. Das war kein magischer Betrug in diesem Augenblick. Er war noch müde und abgespannt, entmutigt von seiner Rhetorik, enttäuscht, dass er für seine gute Absicht so schlecht ausgerüstet sei; aber er war nicht mehr allein und elend; er hatte die Welt der Verzweiflung verlassen. Gott war neben ihm und in ihm und über ihm ... Es war der entscheidende Augenblick in Mr. Britling's Leben. Es war wie das Aufleuchten der Sonne, wenn an einem Aprilmorgen eine Wolke vorübergezogen ist; es war etwas, wie der erste Schöpfungstag. Einige Augenblicke sass er zurückgelehnt, sein Kinn hatte sich auf seine Brust gesenkt, seine Arme hingen über die Seitenlehnen des Stuhles herab. Dann setzte er sich auf und holte tief Atem. Dieser Augenblick war fast wie etwas Selbstverständliches gekommen.

Wochenlang hatte sein Geist mit dem Gedanken gespielt. Er hatte mit Letty von diesem Endlichen Gott gesprochen, der der Herrscher über die Erlebnisse des Menschen in Zeit und Raum ist. Aber bis jetzt war Gott für ihn eine Vorstellung des Intellekts, eine Theorie, etwas Vorgestelltes gewesen, etwas, wovon man sprach, aber das nicht verwirklicht war ... Mr. Britling's Gedanke an Gott glich bisher einem Menschen, der ein leeres Haus gefunden hat, das schön und anmutig auf eine edle Persönlichkeit hindeutet. Und während der Entdecker einsam durch das Haus geht und merkwürdige Dinge sieht, hört er unten am Eingang, wohlklingend und freundlich, die Stimme des Herrn, der heimkehrt.

Es war kein Grund zu verzweifeln, weil er selbst einer der vielen Schwachen war. Gott war wirklich mit ihm, und er war mit Gott. Der König hatte sein Reich betreten. Inmitten der Finsternisse und Verwirrungen, der gespenstischen Grausamkeiten und des scheusslichen Stumpfsinns des grossen Krieges erkämpfte sich Gott, der Lenker der Weltrepublik, den Weg zu seinem Reich. So lange man sein Bestes, sein Aeusserstes für eine so gewaltige Sache tat, war es da nicht gleichgültig, dass man schwach und arm war?

»Ich habe zuviel an mich selbst gedacht, und zuviel an das, was ich selbst tun wollte«, sagte Mr. Britling. »Ich habe das vergessen, was mit mir war ...«

*

Er schlug jetzt den Rest dessen auf, was er die Nacht geschrieben hatte, und las es, als ob es das Werk eines andern Mannes sei.

Diese letzten Aufzeichnungen waren fragmentarisch und mit einer müden Hand geschrieben.

»Wir wollen uns selbst zu Wächtern und Hütern der Ordnung auf dieser Welt machen ... Und wäre es um unserer Toten willen ...

Wir wollen uns heilig zu diesem Dienst verpflichten. Unser ganzes Sinnen und Trachten sei nur auf Eins gerichtet, die Methoden der Demokratie zu vervollkommnen und auszuarbeiten, und ein für allemal ein Ende zu machen mit Königen, Kaisern, Priesterschaften und Abenteuererbanden, mit den Händlern und Eigentümern und Aufkäufern, die die Menschheit in den Morast von Hass und Blut hineingelockt haben – in dem unsere Söhne verloren gingen – in dem wir noch herumtappen ...«

Wie schwach war sein Ruf der Ermahnung. Er endete mit einem Klange des Scheltens.

»Die die Menschheit hineingelockt haben«, las Mr. Britling nochmals und erwog den Satz.

»Die mit uns versunken sind«, verbesserte er ...

»Man wird ärgerlich und bitter, weil man sich allein glaubt, denke ich. Weil man das Gefühl hat, dass die Gründe eines einzelnen nicht genügend Gründe sind. Man wird wütend, wenn man den stillschweigenden, unbekümmerten Widerspruch empfindet, und man vergisst die Kraft, von der man ein Teil ist ...«

Das Blatt Papier, das den Satz enthielt, den er eben verbessert hatte, war sonst leer, nur dass schräg in sehr sorgfältiger Handschrift die Worte »Hugh« und »Hugh Philipp Britling standen. Auf das nächste Blatt hatte er geschrieben:

»Lasst uns den Frieden der Weltrepublik gründen inmitten der Trümmer. Lasst das unsere Religion, unsere Sendung sein«.

Hier hatte er aufgehört.

Das letzte Blatt von Mr. Britling's Manuskript kann hier zweckmässiger im Faksimile gegeben, als beschrieben werden.

.

Er seufzte, blickte auf die umhergestreuten Papiere und dachte an den Brief, der aus diesen Bruchstücken entstehen sollte. Seine Müdigkeit sprach aus ihm:

»Vielleicht wäre es schliesslich doch besser, nur die Violine zu schicken ...«

Er hatte das Kinn auf seine Hände gestützt und sass so lange Zeit unbeweglich. Seine Augen starrten ins Leere. Seine Gedanken wanderten, breiteten sich aus und verschwammen. Schliesslich kehrte sein Geist zu seinem letzten Gedanken zurück. »Nur die Violine senden – ohne ein Wort.«

»Nein. Ich muss ihnen mit schlichten Worten schreiben.

Von Gott, wie ich Ihn gefunden habe.

Wie Er mich gefunden hat ...«

Er vergass die Pommern für einige Zeit. Er flüsterte mit sich selbst. Er wandte sich der Ueberzeugung zu, die jetzt klar und bestimmt in seinem Geiste vor ihm stand: »Religion ist das erste und das letzte, und solange ein Mensch nicht Gott gefunden hat und nicht von Gott gefunden worden ist, beginnt er ohne rechten Anfang und arbeitet, ohne ein rechtes Ende finden zu können. Ein solcher Mensch mag Freunde haben, in manchen Fällen die Treue halten, ein ehrenhaftes Verhalten zeigen. Aber alle diese Dinge und das Leben, wie sie, bilden erst in Gegenwart Gottes ein geordnetes Ganzes. Nur mit Gott. Mit Gott, der in den Menschen gegen blinde Gewalt, Nacht und das Nichtsein kämpft, der das Ende, der Sinn des Lebens ist. Er allein ist König ... Natürlich muss ich von Ihm schreiben. Ich muss alles sagen, was ich von Ihm weiss. Und vor dem Kommen des wahren Königs, des Königs, der sein wird, des Königs, der überall gegenwärtig ist, wo Menschen sich sammeln, wird all dieser blutbefleckte Kehricht der alten Welt, diese Zwergenkönige und Theaterkaiser, diese verschlagenen Politiker und ränkesüchtigen Advokaten, diese Menschen, die verlangen und gleich gierig zugreifen, mit Betrug und Zwang herrschen, diese Kriegshetzer und Unterdrücker zusammenschrumpfen und vergehen – wie ein Stück Papier in einer Flamme ...«

Dann nach einiger Zeit sagte er:

»Unsere Söhne, die uns Gott gezeigt haben ...«

Er strich mit seinen Händen über Augen und Stirn.

Die angestrengte Nacht hatte sein Hirn ermüdet, und er konnte nicht mehr klar denken. Einige Minuten dachte er nichts, er sass am Schreibtisch, die Hände gegen seine Augen gepresst.

Dann erhob er sich und schaute bewegungslos aus dem Fenster.

Seine Lampe brannte noch, aber die letzte Zeit hatte er nicht mehr bei dem Licht dieser Lampe geschrieben; unmerklich war der Tag gekommen; und der gelbe Lichtkreis der Lampe, die nur für ihn leuchtete, war unnötig geworden. Die Farbe war in die Welt zurückgekehrt, eine klare Farbe, die in Perlenglanz leuchtete, bestimmt und klar wie der Blick eines Kindes oder die Stimme eines Mädchens. Ein goldenes Wölkchen hing über dem Kirchturm am Himmel. Ein Nebel lag über dem Teich, ein weicher, grauer Nebel, der kaum einen Meter hoch war.

Eine Kette Rebhühner ward auf den Wiesen vor dem Garten sichtbar. Sie liefen durch das betaute Gras, hielten an und liefen weiter. Die Rebhühner waren dieses Jahr sehr zahlreich; denn es war wenig gejagt worden. Drüben in der Wiese sass ein Hase unbeweglich wie ein Stock. Ein Pferd wieherte ... Woge auf Woge von Wärme und Licht wehte vor dem Sonnenaufgang her über die Welt von Matching's Easy. Es war, als gäbe es in der Welt nur Sonnenaufgang und Morgen.

Aus der Ferne, von der Kirche her, hörte man einen frühen Arbeiter, der die Sense wetzte.

*

 

Dies ist das letzte Kapitel des Romans »Mr. Britlings Weg zur Erkenntnis«. 496 Seiten. Fr. 5. –

Buchdruckerei Gebr. Frelz A. G., Zürich


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