David Friedrich Weinland
Rulaman
David Friedrich Weinland

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18

Überfall der Nallihöhle

Die Zeit der kurzen Tage nahte. Seit Wochen hatte die Sonne sich verborgen, und der kalte, trübe Nebeldunst des Spätherbstes lastete schwer auf der Erde. Schon deckte der leichte Schnee wie ein Leichentuch das Armital. Durch seine Mitte wand sich, wie eine lange, mächtige Schlange, der dunkle Bach im Erlengebüsch und Röhricht dahin. Gleich schwarzen Wänden erhoben sich zu beiden Seiten die düsteren Eiben und Fichtenwaldungen, die damals die felsigen Albhänge des Gebirges bedeckten.

Mit Wunden und Blut, mit Hohn und Schmach hatte der stolze Nargu dem ehrlichen Rul auf seinen Freundschaftsantrag geantwortet. »Blut fordert Blut«, so lautete das traurige Gesetz, von Anfang an ins Menschenherz geschrieben.

Seit Repo und Obu von der Nallihöhle zurückgekehrt waren, schien alle Freude, alle Lust aus der Tulka verbannt.

In der Mitte des freien Platzes, wo noch vor kurzem vergnügte Kinder sich getummelt hatten, war jetzt eine hohe Stange aufgerichtet. Oben an ihr hing ein in Blut getauchtes Wolfsfell als Zeichen der ausgebrochenen Fehde.

Ernst und schweigsam gingen die Männer einher, Gesicht und Hände rot bemalt: jetzt waren sie Krieger. Nur flüsternd unterhielten sich die Weiber und Kinder.

Jeden Tag mußte man eines Überfalles von seiten der Nallis gewärtig sein. Nachts wurden oft Kundschafter in der Richtung nach ihrer Höhle ausgesandt. Darüber vergingen mehrere Wochen.

Rul saß stundenlang bei der alten Parre in ernster Unterredung. Eines Tages verließ er die Höhle allein und wanderte hinüber nach der Huhka zu dem Angekko. Er schien heiterer, als er zurückkam. In der Tat war ihm leichter ums Herz geworden, denn sein Entschluß war gefaßt. Des langen Wartens müde, wollte er selbst den Angriff machen, und der Angekko, vielleicht in Hoffnung auf Anteil an der Beute, hatte ihm sechs Mann Hilfe zugesagt. So waren sie dreizehn Krieger, immer noch ein kleines Häuflein gegen vierzig Nallimänner.

Rulaman, so wollte es Rul, durfte nicht mitziehen; er sollte seine Hände noch nicht in Menschenblut tauchen.

Es war alles vorbereitet und des Winkes des Häuptlings gewärtig. Da brachte eines Morgens ein Kundschafter die Nachricht, daß ein Haufen Nallimänner zur Tur, das heißt Urstierjagd nach jenseits des Norgeflusses aufgebrochen sei. Sofort wurde für diese Nacht der Überfall auf die Nallihöhle beschlossen und dem Angekko Botschaft gesandt.

Nachdem sie sich an einem kräftigen Mahl aus geröstetem Bärenfleisch gestärkt hatten, stiegen die sieben Tulkakrieger ins Armital hinab. Dort unten wollten sie mit den Huhkas zusammentreffen. Rulaman, dem der Vater den wichtigen Schutz der Höhle übertragen hatte, gab ihnen noch das Geleit den Berg hinunter.

Nah bei einem Erlengebüsch, hart am Bach, erwartete man die Huhkas. Hier nahm Rul Abschied von seinem Sohn. Gehorsam aber schweren Herzens wandte sich Rulaman zurück nach der Tulka.

Die Huhkas kamen.

Der Angekko hatte ihnen einen ledernen Sack mit getrockneten Fischen zur Zehrung mitgegeben, worüber die Tulkas spöttelten.

Alle Männer waren gekleidet und bewaffnet, wie wir sie sonst auch zur Jagd ausziehen sahen. Nur trugen sie jetzt im Winter über dem Renntierrock noch einen Wolfspelz und statt der Sandalen hohe Stiefel aus Renntierfell. Auch waren ihre Renntiermützen heute mit Rabenfedern besteckt. Der Rabe, der mutig selbst auf den größten Raubvogel stößt, galt den Aimats als das Sinnbild der Kampfeslust und des Krieges. Man beschloß, die gewohnten Pfade zu vermeiden. Die Krieger wateten zunächst im Bett des rauschenden Baches durch das Armital aufwärts.

Die Nacht war stockfinster, nur der Schnee verbreitete einen schwachen Lichtschimmer. Hin und wieder flatterte, mit rauschendem Flügelschlag, eine Wildente vorbei, die die Männer aufgescheucht hatten. In einiger Entfernung glitt wie ein Schatten ein Wolf durch das Gebüsch. War es Rulamans Stalpe?

Nach einer Stunde Wegs gabelte sich das Tal. Jetzt verließen sie den Bach, der sich in dem linken Talarm fortsetzte. Sie bogen rechts ab dem Berge zu. Es ging eine steile Schlucht hinauf, das Bett eines Gießbaches im Frühjahr. Hier war alles Urwald und dichte Finsternis. Einer trat in die Fußstapfen des anderen. So sicher und behutsam war der Tritt dieses Naturvolkes, daß selten ein Stein ins Rollen kam. Kein Wort wurde gesprochen. Oft hielt Rul, der an der Spitze ging, plötzlich an und horchte. Und wenn er stand, standen wie eine Mauer alle hinter ihm.

Oben auf der Höhe angekommen, wurde haltgemacht. Jetzt beschloß man, wegen der Kundschafter der Nallis, nicht weiter zusammen zu gehen, sondern nur zu zweien und in verschiedener Richtung zerstreut. Zum späteren Sammelpunkt wurde ein allen bekannter, hoher, schroffer, einzeln stehender Fels, etwa Dreiviertelstunden weit von der Nallihöhle, bestimmt und als Erkennungszeichen auf dem Weg, falls sie sich etwa begegneten, drei kurz und schnell hintereinander ausgestoßene Schuhurufe.

Rul und der Anführer der Huhkamänner wechselten noch einige Worte. Strahlenförmig verteilten sich dann die Kriegerpaare über die schneebedeckte Hochfläche.

Rul erschien zuerst am Sammlungsfels, mit ihm ein Huhkamann. Absichtlich hatte er jedem Tulka einen Huhka beigegeben. Es dauerte lange, bis zwei weitere Kriegerpaare erschienen.

Schon dämmerte der Morgen, ein rötlicher Schein flimmerte von Osten her durch den grauen Dunst. Unruhig ging Rul auf und ab. Oft stand er still und spähte und horchte nach der Gegend, woher die anderen kommen sollten. Auch Repo fehlte noch.

Links in der Ferne sah man von Zeit zu Zeit ein Feuer aufflammen. »Das ist das Feuer vor der Nallihöhle«, sagte Rul. »Warum haben die Nallis offenes Feuer in der Nacht, wenn Fehde ausgebrochen ist, und die Männer nicht zu Hause sind?« so fragte er kopfschüttelnd einen der Kundschafter. »Die Weiber hielten ein Fest bis tief in die Nacht«, antwortete dieser. »Dann ist der schlaue alte Nargu nicht zu Hause, oder er hat uns eine Falle gestellt.«

Eine Amsel im nahen Gebüsch schnatterte ihren Warnruf. Sie flog kreischend mit kurzen Flügelschlägen hart vor Rul auf.

»Wir können nicht länger warten«, sagte er, brach einen Fichtenzweig ab und stellte ihn aufrecht in die Mitte des freien Platzes vor den Felsen, mit sechs Steinen, die er um ihn herumlegte.

Dies war das Zeichen, daß sie zu sechsen hier gewesen und aufgebrochen waren. Ein leiser Pfiff, und vorwärts ging es in gebückter Haltung und, soweit möglich, gedeckt durch Bäume und Gebüsche. Nur fünfzig Schritte von der Höhle, hinter dichtem Wacholdergestrüpp, machten sie nochmals halt.

Breit und blutrot stieg die Sonne am Horizont auf und warf ihre ersten purpurnen Strahlen auf die graue Felsenpforte der Nallihöhle. Kein lebendes Wesen rührte sich hier.

»Schieß den Raben von der Stange am Eingang herunter!« flüsterte Rul einem seiner Leute zu, »er könnte uns verraten.« Der Pfeil schwirrte, und der Rabe stürzte. Aber im nächsten Augenblick erholte er sich wieder und flatterte unter lautem Gekreisch zur Höhle.

»Drauf! Vorwärts!« rief Rul und rannte nach der Höhle. Da flog ein Hagel von Pfeilen aus einem Gebüsch am Eingang der Höhle auf die Männer. Sie waren in einen Hinterhalt geraten.

Die drei vordersten, Rul und zwei seiner Brüder, stürzten; Rul war schwer verwundet. Die drei Huhkas rannten zurück in den Wald.

Die ganze Höhle wurde jetzt lebendig. Männer, Weiber und Kinder stürmten heraus und sprangen und schrien durcheinander und lachten und jubelten und tanzten um die Feinde herum, die sich in ihrem Blut auf dem Boden wälzten.

Jetzt erschien auch der alte Nargu. »Ihr wolltet den alten Nargu überlisten, ihr Bärendiebe!« schrie er die gefallenen Tulkas an. »Aber sind nur drei gekommen?« fragte er erstaunt. Als er gehört, daß drei andere geflohen seien, schickte er einen Teil seiner Männer zur Verfolgung nach, jedoch immer vorsichtig noch einige bei der Höhle zurückbehaltend.

Eine halbe Stunde war vergangen. Noch immer tanzten die Weiber und Kinder und höhnten den kühnen Rul, der, indes wieder zu sich gekommen, wie ein schwer getroffener Löwe trotzig und wild um sich blickte.

Da erscholl von der Seite her, wo die waldlose Ebene weithin sich erstreckte, lautes Kriegsgeschrei. Es war Repo mit seinen sechs Leuten und den drei geflohenen Huhkas. Alle Nallis flüchteten zur Höhle.

Schauerlich war das Geheul der Tulkas ob der gefallenen Brüder. Ohne sich lange bei innen aufzuhalten, stürmten sie, Repo und Obu voran, den Nallis nach in die Höhle hinein. Dort vor dem Prunkgemach des Nargu standen die Nallimänner und hielten Wache. Auf den Häuptling hatten es Repo und Obu abgesehen. Die Wachen wurden niedergeschlagen und die beiden drangen hinein, mit ihnen Ara, das mutige Nallimädchen.

Aufrecht und fest stand der alte Nargu dort, sein glänzendes Schwert in der Hand. Vor ihn stellte sich Ara und streckte flehend ihre Arme den beiden Tulkahelden entgegen. »Obu, ich folge dir!« rief sie; »laßt meinem Ahn das Leben!«

Die Männer stutzten. Von draußen ertönte jetzt das entsetzliche Jammergeschrei der verwundeten Weiber und Kinder.

»Ist das jetzt Brauch bei den Aimats«, schrie der Alte, »die Weiber und Kinder zu schlachten! Vorwärts, tötet euern alten Ohm!« Und dabei hob er sein Schwert in die Höhe.

Repo wandte sich um und schrie mit Donnerstimme in die Höhle hinaus: »Laßt ab von den Weibern!«

Zugleich fiel Ara vor ihrem Großvater nieder, umklammerte seine Knie und bat: »Mach' Frieden mit den Tulkas!«

»Wir wollen unsere Hände nicht mit dem Blut unseres Ohms färben«, rief Repo jetzt. »Gelobe uns Ende der Fehde und fortan Freundschaft!«

»Ist euer Häuptling tot?« fragte der Alte.

»Er ist von einem Pfeil durchbohrt«, versetzte Repo, »aber er lebt noch.«

»Laßt uns zu ihm gehen!« sagte Nargu.

Der Alte schritt voran, ihm nach die anderen; Repo rief seine Männer zusammen. Es war still geworden, nur leises Stöhnen und Ächzen ertönte noch aus der Höhle heraus.

Nargu trat hin vor Rul, der sich mühsam auf seinen Arm stützte. »Nimm dies Schwert von deinem Ohm, kühner Rul«, sagte er bewegt. »Freundschaft sei fortan zwischen den Nallis und den Tulkas!«

Rul nahm die Waffe, und ein Strahl der Freude glänzte aus seinen matten Augen. »Ich werde sterben«, sagte er, »aber die Tulkas werden Wort halten! Seid einig gegen die Kalats!« Wieder brach er ohnmächtig zusammen.

»Eilen wir nach Hause!« rief Repo.

Die Männer machten Tragbahren aus ihren Wurfspießen und luden die verwundeten Brüder darauf.

Nargu beschenkte alle Krieger mit prächtigen Steinwaffen. Ara aber nahm zärtlich Abschied von ihrem Großvater. Dann ergriff sie Obu bei der Hand und folgte ihm. Man schlug den Weg über die Hochebene ein. Im Tal angekommen, setzten sie die Verwundeten am Bach nieder und wuschen ihnen die Wunden aus.

Nochmals schlug Rul die Augen auf. Repo stand bei ihm und richtete ihn in seinen Armen halb auf. »Repo«, sagte Rul, »ich sterbe. Sei du Häuptling meiner braven Tulkas, bis Rulaman alt genug ist. Ihm bring dieses Schwert von Sonnenstein.« Dann rief er laut: »Rulaman, mein Sohn, wo bist du? Darf ich deine leuchtenden Augen nicht mehr sehen, deine süße Stimme nicht mehr hören?

Rulaman, ich sehe dich groß werden, aber nicht unter deinem Volk! Ich sehe die Tulkas sterben, die Huhkas und die Nallis fallen. Du allein wirst leben!« Dann schloß er die Augen und flüsterte: »Ich sehe einen braunen Adler unter weißen Tauben. Und die Tauben folgen ihm, und er schützt die Tauben mit seinen Schwingen. Des Adlers Augen sind meines Rulamans Augen, und seine Stimme ist Rulamans Stimme. Aber die Tauben sind fremde Tauben ich kenne sie nicht.«

Rul war in die Brust getroffen. Er starb am Bach im Armital.


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