Christian Friedrich Weichmann
Geschichte vom adligen Studenten
Christian Friedrich Weichmann

Christian Friedrich Weichmann

Geschichte vom adligen Studenten

Magnum documentum, ne patriam rem
perdere quis velit.
Horat.

Die vor einiger Zeit angeführte wilde Lebensart des Cordenio hat mir Gelegenheit gegeben, folgende umständliche Geschicht von einem unglücklichen Menschen auf Universitäten meinen Lesern vorzulegen, die selbige vielleicht soviel mehr rühren wird, je wahrhaftiger sie ist.

Philander, welches jetzund der Name unsers jungen Studenten sein mag, war der einzige Sohn eines Edelmannes in Suffolk, aus gutem Geschlechte und von ziemlichen Einkünften. Seine Eltern, denen alle übrige Kinder frühzeitig durch den Tod entrissen waren, hatten ihr Herz völlig an ihn gehangen und ließen an seiner Erziehung nicht das geringste fehlen, was einem Edelmanne konnte zustatten kommen. Seine annehmliche Gestalt, gefällige Aufführung und edelmütige Bescheidenheit war von so starker Reizung, daß jedermann seine Bekanntschaft suchte. Die reichsten Edelleute des Landes machten sich nicht weniger Ehre daraus, ihn einstens zum Schwiegersohn zu haben, als ihre Töchter eifersüchtig waren, daß er in andern Familien vertraulicher werden dürfte als in ihrer eigenen.

Dieser so wohlgeartete Philander war nunmehro ungefähr achtzehn Jahr alt, da seine Mutter sich endlich überwinden konnte, ihn so weit als nach Cambridge von sich zu lassen, auf daß er daselbst sich völlig in seinenWissenschaften festsetzen mögte. Sein guter natürlicher Verstand und sein artiges Betragen, ja auch selbst der sanfte Ton seiner Stimme erwarb ihm durchgehends bei allen Studenten soviel Liebe, daß er öfter in Gesellschaft mit ihnen sein mußte, als derZweck seines Daseins verstattete; doch muß man zu gleicher Zeit sagen, daß er durch Hülfe seines glücklichen Naturells imstande war, alles dasjenige spielend zu tun, was bei andern eine große Aufmerksamkeit und vielen Fleiß erforderte.

Sein Vater hielt denselben nicht eben kärglich, aus Furcht, ihn etwa dadurch träge oder verdrossen zu machen, sondern warf ihm eine jährliche Summe aus, davon er, seinem Stande und damaligen Umständen nach, reichlich und gemächlich leben konnte. Seine Mutter ging in ihrer Vorsorge noch weiter und sandte ihm unterderhand von Zeit zu Zeit einige Gelder zu, welche sie, ohne Vorwissen ihres Mannes, ersparet hatte. Diese ihre unnötige Zärtlichkeit und Ehrbegierde aber, daß ihr Sohn eine rechtschaffene Figur auf der Universität machen mögte, war die erste Ursache von Philanders bald darauf erfolgtem gänzlichen Elende und Verderben.

Seine freimütige Lebensart und angeborne Gefälligkeit zog ihm fast täglich eine stärkere Bekanntschaft zu, und zugleich mit Leuten, die dermaßen über ihn Meister wurden, daß sie seine artige Aufführung in ein unordentliches Wesen zu verwandeln wußten. In schlechtem Wetter kann er unmöglich mit Vergnügen bei den Büchern sitzen, bei schönem Wetter hingegen verdreußt es ihn, daß er zu Hause bleiben und dessen nicht genießen soll. Seine müßigen Freunde denken beständig auf allerhand nette Ergetzlichkeiten, welche ihn unvermerkt zu einer Ausschweifung nach der andern gewannen. Seine Schulden vermehren sich mit jedem Vierteljahre, und er hat nicht wenige Summen an eine gewisse mitleidige Art von Frauenzimmer verwandt. Seine Galanterie gehet endlich so weit, daß er zu seiner besonderen Gemächlichkeit sich eine eigene Mätresse zuleget. Diese muß reichlich und wohl gehalten werden, um der Universität keinen Argwohn hierüber zu geben, welche zu Entdeckung solcher geheimen und verbotenen Bekanntschaften gewisse Leute oder Kundschafter unterhält.

Hiezu gehöret ein neuer Vorrat, den er nunmehro unmöglich erübrigen kann. Seine ihn so zärtlich liebende Mutter ist tot und folglich der Zufluß seiner Einkünfte gemindert, da die Ausgaben sich häufen. Seine vormalige, jederzeit so richtige Bezahlung gab ihm bei der ganzen Stadt und Universität einen sehr großen Kredit, dessen er sich bei seiner jetzigen Lebensart aufs beste und äußerste bedienen muß.

Was soll er aber tun, seine Schulden zu bezahlen, wann die Zeit verfallen ist? Wie kann er seine ungeduldigen Gläubiger vergnügen? Der eine drohet, bei dem Oberaufseher der Universität zu klagen; der andre will seinem Vater die Rechnung zuschicken; seine Gebieterin muß neue Kleider haben; die Universität kann ihm nicht länger kreditieren, und sein Tutor oder Aufseher argwohnet nicht unbillig, daß er sein Geld durch verschiedene heimliche Wege verschwenden müsse. Wie soll es der arme Philander in diesem seinen verwirrten Zustande anfangen?

Er naget sich mit innerlichen Sorgen, isset wenig, schläft noch weniger, bittet seine Gläubiger, nach so mancher fehlgeschlagenen Verheißung, noch um eine kurze Frist und verbindet sich, so hoch er immer kann, in wenigen Tagen alles aufs richtigste abzutragen. Seine so verdrießlichen Umstände bringen ihn zur Reue; er entschließet sich, seine Freundin zu verlassen, seine Ausschweifungen einzuschränken, seine Lebensart gänzlich zu verbessern und der erste zu sein, der seinen Vater die ganze Sache, nächst gebetener Verzeihung, eröffne. In diesem guten Entschlusse setzet er sich und schreibet dem alten Vater folgenden Brief zu:

Höchstgeehrter Herr Vater,

Es wäre mir unmöglich, vor Dessen Augen zu kommen in solchen Umständen, darin ich dieses schreibe. Ich bin ganz beschämt, wann ich gedenke, wie ansehnlich die Summe ist, welche Derselbe mir zugestanden, und wie ich gleichwohl gezwungen bin, so oft um neuen Zuschuß zu bitten. Ich habe diese ganze Zeit über nichts anders getan, als meinen HHrn. Vater und mich selber betrogen. Die oftmaligen Wechsel, so Derselbe mir gütigst zugesandt, haben allein gedienet, meinen Kredit zu vermehren, und mir Gelegenheit gegeben, so viel tiefer in neue Schulden zu fallen. Nunmehro bin ich gar in solchen bedrängten Zustand durch meine Torheiten geraten, daß ich, ohne schleunige Hülfe, vor der ganzen Universität werde zuschanden werden. Der Anschluß enthält ein so richtiges als aufrichtiges Verzeichnis aller meiner Schulden, und ich ersuche noch dies einzige Mal, selbige zu tilgen.

Ich bescheide mich gar zu wohl, daß mein Gesuch unbillig ist und daß mein HHr. Vater über die so häufigen Posten und die hohe Summe meiner Rechnung erstaunen muß. Ich bin unvermerkt in mein Unglück fortgerissen, und es fehlet mir nicht an Mut, alles zu ertragen, was mir überkommen mögte; denn ich wirklich das Allerärgste, was mir überkommen kann, verdiene. Aber dieses fällt mir unmöglich zu ertragen, wann ich erwäge, was für Kummer ich Demselben verursache. Wäre es auf einige Weise tunlich gewesen, meinen Unfall zu verhehlen, so gestehe ich, daß ich solches, auch wider meine Pflicht, getan hätte, und bloß, damit ich Selbigen in keine Betrübnis setzete. Da aber meinem HHrn. Vater die Nachricht davon notwendig zu Ohren kommen mußte, so flehe ich zuvörderst Denselben um Vergebung an und verspreche, mich hiernächst als einen rechtschaffenen Sohn von einem rechtschaffenen Vater aufzuführen.

Ich zittere, wann ich mir vorstelle, was für eine Meinung mein HHr. Vater nunmehro von mir haben wird. Ich bitte aber demütigst, durch Verzug einiger Antwort oder durch ein gar zu hartes Wiederschreiben, mich nicht außer Trost zu setzen. Ich werde mich keinesweges unterstehen, vor Dessen Angesicht zu kommen, bevor ich untriegliche Proben einer völligen Besserung abgelegt und, mich derjenigen Gewogenheit würdig gemachet habe, die mir jetzo mit dem größesten Rechte von der Welt abgeschlagen werden kann. Ich bin etc.

Dieser Brief wurde mit der Post fortgeschicket und langte in seines Vaters Hause zu einer so unglücklichen Zeit an, da eben der alte Herr auf eine ziemliche Weite von seinem Landsitze entfernet war und einen von seinen Freunden besuchte, dahero denn Philander keine Antwort so bald haben konnte, als es seine Umstände erforderten. Seine Gläubiger lagen ihm täglich auf der Türe, seine Ungeduld nahm immer heftiger zu, und er fing an, gänzlich an der Hülfe seines Vaters zu verzweifeln und zu wünschen, daß er selbigem gar nicht geschrieben hätte.

Diese besorgliche Gedanken ein wenig zu erleichtern, lässet er sein Pferd satteln und reitet nach Neu-Market, einem lustigen Orte, ungefähr zwo teutsche Meilen von Cambridge. Der ganze Weg gehet über ein ebenes Feld, das mit zarter Heide bewachsen ist und wo gewöhnlich das englische Pferderennen gehalten wird. Hier suchet Philander seines Kummers loszuwerden, und da er endlich zu seiner Erfrischung in einem Gasthofe absteigst, höret er den Wirt einen daselbst gleichfalls abgestiegenen unschuldigen Landmann befragen, wie er's wagen dürfte, mit einer solchen Last Geldes über die Heide zu reiten.

Wozu aber kann die Not einen Menschen nicht verleiten! Philander, sobald er vom Gelde nur höret, seufzet und wünschet, daß es sein eigen wäre. Er wünschet, nur den geringsten Anspruch darauf zu haben, und denket endlich, er werde es mit leichter Mühe durch Gewalt zu seinem Eigentum machen können. Kurz: hier findet er Gelegenheit, einen großen Schatz zu überkommen, ohne jemals entdeckt zu werden, und es wird gleichfalls an Gelegenheit nicht fehlen, sobald er imstande ist, solchen dem Eigentümer wieder zuzustellen.

Mit diesem verzweifelten Vorsatze reitet der arme junge Mensch, der noch niemand als ihm selber einiges Leid getan hatte, dem Landmanne nach, fällt seinem Pferde in den Zügel, setzet ihm selber die Pistole auf die .Brust und saget ihm, wie er notwendig Geld haben und er, der Landmann, sich sogleich bequemen müßte, was er bei sich führte, auf der Stelle ihm auszuliefern. Dieser antwortete ihm mit unerschrockener Herzhaftigkeit, daß er freilich eine Summe Geldes mit sich führte, aber daß er beordert wäre, solches niemand als seinem jungen Herrn in Cambridge zuzustellen, und daß er sein Leben verlieren oder es in dessen eigene Hand abgeben wollte. Mit diesen Worten ziehet er seine Pistole hervor, drücket sie auf Philandern los und verfehlet seiner.

Philander, voll Verwirrung und Erstaunung, brennet sein Gewehr, das er in der Hand hatte, gleichfalls ab und schießet seinen Gegenpart auf dem Platze zu Boden. Es war eine der traurigsten Begebenheiten, und Philander hätte jetzund gern sein eigenes Leben dahingegeben, wenn nur das Leben dieses armen Menschen dadurch wäre zu retten gewesen: Nunmehro aber war es zu spät. Er schnürte des andern Felleisen an seinen eigenen Sattel fest und ritte damit nach der Universität wieder zu.

Unterweges fand er Zeit gnug zu überlegen, was er getan hatte, und ihn dauchte, daß jedermann, der ihm nur begegnete, diese Untat in seinem Gesichte lesen konnte. Sobald er nun in seinem Zimmer ist, öffnet er mit bebenden Händen das Felleisen, um zu sehen, was er für Beute gemacht. Wie ist es aber möglich, sein Entsetzen auszudrücken, als er in selbigem einen Brief fand von seines Vaters eigenen Hand und das Geld, so an ihn selber abgeschicket war! Der Brief war dieses Inhalts:

Sohn,

Es ist mir eine sehr schmerzliche Bekümmernis, daß ich nur ein Kind habe und daß dies mein einziges Kind sich dermaßen übel aufführet. Gleichwohl trage ich noch eine väterliche Liebe zu Dir und glaube, Du hast soviel Verstand, daß Du Deine Torheiten erkennen werdest. Zahle ab alle Deine Schulden mit dem Gelde, so ich Dir übermache, und warte Deines Studierens. Laß mich Freude an Dir erleben in meinen alten Tagen, und bringe nicht meine grauen Haare mit Sorgen in die Grube. Ich bin Dein

Dich aufrichtig liebender Vater etc.

P. S. Überbringer dieses, der ehrliche Johann, ist einer von meinen neuen Verwaltern; unterlaß nicht, ihm Gutes zu tun.

«Du armer Johann », schreiet Philander mit lauter Stimme, «ich habe deine Ehrlichkeit in der Tat sehr wohl belohnet! » Und hierauf läuft er in der größesten Verwirrung auf allen Studentenzimmern herum und saget jedermann, was er getan. Bei der ganzen Universität, welche diesen jungen Edelmann so hoch geschätzet hatte, entstund eine große Bestürzung darüber, und es fehlete nicht an einer Menge von Leuten, die ihm mit Tränen in sein Gefängnis nachfolgeten, aus welchem er noch einmal folgendes Schreiben an seinen Vater abgehen ließ:

Ach mein Vater!

Euer liebreiches Geschenk ist zu spät gekommen. Ich bin jetzo der elendeste Mensch von der Welt. Meine Not trieb mich auf die Landstraße, und ich habe Euren treuen Johann ermordet. Er verlor sein Leben, um Euer Geschenk niemand anders als mir selber zukommen zu lassen. Die Richter werden nächstens hier sein, meine Sorgen zu endigen. O daß sie doch zugleich der Schande, die ich unseren Hause zugezogen habe, und der Bekümmernis meines Vaters ein Ende machen könnten! Vergebet mir, ach mein Vater! und bittet Gott, daß ich denjenigen Frieden im Himmel haben möge, den ich auf Erden nicht mehr haben kann.

Euer höchst unglücklicher Sohn
Philander

Die Richter kamen wirklich bald darauf an, und Philander, den sein eigenes Geständnis des Straßenraubes und Totschlages überführte, wurde verurteilet, gehenket zu werden. Zwar fand sich von allen Orten Fürsprache gnug um die Erlassung dieser Strafe; allein, das Verbrechen war zu offenbar und zu grausam, als daß sie hätte können erhalten werden.

Es war erbärmlich anzusehen, als er, am Tage seiner Hinrichtung, von seinem betagten Vater Abschied nahm, sich zu seinen Füßen warf und ihn nochmals um Verzeihung und Fürbitte bei Gott anflehete, der alte Greis aber mit Tränen seinem Sohne um den Hals fiel. Er wurde auf den Richtplatz geführet, wo er seinen Tod mit größerer Gelassenheit zu erwarten schien, als die Menge der Umstehenden sich vorstellen konnte.

Währender Zeit trug man den alten Edelmann aus dem Gefängnisse weg, der für Herzeleid seine grauen Haare zerriß und fast jeden Augenblick in Ohnmacht sank, bis er auf seinem Landhause wieder ankam, allwo eine plötzliche Krankheit ihn überfiel, die nach wenigen Tagen sein kummervolles Leben zur Ruhe brachte.

Diese melancholische Geschicht war nicht so bald in der Provinz ruchtbar worden, als Melinda, ein junges vornehmes Frauenzimmer, so ihre Neigung vielleicht zu stark auf Philandern geworfen hatte, über solche Zeitung im Haupte gänzlich verwirret wurde und auf die Weise dies übel auch in eine andere Familie sich ausbreitete.

Dergleichen entsetzliche Unglücksfälle entstunden einzig aus solchen Ausschweifungen, die anfänglich nur Kleinigkeiten und nichts bedeutende Dinge zu sein schienen.