Frank Wedekind
Musik
Frank Wedekind

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Viertes Bild
Der Fluch der Lächerlichkeit

Szenerie

Eine Dachstube in einem einstöckigen Häuschen auf dem Lande. Blaugetünchte Wände. Niedrige Fenster mit Geranien davor und kurzen, weißen Gardinen. Heiligenbilder an der Wand. Im Hintergrund steht ein schlichtes Bett, davor ein Kinderbettchen. Auf einer Kommode stehen ein Soxhletapparat und Arzneigläser

Personen

Frau Oberst Hühnerwadel

Klara, ihre Tochter

Josef Reißner

Else Reißner

Franz Lindekuh

Dr. Schwarzkopf

Eine Vermieterin

Erste Szene

Klara (sitzt in schlichter Kleidung am Bettchen und singt mit leiser Stimme vor sich hin).

      »Es lief ein Knäblein in den Wald
War munter und geschwind.
Die Mutter sprach. Kehr wieder bald
Und nasche nicht Beeren, mein Kind!

Und als die dunkle Nacht begann,
Da schlich es sich müde nach Haus.
Die Mutter sprach: Was hast du getan?
Du siehst ja so kümmerlich aus!

Das Knäblein sprach: Wie sollt ich sein,
Ich bin ja frisch und gesund!
Waldmännchen hat Beeren ohne Stein,
Die schmecken so süß mir im Mund!

Nicht schlief die Mutter die ganze Nacht,
Sie weinte vor Kummer und Harm;
Und als der junge Tag erwacht,
Hielt tot sie das Knäblein im Arm.«

(Sie hat den Gesang mehrfach durch heftiges krampfhaftes Schluchzen unterbrochen und die letzte Strophe kaum zu Ende singen können. Bei dem Wort »tot« schrickt sie jäh empor und flüstert die letzten Worte nur noch mechanisch vor sich hin. – Darauf sich zusammenraffend) Nein, nein, soweit ist es noch nicht! (Über das Bettchen gebeugt) Es schläft ja nur! – Die Händchen – wie kühl! – – Aber es muß seine Tropfen bekommen! (Sie geht zur Kommode, füllt einen Löffel aus einem Arzeneiglas, kehrt zum Bettchen zurück, und flößt dem Kind die Medizin ein) Es schluckt die Arzenei und öffnet die Augen nicht – verzieht den Mund nicht – – kein Lächeln mehr! (Aufhorchend) Da kommt der Doktor! Endlich! Gott sei Dank! Gott sei Dank! (Sie eilt zur Tür und öffnet. Auf die Treppe hinaussprechend) Wer ist denn da? – Ach – Ihr seid es! Verhaltet euch nur bitte ruhig!

Zweite Szene

(Josef und Else Reißner treten in durchnäßten Reisekleidern ein. Klara)

Josef (mit gepreßter Stimme). Ist das ein schauderhaftes Wetter! Und dieser Schmutz vom Bahnhof bis hierher!

Else (gleichfalls leise sprechend) Wie geht es dir denn, Klara?

Klara. Fragt nicht danach! Fragt nicht danach! Ich weiß ja nicht, wie es mir geht! Ich glaubte, es wäre der Doktor! Er hatte hoch und heilig versprochen, daß er um vier Uhr kommen werde.

Else (ist mit Klara zum Bettchen getreten und schrickt unwillkürlich zusammen) Er schläft! – Wann war denn der Arzt zum letztenmal da?

Klara (über das Bettchen gebeugt) Nicht wahr? Nicht wahr? – Es steht schlimm! (Schluchzen) O Gott! O Gott!

Josef (hat sich zögernd bis auf einige Schritte genähert). Wenn das Kind schläft, dann wird es auch wieder zu Kräften kommen. Der Schlaf beweist, daß die Krisis überwunden ist.

Else. Wir können leider kaum eine halbe Stunde bleiben. Wir sind auf der Durchreise ausgestiegen. – Warum läßt ihm der Arzt denn keine heißen Einwickelungen machen? Das Kind braucht Wärme!

Josef. Ich würde an deiner Stelle dem Arzt lieber nicht ins Handwerk pfuschen!

Klara (kleinlaut). Ihr seid wohl gerade im Begriff, in die Sommerfrische zu fahren?

Else. Wir gehen auf sechs Wochen nach Marienweiler. Die Kinder sind mit dem Mädchen gleich weiter gefahren.

Klara. (über das Bettchen gebeugt) Jetzt öffnet es die Lippen. Seid einen Augenblick ruhig! Ich bitte euch!

Josef. Was sagt denn der Arzt?

Klara (auffahrend). Daß dieser Mensch nicht kommt! Das ist Pflichtvergessenheit! Das ist Mord! Hätte ich nur die geringste Vermutung, bei welchem Patienten er zurückgehalten wird, dann liefe ich zu ihm hin . . . (Sich plötzlich besinnend) Allmächtiger Gott im Himmel! Ihr müßt mich allein lassen! Ich bitte euch, laßt mich gleich allein! Ihr habt ja gar keine Ahnung davon, was mir bevorsteht!

Josef (ist ans Bettchen getreten) Der ruhige Schlummer des Kindes setzt dich in Schrecken, Klara. Laß ihn doch nur wenigstens noch solange schlafen, bis der Arzt hier ist . . .

Klara (mit verhaltenem Aufschrei). Meine Mutter ist hier! In diesem Augenblick steigt sie am Bahnhof aus! Jetzt kann sie jeden Moment in der Türe stehen!

Josef. Deine Mutter?!

Klara (nimmt ein Telegramm vom Tisch und reicht es Josef) Hier ist ihr Telegramm! – O Gott, o Gott!

Josef (reicht Else das Telegramm und liest, während es Else in der Hand hält). »Zürich, 10. Juni – bin morgen Abend um vier Uhr bei dir. Bitte, mich vom Bahnhof abzuholen. – Mama.«

Klara. Franz Lindekuh ist auf den Bahnhof gegangen, um meine Mutter, wenn sie aussteigt, so gut es ihm irgend möglich wird, auf alles vorzubereiten. Euch beiden hat er sich natürlich nicht gezeigt, als ihr ausstiegt.

Josef. Hast du denn deiner Mutter nicht ein Wort davon geschrieben, daß du das Kind hast?

Klara. Hätte ich es ihr doch nur geschrieben. Hätte ich ihr doch nur alles geschrieben! Dann wäre mir jetzt leichter zumute! Ich schrieb ihr nur um Geld und schrieb ihr meine jetzige Adresse dazu. Sie kommt auf meinen Brief hin hierher, weil sie glaubt, daß ich nichts mehr zu brechen und zu beißen habe, und daß mich nur meine künstlerischen Enttäuschungen davon abhalten, zu ihr nach Hause zu kommen. (Die Hände ringend) Allmächtiger Gott, allmächtiger Gott, wie trete ich meiner Mutter entgegen! – Aber es gibt da oben über uns keinen Gott. Das habe ich untrüglich erfahren! Es müßte denn ein Ungeheuer sein, dem das klägliche Ächzen meines armen verlassenen Kindes Musik in den Ohren ist! – (Sich wieder über das Bettchen beugend) Mein armes Kind! – Dein Erbrechen hat heute früh wenigstens nachgelassen. Aber wie schlaff deine Ärmchen sind! – Gewiß, gewiß, du bekommst wieder etwas zu trinken! (Zur Kommode gehend) Kalte Milch mit Sodawasser.

Else (ihr folgend) Kann ich dir etwas helfen, Klara?

Klara. Bitte, laß mich in Frieden. (Sie kehrt mit dem Trank zum Bettchen zurück und flößt ihn dem Kind ein)

Else. Woran soll denn aber Lindekuh die Mutier am Bahnhof erkennen, wenn sie aus dem Zug aussteigt?

Klara (vom Bettchen aus nach vorn sprechend). An ihrer Verzweiflung!

Josef. Dieser Eisblock von einer Menschenseele. – Dem Lindekuh ist der Auftrag, deine alte Mutter vom Bahnhof zu dir hierher zu führen und sie auf dieses Wiedersehen vorzubereiten, ein Hochgenuß, für den er getrost zwei Jahre Gefängnis absitzen würde! Dein und deines Kindes Leiden sieht sich dieser lieblose Mensch mit dem gleichen wonnigen Behagen an, mit dem die Bürgerschaft im alten Rom christliche Märtyrerinnen unter den Zähnen reißender Bestien verenden sah!

Klara (auffahrend). Da kommt jemand! Hilf mir Gott, das ist meine Mutter!

Josef. Hoffentlich ist es der Arzt!

Klara (hat die Tür aufgerissen und spricht in den Vorplatz hinaus) Gott sei Dank, sind Sie endlich, endlich hier!

Dritte Szene

Dr. Schwarzkopf. Die Vorigen. Dann die Vermieterin

Dr. Schwarzkopf (sich seines Havelocks entledigend). Nun erzählen Sie mir einmal ausführlich, Fräulein Hühnerwadel, wie es Ihnen denn nun heute eigentlich geht.

Klara (ist ans Bettchen geeilt). Kommen Sie! Sehen Sie mein Kind! Wecken Sie das Kind aus dem entsetzlichen Schlaf! Es schläft schon zwei Stunden!

Dr. Schwarzkopf (ist ans Bettchen getreten, befühlt das Kind von oben bis unten und sagt fortwährend »Hm – hm.« – Sich aufrichtend). Jetzt rasch ein heißes Bad! (Zu Else) Frau Professor, Sie sind schon so freundlich, mir hier ein wenig an die Hand zu gehen. Ich habe mich bei der Frau da unten im Hause eben schon erkundigt. Sie hat heißes Wasser bereit. Lassen Sie die Frau sofort einen Kübel voll heißes Wasser bringen! So heiß als möglich! Es kann fünfundvierzig Grad Celsius haben!

Else (hat Hut und Mantel abgeworfen). Gewiß, Herr Doktor! Sofort! (Ab)

Dr. Schwarzkopf (zu Klara, die weinend am Bettchen kniet). Nun seien Sie erst mal bis auf weiteres vollständig ruhig, Fräulein Klara. Der Verlauf dieser Krankheit hängt leider mehr vom Charakter der herrschenden Epidemie als von der ärztlichen Behandlung ab. (Dem Kind die Brust reibend) Geben Sie acht, gleich wird das Kind wieder schreien.

Klara (die Hände ringend). Musik! Musik! – Was habe ich um deinetwillen auf Gottes Welt schon ausgestanden!

Dr. Schwarzkopf (zu Josef). Als ich eben noch einen Krankenbesuch im Dorfe machte, lief mir unversehens Franz Lindekuh über den Weg. Ich fragte mich: Was hat denn der nur! Er erkannte mich kaum und sprach dabei ununterbrochen laut mit sich selber. Er sagte, er müsse rasch jemanden vom Bahnhof abholen.

Josef. Franz Lindekuh hat immer irgend jemanden zur Hand, den er im ungeeignetsten Moment vom Bahnhof abholt! Dieser schadenfrohe Menschenverächter glaubt, wir alle, die wir uns hier auf Erden in den furchtbarsten Qualen winden, seien von Gott nur dazu geschaffen, um ihm durch unsere Gefühlsäußerungen die Zeit zu vertreiben. – (Klara den Kopf streichelnd) Klara, du mußt deiner Mutter mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein entgegentreten! Du mußt ihr mit unnahbarem Stolz in die Augen sehen. Dann ist deine Mutter glücklich, dich wieder zu haben!

Dr. Schwarzkopf. Mut, Fräulein Klara! – Wenn die Gewebe nur erst wieder eine gewisse Sättigung zeigen und das Blut wieder kräftig durch die Adern strömt!

(Else Reißner und die Vermieterin tragen einen Kübel dampfenden Wassers herein, den sie in die Mitte des Zimmers setzen)

Else. Das Bad wird ihm gut tun. (Den nackten Arm im Wasser) Alles Kochsalz, das in der Küche war, haben wir hineingeschüttet. Das Salz wird ihm doch wohl nicht schaden, Herr Doktor?

Dr. Schwarzkopf (am Bettchen, gedämpft). Es ist nichts mehr zu wollen. Das Kind ist tot.

Klara (schreit jämmerlich auf).

Dr. Schwarzkopf (nimmt sie in die Arme und richtet sie sorglich empor). Nun kommen Sie, Fräulein Klara! Unser Patient sind jetzt Sie! Wir haben jetzt sehr ernst miteinander zu sprechen, und wir haben noch sehr, sehr viel miteinander zu sprechen. Schreien Sie nur, so laut Sie schreien mögen! Tun Sie sich uns gegenüber nicht den geringsten Zwang an! Weinen Sie sich jetzt aus, so viel und so heftig Sie nur weinen können! – (Zu der Vermieterin) Tragen Sie das Wasser wieder hinunter!

Die Vermieterin (nimmt den Kübel mit Wasser vom Boden und trägt ihn hinaus).

Dr. Schwarzkopf (Klara, die ihr Gesicht wimmernd an seiner Brust birgt, den Kopf streichelnd). Nur weinen! Recht viel weinen! – Sehen Sie, Fräulein Klara, wenn man so liebe und so treue Freunde in dieser Welt sein eigen nennt wie Sie, dann ist es ja unmöglich, daß es einem in Wirklichkeit einmal schlecht geht! Glauben Sie mir, Fräulein Klara, daß ich aus meiner Erfahrung weiß, wie das wirkliche Unglück aussieht! Dagegen gehalten sind Ihre Erlebnisse noch nicht so schwer. – Aber es schüttelt Sie eben doch, es reißt Sie innerlich zusammen, es würgt Ihnen den Hals ein! – Dafür haben Sie eben augenblicklich auch all Ihr aufgepeitschtes Blut im Kopf! – Weinen Sie nur, wir bleiben bei Ihnen! Sie müssen sich jetzt erst wieder vollständig gesund und vollkommen glücklich fühlen! Was Sie in den letzten Wochen erlebt, muß Ihnen ganz und gar aus dem Gedächtnis entschwunden sein, bevor wir Sie aus unserer Gefangenschaft entlassen! – So, und jetzt setzen Sie sich, bitte, in diesen Polstersessel. (Er hat einen Strohstuhl zurechtgerückt und läßt Klara sich darauf niedersetzen. Ihr fortwährend Gesicht und Hände streichelnd) Sehen Sie, Fräulein Klara, Sie haben – genau betrachtet – wirklich ein ganz unverhofftes Glück gehabt! An Ihrer Stelle würde ich dem lieben Gott aufrichtig für seine barmherzige Fügung danken. Das Kind, dessen Verlust Ihnen jetzt noch so erbarmungslos das Herz zerfleischt, das liebe Kind wäre in dieser Welt doch wahrscheinlich niemals recht glücklich geworden! Ich als Arzt kann Ihnen die Versicherung geben, daß das herzige, gute Geschöpfchen, ohne es zu ahnen, den besten Weg gewählt hat, der ihm zu seinem Glück offen stand. – Weinen Sie, Fräulein Klara! – Weinen Sie, wir haben Zeit.

Else (gedämpft). Unter diesen Verhältnissen, Josef, werden wir heute doch jedenfalls noch bei ihr bleiben müssen!

Josef (ebenso). Selbstverständlich bleiben wir hier! Es ist mir unbegreiflich, wie du daran zweifeln kannst!

Dr. Schwarzkopf (Klara den Kopf streichelnd). Weinen Sie jetzt nur ruhig so weiter. (Er geht zu Josef hinüber und sagt leise, aber mit Nachdruck) Das Mädchen darf diese Nacht unter keinen Umständen allein bleiben! Wie ich eben an dem starren glanzlosen Ausdruck ihrer Augen merke, bereitet sich in ihrem Nervensystem ein jäher Zusammenbruch vor. Dieser Nervenschlag könnte sich in vorübergehender geistiger Umnachtung äußern. Jedenfalls muß das Mädchen vor jeder Gemütserschütterung bewahrt bleiben. Die geistige Störung könnte sonst mit Leichtigkeit eine lebenslängliche Schwermut zur Folge haben.

Josef (während Else zu Klara hinübergeht). Es versteht sich ganz von selbst, Herr Doktor, daß wir die nächsten Tage hier bleiben. Aber was geschieht jetzt mit dem Kind? Man muß die Unglückliche doch jedenfalls baldmöglichst von dem fürchterlichen Anblick befreien.

Dr. Schwarzkopf (immer noch leise sprechend). Das muß natürlich das erste sein. (Seinen Havelock anziehend) Ich schicke jetzt gleich die Vermieterin von unten herauf, damit sie das Kind möglichst unauffällig hinausträgt. Derweil stelle ich auf der Gemeindekanzlei den Schein aus und besorge beim Tischler einen kleinen Sarg. Sobald es dunkel geworden ist, tragen wir, Sie und ich, das Kind dann zum Friedhof hinaus. Ich muß Sie aber noch einmal darauf aufmerksam machen, Herr Professor, bewahren Sie das Mädchen vor jeder Art von Aufregung! Ich halte es für sehr gut möglich. daß man einem plötzlichen Nervenkollaps durch gute Pflege und umsichtige liebevolle Behandlung vorbeugen kann. Aber bei dem kritischen Zustand, in dem sich das Mädchen augenblicklich befindet, würde die geringste seelische Erschütterung mit absoluter Sicherheit einen Wahnsinnsanfall auslösen. (Ihm die Hand drückend) Aus Wiedersehn! Für die nächste Nacht bekommt sie ohne ihr Wissen ein kräftiges Schlafmittel zu trinken.

Vierte Szene

(Frau Oberst Hühnerwadel. Franz Lindekuh. Die Vorigen)

Frau Oberst (eine hochgewachsene Dame von sechzig Jahren, öffnet die Tür und sagt). Und in dieser jämmerlichen Dachkammer!

Klara (die inzwischen mit blöden Augen vor sich hingestarrt hat, mit einem Aufschrei emporfahrend) Da ist meine Mutter!

Frau Oberst (ist rasch auf sie zugeeilt und schließt sie in die Arme). Mein Kind! Mein inniggeliebtes Kind! So habe ich dich endlich wieder!

Klara (gleitet wimmernd an ihr herab, bis sie mit dem Gesicht den Boden berührt). Mutter! Meine Mutter! Bin ich denn noch wert, deine Füße zu umklammern!

Frau Oberst (richtet sie zärtlich auf). Ermanne dich, mein Kind. Wirf dich vor Gott in die Kniee! Ich bin deinesgleichen, dein Fleisch und Blut, ich bin doch deine Mutter! Ich weiß ja alles, was du mir zu sagen hast; weiß alles, was du gelitten hast! Nimm dein Kind in den Arm und komm! Du und dein Kind, ihr sollt die glücklichsten Tage in deinem väterlichen Hause erleben!

Klara (aufschreiend). Mutter, mein Kind ist tot! (Zum Bettchen eilend) Hier liegt mein Kind! Es ist kalt! Es hat keine Spur von Wärme mehr in sich! Mutter, was ich um dieses Kind gelitten habe, das hast du um mich nicht gelitten, als du mich gebarst! Und jetzt ist es hin! Alles hin! Alles, alles hin!

Frau Oberst (zum Bettchen gehend und sich in maßlosem Erstaunen zu Lindekuh zurückwendend). Das Kind ist tot!? – Und das können Sie mir verschweigen?!

Lindekuh. Das wolle Gott im Himmel nicht, daß das Kind nicht mehr lebt!

Dr. Schwarzkopf (gedämpft). Es ist vor zehn Minuten einem unheilvollen Magen- und Darmkatarrh erlegen. Ich hätte ihm vielleicht noch eine Kampfereinspritzung geben können. Der rasche Verlauf ließ mir keine Zeit dazu.

Frau Oberst. Klara! Klara! Jetzt erfaßt mich ein entsetzliches Grauen! (Zu Lindekuh). Rührt Sie denn dieses Schicksal nicht?!

Lindekuh. Ich bin wortlos . . .

Frau Oberst. Wortlos sind Sie?! – Das Schicksal meiner Tochter rührt Sie so wenig, als wäre in Ihrer Abwesenheit ein Apfel vom Baum gefallen! Reden Sie mich nicht mehr an! Ich habe bei uns in der Schweiz schon die empörendsten Ruchlosigkeiten über Sie gehört! Aber Ihr persönliches Benehmen verwandelt mir das Blut in Eiskörner!

Klara (aufspringend). Laß mich allein, Mutter! Laßt mich alle allein! Laßt mich allein, damit ich endlich, endlich, endlich wahnsinnig werden kann!

Frau Oberst (sie in die Arme schließend). Soweit hat dich sein Satanismus also glücklich gebracht. (Zu Lindekuh) Helfen Sie mir jetzt doch wenigstens mein Kind zu beruhigen, nachdem Sie mein Kind so grenzenlos unglücklich gemacht haben!

Klara (sich losreißend). Die Qualen, die mich zu Boden rissen, werden lächerlich! Meine Höllenleiden verkehren sich in Lächerlichkeit! Das ist übermenschlich! Was umschlingt mich! Was packt mich denn an! Ein namenloser Ekel vor dem schauerlichen Los, unter schallendem Hohngelächter zu Tode gefoltert zu werden!

Dr. Schwarzkopf (versucht sie in die Arme zu schließen). Weinen Sie, Fräulein Klara! Weinen Sie! (Nachdem ihn Klara zurückgestoßen, für sich) Das ist ein Unglück, das ich bei so manchem Unglücksfall erlebe, daß das Unglück gerade im unglücklichsten Augenblick anfängt, lächerlich zu werden!

Frau Oberst (sucht Klara aufzuhalten, jammernd). Gibt es denn für deine Mutter gar keine Möglichkeit, mit dir, mein liebes Kind, allein zu sein!

Josef (sich kühl verbeugend). Ich war drei Jahre hindurch der Lehrer Ihrer Tochter . . .

Frau Oberst. Aus vollem Herzen danke ich Ihnen, Herr Professor, für alles was Sie in den drei Jahren an meiner Tochter getan haben.

Klara (aufschreiend, auf und nieder rennend). Drei Jahre hindurch habe ich, ohne zugrunde zu gehen, das gräßlichste Unglück ertragen, das einem Weibe beschieden sein kann! Das war zu wenig! Das war zu wenig! Mir war noch übrig, in meinem Unglück verhöhnt zu werden! Das irdische Denken reicht nicht bis zu dem Gedanken aus, daß es solche Qualen gibt. Ich stehe am Schandpfahl! Und kein Erwürgen möglich. Kein Selbstmord mehr! Gelächter über mir! Gelächter unter mir! Gelächter! Gelächter! (Sie heult in fürchterlichem Schmerz auf und sinkt zu Boden) Die Menschen bekommen Krämpfe vor Lachen, wenn sie die Erzählung meiner Qualen hören!

Dr. Schwarzkopf (leise zu Josef). Jetzt gehen Sie aber bitte, ohne sich zu verabschieden!

Josef. Ich möchte mich durchaus nicht aufdrängen. – Komm, Else!

(Else und Josef ab)

Dr. Schwarzkopf (zur Frau Oberst, die in einem Sessel zusammengesunken ist). Frau Oberst, ich erwarte jetzt die tatkräftigste Entschlossenheit von Ihnen! Für die Bestattung dieses unglücklichen Wesens werden Herr Lindekuh und ich Sorge tragen. Nehmen Sie jetzt Ihre Tochter, wenn Sie ihr Leben retten wollen, besinnungslos, wie sie daliegt, vom Boden auf und bringen Sie sie, ohne sie zur Besinnung kommen zu lassen, zur Bahn! Dann fahren Sie, ohne sich einen Aufenthalt zu gestatten, mit ihr in die Schweiz und pflegen Sie sie bei sich zu Hause so gut, wie man ein todkrankes Kind nur irgendwie pflegen kann! (Klara vom Boden aufhebend) Stehen Sie jetzt rasch auf, Fräulein Klara. So rasch wie möglich! (Eine wollene Decke von ihrem Bett nehmend) Wickeln Sie sich fest in diesen Reiseplaid, und nun gehen Sie mit Ihrer lieben Mutter! Herr Lindekuh und ich kommen Ihnen gleich nach, um Ihnen die Fahrkarten zu besorgen! Halten Sie sich nicht mehr auf, meine Damen! (Er geleitet die Damen hinaus. – Zurückkommend zu Lindekuh) Ich hoffe zuversichtlich, daß dieser erste Anfall keine dauernde Geistesstörung zur Folge hat.

Lindekuh. Die kann ein Lied singen!

 
Ende


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