Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Akt

Erste Szene

Konferenzzimmer. – An den Wänden die Bildnisse von Pestalozzi und J. J. Rousseau. Um einen grünen Tisch, über dem mehrere Gasflammen brennen, sitzen die Professoren Affenschmalz, Knüppeldick, Hungergurt, Knochenbruch, Zungenschlag und Fliegentod. Am oberen Ende auf erhöhtem Sessel Rektor Sonnenstich. Pedell Habebald kauert neben der Tür.

Sonnenstich ... Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? – – Meine Herren! – Wenn wir nicht umhinkönnen, bei einem hohen Kultusministerium die Relegation unseres schuldbeladenen Schülers zu beantragen, so können wir das aus den schwerwiegendsten Gründen nicht. Wir können es nicht, um das bereits hereingebrochene Unglück zu sühnen, wir können es ebensowenig, um unsere Anstalt für die Zukunft vor ähnlichen Schlägen sicherzustellen. Wir können es nicht, um unsern schuldbeladenen Schüler für den demoralisierenden Einfluß, den er auf seinen Klassengenossen ausgeübt, zu züchtigen; wir können es zuallerletzt, um ihn zu verhindern, den nämlichen Einfluß auf seine übrigen Klassengenossen auszuüben. Wir können es – und der, meine Herren, möchte der schwerwiegendste sein – aus dem jeden Einwand niederschlagenden Grunde nicht, weil wir unsere Anstalt vor den Verheerungen einer Selbstmordepidemie zu schützen haben, wie sie bereits an verschiedenen Gymnasien zum Ausbruch gelangt und bis heute allen Mitteln, den Gymnasiasten an seine durch seine Heranbildung zum Gebildeten gebildeten Existenzbedingungen zu fesseln, gespottet hat. Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?

Knüppeldick Ich kann mich nicht länger der Überzeugung verschließen, daß es endlich an der Zeit wäre, irgendwo ein Fenster zu öffnen.

Zungenschlag Es he-herrscht hier ein A-A-Atmosphäre wie in unterirdischen Kata-Katakomben, wie in den A-Aktensälen des weiland Wetzlarer Ka-Ka-Ka-Ka-Kammergerichtes.

Sonnenstich Habebald!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Öffnen Sie ein Fenster! Wir haben Gott sei Dank Atmosphäre genug draußen. – Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?

Fliegentod Wenn meine Herren Kollegen ein Fenster öffnen lassen wollen, so habe ich meinerseits nichts dagegen einzuwenden. Nur möchte ich bitten, das Fenster nicht gerade hinter meinem Rücken öffnen lassen zu wollen!

Sonnenstich Habebald!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Öffnen Sie das andere Fenster! – – Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben?

Hungergurt Ohne die Kontroverse meinerseits belasten zu wollen, möchte ich an die Tatsache erinnern, daß das andere Fenster seit den Herbstferien zugemauert ist.

Sonnenstich Habebald!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Lassen Sie das andere Fenster geschlossen! – Ich sehe mich genötigt, meine Herren, den Antrag zur Abstimmung zu bringen. Ich ersuche diejenigen Herren Kollegen, die dafür sind, daß das einzig in Frage kommen könnende Fenster geöffnet werde, sich von ihren Sitzen zu erheben. Er zählt. – Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. – Habebald!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Lassen Sie das eine Fenster gleichfalls geschlossen! – Ich meinerseits hege die Überzeugung, daß die Atmosphäre nichts zu wünschen übrigläßt! – – Sollte einer der Herren noch etwas zu bemerken haben? – – Meine Herren! – Setzen wir den Fall, daß wir die Relegation unseres schuldbeladenen Schülers bei einem hohen Kultusministerium zu beantragen unterlassen, so wird uns ein hohes Kultusministerium für das hereingebrochene Unglück verantwortlich machen. Von den verschiedenen von der Selbstmord-Epidemie heimgesuchten Gymnasien sind diejenigen, in denen fünfundzwanzig Prozent den Verheerungen zum Opfer gefallen, von einem hohen Kultusministerium suspendiert worden. Vor diesem erschütterndsten Schlage unsere Anstalt zu bewahren, ist unsere Pflicht als Hüter und Bewahrer unserer Anstalt. Es schmerzt uns tief, meine Herren Kollegen, daß wir die sonstige Qualifikation unseres schuldbeladenen Schülers als mildernden Umstand gelten zu lassen nicht in der Lage sind. Ein nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen Schüler gegenüber rechtfertigen ließe, ließe sich der zur Zeit in denkbar bedenklichster Weise gefährdeten Existenz unserer Anstalt gegenüber nicht rechtfertigen. Wir sehen uns in die Notwendigkeit versetzt, den Schuldbeladenen zu richten, um nicht als die Schuldlosen gerichtet zu werden. – Habebald!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Führen Sie ihn herauf!

Habebald ab.

Zungenschlag Wenn die he-herrschende A-A-A-Atmosphäre maßgebenderseits wenig oder nichts zu wünschen übrigläßt, so möchte ich den Antrag stellen, während der So-Sommerferien auch noch das andere Fenster zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zu-zuzumauern!

Fliegentod Wenn unserem lieben Kollega Zungenschlag unser Lokal nicht genügend ventiliert erscheint, so möchte ich den Antrag stellen, unserm lieben Herrn Kollega Zungenschlag einen Ventilator in die Stirnhöhle applizieren zu lassen.

Zungenschlag Da-Da-das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! – Gro-Grobheiten brauche ich mir nicht gefallen zu lassen! Ich bin meiner fü-fü-fü-fü-fünf Sinne mächtig...!

Sonnenstich Ich muß unsere Herren Kollegen Fliegentod und Zungenschlag um einigen Anstand ersuchen. Unser schuldbeladener Schüler scheint mir bereits auf der Treppe zu sein.

Habebald öffnet die Türe, worauf Melchior, bleich, aber gefaßt, vor die Versammlung tritt.

Sonnenstich Treten Sie näher an den Tisch heran! – Nachdem Herr Rentier Stiefel von dem ruchlosen Frevel seines Sohnes Kenntnis erhalten, durchsuchte der fassungslose Vater, in der Hoffnung, auf diesem Wege möglicherweise dem Anlaß der verabscheuungswürdigen Untat auf die Spur zu kommen, die hinterlassenen Effekten seines Sohnes Moritz und stieß dabei an einem nicht zur Sache gehörigen Orte auf ein Schriftstück, welches uns, ohne noch die verabscheuungswürdige Untat an sich verständlich zu machen, für die dabei maßgebend gewesene moralische Zerrüttung des Untäters eine leider nur allzu ausreichende Erklärung liefert. Es handelt sich um eine in Gesprächsform abgefaßte, »Der Beischlaf« betitelte, mit lebensgroßen Abbildungen versehene, von den schamlosesten Unflätereien strotzende, zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten Anforderungen, die ein verworfener Lüstling an eine unzüchtige Lektüre zu stellen vermöchte, entsprechen dürfte. –

Melchior Ich habe...

Sonnenstich Sie haben sich ruhig zu verhalten! – Nachdem Herr Rentier Stiefel uns fragliches Schriftstück ausgehändigt und wir dem fassungslosen Vater das Versprechen erteilt, um jeden Preis den Autor zu ermitteln, wurde die uns vorliegende Handschrift mit den Handschriften sämtlicher Mitschüler des weiland Ruchlosen verglichen und ergab nach dem einstimmigen Urteil der gesamten Lehrerschaft sowie in vollkommenem Einklang mit dem Spezial-Gutachten unseres geschätzten Herrn Kollegen für Kalligraphie die denkbar bedenklichste Ähnlichkeit mit der Ihrigen. –

Melchior Ich habe...

Sonnenstich Sie haben sich ruhig zu verhalten! – Ungeachtet der erdrückenden Tatsache der von seiten unantastbarer Autoritäten anerkannten Ähnlichkeit glauben wir uns vorderhand noch jeder weiteren Maßnahmen enthalten zu dürfen, um in erster Linie den Schuldigen über das ihm demgemäß zur Last fallende Vergehen wider die Sittlichkeit in Verbindung mit daraus resultierender Veranlassung zur Selbstentleibung ausführlich zu vernehmen.

Melchior Ich habe...

Sonnenstich Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen der Reihe nach vorlege, eine um die andere, mit einem schlichten und bescheidenen »Ja« oder »Nein« zu beantworten. Habebald!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Die Akten! – – Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega Fliegentod, von nun an möglichst wortgetreu zu protokollieren. – Zu Melchior Kennen Sie dieses Schriftstück?

Melchior Ja.

Sonnenstich Wissen Sie, was dieses Schriftstück enthält?

Melchior Ja.

Sonnenstich Ist die Schrift dieses Schriftstücks die Ihrige?

Melchior Ja.

Sonnenstich Verdankt dieses unflätige Schriftstück Ihnen seine Abfassung?

Melchior Ja. – Ich ersuche Sie, Herr Rektor, mir eine Unflätigkeit darin nachzuweisen.

Sonnenstich Sie haben die genau präzisierten Fragen, die ich Ihnen vorlege, mit einem schlichten und bescheidenen »Ja« oder »Nein« zu beantworten!

Melchior Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen sehr wohlbekannte Tatsache ist!

Sonnenstich Dieser Schandbube!!

Melchior Ich ersuche Sie, mir einen Verstoß gegen die Sittlichkeit in der Schrift zu zeigen!

Sonnenstich Bilden Sie sich ein, ich hätte Lust, zu Ihrem Hanswurst an Ihnen zu werden?! – Habebald...

Melchior Ich habe...

Sonnenstich Sie haben so wenig Ehrerbietung vor der Würde Ihrer versammelten Lehrerschaft, wie Sie Anstandsgefühl für das dem Menschen eingewurzelte Empfinden für die Diskretion der Verschämtheit einer sittlichen Weltordnung haben! – Habebald!!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Es ist ja der Langenscheidt zur dreistündigen Erlernung des agglutinierenden Volapük!

Melchior Ich habe...

Sonnenstich Ich ersuche unseren Schriftführer, Herrn Kollega Fliegentod, das Protokoll zu schließen!

Melchior Ich habe...

Sonnenstich Sie haben sich ruhig zu verhalten!! – Habebald!

Habebald Befehlen, Herr Rektor!

Sonnenstich Führen Sie ihn hinunter!

Zweite Szene

Friedhof in strömendem Regen. – Vor einem offenen Grabe steht Pastor Kahlbauch, den aufgespannten Schirm in der Hand. Zu seiner Rechten Rentier Stiefel, dessen Freund Ziegenmelker und Onkel Probst. Zur Linken Rektor Sonnenstich mit Professor Knochenbruch. Gymnasiasten schließen den Kreis. In einiger Entfernung vor einem halbverfallenen Grabmonument Martha und Ilse.

Pastor Kahlbauch ... Denn wer die Gnade, mit der der ewige Vater den in Sünden Geborenen gesegnet, von sich wies, er wird des geistigen Todes sterben! – Wer aber in eigenwilliger fleischlicher Verleugnung der Gott gebührenden Ehre dem Bösen gelebt und gedient, er wird des leiblichen Todes sterben! – Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, wahrlich, wahrlich, ich sage euch, der wird des ewigen Todes sterben! – Er wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft. – Uns aber, die wir fort und fort wallen den Dornenpfad, lasset den Herrn, den allgütigen, preisen und ihm danken für seine unerforschliche Gnadenwahl. Denn so wahr dieser eines dreifachen Todes starb, so wahr wird Gott der Herr den Gerechten einführen zur Seligkeit und zum ewigen Leben. – Amen.

Rentier Stiefel Mit tränenerstickter Stimme, wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft Der Junge war nicht von mir! Der Junge war nicht von mir! Der Junge hat mir von kleinauf nicht gefallen!

Rektor Sonnenstich wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft Der Selbstmord als der denkbar bedenklichste Verstoß gegen die sittliche Weltordnung ist der denkbar bedenklichste Beweis für die sittliche Weltordnung, indem der Selbstmörder der sittlichen Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart und ihr Bestehen bestätigt.

Professor Knochenbruch wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft Verbummelt – versumpft – verhurt – verlumpt – und verludert!

Onkel Probst wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft Meiner eigenen Mutter hätte ich's nicht geglaubt, daß ein Kind so niederträchtig an seinen Eltern zu handeln vermöchte!

Freund Ziegenmelker wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft An einem Vater zu handeln vermöchte, der nun seit zwanzig Jahren von früh bis spät keinen Gedanken mehr hegt als das Wohl seines Kindes!

Pastor Kahlbauch Rentier Stiefel die Hand drückend Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. I. Korinth. 12, 15. – Denken Sie der trostlosen Mutter, und suchen Sie ihr das Verlorene durch verdoppelte Liebe zu ersetzen!

Rektor Sonnenstich Rentier Stiefel die Hand drückend Wir hätten ihn ja wahrscheinlich doch nicht promovieren können!

Professor Knochenbruch Rentier Stiefel die Hand drückend Und wenn wir ihn promoviert hätten, im nächsten Frühling wäre er des allerbestimmtesten sitzengeblieben!

Onkel Probst Rentier Stiefel die Hand drückend Jetzt hast du vor allem die Pflicht, an dich zu denken. Du bist Familienvater...!

Freund Ziegenmelker Rentier Stiefel die Hand drückend Vertraue dich meiner Führung! – Ein Hundewetter, daß einem die Därme schlottern! – Wer da nicht unverzüglich mit einem Grog eingreift, hat seine Herzklappenaffektion weg!

Rentier Stiefel sich die Nase schneuzend Der Junge war nicht von mir... der Junge war nicht von mir...

Rentier Stiefel, geleitet von Pastor Kahlbauch, Rektor Sonnenstich, Professor Knochenbruch, Onkel Probst und Freund Ziegenmelker, ab. Der Regen läßt nach.

Hänschen Rilow wirft eine Schaufel voll Erde in die Gruft Ruhe in Frieden, du ehrliche Haut! – Grüße mir meine ewigen Bräute hingeopferten Angedenkens, und empfiehl mich ganz ergebenst zu Gnaden dem lieben Gott – armer Tolpatsch du! – Sie werden dir um deiner Engelseinfalt willen noch eine Vogelscheuche aufs Grab setzen...

Georg Hat sich die Pistole gefunden?

Robert Man braucht keine Pistole zu suchen!

Ernst Hast du ihn gesehen, Robert?

Robert Verfluchter, verdammter Schwindel! – Wer hat ihn gesehen? – Wer denn?!

Otto Da steckt's nämlich! – Man hatte ihm ein Tuch übergeworfen.

Georg Hing die Zunge heraus?

Robert Die Augen! – Deshalb hatte man das Tuch drübergeworfen.

Otto Grauenhaft!

Hänschen Rilow Weißt du bestimmt, daß er sich erhängt hat?

Ernst Man sagt, er habe gar keinen Kopf mehr.

Otto Unsinn! – Gewäsch!

Robert Ich habe ja den Strick in Händen gehabt! – Ich habe noch keinen Erhängten gesehen, den man nicht zugedeckt hätte.

Georg Auf gemeinere Art hätte er sich nicht empfehlen können!

Hänschen Rilow Was Teufel, das Erhängen soll ganz hübsch sein!

Otto Mir ist er nämlich noch fünf Mark schuldig. Wir hatten gewettet. Er schwor, er werde sich halten.

Hänschen Rilow Du bist schuld, daß er daliegt. Du hast ihn Prahlhans genannt.

Otto Papperlapapp, ich muß auch büffeln die Nächte durch. Hätte er die griechische Literaturgeschichte gelernt, er hätte sich nicht zu erhängen brauchen!

Ernst Hast du den Aufsatz, Otto?

Otto Erst die Einleitung.

Ernst Ich weiß gar nicht, was schreiben.

Georg Warst du denn nicht da, als uns Affenschmalz die Disposition gab?

Hänschen Rilow Ich stopsle mir was aus dem Demokrit zusammen.

Ernst Ich will sehen, ob sich im Kleinen Meyer was finden läßt.

Otto Hast du den Vergil schon auf morgen? – – –

Die Gymnasiasten ab. – Martha und Ilse kommen ans Grab.

Ilse Rasch, rasch! – Dort hinten kommen die Totengräber.

Martha Wollen wir nicht lieber warten, Ilse?

Ilse Wozu? – Wir bringen neue. Immer neue und neue! – Es wachsen genug.

Martha Du hast recht, Ilse! – Sie wirft einen Efeukranz in die Gruft. Ilse öffnet ihre Schürze und läßt eine Fülle frischer Anemonen auf den Sarg regnen.

Martha Ich grabe unsere Rosen aus. Schläge bekomme ich ja doch! – Hier werden sie gedeihen.

Ilse Ich will sie begießen, sooft ich vorbeikomme. Ich hole Vergißmeinnicht vom Goldbach herüber, und Schwertlilien bringe ich von Hause mit.

Martha Es soll eine Pracht werden! Eine Pracht!

Ilse Ich war schon über der Brücke drüben, da hört' ich den Knall.

Martha Armes Herz!

Ilse Und ich weiß auch den Grund, Martha.

Martha Hat er dir was gesagt?

Ilse Parallelepipedon! Aber sag es niemandem.

Martha Meine Hand darauf.

Ilse – Hier ist die Pistole.

Martha Deshalb hat man sie nicht gefunden!

Ilse Ich nahm sie ihm gleich aus der Hand, als ich am Morgen vorbeikam.

Martha Schenk sie mir, Ilse! – Bitte, schenk sie mir!

Ilse Nein, die behalt' ich zum Andenken.

Martha Ist's wahr, Ilse, daß er ohne Kopf drinliegt?

Ilse Er muß sie mit Wasser geladen haben! – Die Königskerzen waren über und über mit Blut besprengt. Sein Hirn hing in den Weiden umher.

Dritte Szene

Herr und Frau Gabor.

Frau Gabor ... Man hatte einen Sündenbock nötig. Man durfte die überall lautwerdenden Anschuldigungen nicht auf sich beruhen lassen. Und nun mein Kind das Unglück gehabt, den Zöpfen im richtigen Moment in den Schuß zu laufen, nun soll ich, die eigene Mutter, das Werk seiner Henker vollenden helfen? Bewahre mich Gott davor!

Herr Gabor – Ich habe deine geistvolle Erziehungsmethode vierzehn Jahre schweigend mit angesehen. Sie widersprach meinen Begriffen. Ich hatte von jeher der Überzeugung gelebt, ein Kind sei kein Spielzeug; ein Kind habe Anspruch auf unsern heiligen Ernst. Aber ich sagte mir, wenn der Geist und die Grazie des einen die ernsten Grundsätze eines andern zu ersetzen imstande sind, so mögen sie den ernsten Grundsätzen vorzuziehen sein. – – Ich mache dir keinen Vorwurf, Fanny. Aber vertritt mir den Weg nicht, wenn ich dein und mein Unrecht an dem Jungen gutzumachen suche!

Frau Gabor Ich vertrete dir den Weg, solange ein Tropfen warmen Blutes in mir wallt! In der Korrektionsanstalt ist mein Kind verloren. Eine Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern lassen. Ich weiß es nicht. Ein gutgearteter Mensch wird so gewiß zum Verbrecher darin, wie die Pflanze verkommt, der du Luft und Sonne entziehst. Ich bin mir keines Unrechtes bewußt. Ich danke heute wie immer dem Himmel, daß er mir den Weg gezeigt, in meinem Kinde einen rechtlichen Charakter und eine edle Denkungsweise zu wecken. Was hat er denn so Schreckliches getan? Es soll mir nicht einfallen, ihn entschuldigen zu wollen – daran, daß man ihn aus der Schule gejagt, trägt er keine Schuld. Und wäre es sein Verschulden, so hat er es ja gebüßt. Du magst das alles besser wissen. Du magst theoretisch vollkommen im Rechte sein. Aber ich kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen!

Herr Gabor Das hängt nicht von uns ab, Fanny. – Das ist ein Risiko, das wir mit unserm Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, solange die Vernunft Mittel weiß. – Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld nicht! – Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige Tändelei, wo es sich um Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen seid nicht berufen, über solche Dinge zu urteilen. Wer das schreiben kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur läßt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen vertritt das Prinzip. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentiert mit schaudererregender Deutlichkeit den aufrichtig gehegten Vorsatz, jene natürliche Veranlagung, jenen Hang zum Unmoralischen, weil es das Unmoralische ist. Seine Schrift manifestiert jene exzeptionelle geistige Korruption, die wir Juristen mit dem Ausdruck »moralischer Irrsinn« bezeichnen. – Ob sich gegen seinen Zustand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht zu sagen. Wenn wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren wollen, und in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit und mit allem Ernste ans Werk zu gehen. – Laß uns nicht länger streiten, Fanny! Ich fühle, wie schwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterst, weil er so ganz deinem genialischen Naturell entspricht. Sei stärker als du! Zeig dich deinem Sohne gegenüber endlich einmal selbstlos!

Frau Gabor Hilf mir Gott, wie läßt sich dagegen aufkommen! – Man muß ein Mann sein, um so sprechen zu können! Man muß ein Mann sein, um sich so vom toten Buchstaben verblenden lassen zu können! Man muß ein Mann sein, um so blind das in die Augen Springende nicht zu sehn! – Ich habe gewissenhaft und besonnen an Melchior gehandelt vom ersten Tag an, da ich ihn für die Eindrücke seiner Umgebung empfänglich fand. Sind wir denn für den Zufall verantwortlich? Dir kann morgen ein Dachziegel auf den Kopf fallen, und dann kommt dein Freund – dein Vater, und statt deine Wunde zu pflegen, setzt er den Fuß auf dich! – Ich lasse mein Kind nicht vor meinen Augen hinmorden. Dafür bin ich seine Mutter. – Es ist unfaßbar! Es ist gar nicht zu glauben. Was schreibt er denn in aller Welt! Ist's denn nicht der eklatanteste Beweis für seine Harmlosigkeit, für seine Dummheit, für seine kindliche Unberührtheit, daß er so etwas schreiben kann! – Man muß keine Ahnung von Menschenkenntnis besitzen – man muß ein vollständig entseelter Bürokrat oder ganz nur Beschränktheit sein, um hier moralische Korruption zu wittern! – – Sag, was du willst. Wenn du Melchior in die Korrektionsanstalt bringst, dann sind wir geschieden! Und dann laß mich sehen, ob ich nicht irgendwo in der Welt Hilfe und Mittel finde, mein Kind seinem Untergang zu entreißen.

Herr Gabor Du wirst dich drein schicken müssen – wenn nicht heute, dann morgen. Leicht wird es keinem, mit dem Unglück zu diskontieren. Ich werde dir zur Seite stehen und, wenn dein Mut zu erliegen droht, keine Mühe und kein Opfer scheuen, dir das Herz zu entlasten. Ich sehe die Zukunft so grau, so wolkig – es fehlte nur noch, daß auch du mir noch verlorengingst.

Frau Gabor Ich sehe ihn nicht wieder; ich sehe ihn nicht wieder. Er erträgt das Gemeine nicht. Er findet sich nicht ab mit dem Schmutz. Er zerbricht den Zwang; das entsetzlichste Beispiel schwebt ihm vor Augen! – Und sehe ich ihn wieder – Gott, Gott, dieses frühlingsfrohe Herz – sein helles Lachen – alles, alles – seine kindliche Entschlossenheit, mutig zu kämpfen für Gut und Recht – o dieser Morgenhimmel, wie ich ihn licht und rein in seiner Seele gehegt als mein höchstes Gut... Halte dich an mich, wenn das Unrecht um Sühne schreit! Halte dich an mich! Verfahre mit mir, wie du willst! Ich trage die Schuld. – Aber laß deine fürchterliche Hand von dem Kind weg.

Herr Gabor Er hat sich vergangen!

Frau Gabor Er hat sich nicht vergangen!

Herr Gabor Er hat sich vergangen! – – – Ich hätte alles darum gegeben, es deiner grenzenlosen Liebe ersparen zu dürfen. – – Heute morgen kommt eine Frau zu mir, vergeistert, kaum ihrer Sprache mächtig, mit diesem Brief in der Hand – einem Brief an ihre fünfzehnjährige Tochter. Aus dummer Neugierde habe sie ihn erbrochen; das Mädchen war nicht zu Haus. – In dem Brief erklärte Melchior dem fünfzehnjährigen Kind, daß ihm seine Handlungsweise keine Ruhe lasse, er habe sich an ihr versündigt usw. usw., werde indessen natürlich für alles einstehen. Sie möge sich nicht grämen, auch wenn sie Folgen spüre. Er sei bereits auf dem Wege, Hilfe zu schaffen; seine Relegation erleichtere ihm das. Der ehemalige Fehltritt könne noch zu ihrem Glücke führen – und was des unsinnigen Gewäsches mehr ist.

Frau Gabor Unmöglich!!

Herr Gabor Der Brief ist gefälscht. Es liegt Betrug vor. Man sucht eine stadtbekannte Relegation nutzbar zu machen. Ich habe mit dem Jungen noch nicht gesprochen – aber sieh bitte die Hand! Sieh die Schreibweise!

Frau Gabor Ein unerhörtes, schamloses Bubenstück!

Herr Gabor Das fürchte ich!

Frau Gabor Nein, nein – nie und nimmer!

Herr Gabor Um so besser wird es für uns sein. – Die Frau fragt mich händeringend, was sie tun solle. Ich sagte ihr, sie solle ihre fünfzehnjährige Tochter nicht auf Heuböden herumklettern lassen. Den Brief hat sie mir glücklicherweise dagelassen. – Schicken wir Melchior nun auf ein anderes Gymnasium, wo er nicht einmal unter elterlicher Aufsicht steht, so haben wir in drei Wochen den nämlichen Fall – neue Relegation – sein frühlingsfreudiges Herz gewöhnt sich nachgerade daran. – Sag mir, Fanny, wo soll ich hin mit dem Jungen?!

Frau Gabor – In die Korrektionsanstalt –

Herr Gabor In die...?

Frau Gabor ... Korrektionsanstalt!

Herr Gabor Er findet dort in erster Linie, was ihm zu Hause ungerechterweise vorenthalten wurde: eherne Disziplin, Grundsätze und einen moralischen Zwang, dem er sich unter allen Umständen zu fügen hat. – Im übrigen ist die Korrektionsanstalt nicht der Ort des Schreckens, den du dir darunter denkst. Das Hauptgewicht legt man in der Anstalt auf Entwicklung einer christlichen Denk- und Empfindungsweise. Der Junge lernt dort endlich das Gute wollen statt des Interessanten und bei seinen Handlungen nicht sein Naturell, sondern das Gesetz in Frage ziehen. – Vor einer halben Stunde erhalte ich ein Telegramm von meinem Bruder, das mir die Aussagen der Frau bestätigt. Melchior hat sich ihm anvertraut und ihn um 200 Mark zur Flucht nach England gebeten...

Frau Gabor bedeckt ihr Gesicht Barmherziger Himmel!

Vierte Szene

Korrektionsanstalt. – Ein Korridor. – Diethelm, Reinhold, Ruprecht, Helmuth, Gaston und Melchior.

Diethelm Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!

Reinhold Was soll's damit?

Diethelm Ich lege es auf den Boden. Ihr stellt euch drum herum. Wer es trifft, der hat's.

Ruprecht Machst du nicht mit, Melchior?

Melchior Nein, ich danke.

Helmuth Der Joseph!

Gaston Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation hier.

Melchior für sich Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles hält mich im Auge. Ich muß mitmachen – oder die Kreatur geht zum Teufel. – – Die Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. – – Brech' ich den Hals, ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen. – Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier Kenntnisse. – Ich werde ihm die Kapitel von Judas Schnur Thamar, von Moab, von Loth und seiner Sippe, von der Königin Vasti und der Abisag von Sunem zum besten geben. – Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der Abteilung.

Ruprecht Ich hab's!

Helmuth Ich komme noch!

Gaston Übermorgen vielleicht!

Helmuth Gleich! – Jetzt! – O Gott, o Gott...

Alle Summa – summa cum laude!!

Ruprecht das Stück nehmend Danke schön!

Helmuth Her, du Hund!

Ruprecht Du Schweinetier?

Helmuth Galgenvogel!!

Ruprecht schlägt ihn ins Gesicht Da! Rennt davon.

Helmuth ihm nachrennend Den schlag' ich tot!

Die Übrigen rennen hintendrein Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!

Melchior allein, gegen das Fenster gewandt – Da geht der Blitzableiter hinunter. – Man muß ein Taschentuch drumwickeln. – Wenn ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in den Füßen. – – – Ich gehe zur Redaktion. Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere! – sammle Tagesneuigkeiten – schreibe – lokal – – ethisch – – psychophysisch... man verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, Café Temperence. – Das Haus ist sechzig Fuß hoch, und der Verputz bröckelt ab... Sie haßt mich – sie haßt mich, weil ich sie der Freiheit beraubt. Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung. – Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre allmählich... über acht Tage ist Neumond. Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend muß ich unter allen Umständen wissen, wer den Schlüssel hat. – Sonntag abend in der Andacht kataleptischer Anfall – will's Gott, wird sonst niemand krank! – Alles liegt so klar, als wär' es geschehen, vor mir. Über das Fenstersims gelang' ich mit Leichtigkeit – ein Schwung – ein Griff – aber man muß ein Taschentuch drumwickeln. – – Da kommt der Großinquisitor. Ab nach links.

Dr. Prokrustes mit einem Schlossermeister von rechts.

Dr. Prokrustes ... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock, und unten sind Brennesseln gepflanzt. Aber was kümmert sich die Entartung um Brennesseln. – Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke hinaus, und wir hatten die ganze Schererei mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen...

Der Schlossermeister Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?

Dr. Prokrustes Aus Schmiedeeisen – und, da man sie nicht einlassen kann, vernietet.

Fünfte Szene

Ein Schlafgemach. – Frau Bergmann, Ina Müller und Medizinalrat Dr. v. Brausepulver. Wendla im Bett.

Dr. von Brausepulver Wie alt sind Sie denn eigentlich?

Wendla Vierzehneinhalb.

Dr. von Brausepulver Ich verordne die Blaudschen Pillen seit fünfzehn Jahren und habe in einer großen Anzahl von Fällen die eklatantesten Erfolge beobachtet. Ich ziehe sie dem Lebertran und den Stahlweinen vor. Beginnen Sie mit drei bis vier Pillen pro Tag, und steigern Sie, so rasch Sie es eben vertragen. Dem Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben hatte ich verordnet, jeden dritten Tag um eine Pille zu steigern. Die Baronesse hatte mich mißverstanden und steigerte jeden Tag um drei Pillen. Nach kaum drei Wochen schon konnte sich die Baronesse mit ihrer Frau Mama zur Nachkur nach Pyrmont begeben. Von ermüdenden Spaziergängen und Extramahlzeiten dispensiere ich Sie. Dafür versprechen Sie mir, liebes Kind, sich um so fleißiger Bewegung machen zu wollen und ungeniert Nahrung zu fordern, sobald sich die Lust dazu wieder einstellt. Dann werden diese Herzbeklemmungen bald nachlassen und der Kopfschmerz, das Frösteln, der Schwindel und unsere schrecklichen Verdauungsstörungen. Fräulein Elfriede Baronesse von Witzleben genoß schon acht Tage nach begonnener Kur ein ganzes Brathühnchen mit jungen Pellkartoffeln zum Frühstück.

Frau Bergmann Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Herr Medizinalrat?

Dr. von Brausepulver Ich danke Ihnen, liebe Frau Bergmann. Mein Wagen wartet. Lassen Sie sich's nicht so zu Herzen gehen. In wenigen Wochen ist unsere liebe kleine Patientin wieder frisch und munter wie eine Gazelle. Seien Sie getrost. Guten Tag, Frau Bergmann. Guten Tag, liebes Kind. Guten Tag, meine Damen. Guten Tag. Frau Bergmann geleitet ihn vor die Tür.

Ina am Fenster Nun färbt sich eure Platane schon wieder bunt. Siehst du's vom Bett aus? Eine kurze Pracht, kaum recht der Freude wert, wie man sie so kommen und gehen sieht. Ich muß nun auch bald gehen. Müller erwartet mich vor der Post, und ich muß zuvor noch zur Schneiderin. Mucki bekommt seine ersten Höschen, und Karl soll einen neuen Trikotanzug auf den Winter haben.

Wendla Manchmal wird mir so selig alles Freude und Sonnenglanz. Hätt' ich geahnt, daß es einem so wohl ums Herz werden kann! Ich möchte hinaus, im Abendschein über die Wiesen gehn, Himmelsschlüssel suchen den Fluß entlang und mich ans Ufer setzen und träumen... Und dann kommt das Zahnweh, und ich meine, daß ich morgen am Tag sterben muß; mir wird heiß und kalt, vor den Augen verdunkelt sich's, und dann flattert das Untier herein Sooft ich aufwache, seh' ich Mutter weinen. O, das tut mir so weh ich kann's dir nicht sagen, Ina!

Ina Soll ich dir nicht das Kopfkissen höher legen?

Frau Bergmann kommt zurück Er meint, das Erbrechen werde sich auch geben; und du sollst dann nur ruhig wieder aufstehen... Ich glaube auch, es ist besser, wenn du bald wieder aufstehst, Wendla.

Ina Bis ich das nächste Mal vorspreche, springst du vielleicht schon wieder im Haus herum. Leb wohl, Mutter. Ich muß durchaus noch zur Schneiderin. Behüt' dich Gott, liebe Wendla. Küßt sie. Recht, recht baldige Besserung!

Wendla Leb wohl, Ina. Bring mir Himmelsschlüssel mit, wenn du wiederkommst. Adieu! Grüße deine Jungens von mir.

Ina ab.

Wendla Was hat er noch gesagt, Mutter, als er draußen war?

Frau Bergmann Er hat nichts gesagt. Er sagte, Fräulein von Witzleben habe auch zu Ohnmachten geneigt. Es sei das fast immer so bei der Bleichsucht.

Wendla Hat er gesagt, Mutter, daß ich die Bleichsucht habe?

Frau Bergmann Du sollest Milch trinken und Fleisch und Gemüse essen, wenn der Appetit zurückgekehrt sei.

Wendla O Mutter, Mutter, ich glaube, ich habe nicht die Bleichsucht...

Frau Bergmann Du hast die Bleichsucht, Kind. Sei ruhig, Wendla, sei ruhig; du hast die Bleichsucht.

Wendla Nein, Mutter, nein! Ich weiß es. Ich fühl' es. Ich habe nicht die Bleichsucht. Ich habe die Wassersucht...

Frau Bergmann Du hast die Bleichsucht. Er hat es ja gesagt, daß du die Bleichsucht hast. Beruhige dich, Mädchen. Es wird besser werden.

Wendla Es wird nicht besser werden. Ich habe die Wassersucht. Ich muß sterben, Mutter. O Mutter, ich muß sterben!

Frau Bergmann Du mußt nicht sterben, Kind! Du mußt nicht sterben... Barmherziger Himmel, du mußt nicht sterben!

Wendla Aber warum weinst du dann so jammervoll?

Frau Bergmann Du mußt nicht sterben Kind! Du hast nicht die Wassersucht. Du hast ein Kind, Mädchen! Du hast ein Kind! Oh, warum hast du mir das getan!

Wendla Ich habe dir nichts getan

Frau Bergmann O leugne nicht noch, Wendla! Ich weiß alles. Sieh, ich hätt' es nicht vermocht, dir ein Wort zu sagen. Wendla, meine Wendla...!

Wendla Aber das ist ja nicht möglich, Mutter. Ich bin ja doch nicht verheiratet...!

Frau Bergmann Großer, gewaltiger Gott, das ist's ja, daß du nicht verheiratet bist! Das ist ja das Fürchterliche! Wendla, Wendla, Wendla, was hast du getan!!

Wendla Ich weiß es, weiß Gott, nicht mehr! Wir lagen im Heu... Ich habe keinen Menschen auf dieser Welt geliebt als nur dich, dich, Mutter.

Frau Bergmann Mein Herzblatt

Wendla O Mutter, warum hast du mir nicht alles gesagt!

Frau Bergmann Kind, Kind, laß uns einander das Herz nicht noch schwerer machen! Fasse dich! Verzweifle mir nicht, mein Kind! Einem vierzehnjährigen Mädchen das sagen! Sieh, ich wäre eher darauf gefaßt gewesen, daß die Sonne erlischt. Ich habe an dir nicht anders getan, als meine liebe gute Mutter an mir getan hat. O laß uns auf den lieben Gott vertrauen, Wendla; laß uns auf Barmherzigkeit hoffen und das Unsrige tun! Sieh, noch ist ja nichts geschehen, Kind. Und wenn nur wir jetzt nicht kleinmütig werden, dann wird uns auch der liebe Gott nicht verlassen. Sei mutig, Wendla, sei mutig! – So sitzt man einmal am Fenster und legt die Hände in den Schoß, weil sich doch noch alles zum Guten gewandt, und da bricht's dann herein, daß einem gleich das Herz bersten möchte... Wa was zitterst du?

Wendla Es hat jemand geklopft.

Frau Bergmann Ich habe nichts gehört, liebes Herz. Geht an die Tür und öffnet.

Wendla Ach, ich hörte es ganz deutlich. Wer ist draußen?

Frau Bergmann Niemand Schmidts Mutter aus der Gartenstraße. Sie kommen eben recht, Mutter Schmidtin.

Sechste Szene

Winzer und Winzerinnen im Weinberg. – Im Westen sinkt die Sonne hinter die Berggipfel. – Helles Glockengeläute vom Tal herauf. Hänschen Rilow und Ernst Röbel im höchstgelegenen Rebstück sich unter den überhängenden Felsen im welkenden Grase wälzend.

Ernst Ich habe mich überarbeitet.

Hänschen Laß uns nicht traurig sein! Schade um die Minuten.

Ernst Man sieht sie hängen und kann nicht mehr und morgen sind sie gekeltert.

Hänschen Ermüdung ist mir so unerträglich, wie mir's der Hunger ist.

Ernst Ach, ich kann nicht mehr.

Hänschen Diese leuchtende Muskateller noch!

Ernst Ich bringe die Elastizität nicht mehr auf.

Hänschen Wenn ich die Ranke beuge, baumelt sie uns von Mund zu Mund. Keiner braucht sich zu rühren. Wir beißen die Beeren ab und lassen den Kamm zum Stock zurückschnellen.

Ernst Kaum entschließt man sich, und siehe, so dämmert auch schon die dahingeschwundene Kraft wieder auf.

Hänschen Dazu das flammende Firmament und die Abendglocken Ich verspreche mir wenig mehr von der Zukunft.

Ernst Ich sehe mich manchmal schon als hochwürdigen Pfarrer ein gemütvolles Hausmütterchen, eine reichhaltige Bibliothek und Ämter und Würden in allen Kreisen. Sechs Tage hat man, um nachzudenken, und am siebenten tut man den Mund auf. Beim Spazierengehen reichen einem Schüler und Schülerinnen die Hand, und wenn man nach Hause kommt, dampft der Kaffee, der Topfkuchen wird aufgetragen, und durch die Gartentür bringen die Mädchen Äpfel herein. Kannst du dir etwas Schöneres denken?

Hänschen Ich denke mir halbgeschlossene Wimpern, halbgeöffnete Lippen und türkische Draperien. Ich glaube nicht an das Pathos. Sieh, unsere Alten zeigen uns lange Gesichter, um ihre Dummheiten zu bemänteln. Untereinander nennen sie sich Schafsköpfe wie wir. Ich kenne das. Wenn ich Millionär bin, werde ich dem lieben Gott ein Denkmal setzen. Denke dir die Zukunft als Milchsette mit Zucker und Zimt. Der eine wirft sie um und heult, der andere rührt alles durcheinander und schwitzt. Warum nicht abschöpfen? Oder glaubst du nicht, daß es sich lernen ließe?

Ernst Schöpfen wir ab!

Hänschen Was bleibt, fressen die Hühner. Ich habe meinen Kopf nun schon aus so mancher Schlinge gezogen...

Ernst Schöpfen wir ab, Hänschen! Warum lachst du?

Hänschen Fängst du schon wieder an?

Ernst Einer muß ja doch anfangen.

Hänschen Wenn wir in dreißig Jahren an einen Abend wie heute zurückdenken, erscheint er uns vielleicht unsagbar schön!

Ernst Und wie macht sich jetzt alles so ganz von selbst!

Hänschen Warum also nicht!

Ernst Ist man zufällig allein dann weint man vielleicht gar.

Hänschen Laß uns nicht traurig sein! Er küßt ihn auf den Mund.

Ernst küßt ihn Ich ging von Hause fort mit dem Gedanken, dich nur eben zu sprechen und wieder umzukehren.

Hänschen Ich erwartete dich. Die Tugend kleidet nicht schlecht, aber es gehören imposante Figuren hinein.

Ernst Uns schlottert sie noch um die Glieder. Ich wäre nicht ruhig geworden, wenn ich dich nicht getroffen hätte. Ich liebe dich, Hänschen, wie ich nie eine Seele geliebt habe...

Hänschen Laß uns nicht traurig sein! Wenn wir in dreißig Jahren zurückdenken, spotten wir ja vielleicht! Und jetzt ist alles so schön! Die Berge glühen; die Trauben hängen uns in den Mund, und der Abendwind streicht an den Felsen hin wie ein spielendes Schmeichelkätzchen...

Siebente Szene

Helle Novembernacht. – An Busch und Bäumen raschelt das dürre Laub. Zerrissene Wolken jagen unter dem Mond hin. Melchior klettert über die Kirchhofsmauer.

Melchior auf der Innenseite herabspringend Hierher folgt mir die Meute nicht. Derweil sie Bordelle absuchen, kann ich aufatmen und mir sagen, wie weit ich bin... Der Rock in Fetzen, die Taschen leer vor dem Harmlosesten bin ich nicht sicher. Tagsüber muß ich im Wald weiterzukommen suchen...

Ein Kreuz habe ich niedergestampft. – Die Blümchen wären heut noch erfroren! Ringsum ist die Erde kahl... Im Totenreich! Aus der Dachluke zu klettern, war so schwer nicht wie dieser Weg! Darauf nur war ich nicht gefaßt gewesen...

Ich hänge über dem Abgrund alles versunken, verschwunden O wär' ich dort geblieben!

Warum sie um meinetwillen! – Warum nicht der Verschuldete! – Unfaßbare Vorsehung! Ich hätte Steine geklopft und gehungert...! Was hält mich noch aufrecht? Verbrechen folgt auf Verbrechen. Ich bin dem Morast überantwortet. Nicht so viel Kraft mehr, um abzuschließen... Ich war nicht schlecht! Ich war nicht schlecht! Ich war nicht schlecht...

- So neiderfüllt ist noch kein Sterblicher über Gräber gewandelt. Pah ich brächte ja den Mut nicht auf! O, wenn mich Wahnsinn umfinge in dieser Nacht noch!

Ich muß drüben unter den letzten suchen! Der Wind pfeift auf jedem Stein aus einer anderen Tonart eine beklemmende Symphonie! Die morschen Kränze reißen entzwei und baumeln an ihren langen Fäden stückweise um die Marmorkreuze ein Wald von Vogelscheuchen! Vogelscheuchen auf allen Gräbern, eine greulicher als die andere haushohe, vor denen die Teufel Reißaus nehmen. Die goldenen Lettern blinken so kalt.. . Die Trauerweide ächzt auf und fährt mit Riesenfingern über die Inschrift...

Ein betendes Engelskind – Eine Tafel –

Eine Wolke wirft ihren Schatten herab. – Wie das hastet und heult!

- Wie ein Heereszug jagt es im Osten empor. – Kein Stern am Himmel –

Immergrün um das Gärtlein? Immergrün? Mädchen...

Hier ruht in Gott

WENDLA BERGMANN

geboren am 5. Mai 1878

gestorben an der Bleichsucht
den 27. Oktober 1892.

Selig sind, die reinen Herzens sind...

Und ich bin ihr Mörder. Ich bin ihr Mörder! Mir bleibt die Verzweiflung. Ich darf hier nicht weinen. Fort von hier! Fort

Moritz Stiefel seinen Kopf unter dem Arm, stapft über die Gräber her Einen Augenblick, Melchior! Die Gelegenheit wiederholt sich so bald nicht. Du ahnst nicht, was mit Ort und Stunde zusammenhängt...

Melchior Wo kommst du her?!

Moritz Von drüben von der Mauer her. Du hast mein Kreuz umgeworfen. Ich liege an der Mauer. Gib mir die Hand, Melchior...

Melchior Du bist nicht Moritz Stiefel!

Moritz Gib mir die Hand. Ich bin überzeugt, du wirst mir Dank wissen. So leicht wird's dir nicht mehr! Es ist ein seltsam glückliches Zusammentreffen. Ich bin extra heraufgekommen...

Melchior Schläfst du denn nicht?

Moritz Nicht, was ihr Schlafen nennt. Wir sitzen auf Kirchtürmen, auf hohen Dachgiebeln wo immer wir wollen...

Melchior Ruhelos?

Moritz Vergnügungshalber. Wir streifen um Maibäume, um einsame Waldkapellen. Über Volksversammlungen schweben wir hin, über Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. In den Wohnhäusern kauern wir im Kamin und hinter den Bettvorhängen. Gib mir die Hand. Wir verkehren nicht untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in der Welt vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die Menschen tun und erstreben, und lachen darüber.

Melchior Was hilft das?

Moritz Was braucht es zu helfen? Wir sind für nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch Schlechtes. Wir stehen hoch, hoch über dem Irdischen jeder für sich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu langweilig ist. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen könnte. Über Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir sind mit uns zufrieden, und das ist alles! Die Lebenden verachten wir unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem Getue, weil sie als Lebende tatsächlich nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren Tragödien jeder für sich und stellen unsere Betrachtungen an. Gib mir die Hand! Wenn du mir die Hand gibst, fällst du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand gibst...

Melchior Ekelt dich das nicht an?

Moritz Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! An meinem Begräbnis war ich unter den Leidtragenden. Ich habe mich recht gut unterhalten. Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare Erhabenheit ist tatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der Quark sich verdauen läßt... Auch über mich will man gelacht haben, eh ich mich aufschwang!

Melchior Mich lüstet's nicht, über mich zu lachen.

Moritz ... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden! Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. Wie magst du nur zaudern, Melchior! Gib mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über dir. Dein Leben ist Unterlassungssünde...

Melchior Könnt ihr vergessen?

Moritz Wir können alles. Gib mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor stoischer Überlegenheit das Herz brechen will. Wir sehen den Kaiser vor Gassenhauern und den Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. Wir ignorieren die Maske des Komödianten und sehen den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in seiner Bettelhaftigkeit, im Mühseligen und Beladenen den Kapitalisten. Wir beobachten Verliebte und sehen sie voreinander erröten, ahnend, daß sie betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder in die Welt setzen, um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu haben! und sehen die Kinder hingehn und desgleichen tun. Wir können die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöten, die Fünfgroschendirne über der Lektüre Schillers belauschen... Gott und den Teufel sehen wir sich voreinander blamieren und hegen in uns das durch nichts zu erschütternde Bewußtsein, daß beide betrunken sind... Eine Ruhe, eine Zufriedenheit, Melchior! Du brauchst mir nur den kleinen Finger zu reichen. Schneeweiß kannst du werden, eh sich dir der Augenblick wieder so günstig zeigt!

Melchior Wenn ich einschlage, Moritz, so geschieht es aus Selbstverachtung. Ich sehe mich geächtet. Was mir Mut verlieh, liegt im Grabe. Edler Regungen vermag ich mich nicht mehr für würdig zu halten und erblicke nichts, nichts, das sich mir auf meinem Niedergang noch entgegenstellen sollte. Ich bin mir die verabscheuungswürdigste Kreatur des Weltalls...

Moritz Was zauderst du...?

Ein vermummter Herr tritt auf.

Der vermummte Herr zu Melchior Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht befähigt, zu urteilen. Zu Moritz Gehen Sie.

Melchior Wer sind Sie?

Der vermummte Herr Das wird sich weisen. Zu Moritz Verschwinden Sie! Was haben Sie hier zu tun! Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?

Moritz Ich habe mich erschossen.

Der vermummte Herr Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. Dann sind Sie ja vorbei. Belästigen Sie uns hier nicht mit Ihrem Grabgestank. Unbegreiflich sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui Teufel noch mal! Das zerbröckelt schon.

Moritz Schicken Sie mich bitte nicht fort...

Melchior Wer sind Sie, mein Herr??

Moritz Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. Lassen Sie mich hier noch ein Weilchen teilnehmen; ich will Ihnen in nichts entgegensein. Es ist unten so schaurig.

Der vermummte Herr Warum prahlen Sie denn dann mit Erhabenheit?! Sie wissen doch, daß das Humbug ist saure Trauben! Warum lügen Sie geflissentlich, Sie Hirngespinst! Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie sich vor Windbeuteleien, lieber Freund und lassen Sie mir bitte Ihre Leichenhand aus dem Spiel.

Melchior Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!

Der vermummte Herr Nein. Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich würde fürs erste für dein Fortkommen sorgen.

Melchior Sie sind mein Vater?!

Der vermummte Herr Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen?

Melchior Nein.

Der vermummte Herr Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen deiner Mutter. Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen Abendessen im Leib spottest du ihrer.

Melchior für sich Es kann nur einer der Teufel sein! laut Nach dem, was ich verschuldet, kann mir ein warmes Abendessen meine Ruhe nicht wiedergeben!

Der vermummte Herr Es kommt auf das Abendessen an! Soviel kann ich dir sagen, daß die Kleine vorzüglich geboren hätte. Sie war musterhaft gebaut. Sie ist lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin erlegen. Ich führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.

Melchior Wer sind Sie? Wer sind Sie? Ich kann mich einem Menschen nicht anvertrauen, den ich nicht kenne.

Der vermummte Herr Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen.

Melchior Glauben Sie?

Der vermummte Herr Tatsache! Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.

Melchior Ich kann jeden Moment meinem Freunde hier die Hand reichen.

Der vermummte Herr Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt keiner, der noch einen Pfennig in bar besitzt. Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste, bedauernswerteste Geschöpf der Schöpfung!

Melchior Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer Sie sind, oder ich reiche dem Humoristen die Hand!

Der vermummte Herr Nun?!

Moritz Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert. Laß dich von ihm traktieren und nütz ihn aus. Mag er noch so vermummt sein er ist es wenigstens!

Melchior Glauben Sie an Gott?

Der vermummte Herr Je nach Umständen.

Melchior Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden hat?

Der vermummte Herr Berthold Schwarz alias Konstantin Anklitzen um 1330 Franziskanermönch zu Freiburg im Breisgau.

Moritz Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben lassen!

Der vermummte Herr Sie würden sich eben erhängt haben!

Melchior Wie denken Sie über Moral?

Der vermummte Herr Kerl bin ich dein Schulknabe?!

Melchior Weiß ich, was Sie sind!!

Moritz Streitet nicht! Bitte, streitet nicht. Was kommt dabei heraus! Wozu sitzen wir, zwei Lebendige und ein Toter, nachts um zwei Uhr hier auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir streiten wollen wie Saufbrüder! Es soll mir ein Vergnügen sein, der Verhandlung mit beiwohnen zu dürfen. Wenn ihr streiten wollt, nehme ich meinen Kopf unter den Arm und gehe.

Melchior Du bist immer noch derselbe Angstmeier!

Der vermummte Herr Das Gespenst hat nicht unrecht. Man soll seine Würde nicht außer acht lassen. Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind Sollen und Wollen. Das Produkt heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.

Moritz Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! Meine Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr. »Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest.« An mir hat sich die Schrift phänomenal blamiert.

Der vermummte Herr Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund! Ihre lieben Eltern wären sowenig daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis getobt und gewettert haben.

Melchior Das mag soweit ganz richtig sein. Ich kann Ihnen aber mit Bestimmtheit sagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine Moral die Schuld trüge.

Der vermummte Herr Dafür bist du eben nicht Moritz!

Moritz Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so wesentlich ist zum mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht auch mir zufällig hätten begegnen dürfen, verehrter Unbekannter, als ich damals, das Pistol in der Tasche, durch die Erlenpflanzungen trabte.

Der vermummte Herr Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch im letzten Augenblick noch zwischen Tod und Leben. übrigens ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der Ort, eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.

Moritz Gewiß, es wird kühl, meine Herren! Man hat mir zwar meinen Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhosen.

Melchior Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch mich hinführt, weiß ich nicht. Aber er ist ein Mensch...

Moritz Laß mich's nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen suchte! Es war alte Anhänglichkeit. Zeitlebens wollte ich nur klagen und jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal hinausbegleiten könnte!

Der vermummte Herr Schließlich hat jeder sein Teil Sie das beruhigende Bewußtsein, nichts zu haben du den enervierenden Zweifel an allem. Leben Sie wohl.

Melchior Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß du mir noch erschienen. Wie manchen frohen ungetrübten Tag wir nicht miteinander verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich verspreche dir, Moritz, mag nun werden, was will, mag ich in den kommenden Jahren zehnmal ein anderer werden, mag es aufwärts oder abwärts mit mir gehn, dich werde ich nie vergessen...

Moritz Dank, dank, Geliebter.

Melchior ... und wenn ich einmal ein alter Mann in grauen Haaren bin, dann stehst gerade du mir vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.

Moritz Ich danke dir. Glück auf den Weg, meine Herren! Lassen Sie sich nicht länger aufhalten.

Der vermummte Herr Komm, Kind! Er legt seinen Arm in denjenigen Melchiors und entfernt sich mit ihm über die Gräber hin.

Moritz allein Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. Der Mond verhüllt sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht um kein Haar gescheiter aus. So kehr' ich denn zu meinem Plätzchen zurück, richte mein Kreuz auf, das mir der Tollkopf so rücksichtslos niedergestampft, und wenn alles in Ordnung, leg' ich mich wieder auf den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle...


 << zurück