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Meine beiden Großväter waren zu Anfang des 19. Jahrhunderts nach Rußland ausgewandert, und beide hatten es in St. Petersburg als Bäckermeister zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Der älteste Bruder meiner Mutter war Zuckersieder geworden und beherrschte schließlich als der sogenannte »Zuckerkönig« den russischen Markt. Bei ihm war auf einer seiner Fabriken mein Vater als kaufmännischer Betriebsleiter angestellt. Die Fabrik lag am Strande eines breiten Rebenflusses der Newa inmitten von kleinen Gärten und einem großen Parke. Dort fühlten wir Kinder, meine drei Brüder und ich, uns wie auf dem Lande. Der Vater, ein hochgewachsener, ernster und strenger Mann, hatte allerhand durchmachen müssen, bevor er die Mutter, elf lange Jahre nach ihrer Verlobung, hatte heimführen können: sie war eine heiter besinnliche Frau, deren natürlicher Frohsinn immer wieder die Oberhand gewann. Zu unserm Haushalt gehörten der krummbeinige Hausknecht Danilo, an dessen Gutmütigkeit wir unsern Übermut ausließen, die sächsische Köchin Johanna, die uns mit Märchen und romantischen Geschichten unterhielt, und die russische Wärterin, die Njanja, die uns grenzenlos verwöhnte.

Am wohlsten fühlten wir uns natürlich an Festtagen, vor allem in der vollen Ferienfreiheit am Strande des Finnischen Meerbusens, und wie sich da deutschblütige Jugend unter Esten und Russen tummelte, davon will ich nun einiges erzählen. Auch wie ich in meinem elften Jahre schon durch Schicksalsfügung vor meine Lebensaufgabe geführt wurde.

Leopold Weber.

 

Bei den Großeltern

Die Großeltern Weber waren, ein jedes in seiner Art, aufs freudigste begrüßte Erscheinungen für mich. Der Großvater, wie es die »Auswanderer-Schicksale« in Karl Plenzat's »Heimatbüchern« weiter ausführen, fesselnd durch sein kurzes und breites Aussehen schon mit dem festen Lutherkopf auf den Schultern und der qualmenden Zigarre im Munde, und insbesondre merkwürdig durch die Eigentümlichkeit, seine Ansichten in kurzen, kräftigen Knittelversen von sich zu geben. Die Großmutter, »die muntre, redefrohe, mit ihren roten Bäckchen und blanken, blauen Augen«, ein immer frisch sprudelnder Quell geistiger Anregung für mich. Lautlos hockte ich ihr gegenüber und lauschte andächtig, wenn sie mir aus dem Leben unsrer großen deutschen Dichter erzählte, denn ich wollte ja selber einer werden und begann mich schon fleißig und systematisch im Versemachen zu üben. Die »Ritter« aus der alten Köchin Johanna romantischen Geschichten kamen mir dabei sehr zustatten, da sie sich trefflich auf die »Splitter« reimen ließen, in die sie allemal ihre Gegner zerschmetterten. Und gar erst, wenn mir die Unermüdliche aus den Werken dieser Sänger Lieder voll hohen Schwunges vortrug, die ich zwar noch nicht so ganz verstand, die mich aber ahnungsvoll durchschauerten. Auch ging niemand so wie sie auf meine abwegigen Gedankengänge und Fabeleien ein und bestaunte und bewunderte mich, während die andern bloß über mich lächelten, wenn ich etwa selbsterfundene Rätsel aufgab in der Art wie: Was ist bei den Eltern oben dünn, unten dick, bei den Großeltern aber unten dünn, oben dick? Antwort: Das Butterbrot! Ich fürchte, nach solchen Genieproben rechnete sie in ihrer großmütterlichen Voreingenommenheit zuversichtlich mit einer Zukunft für mich, wie sie nur den größten Geistern auf Erden beschieden ist.

Als die Großeltern allmählich ihre fünf Töchter, und zwar alle nach Reval, verheiratet hatten, mieteten sie, um zur Sommerszeit mit Kindern und Kindeskindern zusammenzuleben, im Osten der Baltenstadt, im Katharinental, ein Häuschen mit Garten und Wiese. Als uns nun der Vater eines Tages verkündete, daß auch wir für einige Monate dorthin ziehen würden, jubelte es in meinem sechsjährigen Herzen.

Reval, vormals eine Feste der Esten am Ausgang des Finnischen Meerbusens in die Ostsee, im 13. Jahrhundert von Deutschen und Dänen gemeinsam erobert, seit dem 14. Jahrhundert im Alleinbesitz des Deutschen Ordens, dann unter schwedischer Oberherrschaft, bis Peter der Große im Nordischen Kriege Estland an sich riß, Reval war eine Stadt, die von mittelalterlicher deutscher Kultur allenthalben zeugte und somit an sich schon ein Wunder für mich. Alles war dort anders als daheim in dem aus Sumpfboden auf Befehl des Zaren gestampften Petersburg mit seinen gradlinigen breiten Straßen. Unendlich viel gab es da zu bestaunen. Da ragte der gotische Dom auf der steilabfallenden Felsenküste des Strandes über den dichtgedrängten Häusern der Stadt, darunter erhob sich turmhoch die »Olaikirche«, dem Gedächtnis des großen Heidenbekehrers in Norwegen, Olaf dem Heiligen, zu Ehren. Da trotzten der Zeit noch die Überbleibsel der alten Ringmauer und die mächtigen Warttürme, die durch ihre seltsamen Namen schon geheimnisvoll wirkten, die »Dicke Margarete« und der »Kiek in die Koek«, der so hieß, weil man von ihm um die Mittagszeit den Bürgerfrauen in ihre Kochtöpfe hineinspähen konnte. Da war im Katharinental der weite Park, den Peter der Große seiner Zarin geschenkt hatte, mit seinen jahrhundertealten Eichen, deren Rindenrisse mit geteerten Lappen verklebt waren, daß sie mir wie uralte wunde Riesenkämpen vorkamen. Der schlanke weiße Leuchtturm auf dem Hügel mit den blanken Spiegelgeräten zuoberst in dem Stübchen des Wächters, von wo man über den Strand weg auf das im Sonnenschein flimmernde Meer voll Dampfer, Segelschiffe und Fischerkähne hinaussah. Die tiefe Höhle in einer Felswand des Wäldchens nahe der Stadt, darin einst ein gewaltiger Räuber gleich dem kühnen Rinaldini mit seiner Bande gehaust hatte. Die Kaserne mit den hungrigen Enakssöhnen von Soldaten, an der man sich unter Herzklopfen schnell vorüberdrückte, da auch ihre Insassen einen bedeutenden Ruf als Räuber in ihrer Art erworben hatten, denn ihre stets hungrigen Mägen veranlaßten sie gelegentlich zu unerlaubten Eingriffen in die Taschen der Nebenmenschen – ja, unsre Njanja warnte mich eindringlich, dort allein spazieren zu gehn, da sie Kindsfresser wären.

Am schönsten aber war es doch bei den Großeltern, wo wir uns nach Herzenslust tummeln konnten in Garten und Wiese.

Da trat ein Ereignis ein, auf das ich mich schon lange gefreut, das aber einen ganz andern Ausgang nahm, als ich erwartet hatte.

Die Glocken der alten ehrwürdigen Domkirche Revals hallten über der Stadt, ich stand, sauber gewaschen und geputzt, mit frischem Umliegkragen, stolz und gespannter Erwartung voll, zu meinem ersten Kirchgang bereit. Ganz feierlich ward mir zumute, als ich in die dämmrigen, hohen und kühlen Hallen trat und, von den Eltern geführt, in einer der ersten Bankreihen zwischen ihnen Platz nahm. Die Orgel erbrauste gleich einem Chore von mächtigen Stimmen, die weiten Räume dröhnten von Wohllaut, Gesang erscholl, mäuschenstill saß ich und wagte kaum, mich zu rühren. Auf einmal schwieg jeder Laut, ein schwarzer Mann stand, wie aus dem Boden gewachsen, auf der Kanzel droben und fing an zu sprechen, friedlich und mild erst, was mir wohlgefiel und mich über seine unversehens aufgetauchte, schwärzliche Erscheinung wieder beruhigte, dann aber erhob er die Stimme, er kam in Feuer, er begann mit den Armen zu fuchteln, er schlug mit der Faust auf die Brüstung, daß mir angst und bange wurde, und nun streckte er die Rechte tief hinab zu mir, schüttelte sie, rief mit donnernder Stimme dunkeldrohende Worte und wies dabei mit dem langen Zeigefinger immer wieder auf mich. Entsetzt sprang ich auf und erhob ein Zetergeschrei: »Er schimpft mich, ich will weg von hier, ich will weg!« Kein Zureden half, so daß den Eltern nichts übrig blieb, als ihren unverständigen Sprößling so schnell wie möglich hinauszugeleiten.

Hier in Reval wickelte sich auch als Sechsjähriger meine erste Liebesgeschichte ab, und zwar mit tragischem Ausgang. Es gab da eine muntre zierliche Toni, um ein halbes Jahr jünger als ich, in stets frisch gewaschenem Kleidchen, rosig und duftig wie ein Morgenwölkchen im ersten Strahle der Sonne. Unsre beiderseitigen Eltern hatten sich angefreundet, wir vertrugen uns aufs beste, spielten friedlich miteinander, woraufhin ich ihr den Vorschlag machte, wir wollten zusammen heiraten. Damit war sie einverstanden. Ihr Geburtstag nahte, eine feierliche Angelegenheit für mich. Ich saß in der kleinen Kindergesellschaft an Tonis Seite auf dem Ehrenplatz, den sie mir als ihrem Zukünftigen bestimmt hatte, wir tranken köstliche Schokolade mit reichlich darüber gehäuftem Schlagrahm, den ich mir als Bestes bedachtsam bis zum Schluß aufsparte. Toni aber hatte ihr Teil schon vertilgt, fuhr mir, flink wie sie war, mit dem Löffel in meine Tasse und schöpfte mir eine tüchtige Portion der sorgsam gehüteten Kostbarkeit daraus weg. Das war natürlich nicht zu dulden: ich verwies es ihr ernstlich, sie müsse wenigstens anständigerweise vorher fragen, ob sie es dürfe. Sie lachte und wiederholte blitzschnell, eh ich mich dessen versah, das ungehörige Manöver. Nunmehr erklärte ich festen Tones, wenn sie es noch einmal so mache, wäre es aus zwischen uns. Vergebens! schon hatte sie ihren Löffel wieder in meiner Tasse. Da rief ich, durch solche Nichtachtung im tiefsten empört: »Jetzt heirate ich dich auch nicht, verstehst du? Da hast du's!« Sie erschrak sehr und fing jämmerlich an zu weinen ob der beschämenden Absage, aber ich blieb unerbittlich. »Ein Mann, ein Wort!« sagte der Vater, und ich glaubte doch auch einer zu sein.

Ein Monat mochte über diesem Abenteuer vergangen sein, da hieß es, die Mutter sei ein wenig krank, aber wir brauchten uns nicht zu sorgen: es wäre nicht gefährlich, nur müßten wir derweil in die große schöne Villa zum Onkel Eduard und der Tante Flora hinüberziehen, die sich auch für diesen Sommer in Reval eingemietet hatten.

Der Onkel Eduard, ein kleiner dunkelhaariger und um unsre Kinderfreuden rührend besorgter Mann, war mit Henriette, der jüngsten Schwester meiner Mutter, verheiratet gewesen. Die aber war ihm nach der Geburt zweier Kinder, eines Knaben und eines Mädchens, gestorben, und Eduard hatte danach ihre Schwester, die zweitjüngste, geheiratet. Eine herzliche Frau, die die Dinge nahm, wie sie sie vorfand, ohne sich viel Kopfzerbrechen darüber zu machen. Ihre Stiefkinder hingen an ihr, wie man es an einer richtigen Mutter nicht inniger kann. Auch sie hatte jetzt schon zwei eigene, einen Alfred, um ein Jahr älter als ich, und ein anderthalb Jahre jüngeres winziges Florchen, fürs erste noch wenig beachtenswert für mich, was sich allerdings späterhin änderte.

Alfred war ein prächtiger Spielkamerad, hübsch anzuschauen in seinen langen hellen Locken, die um die offene Stirn wehten, mutig, kräftig, gewandt, gradeheraus. Mir ergänzten einander aufs glücklichste: war er mehr zur Ausführung verwegener Taten geeignet, so war ich ihm an Erfindungsgeist überlegen. Mir begannen unser Gemeinschaftsleben damit, daß ich ihm vorschlug, die dummen Hühner endlich einmal schwimmen zu lehren, da es ja die Enten konnten, worauf er eines sofort mit Schwung in den Teich beförderte. Der Versuch scheiterte unter greulichem Gegacker der unglücklichen Henne im Wasser und ihrer aufgeschreckten Genossinnen am Lande, und wir bezogen gemeinsam eine Tracht Prügel, was den beträchtlichen Lärm des Federviehs um unser Wehegeschrei noch vermehrte. Danach schien es mir angebracht, den stattlichen Hauskater einmal richtig in der Regentonne abzuwaschen, wogegen der sich mit all seinen Krallen unter verzweifeltem Miauen sträubte und dem fest zufassenden Alfred erhebliche Kratzwunden beibrachte. Sehr spannend war es, im Versteck auf heranrasende Fuhrwerke zu lauern und dann unsern Mut zu zeigen, indem wir im letzten Augenblick hervorschossen, um möglichst dicht vor den stampfenden Gäulen über die Gaste zu rennen, was uns freilich manchen empfindlichen Peitschenhieb von den fluchenden Lenkern eintrug. Harmloser war es, als ich angesichts zweier niedlicher Böckchen, die sich der Onkel Eduard hielt, anregte, wir wollten auch einmal solche spielen. Zu diesem Zwecke zogen wir uns splitternackt aus, krochen mit Genuß auf allen vieren im Garten herum, schnappten schonungslos rechts und links in die Blumenbeete hinein und kauten und würgten gewissenhaft die ungewohnte Rohkost hinunter, bis uns die dortige Njanja vom Fenster aus erspähte, scheltend herbeistürzte und unsre Wiederverwandlung in bekleidete Menschen mit unsanften Handgriffen vollzog. Meine größte Lust aber war es, dem gutgläubigen Vetter selbsterfundene Märchen als wirkliche Ereignisse vorzutragen, in denen ich allmählich die Hauptrolle als Held zu spielen begann. Dafür hängte er mir, von seinem Stiefbruder aufgeklärt, den Spottnamen Junker Prahlhans an, was mich nicht wenig wurmte. Doch ging unsre Freundschaft deswegen nicht in die Brüche, denn ich konnte nicht umhin, einzusehen, daß ich den Übernamen verdient hatte, wenn schon die reine Lust am Fabulieren das Ursprüngliche gewesen war und ich erst nachträglich der Versuchung erlag, mich selber darin aufzuspielen.

Während die Mutter mit ihrer geheimnisvollen, ungefährlichen Krankheit zu tun hatte, durften wir sie jeden Vormittag in unserm Miethäuschen aufsuchen, wo sie dann immer ganz zufrieden im Bett lag und uns freundlich zulächelte. Als wir aber, meine beiden kleineren Brüder und ich, an einem schönen Sommermorgen wiederum dahin aufbrachen und grade über den weiten Kurplatz Hand in Hand träppelten, kam uns der Vater schon freudig leuchtenden Auges entgegen. »Soeben ist ein herrliches Geschenk für euch eingetroffen: ratet, was es ist!« »Ein Märchenbuch?« rief ich erwartungsvoll, »falsch geraten, etwas Besseres, etwas Lebendiges!« »Ein Hund!« entfuhr es mir begeistert. »Nein, etwas viel Köstlicheres noch: ein Brüderchen!« Das war eine Überraschung! Der Vater konnte kaum nachkommen, so schnell liefen wir, um das Wunder zu schauen. Aber wie groß war meine Enttäuschung, als uns ein winziges, rotes, kläglich-wimmerndes Klümpchen entgegengehalten wurde. Und das sollte ein Brüderchen sein? Immerhin, ein Trost war es, daß die Mutter bald darauf ihre ungefährliche Krankheit endgültig los wurde. Das Brüderchen aber gedieh zum stärkstknochigen Bruder unter uns vieren und haust jetzt grauen Hauptes weit drüben in Oregon am Stillen Ozean als Farmer und Bäckermeister mit einer Menge von Kindern und Kindeskindern.

Da ereignete sich zum Schlusse der schönen Sommerzeit noch ein erschütternder Vorfall. Die Großeltern waren auf Besuch gefahren. Ich spielte in ihrem Gärtchen mit der um ein Jahr älteren Base Emma, einer Tochter meiner an den Weinhändler Ferberg in Reval verheirateten Tante. Ich hatte es sehr gern, dieses Bäschen, das dunkelblauen Auges und hellen Haares auf dem weißen Hälschen ein Gesicht trug, wie von zarten Farben mit feinem Pinsel auf Porzellan gemalt. Wir tollten ziemlich wild miteinander im Garten herum, und in einer Schnaufpause leckte ich zur Erholung an einer Latte des frisch gestrichenen Zaunes. »Was tust du?« rief sie erschrocken, »der ist doch grün, und Grün ist ja Gift!« Entsetzen ergriff mich. »Muß ich jetzt sterben?« stotterte ich. »Ich weiß nicht«, stammelte sie nicht minder angstvoll, »Milch ist Gegengift, sagt die Mutter, ich will dir schnell Milch holen!« Sie rannte in die Küche und schüttete aus der großen Kanne so viel von der eiskalten Flüssigkeit in mich hinein, wie mein Leib zu fassen vermochte. »Ist dir jetzt besser?« Durchaus nicht besser war mir, vielmehr verspürte ich auf einmal heftiges Leibschneiden: das Gift wirkte also schon! Ich mußte Abschied nehmen von dieser mir so teuern Welt samt Eltern, Großeltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten, Vettern und Basen, Njanjas, Johannas, Danilos und Pappbären! Hilflos heulend saßen wir beieinander, meinem baldigen Verscheiden entgegensehend, bis zum Glück die Großeltern zurückkehrten, und als sie endlich aus unserm verwirrten Gestammel klug geworden waren, uns liebreich trösteten, ich würde nicht nur das Gift, sondern auch die Fülle des Gegengiftes ohne weiteren Schaden verdauen und voraussichtlich noch manches Jährlein auf Erden erleben, was ja auch eingetroffen ist.

 

Festtage

Die Russen feierten, wo immer in ihren weiten Reichen sie hausten, als ihren höchsten kirchlichen Festtag Ostern: im hohen Norden, in den Wäldern und Einöden Sibiriens wie im Kaukasus und an den warmen Gestaden der Krim, an den Westgrenzen Polens wie in den Bergketten des Urals im Osten. Schon am Vorabend waren alle Gotteshäuser Petersburgs überfüllt im dichten Gedränge von stolzen Würdenträgern und von Arbeitervolk in Rupfenkaftans, von vornehmen Damen in kostbaren und von Bauern und Bäuerinnen in derben Schaffellpelzen: die Hallen erdröhnten unter den Bärenbässen der Geistlichen in glitzernden Meßgewändern, und kaum donnerte, Mitternacht verkündend, der Kanonenschuß von der Festungsinsel her, da fielen die Leute, wie sie der Zufall zusammengewürfelt hatte, Mann, Weib, Kind, arm und reich, hoch und nieder, auf einen Schlag mit dem freudigen Osterruf »Christus ist auferstanden!« – »Wahrhaftig, er ist auferstanden!« einander in die Arme und küßten sich. Bei Tagesanbruch schon lockten auf dem Frühstückstische nach den langen Entbehrungen der strengen Fastenzeit, die von der Kirche geweihten schmackhaften Osterbrote, von bunten Eiern umgeben, unter denen die weiße Pyramide aus Topfenkäse, reichlich mit Rosinen gespickt, ragte, und daneben prangte und duftete verführerisch der gebackene Osterschinken.

Auch bei uns daheim traten aus allen Wohnungen auf dem Hofe die Dienstboten mit dem feierlichen Ostergruße an und wurden der Reihe nach von den Eltern und uns Kindern umarmt und dreimal übers Kreuz auf die Wangen geküßt, wobei die Mutter nur den Herrschaftskutscher ein wenig scheute, der sich zur Feier des Tages den mächtigen Vollbart mit Schuhwichse blank geschwärzt hatte. Immerhin, es war schon etwas Weihevolles um diesen russischen Brauch allgemeiner Verbrüderung im Namen des aus der Todesnacht Auferstandenen, während zugleich die milderen Lüfte das Erwachen der Erde aus der Starrheit des langen Winterschlafes empfinden ließen, und auch mein Kinderherz wurde davon ergriffen. Dann freilich machte ich mich mit lautem Jubel über die bunten Ostereier und ihre Schokoladegenossen her, lief von Haus zu Haus, um jedermann meine Kostbarkeiten zu zeigen, und alsbald war ich mit den Kameraden in die üblichen Tauschgeschäfte und Wettspiele um die nahrhaften Geschenke verwickelt, bis ich mit heißen Wangen und leisem Magendrücken infolge der reichlich genossenen Süßigkeiten in den Federn lag.

Das schönste Fest im Jahre für uns aber war doch unser deutsches Weihnachten, und nirgends wurde es, kommt es mir vor, so innig gefeiert wie in unserm Elternhause. Gewiß, die holden Heimlichkeiten der nahenden Wunderzeit, die neugierigen Fragen der Kinder, so oft geheimnisvolle Pakete von Dienstmännern hereingetragen wurden, und das bedeutungsvoll lächelnde Schweigen der Mütter dazu, das Aufhorchen hinter verschlossener Tür, wenn der große Tag angebrochen war, das Spähen durchs Schlüsselloch und der verhaltene Jubel, wenn man schnellen Blickes ein Stückchen Flittergold oder gar das rosige Wachsfüßchen eines am Tannenzweige baumelnden Engleins erwischte, all das trug sich wohl in unsern Kreisen so ziemlich auf die gleiche Weise zu, aber mit solch liebevoller Hingabe, wie der Vater den schönsten Weihnachtsbaum aufstellte, schmückte, die Grotte darunter aufbaute mit dem Jesuskind in der Krippe, mit Maria und Josef und Öchslein und Eselein im Stalle, so konnte es kaum irgendwo anders geschehen. Ich sah es nicht mit eigenen Augen, nein, aber ich spürte es beglückt, wenn ich ihn im Saale sachte hantieren und mit der Mutter eifrig beratend flüstern hörte. Und wenn dann endlich das ladende Glöcklein ertönte, die Türe weit aufging und wir Kinder eintraten und wie betäubt vor dem Lichterglanz und den Herrlichkeiten standen, die uns entgegen blinkten, da war er wie verwandelt: die ernsten Augen strahlten, alles Sorgenvolle an ihm, alles Düstere und Barsche war weg, er streichelte uns über den Kopf, er küßte uns und führte uns zu den Geschenken, vor denen die Mutter gerührt lächelnd wartete und uns in die Arme schloß, um dann jedem sein Teil zuzuweisen. Ja, da war in Wahrheit Friede auf Erden und Wohlgefallen den Menschen, wie es die Engel aus der Himmelshöhe den Hirten verheißen! Selig saß ich über meinen Bilderbüchern und sah die Wunder vor mir sich auftun, die der Herrgott auf der Erde erschaffen: die schönen stolzen Tiere, den majestätischen Wüstenlöwen mit der gelb wallenden Mähne, die buntgefleckten geschmeidigen Leoparden, den grimmigen Tiger, die riesigen Ungeheuer von Elefanten, die »Berge aus Fleisch und Knochen« mit den hochgeschwungenen Rüsseln, bis mir die Mutter die Hand auf die Schulter legte. »Komm, Kind, wir wollen zu Tisch gehn!«

Wenn aber alles still geworden in unserm Häuschen und mein Herz noch zu voll war von Glück, um mich schlafen zu lassen, schlich ich auf bloßen Füßen sachte zurück in den Saal und kauerte mich im Nachthemde nieder: da hockte ich mutterseelenallein im Dunkel vor dem Weihnachtsbaum, der vor kurzem noch von Lichtern gestrahlt und nun im Dunkel riesengroß und geheimnisvoll über mir ragte: nur der Silberschmuck der Zweige glitzerte dämmrig, unten am Stamme blinkte das Heilandskind in der Krippe, und einsam im Schweigen der Nacht empfand ich das sanfte Wehen aus einer höheren Welt.

 

Meine erste Deutschlandreise und eine vornehme Bekanntschaft

Der Onkel Leopold hatte Ende der sechziger Jahre mit Rücksicht auf die Gesundheit seiner Frau, und um den Kindern eine deutsche Erziehung unter Deutschen zu geben, seinen Wohnsitz von Petersburg nach Bonn am Rhein verlegt.

Inzwischen war sein jüngster Bruder Emanuel, der als Maler in Sorrent lebte, nach einer schweren Erkältung, die er vernachlässigt hatte, schwindsüchtig geworden. Als es immer bedrohlicher damit wurde, verlangte es ihn heim, aber er war schon so schwach, daß er im Sommer 1873 nur bis Honnef kam, wo ihn die Tante Julie aufsuchte, um ihn nach Berlin zu bringen. Von dort sollten meine Eltern den beiden dann weiterhelfen. Bei dieser Gelegenheit wollten sie vorher einen Besuch beim Onkel Leopold in Bonn machen, und ich durfte mit. Natürlich geriet ich in helles Entzücken darüber, endlich einmal Deutschland, das Land, wo beide Großelternpaare hergekommen waren und von dem ich schon so viel hatte erzählen hören, mit eigenen Augen zu sehen, Freilich sind mir nur traumhafte Erinnerungen an diese meine erste große Reise in meinem siebenten Jahre geblieben. Ich weiß bloß, daß ich andauernd die Mitfahrenden belästigte, um meine Nase an den verschiedenen Fensterscheiben des Abteils plattzudrücken, daß ich lange Zeit nichts anderes als Einöden, Wälder und Sümpfe an mir vorüberfliegen sah, armselige Dörfer mit niederen Holzhütten dazwischen, dann, wenn es dunkel wurde, mit dem Kopf im Schoße der Mutter schlief, eingelullt vom geheimnisvoll-abenteuerlichen Dröhnen und Rattern, und daß ich eines Morgens erstaunt die Augen rieb, als es hieß: »Wach auf, nun fahren wir nach Deutschland hinein!« Im Nu bin ich wieder am Fenster: da ist es denn, das gelobte Land! Und ich staune: im Sonnenschein schimmern weithin Getreidefelder und grüne Wiesen, Sensen blitzen, von kräftigen Armen geschwungen, spitze Kirchtürme steigen rechts und links auf, an stattlichen Ortschaften, blanken Häusern brausen wir hin, Eisenbahnzüge dampfen kreuz und quer in der Ferne, verschwinden hinter Hügeln, und dunkle Rauchschwaden nur noch ziehen ihnen langsam nach über die Höhen. Leben, Bewegung und Arbeit, überall Arbeit!

Mir dröhnen in eine qualmerfüllte Halle hinein: Berlin! Ich tappe an der Hand des Vaters durch Straßen in grellem Lichtgeflimmer und starre verdutzt in das unentwirrbare Gewimmel von Fußgängern, schreienden Zeitungsverkäufern, Fuhrwerken, schellenden Pferdebahnen, Rossen und Reitern in funkelnden Uniformen.

Wir sind in Bonn angekommen. Weiß glänzt hinter den hohen Bäumen des Parkes die Villa des Onkels. Darunter wälzt rauschend seine Wogen der Rhein: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall!« Dampfer voll lachender Leute gleiten vorüber. Böller krachen am Strande, und Jauchzer hallen vom Schiffe zurück.

In warmer Sommernacht sitzen wir im Scheine der Windlichter auf der Terrasse über dem Abhang am Strom, Gläser klirren und klingen zusammen, zischend steigen Raketen in glühenden Streifen auf und zersprühen hoch droben am Sternenhimmel zu Schwärmen von feurigen Funken, bis sie, aus den dunklen Lüften niederregnend, erlöschen.

Wir unternehmen Ausflüge in die Umgegend. Sanft blaut der Morgen über dem Siebengebirge. Zum Drachenfels hinauf reite ich auf einem wirklichen grauen Eselchen, das mit den langen Ohren im Takte wackelt, zum Drachenfels, wo Jung-Siegfried vor undenklichen Zeiten mit dem schuppigen Ungeheuer gekämpft hat und es erschlagen! Bis unter die Höhle der Felswand reiten wir, daraus einst das Ungetüm brüllte und Flammen spie über den tapferen Jüngling. Aber alles ist still jetzt, nur aus den Rebenhügeln unter mir hallen ab und zu Menschenlaute empor.

Doch schon heißt es, die Koffer wiederum packen, und wir dampfen ab … Auf der Rückreise hielten wir uns in Berlin mehrere Tage auf, um das Eintreffen des kranken Onkels Emanuel abzuwarten. Wir waren im Hotel Royal abgestiegen, Ecke der Wilhelmstraße und Unter den Linden, einer kleinen behaglichen Familienunterkunft für ruheliebende Leute. Es müssen dazumal allerhand Politiker, Botschafter und dergleichen vornehme Leute dort abgestiegen sein. Auch Bismarck erwähnt das Hotel als sein Absteigequartier in den »Gedanken und Erinnerungen«. Eines Vormittags spielte ich allein in einem Winkel der geräumigen Treppe mit meinem Pappbären und bunten Bleisoldätchen. Es war so still im Haus, daß man die Wanduhr im Flur ticken hörte. Auf einmal wurden Stimmen laut, Sporen klirrten, und hohen stattlichen Wuchses kam ein alter Herr mit weißem Backenbart in Uniform mit vielen Orden über der Brust die Treppe herauf, hinter sich mehrere ähnliche blitzende und funkelnde Soldaten. Er blieb vor mir stehen, bückte sich und blickte mich freundlich an. »Was machst du denn da, mein Junge?« »Ich spiele«, entgegnete ich, unangenehm in meiner Beschäftigung unterbrochen, »geh lieber weg von hier!« Der alte Herr schmunzelte. »Na, dann will ich nicht länger stören, spiele nur weiter, mein Sohn!« Und er stieg mit den anderen aufwärts, die sahen alle zu mir herüber und lachten. Auf dem oberen Stockwerk aber stand, zum Ausgang gerüstet, mein Vater, zog den Hut tief vor dem alten Herrn, und als alle vorüber waren, kam er zu mir herab und nahm mich bei der Hand. »Weißt du auch, wer dich da eben angesprochen hat? Das ist unser greiser, gütiger Kaiser gewesen!«

Da hatte ich denn die schönste Gelegenheit von mir gewiesen, mit einem gekrönten Haupte in nähere Beziehung zu kommen, und mich wie der Diogenes im Fasse benommen, der keinen weiteren Wunsch an seinen König hatte, als daß er ihm aus der Sonne gehn möge.

Als der Onkel Emanuel bald darauf mit der Tante eintraf und vom Vater ins Hotelzimmer geführt wurde, erschrak ich: unheimlich sah er aus mit den großen starren Augen im eingefallenen Gesicht und dem langen verwilderten Barte, sprach ganz leise mit heiserer Stimme und hustete immerfort, während der ganzen Rückreise war mir nicht recht wohl in meiner Haut, dazu mußte ich mich mäuschenstill in unserem Abteil verhalten, um den Kranken nicht aufzuregen, und als wir in Königsberg Rast machten, verfiel ich, kaum daß ich mich niedergelegt hatte, in ein heftiges Fieber. Von da ab weiß ich nichts mehr von mir, bis ich mich eines Tages daheim auf der Wiborger Seite in meinem Bette vorfand, und zwar in erbärmlichem Zustande: ich konnte kaum schlucken, so schmerzte der Hals, der Boden unter mir, die Decke über mir schwankten, aus den Arabesken der Wandtapete blickten höhnische Fratzen, und immer wieder hieß es »tu den Mund weit auf!«, worauf mir der kleine, schwarzhaarige, funkeläugige Hausarzt mit einem Pinsel voll bittern brennenden Zeugs in den Rachen hineinfuhr und darin herumwerkte. Und als ich nach vielen Wochen aus dem Bett durfte und mich auf den Kaffee freute, der auf dem Frühstückstische im Morgensonnenschein herrlich duftete, rann mir beim ersten Schlucke die köstliche Labe zu meiner Enttäuschung schnurstracks wieder zu den Nasenlöchern hinaus. Das Zäpfchen war noch lahm: ich hatte eine schlimme Diphtheritis mit knapper Not überstanden.

Im Spätherbst aber, als ich im Pelz und mit einem Schal um den Hals zum erstenmal an die Luft durfte, war der Onkel Emanuel, den wir aus der Fremde heimgeholt hatten, ganz still mit dem Kopf im Arm seiner sechsundsiebzigjährigen Mutter erloschen.

 

Merreküll

Inzwischen hatte sich der Vater nach einem näher bei Petersburg gelegenen Orte für unsre Ferien umgesehen und ihn in Merreküll gefunden, einem kleinen Badeplatze am Südufer des Finnischen Meerbusens, wo schon der Onkel Eduard eine »Datscha«, ein Sommerhaus für seine Familie gemietet hatte. Die Bahn führte über die Stadt Narva zur Haltestelle Korff, so geheißen nach dem baltischen Baron, der in der Umgegend Güter besaß.

Die Mutter reiste Mitte Mai mit meinen Geschwistern hin, ich aber mußte vorerst noch zurückbleiben, da die Schulferien für mich mit meinen nunmehr zehn Jahren erst einige Wochen später begannen. Das war schmerzlich, aber ehrenvoll war es doch, als einziger Vertreter der abwesenden Familienglieder mit dem Vater, der alten Johanna und dem russischen Hausknecht Danilo zusammenzuhausen, überdies blieb ich bei den vielen Geschäften des Vaters mehr mir selber überlassen, was ich ausgiebig dazu benutzte, im Park umherzustreifen und erwartungsvoll darüber zu sinnieren, welcher Art Freuden mir wohl drüben im unbekannten Lande beschert werden würden. Auch in der Schule lockerte sich der Betrieb. Statt zu unterrichten, lasen die Lehrer fesselnde und erbauliche Geschichten vor, so daß man allenthalben verheißungsvoll das Wehen von Frühlingslüften verspürte. Ich war glücklicherweise seit einiger Zeit aus den sumpfigen Niederungen der Faulheit und Ungezogenheit auf dem steilen Anstieg zur Tugend begriffen, und als ich eines Freitagnachmittags mit tadellosen Schlußzeugnissen ins Kontor vor den Vater trat, klopfte er mir freundlich auf die Schulter. »So ist es recht!«

Am nächsten Morgen brachen wir zu Mutter und Geschwistern auf. In Narva hatten wir mehrere Stunden Aufenthalt, da wir auf den Bummelzug zu unsrer Haltestelle warten mußten. Neugierig blickte ich an der Hand des Vaters vom Bahnsteig aus über das alte Städtchen hin, um das sich seit vielen Jahrhunderten Dänen, Deutsche Ordensritter, Schweden und Russen gerauft hatten, mit seinen Festungswällen, mit dem hohen Trutzturm, dem »Langen Hermann« im Süden, mit den Trümmern der »Johannisfeste« Iwángorodòk, die überm Fluß drüben auf steilem Fels ragte und, wie mir der Vater erzählte, von den Russen vor bald vierhundert Jahren zum Schutz gegen die Angriffe der Deutschen Ritter erbaut worden war. Dann setzten wir uns zum Mittagessen, und da geschah etwas ganz Unerhörtes: der Vater reichte mir die Speisekarte und sprach: »Da du fleißig und ordentlich gewesen bist, suche dir selber aus, was du am liebsten magst!« Glänzenden Auges sah ich auf und fragte schüchtern, da mein Verlangen nach etwas sehr Kostbarem zielte: »Ein Beefsteak?« »Jawohl, das bekommst du, und sogar ein Beefsteak mit Ei!« Hiemit war der Gipfel der Glückseligkeit erreicht, aber zu meiner Ehre muß ich feststellen, daß ich die ungewohnte Freundlichkeit des Vaters denn doch noch mit tieferer Freude empfand als selbst den Genuß dieses meines Lieblingsgerichts, nach dessen Vorhandensein im Himmel ich mich einst vorsorglich erkundigt hatte.

Nachdem wir in Korff unser Gepäck auf einem Bauernfuhrwerk verstaut hatten, ratterten wir unserm Endziele zu. Föhrenwäldchen zogen sich über die Hochheide hin, Erlenbüsche, Weidengestrüppe starrten um braune Moore, westwärts ragten aus der weiten Ebene in blauem Dufte, einer kleinen Bergkette gleich, drei Hügel, »Waiwara« geheißen, und auf einmal fuhr ich vom Sitze und streckte den Arm. »Was ist denn das drüben?« Im Norden hinter dem Rande der Heide stieg eine tiefblaue Fläche aus unsichtbarer Tiefe gen Himmel. »Das Meer ist's!« sagte der Vater: »Siehst du die Schiffe nicht in der Ferne?« Richtig, da glitten ja, kaum zu erkennen von hier, mehrere Dreimaster mit geblähten Segeln am Horizonte, und die Luft wehte kühler und reineren Atems von dorther.

Wir bogen scharf nach rechts ab, wir karrten an sacht wogenden Hafer- und Roggenfeldern vorüber, wir hielten vor einer steil abfallenden Schlucht, und nun lag unter uns Merreküll, das ersehnte, mit seinen Häuschen in Föhrengehölzen, mit Erlen- und Espenhainen am Strande. »Dort am Meer das Hotel ist das Kurhaus«, sagte der Vater, weitab davon rechts tauchte aus Tannenwipfeln die Spitze der Waldkapelle hervor, und hinter dem Orte streckte sich die Tiefebene voll dichter Fichtenwälder, so weit das Auge zu sehen vermochte.

Der Fuhrmann zog die Bremse an. Drunten ging's in flottem Trabe zwischen Häuserreihen und Gärten hin. Eine Wiese tat sich auf: an ihrem Ende, unter dem Schatten einer mächtigen Kiefer, die einem Eichbaume glich mit ihren knorrigen, weitausgreifenden Asten, lugte einsam ein Häuschen hervor, und aus der Tür trat die Mutter und stürmten die Brüder mit Jubelgeschrei uns entgegen. Natürlich, die Wiedersehensfreude war groß, aber größer noch war mein Verlangen, mich nun sogleich auf eigenen Füßen und mit eigenen Augen in der Umgegend umzusehen, und alsbald rückte ich unter der landeskundigen Führung der Brüder ab, nur der Jüngste blieb zurück, da er noch auf zu kurzen Beinchen trippelte, um uns folgen zu können. »Also«, berichteten sie eifrig, »hier ist's wunderschön!«, und sie freuten sich sehr, daß ich gekommen bin, denn allein dürften sie nicht weit weg vom Haus spazieren gehn, damit sie sich nicht verirren in den Wäldern, da gibt's Pilze und Beeren und da sind Sümpfe, und drum herum wohnen Kreuzottern, die beißen nach den Menschen und die müssen dann sterben, wenn man das Gift nicht gleich aussaugt und die Wunde ausbrennt mit einem glühenden Eisen, und hinter den Wäldern ist ein Hafen am Meer, wo der Fluß hineingeht, der von Narva herkommt, hat die Mutter gesagt, den heißt man Hungerburg, weil dort einmal die Deutschen eingesperrt waren von den Esten und nichts zu essen mehr hatten, aber jetzt ist keine Burg mehr dort, sondern nur noch ein Städtchen. »Dorthin mußt du einmal gehen mit uns! Aber ins Dorf droben auf der Heide sollen wir nicht, sonst hauen uns die bösen Estenjungen, weil wir Deutsche sind, sagt die Njanja. Und links von hier überm Abhang – von unserm Haus kann man's gut sehen – steht ein Türmchen zwischen den Bäumen, der Olga-Pavillon, den der George immer den ›Onkel Pavian‹ nennt, weil er noch so klein ist und dumm! Von dem kann man weit übers ganze Land schauen. Und Musik ist immer nachmittags auf der Kurwiese mitten im Orte oder vor der Kapelle im Walde, da spielen viele Kinder. Am schönsten ist's aber doch am Strande. Jeden Tag baden wir dort mit dem Onkel Eduard und dürfen über drei Sandbänke hinaus, bis das Wasser uns an den Hals reicht!«

So ziehen sie mich denn dorthin auf dem Fußpfade durchs Erlengehölz, das tiefrot, als brennte es, im Abendsonnenschein glüht, und in den Lüften rauscht's immer stärker, obwohl kein Blättchen sich rührt. Ungeduldig breche ich gradwegs durchs Dickicht, und da braust es vor meinen Füßen grenzenlos bis zum Himmelsrand hin, das Meer in schäumenden Wellen, die wälzen sich in langen Reihen hintereinander, als schwämmen Herden um Herden von Rossen mit weißflatternden Mähnen, sie zerschellen zu sprühendem Gischte am Strand und rollen zurück in die Flut, das ewige Spiel zu erneuen.

Die Brüder bücken sich und sammeln Muscheln am Strande – ich kann mich nicht sattsehn. Aber der wogenden See zur Linken ragt die helle Felsküste, zu Schroffen zerrissen, von schrillenden Möwen umkreist, zur Rechten dunkeln über dem Tiefland die Wälder und am Strande starren Granitblöcke, übermannshoch, da einer und da wieder einer, gleich als hätten Vorweltsriesen in der Gigantenschlacht sie gegeneinander geschleudert.

Ich liege im Bett. Die Brüderchen schlafen schon lange, nur die Eltern im Eßzimmer plaudern noch sacht, durch die Ritzen der Tür schimmert rötlich ein Lichtschein herein, und noch einmal zieht an mir vorüber, was alles ich heute erlebt, bis der linde Atem des Schlummers die bunten Bilder ins Gaukeln bringt und sie endlich unter den sinkenden Lidern den Augen entschwinden …

Damit hatte ich mein Kinderparadies gefunden. Wie oft bewege ich mich jetzt noch im Traume darin, grad als wären seitdem nicht über sechzig Jahre hingegangen!

 

Im Wald und auf der Heide

Die Strahlen der Morgensonne blitzen in schrägen Streifen zu unsrer Schlafstube herein. Mit einem Ruck fahre ich aus dem Bett auf die Füße. Lautlose Stille drinnen und draußen, noch ist niemand wach. Ich trete vors Haus und erschaudre leicht in der köstlichen Kühle der Frühluft. Die alte Kiefer über mir glitzert im Tau, vor mir funkelt langhin die Wiese, und über dem Rande der Heide drüben schimmert hellgrau das Schindeltürmchen des »Onkel Pavian«. Unternehmungslust schwellt meine Brust – ein langer Sommer-Sonnentag und die Welt stehn mir offen: was nehme ich zuerst vor? Da zuckt es mir durchs Herz, ein Erinnern: hab' ich es nicht wie einen Stich drinnen gestern beim Plaudern der Brüder verspürt? Die Estenjungen, was hat die Njanja von denen gesagt? Sie würden uns hauen, wenn wir uns ins Dorf hineintrauten? Das sollen sie einmal versuchen! Sind wir nicht Deutsche, haben unsre Landsleute nicht die Franzosen über die Grenzen gejagt bis über Paris und Orleans hinaus? Jetzt ist es an uns, die Ehre des Vaterlandes zu wahren! Ich wecke die Brüder, ich rufe sie zum Rate zusammen, ich halte eine zündende Ansprache, wie es die großen Feldherren aller Zeiten bei solchen Gelegenheiten tun, und einmütig ziehen wir ins Feindesgebiet ab, ob es einer wagen will, uns anzugreifen. Aber für den Kampf, der uns bevorsteht, heißt es sich rüsten, und welche Waffe könnte da wohl Germanenenkeln besser anstehn als die urgermanische Keule? Im Walde gibt's junge Fichtenstämme genug mit starken Wurzelknollen, die braucht man nur auszugraben und zurechtzuschneiden. Der Techniker unter uns dreien, Bruder Moritz, weiß es am besten, wie das anzupacken ist, und wir machen uns eifrig ans Werk. Es gelingt. Mit den Prügeln über der Schulter marschieren wir ab. Aber je näher wir dem Dorfe kommen, je heftiger fängt mir unterm Kittel das Herz an zu klopfen, wenn ich meine kleine Mannschaft überblicke, für die ich die Verantwortung trage. Auch Sorgen um mein eigenes Leibeswohl melden sich, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Ist das Feigheit? Nein, tröste ich mich: je mehr Furcht, je größer das Verdienst, sie zu überwinden! Erst dadurch, daß man seine menschliche Schwäche niederkämpft, erwächst man zum Helden: vorwärts also ohne Wanken wie Blücher!

Nun, unsre Heldenhaftigkeit wurde auf keine allzuharte Probe gestellt. So schlimm war es dazumal noch nicht mit der Verhetzung der Esten und Letten gegen das deutsche Herrenvolk. Die älteren Leute waren in der überwiegenden Mehrzahl friedlich, zogen auch Vorteil von den Kurgästen, freilich unter der Jugend suchten die einheimischen Volksschullehrer, die ihre Bildung eben diesem Herrenvolke verdankten, Haß gegen die angeblichen Unterdrücker zu säen.

Kurz, als wir ins Dorf einrücken, stieben nur ein paar Hühner, die mitten auf der Straße ihr Gefieder im Sonnenschein aufplustern, unter entrüstetem Gegacker vor uns auseinander, die Alten vor den Türen grüßen uns gleichmütig mit dem landesüblichen »Terre, terre«, oder »Júmalakka« (Grüß Gott), die Jungen sehen uns neugierig nach, und erst am Ortsende schickt uns ein Lausbübchen in bloßem Hemde ein gellendes »Sátana Pérgele« (»Satansteufel«) hinterdrein, aber erst nachdem wir uns so weit entfernt haben, daß der Schreihals für unsere Rachegelüste unerreichbar ist. Immerhin, wir haben das Gefühl, uns mannhaft bewährt zu haben, und ziehen siegesstolz heim, wo uns allerdings die Mutter gehörig auszankt, weil wir zu spät zum Essen kommen, grad als wären wir ganz gewöhnliche Knaben und nicht Kämpen, die eben erst ein gefährliches Abenteuer bestanden. Unsre Keulen aber, die Zeugen unsrer Tapferkeit, tragen wir nun jederzeit über der Schulter. So sind wir auf unsern Streifen im Lande für alle Kämpfe gegen böse Menschen und wilde Tiere gewappnet.

 

Blaubergen

Wir wandern quer über die Wiese und steigen durchs Erlenwäldchen am Hange zur Hochheide empor. Die Hügelketten Waiwaras, die in der Lerne verführerisch blinken, sind unser Ziel. Mauersegler kreisen mit kurzen, hellen Jubellauten über uns in der Nachmittagssonne, über den Moortümpeln schwirren schillernd Libellen im Zickzack, aus dem Sumpfwasser strecken Frösche die breitmäuligen Köpfe und quaken. Hinter bunten Faltern her jagt Heinrich mit dem Netz. Moritz ist mit dem Sammeln von Mistkäfern emsig beschäftigt, er dreht die dürren Kuhfladen am Wege geschickt mit dem Stecken um, und auf der feuchten Rückseite wimmelt's von Beute. Ich aber spähe andauernd zur Hügelkette hinüber, die aus der Heide einem Traumlande gleich immer höher emporwächst, meine Phantasie breitet die Flügel und schwebt um die Höhen, die hinter ihren dunkelblauen Wanden Geheimnisse bergen müssen, so dünkt mich. Jetzt stehen wir dicht darunter und klimmen steilauf durch den Fichtenwald zum höchsten der Gipfel. Ein Aussichtstürmchen ragt über den Bäumen, altersgrau, vornübergeneigt, die Stufen zur Plattform verfault und zerbrochen. Hinaufzusteigen hat uns die Mutter verboten, aber es ist doch gar zu verlockend – und hier sieht uns niemand! Freilich das Auge Gottes, das allsehende! Doch vielleicht blickt es diesmal grad anderswo hin! Wir klettern empor, und sachte nur knarrt die Leiter unter der leichten Last. Droben allerdings schwankt das Türmchen bedenklich im Winde, und geschwind sind wir wieder unten. Nun setzen wir uns auf dem Moosboden nieder, um unsre Butterbrote zu verzehren, und ich gebe den Brüdern die Kenntnisse zum besten, mit denen ich mich unterwegs aus der Fülle meiner Einbildungskraft bereichert habe. »Diese Waldberge hier«, erzähle ich, »waren vor grauen Zeiten ein Königreich, das hieß Blaubergen, und drei Brüder herrschten von hier aus über das ganze Land hin bis Narva und Reval, der Wal, der Wa und der Ra, drum nennt man's jetzt Waiwara. Es waren gute Könige, und es waren glückliche Zeiten. Überall, wo jetzt Heide ist, waren Bauernhöfe und Kornfelder, die reiche Ernten trugen, zweimal im Jahr, in den Wäldern gab›s Hirsche und Rehe wie in Deutschland, und alle Ströme wimmelten von fetten fischen, Forellen und Lachsen. Aber einst gerieten die Brüder in Streit miteinander um ein wunderschönes Mädchen, wie kein andres im Land war. Da stand plötzlich eine riesige Hexe vor ihnen, finster wie die Nacht, dürr und länger als die Tannen im Walde, die schrie, daß es gellte: ›Jetzt seid ihr in meine Gewalt gekommen. Verflucht sollt ihr sein!‹ Sie stampfte mit dem Fuß, daß die Blauberge dröhnten und schwankten, und augenblicks versanken die Könige samt ihren Palästen und Schätzen unter die Erde, die Felder verdorrten, die Leute zogen in ferne Länder, und die Bauernhöfe fielen in Trümmer, so daß jetzt hier nur Heideland ist. Die drei Könige aber leben noch mit den Kronen auf den Köpfen in einer großen Höhle unter dem Boden, weiße Bärte sind ihnen gewachsen und wachsen immerzu, so daß sie sich die immer von neuem um den Leib wickeln müssen, damit sie nicht im Staube herumliegen. Man könnte sie wohl erlösen, aber den Eingang zur Höhle findet nur ein Glückskind, das am Heiligen Johannisabend geboren ist, und auch so eins würde sich hart tun, denn vor der Eisentüre liegt ein schwarzes Ungeheuer, so groß wie ein Haus, ein Hund mit feurigen Augen, und fletscht die Zähne. Darum darf man hier nicht allzu laut sein, daß einem nichts Schlimmes geschieht!« … Die Brüder kauen an ihren Butterbroten und schweigen. Nach einer Weile flüstert Heinrich, der den Dingen stets auf den Grund geht: »Aber woher weißt du denn das auf einmal?« »Ein ganz alter Bauer im Dorf hat mir's erzählt.« »Aber wir waren doch immer zusammen!« »Da habt ihr noch geschlafen, und ich bin allein drüben gewesen.« »Aber woher weiß es denn der?« »Dem hat es sein Großvater erzählt und dem Großvater dessen Großvater, der hat es selbst noch erlebt!« Bor solchen genauen Angaben aus dem Abgrund unvordenklicher Zeiten wird Heinrich überwältigt, sein Spürsinn gibt sich zufrieden, und ich bin, Gott sei's gedankt, der Mühe enthoben, meine Fabeleien mit neuen Lügenmären zu stützen.

Als wir heimkehren, sinkt schon die Sonne in unserm Rücken dem Meer zu, aus dem Heidekraut zirpen ringsum Chöre unsichtbarer Grillen, und von den Tümpeln her hallt das Rufen der Unken gleich Glasglockenklängen voll Sehnsucht, als klagten auch sie einer versunkenen Herrlichkeit nach.

 

Hungerburg

Ein Tag des Heils bricht für uns an. So lange drängen und betteln wir bei der Mutter, nach Hungerburg gehen zu dürfen, bis ihre Widerstandskraft ermattet und sie es erlaubt. In aller Herrgottsfrühe schon brechen wir auf in unserm besten Gewand, mit Proviant reichlich versehen und dreißig Kopeken (etwa sechzig Pfennige) in meinem Beutel, denn vor Abend können wir nicht zurück sein, der Weg ist sehr weit – zehn Kilometer zwar werden es kaum sein, aber auf der Landstraße trotten würde nur ein verächtlicher Schwächling. Mitten durchs Waldesdickicht geht's ohne Pfad. Da kann man Abenteuer erleben, auf wilde Tiere, auf Räuberhorden stoßen, und wenn sie sich durchaus nicht einstellen wollen, nun ja, da stellt man solche sich vor. Ha, seht ihr sie nicht heimtückisch lauern, dort hinter den sichten, die Feinde? Drauf und dran mit Hurra! In Sprüngen stürmen wir über gestürzte Stämme und Bäche, durch schwärzliche Moore, daß der Schlamm hochaufspritzt an uns. Die unsichtbaren Widersacher entfliehen, wir ihnen nach. Auf der Bodenwelle drüben haben sie sich verschanzt. Jetzt heißt es sich ducken und schleichen. Don drei Seiten auf einmal brechen wir vor, und unsre Keulen schmettern und räumen furchtbar auf im dürren Gehölz, das droben in Frost und Winterwind eingegangen. Der Sieg ist gewonnen, aber nicht ohne Verluste: die Hosen sind bedenklich zerfetzt, Moritz ist beim Angriff gestürzt und taucht mit blutigen Schrammen im Gesicht auf, Heinrichs Jacke ist in Dornen hängen geblieben, weist beträchtliche Risse auf, und alle drei sind wir schön dreckig von Kopf bis zu Fuß von den Schlammspritzern aus den Sümpfen … Da lichtet sich der Wald, hinter den Stämmen erschimmert in der Lerne die Zwiebelkuppel eines Kirchleins, zur Linken leuchtet die See auf. Abschläge hallen, Menschenstimmen erschallen. Wir treten auf eine Sanddüne hinaus. Wir blicken aufs Hafenstädtchen hinab mit seinen Schindeldächern, und an den Häusern und Häuschen vorüber wälzt der Strom seine Wasser breithin ins Meer. Dampfer stoßen Rauchwolken aus, Pfeifen schrillen, stolze Dreimaster ragen am Strande, mächtige Barken, schwerbeladen mit Baumstämmen und einem Hüttchen am Hinterdeck zur Unterkunft für die Mannschaft, eine Fähre voll von Leuten schwimmt mitten im Fluß, und überall wimmelt's auf der glänzenden Wasserfläche von Booten. Der Geruch von feuchtem Holz und von Teer steigt uns in die Nase, und vom Ufer hallt eintönig-schwermütig Schiffergesang.

Wir ziehn durch die Gassen, die Keule über der Schulter, so wie wir aus den Waldschlachten kommen, voll Dreck und voll Speck. Die Leute, die uns begegnen, schauen uns erstaunt Ins Gesicht und lachen uns nach. Beim Krämer kehren wir ein und fordern drei Flaschen Limonade für unsre durstigen Kehlen, zehn Kopeken das Stück. Der Inhaber, ein behäbiger Russe, fragt freundlich: »Wo kommt ihr denn her, kleine Herrschaften?« »Ganz von weit her, von Merreküll!« berichten wir stolz. Er lächelt. »Was ihr nicht sagt! Das ist ja beinahe schon aus der Welt!« »Jawohl, und ganz allein durch den Wald ohne Weg!« »Seid ihr tapfre Burschen, man sollt es nicht glauben! Deswegen tragt ihr wohl auch die Prügel?« Wir nicken befriedigt. Das ist ein vernünftiger Mann, der die Welt kennt und uns versteht.

Wir machen uns auf den Rückweg und diesmal zur Abwechslung dem Strande entlang. Spiegelglatt liegt die See, die Sonne im Niedergang wirft eine Flammenbrücke über die Flut, und im Dunst überm Horizonte erscheint plötzlich mit den Masten nach unten, Kiel aufwärts, ein Segler am Himmel. Sind wir verhext, ist das wirklich? Ha, jetzt hab' ich's. Das ist die Fata Morgana, von der uns der Lehrer aus dem Saharabuche gelesen!

Als wir daheim in die Küche treten, schlägt die Njanja die Hände über dem Kopfe zusammen. »O ihr Räuber ihr, wie schaut ihr nur aus? Die guten Hosen, das schöne Gewand! Mamachen, Mamachen, kommen Sie schnell, sehen Sie nur!«

 

Die Kreuzottern

Wir haben das Moor erkundet, wo die Kreuzottern mit Vorliebe hausen. Da ringelt sich eine am Rande empor, dunkelgrau, züngelt und zischt. Die Keule saust nieder, zerschmettert windet sich die Schlange und zuckt noch eine Weile, dann liegt sie tot da. Mir heben sie auf. Jawohl, eine richtige Kreuzotter ist's mit dem schwarzen Zickzackstreifen über dem Rücken. Im Triumph wird sie heimgetragen und der aufschreienden Njanja zu Füßen gelegt. Doch das genügt unserm Ehrgeiz nicht. Lebend sollte man die Untiere heimbringen können, daß die Leute sie auch fauchen und geifern sehen wie wir. Moritz weiß Rat. »Wenn sie sich aufbäumt«, sagt er, »nicht gleich zuschlagen, sondern einer muß sie geschwind zu Boden drücken und der andre einen Ast abhauen, einen Spalt hineinschneiden und ihren Hals hineinstecken, dann sitzt sie drin und kann uns nicht beißen!« Nach einigen mißlungenen Versuchen, wobei die unglücklichen Gefangenen erstickten, haben wir Erfolg. »Pfui, ihr ekligen Jungen«, schilt die Mutter, als wir mit dem zischenden Gewürm anrücken, »das arme Tier so zu quälen, weg damit, mir aus den Augen!«

Einmal haben wir besonderes Jagdglück. Drei Kreuzottern ringeln sich an unsern Stecken, als wir uns heimwärts bewegen. Wir treten aus dem Schatten in den Sonnenschein auf die Landstraße: von der Waldkapelle her tönt Musik und fröhliches Kindergeschrei. Welch eine Gelegenheit, uns in vollem Glanze zu zeigen! Brust heraus, siegesbewußt schreiten wir über die Wiese vor der Kapelle durchs Menschengewimmel. Neugierig schart das kleine Volk sich um uns. »Was habt ihr da?« »Kreuzottern!« tönt's stolz zurück. Mütter kreischen auf und reißen ihre Schützlinge zurück, Väter eilen finstern Gesichtes herbei. Zornentbrannt tritt ein dicker Herr auf uns zu. »Gleich gebt ihr das garstige Zeug her, ihr Burschen, oder ich schlage euch windelweich!« Ein fremder Mann uns schlagen? Uns, die wir die Gegend von Giftschlangen säubern! »Nimm's!« ruf ich erbittert und halte ihm das fauchende Reptil unter die Nase. »Nimm's!« schreien die Brüder und strecken die ihren ihm hin. Erbleichend weicht der Dicke zurück. Schelten, Lärm und Gelächter! Wir aber fechten und fuchteln uns mit den Teufelsdingern am Stecken glücklich durch die empörte Menge und entrinnen ungezüchtigt auf Umwegen heim, Freilich läuft am nächsten Morgen eine Beschwerde der Kurverwaltung über unsre Leib und Leben der Gäste gefährdenden Streiche und unser unerhört freches Auftreten gegenüber Erwachsenen ein. Da straft uns die entrüstete Mutter mit Hausarrest drei herrliche Sommertage lang. Das ist bitter.

Natürlich geraten wir zuweilen auch untereinander in Streit, und leider nutze ich schamlos die größere Körperkraft aus, die mir als Ältestem die Jahre verleihen. Aber das sind Fehden, die Innerhalb der Familie ausgetragen werden. So beutle ich einmal im Gehölz am Wege zum Kurhaus die Brüderchen voller Ingrimm, daß sie hin und her taumeln. Ein stattlicher Herr mit dunkel wallendem Barte geht vorüber, sieht's und packt mich am Kragen. »Du großer Lümmel, schämst du dich nicht, die Kleinen so zu traktieren?« Und er holt mit dem Rohrstöckchen aus. Im selben Augenblick aber hängen ihm schon die »Traktierten« an den Hosen, hämmern mit den Fäustchen aus ihn ein und zetern jämmerlich: »Laß ihn los, du! Was geht's dich an, wenn unser Bruder uns haut!« Da senkt der Herr den Stock und lacht hell hinaus. »Da hab' ich's nun. Misch dich in Räuberhändel, und gleich steht die ganze Bande wider dich auf!«

 

Geselliges Treiben

Was wäre aber Merreküll ohne den Onkel Eduard, die Tante Flora, den Vetter und die Basen? Ganz unvorstellbar für uns!

Allmorgendlich schon traben wir an der Waldkapelle vorüber, durch den lichten Fichtenhain vor ihre stattliche Villa, in der zwei solcher Häuschen wie das unsre Platz hätten und rufen zum Onkel hinauf, ob er nicht zum Baden gehen wolle mit uns.

Der sitzt auf der Altane über Papieren, in Berechnungen vertieft. Ein merkwürdiger Mann, immer geschäftig zum Wohle seiner Mitmenschen, obwohl er sich angeblich schon lange zur Ruhe gesetzt hat.

Ist es vielleicht eine geringe Mühe, die er übernommen hat, uns vier Rangen beim Baden zu überwachen? Ins Wasser hinein geht's mit Jubelgeschrei, aber nur der kleine George bleibt friedlich plätschernd im Seichten nahe dem Strande, schon schwimme ich über die erlaubte Grenze hinaus weit draußen im Meer. Heinrich ist zwischen zwei Sandbänken in die Tiefe gestolpert und gurgelt verzweifelt, Moritz, erfinderisch wie immer, gaukelt, mit unserm großen Spielball als Schwimmhilfe unter dem Bauch, fröhlich auf den Wellen. Auf einmal ist er nirgends mehr zu erblicken, nur der Ball treibt einsam auf der Flut, und der Onkel muß eilig nach dem Versunkenen tauchen, um ihn vom Meeresgrund aufzufischen. Dann geht die Not an, uns wieder aufs Trockne zu bringen, denn keiner will aus dem Bad, bevor er nicht bläulich vor Kälte starrt und an allen Gliedern zittert, »wie Wespenlaub«, sagt Moritz, weil es ihm so richtiger scheint. Und wenn noch die Baderei mit einem Male am Tag abgetan wäre, aber schon stehen wir nachmittags wiederum unter seiner Altane mit flehenden Blicken, und am Abend abermals, und allemal steigt er kopfschüttelnd und vor sich hinbrummelnd zu uns hinab und läßt sich erweichen. Ja einmal, während eines Tagesausflugs vom Morgen bis in die Nacht am Strande entlang haben wir es auf fünf Male gebracht. Dafür lieben und verehren wir aber den Onkel auch, und wenn er gar zu aufdringliche Wünsche abweist und uns bei Gelegenheit gehörig auszankt, denn auf der Nase herumtanzen läßt er sich bei aller Gutmütigkeit nicht, dann fügen wir uns de- und wehmütig in unser Verhängnis.

Weniger zugänglich für uns ist sein Ältester, Vetter Edia. Das Brummeln seines Vaters übersetzt er in ein unwirsches Brummen, wenn wir ihm in die Quere kommen und ihn belästigen. Was soll auch der bald Siebzehnjährige viel anfangen mit solch grasgrünen Bürschchen wie uns? Schwerfällig und genau, tut er sich nirgends leicht, aber mit unbeirrbarer Zähigkeit verfolgt er seine Ziele und erreicht sie. Groß ist er in Mathematik und im Konstruieren von nützlichen und erfreulichen Gegenständen. Wenn er mit peinlicher Sorgfalt Drachen nach wissenschaftlicher Berechnung zusammenbastelt und leimt, belagern wir ihn mit erwartungsvollen Blicken. Und wenn wir dann auf die große Wiese mit ihm hinausziehn und sein Drachen hoch über die stümperhaft flatternden Fahrzeuge der andern emporsteigt, ja, dann sind wir stolz auf ihn, und er lacht befriedigt, da er das Werk seiner Hände schier bis in den Himmel schweben sieht. Seine ganze Liebe aber ist das Klavierspiel. Jeden Vormittag übt er stundenlang, mag ihm die Sonne noch so verlockend ins Fenster scheinen, und er ruht nicht, bis die Finger treffsicher über die Tasten fliegen und das Stück in vollkommener Reinheit und Klarheit erklingt. Daneben gibt er mir zweimal in der Woche Musikunterricht, und da zeigt sich's, daß auch hinter seiner Brummigkeit die Herzensgüte seines Vaters sich versteckt, denn wir sind durchaus verschieden geartet. Während ich mich am Zauber des Klanges berausche, mich, was die Richtigkeit anlangt, mehr auf Eingebung verlasse und über Schwierigkeiten mit kühnen Fingersprüngen hinwegsetze, läßt er mir keinen Fehlgriff durchgehn und dringt unablässig mit unermüdlicher Geduld auf gewissenhafte und saubere Ausführung, bis ich mich stöhnend und schwitzend ergebe. Doch als ich eines Tages in naturburschenhafter Unbekümmertheit ohne Jacke, »mit offner Brust, verwehtem Schopf« und barfuß obendrein zum Unterricht erscheine, jagt er mich entrüstet zum Tempel hinaus. Was das für eine Frechheit sei, in so liederlichem Aufzug zu ernster Arbeit sich einzufinden? Sofort heim und anständig anziehen, sonst wäre es aus zwischen uns! Und auch der Onkel sieht mir unwillig kopfschüttelnd nach, nur die barmherzige Tante Flora meint begütigend: »Der arme Kerl hat sich ja sicher gar nichts dabei gedacht!« Freilich, das ist eben die Kunst, die ich noch nicht gelernt habe, zu rechter Zeit richtig zu denken.

Mit der sechzehnjährigen Base Jettchen verknüpft mich ein besonderes Band innerer Verwandtschaft. Mir dichten alle beide mit großem Eifer, allerdings nach entgegengesetzten Richtungen hin. Sie besingt, wie es ihrer anmutig-schlanken Erscheinung und ihrem heiter-zärtlichen Wesen entspricht, liebliche, erfreuliche oder sanft wehmütige Vorgänge in beschwingten Versen, die sie in gleichmäßig sauberer Handschrift niederlegt. Meine Poesie holpert und stolpert einher genau so wie die Buchstaben, die ich male, und sie befaßt sich vornehmlich mit elementaren Ausbrüchen und Auftritten, wie:

Das ist der Sturm, der echte deutsche Sturm,
Vor dem erzittert jeder Mensch und jeder Wurm!

Das Bäschen meint zwar, »Turm« würde besser in den Reim passen, ein solch niederes Wesen wie der Wurm gehöre nicht in die Poesie. Aber eine solche Herabsetzung des Wurmes weise ich entrüstet zurück … Jettchen hat ein wunderschönes Liebeslied gedichtet, »Das Vergißmeinnicht«, und es wird von allen Verwandten gebührend bewundert. Jede der vielen Strophen endet kunstvoll mit dem wehmütigen Seufzer als Kehrreim »Vergiß mein nicht!« Nun taucht alle Sonntage bei den Papmehls der Vetter Georg Schulze auf, ein sittlich hochwertiger und wirtschaftlich gut gestellter Mann mit schönem, rotem Vollbart, und bei unsern gemeinsamen Spaziergängen wandelt er stets mit dem Bäschen allein hinter den andern her. Jetzt ist die Gelegenheit da, für meinen verachteten »Wurm« Rache zu nehmen. Als das schöne Gedicht wieder einmal verlesen worden ist, frage ich laut im Angesicht der ganzen Gesellschaft: »Es ist wohl ein rotes Vergißmeinnicht, das du meinst?« und ergreife schleunigst die Flucht, um meinen Schopf vor Jettchens hastig zugreifenden Händen zu retten.

 

Die Krieger

Unser guter Ruf hat durch das Kreuzotternabenteuer bedenklich gelitten. Die bessere Gesellschaft betrachtet uns mit Mißtrauen und warnt ihre Sprößlinge vor dem Umgang mit uns. Aber gottlob, es gibt noch rauhe männliche Charaktere, die sich über solche Besorgnisse der Eltern hinwegsetzen, und bald sehen wir uns von einem Haufen wilder verwegener Gesellen umgeben. Der Verwegenste darunter ist mein Klassenkamerad von Korff, groß, starkknochig, voller Sommersprossen im breiten Gesicht, ein gefürchteter Faustkämpfer. Wir sind gute Freunde, denn ich habe ihm einen wichtigen Dienst geleistet. Bei einem Zweikampf in der Schule hatte er seinen Gegner so wuchtig niedergeschlagen, daß der eine Gehirnerschütterung erlitt. Der mißhandelte Frisch behauptete, Korff hätte ihm heimtückisch von hinterrücks die Faust an die Schläfe geschmettert. Der Herr Direktor May zog die Stirne in Falten. »Dann sieht es bös für dich aus, Korff, denn das wäre eine niederträchtige Feiglingstat gewesen, Feiglinge aber und Heimtücker haben bei mir nichts zu suchen!« Da trat ich vor und bezeugte, so sei es nicht, ich hätte es genau gesehen, die beiden hätten einander regelrecht gefordert, und als sie einander gegenüberstanden, hätte Korff wuchtig ausgeholt, der andre aber sei ausgerissen, und da habe ihn freilich der Schlag von hinten an die Schläfe getroffen. »So«, sagte der Herr May beruhigt und zog seine Tabaksdose hervor, »na, dann ist es nur eine eurer üblichen Prügeleien gewesen, und ihr Raufbolde sitzt mir alle beide heute zwei Stunden nach, und zwar miteinander in der kleinen Schulstube drüben, und damit ihr dabei nicht in Versuchung kommt, weiterzukämpfen, schreibt mir jeder feinsäuberlich fünfzigmal in sein Heft: »›Mut zeiget auch der Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck!‹«

Als die beiden Sträflinge eingesperrt waren, hockten sie zunächst in finsterm Schweigen auf einer Bank über ihren Heften, ohne einander anzublicken, nur die Federn raschelten und kratzten emsig über das Papier, um die gewaltige Aufgabe rechtzeitig zu erledigen. Nach einer Weile fing Frisch an zu seufzen. Korff schielte hinüber. Der andre leckte grade einen dicken Klex auf, der ihm ins Manuskript getropft war. Korff lächelte schadenfroh und beugte sich wiederum übers Heft, doch gleich darauf fuhr er wütend in die Höhe, knirschte mit den Zähnen und schlug mit der Faust aufs Pult, daß das Tintenfaß im Behälter einen Satz machte. Unwillkürlich hob Frisch den Kopf. »Was ist denn?« »Der Teufel soll's holen! Jetzt hab' ich dreimal ›Gehorsam ist des Christen Mameluck‹ geschrieben!« Worauf Frisch brummte: »Da kann doch ich nichts dafür! Und überhaupt, ich bin gar nicht vor dir ausgerissen, wie der Weber gesagt hat, denn ich wollte nur weiter weg, um einen richtigen Anlauf zu nehmen, und da hab' ich's nicht gesehen, daß du schon ausgeholt hattest!« Das Eis war gebrochen. Zeige- und Mittelfinger bis über die Knöchel voll Tinte, zogen die beiden einträchtig miteinander ab. Und der Herr May hatte wieder einmal das Richtige getroffen: gemeinsames Lelö versöhnt oft die bittersten Feinde. Dieser weitberühmte Korff wird natürlich zu unserm Oberbefehlshaber erwählt, und ernennt mich zu seinem Adjutanten. Zunächst erbauen wir gemeinsam eine Festung. Dicht am Rande der Landstraße von Narva, dort wo sie zum Tieflande nach Merreküll abfällt, haben wir eine mächtige Lehmgrube entdeckt. Die wird erweitert, wohnlich ausgebaut, mit Pfählen und Dorngesträuch verrammelt und Munition in Form von frischen, schweren Tannenzapfen gesammelt. Denn wir haben Gegner im Kurort, und durchaus nicht verächtliche, wenn auch keiner an unsern Generalissimus heranreicht. Die verstehen die Herausforderung, die in unserm Festungsbau liegt: der Krieg ist erklärt. Plänkler der Feinde, die sich allzu keck vorwagen, werden gefangen genommen und ins Verließ geworfen. Ihre Kameraden stürmen zur Befreiung heran, die Schlacht entbrennt. Geschosse schwirren von hüben und drüben, Tannenzapfen und Steine. Mit Hurra brechen wir zum Nahkampf hervor aus der Festung. Korffs Faust saust im Getümmel und schmettert auf die Köpfe nieder. Die Gegner weichen und fliehen, von uns verfolgt, über den Wiesengrund. Aber auch wir haben gelitten: Verwundete reiben stöhnend ihre Beulen, und Heinrich, von einem wuchtigen Tannenzapfen in den Unterleib getroffen, hinkt, von den Brüdern gestützt, mühsam nach Hause.

Dunkle Gerüchte kommen uns zu Ohren: Rache nehmen wollen die Feinde, haben aus dem Nachbarort Schmetzky bedeutende Verstärkungen herangezogen. Ich werde auf Erkundung nach Schmetzky geschickt und falle in die Hände der Gegner. Sie umringen mich drohend und stellen mich vor die Wahl: fürchterliche Prügel oder Auskunft über Stärke unsrer Mannschaft und die Geheimnisse der Festung! Da sind sie an den Rechten gekommen! Als wüßte ich nicht aus dem Lederstrumpf, wie man sich in solchen Fällen zu verhalten hat! Ich lüge ihnen den Buckel voll: Zwistigkeiten wären unter uns ausgebrochen, die Tyrannei Korffs sei nicht mehr zu ertragen, und ich wäre grad auf dem Wege gewesen, zu ihnen überzugehen, als sie mich ergriffen. Heute nachmittag würden sie die Festung von der Besatzung verlassen vorfinden, denn fast alle unsre Krieger seien zu Schokolade und Kuchen bei einem Bekannten geladen. Sie glauben mir, ich finde Gelegenheit, mich unauffällig zu drücken, ich bringe Korff brühwarm die Nachricht, ich werde ob meiner Kriegslist belobt, und als die Feinde am Nachmittag in hellen Haufen heranrücken, braust ihnen Kriegsgeheul entgegen, und unsre Köpfe tauchen vollzählig über den Wällen auf. Da stutzen sie, und ihr Vormarsch stockt. Aber auch wir bekommen Bedenken, da wir ihre Menge gewahren. Parlamentäre treten von beiden Seiten zusammen. Warum befehden wir uns eigentlich? Wir sind doch alle miteinander wackre wehrhafte Burschen? Wär es nicht gescheiter, wir täten uns zusammen, um einen Feldzug gegen den gemeinsamen Feind zu eröffnen, gegen die Muttersöhnchen, die geschniegelten und pomadisierten, die dünkelhaften, die mit Verachtung auf uns herabschaun? So wird denn auf dieser Grundlage Friede geschlossen, alle miteinander hocken wir nun in der Festung und lauern auf die ahnungslosen, unglücklichen Opfer ihrer Wohlgezogenheit, um ihnen ihre tadellosen Scheitel zu zerstören und sie gepufft und zerzaust heimwärts zu jagen, bis die allgemeine Empörung über das Räuberunwesen im Kurorte uns zwingt, die Festung aufzugeben und nach andern Abenteuern auszuschauen.

 

Die bittre Neige

Wir hatten für die lange Ferienzeit von beinahe drei Monaten natürlich auch einen Haufen Schulaufgaben mitbekommen: Aufsätze, Rechnungen, Schönschreibeübungen und dergleichen Belästigungen mehr. Aber wer wäre fähig gewesen, sich unter den Sommerwonnen und Abenteuern in Wald und Feld darum zu kümmern? Die Aufgaben lagen wohlverwahrt in einem entlegenen Schubfach, und erst am letzten Tage, als ich meine Sachen zusammenpackte und die glücklich Vergessenen in ihrer Unberührtheit vorfand, rieselte mir Entsetzen kalt durch die Glieder. Übermorgen ging schon die Schule an, und ich mußte die Hefte leer abliefern, ich, dem der Vater ein Beefsteak mit Ei für sein Wohlverhalten gespendet!

Allzuspäte Reue im Herzen kam ich daheim an und ging sofort ins Herrenhaus, um meinen Freund Alex aufzusuchen und mir bei ihm Rats zu erholen in der Bedrängnis, aber ich traf ihn in demselben trostlosen Zustande an, in dem ich mich befand. Düster brütend, den Kopf auf der Brust, saß er auf dem Schemel vor dem Klavier. Nicht einmal das Musikstück hatte er geübt, das er morgen dem Vater zum Geburtstage vorspielen sollte, von den Schulaufgaben gar nicht zu reden! Schande, unauslöschliche Schmach wartete unser. War das zu ertragen? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Alex zog einen Spagat aus der Tasche. »Ich erdrossle mich hier am Klavier!« murmelte er dumpf. »Und ich«, rief ich verzweifelt, »schlage mir den Kopf entzwei an der Wand!« Er legte sich seufzend die Schlinge um den Hals und fing an zuzuziehen. Ich nahm einen Anlauf und rannte gegen die Wand an, aber die Beine zuckten im letzten Augenblick unwillkürlich zurück, und statt mit zerschmettertem Schädel zu stürzen, rieb ich mir lediglich tränenden Auges die schmerzhafte Beule an der Stirne, die mir vom Zusammenstoß mit der unnachgiebigen Wand jählings aufgequollen war. Indessen hatte auch Vetter Alex seinen Vorsatz aufgegeben, nachdem er sich ziemlich blaugewürgt hatte. So blieb uns denn nichts übrig, als die Folgen unsrer frevelhaften Versäumnisse bei lebendem Leibe zu ertragen.

Sie blieben aus. Als wir am nächsten Tage klopfenden Herzens auf der Schulbank saßen, fragte auch nicht einer der Lehrer nach den Ferienaufgaben, ob es nun aus Erbarmen mit uns geschah oder aus Rücksicht auf die Herkulesarbeit, die ihnen bei der Säuberung eines solchen Augiasstalles drohte – unsre Sünden versanken jedenfalls im sanften Lethestrom des Vergessens.

 

Des Sängers Fluch

Das Hocken auf der Schulbank nach der köstlichen Ferienfreiheit wurde mir natürlich anfangs recht sauer, aber alsbald blühten auch hier unerwartete Freuden auf. Der Herr von Körber, wegen seines rötlichen Vollbarts »Barbarossa« geheißen, ein etwas gemächlicher, baltischer Herr blaßblauen Auges, der keiner Fliege was zuleid tat, begann deutsche Gedichte mit uns durchzunehmen, die wir dann vom Katheder aus vortragen mußten. Da tat ich mich rühmlich hervor, denn ich lernte leicht auswendig, und mein Pathos schwang sich zu einer in diesen Räumen bisher ungehörten Höhe empor. Was für einen herrlichen Stoff für die Entwicklung meiner Lungenkraft boten aber auch Schillers Balladen mit dem hinreißenden Schwunge ihrer klaren Sittlichkeit: Die Bürgschaft, die Kraniche des Ibykus, der Ring des Polykrates! Oder des wackern Schwaben Uhland prächtige Gesänge: das Glück von Edenhall, des Sängers Fluch und andre mehr. Ja, einer meiner Klassenkameraden übertraf mich einmal sogar an dröhnendem Pathos, als er uns den Vorgang vortrug, da ein tapfrer alter Kriegsmann seinen kugeldurchlöcherten Mantel wehmütig betrachtet. Allerdings übersteigerte der Deklamator in der Siedeglut der Begeisterung die Dichtung etwas unvorsichtig folgendermaßen:

Und wo die Fetzen herunterhangen,
Da sind die Kanonen hindurchgegangen!

So daß der gute Barbarossa sogar in unser lärmendes Hallo! lachend miteinstimmte.

Natürlich beschränkte ich mich nicht darauf, die Flamme meiner Begeisterung nur in der Schule lodern zu lassen: einem »Fahrenden Sänger« gleich, zog ich von Haus zu Haus und deklamierte, vielbewundert und beklatscht von groß und klein und fast immer zu Wiederholungen aufgefordert, freilich fürchte ich, nicht immer lauteren Herzens – die Gesichter der Erwachsenen wenigstens verzogen sich manchmal merkwürdig während meines leidenschaftlichen Vortrags, grad als ob sie bemüht wären, eine aufsteigende Heiterkeit zu unterdrücken. Und endlich ward ich grausam ernüchtert, als ich eines Abends in unsrer guten Stube den Brüdern des Sängers Fluch zum soundsovielten Male zum besten gab und es grade mit Aufwand all meiner Stimmkraft hinausgellte:

Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt,
Draus statt der goldnen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt!

Denn da stand plötzlich auf der Schwelle seines Kabinetts, dunkel und hoch wie eine Geistererscheinung, der Vater und sprach: »Es ist ja ganz schön, daß du dich begeisterst, aber deswegen brauchst du noch nicht so zu schreien, daß einem die Ohren weh tun, meinst du nicht auch?«

 

Liebesfreude und Leiden

Am liebsten ließ ich mich im Hause des Onkels Georg König hören, denn da lauschte mir auch die um fünf Jahre ältere Base Lilli mit ihrer sanften Stimme und den braunen Rehaugen, die mich einst als ihren zukünftigen »Herrn Gemahl« bezeichnet hatte. Zwar glaubte ich nun nicht mehr so ganz an den Ernst dieser ihrer Absicht, denn von der angehenden Dame, die sich schon vielumworben auf Bällen bewegte, trennte mich eine gar zu große Kluft. Sie trieb wohl nur ein harmlos-freundliches Spiel mit mir, doch kam es mir darauf auch gar nicht an. Es war ein Verhältnis, wie es sich in der Art kaum anderswo so eigentümlich entwickelt wie unter uns unpraktischen Deutschen. Meine Zuneigung wollte nichts für sich haben, sie begehrte nichts, als den Gegenstand der Verehrung wunschlos und dankbar im Herzen tragen zu dürfen. Eine »Knabenschwärmerei«, gewiß! Aber dieser Schwärmerei lag letzten Endes doch das freie und in seiner Freiheit beseligende Gefühl zugrunde, das Goethe ausrufen läßt: »Was geht's dich an, wenn ich dich liebe?« Ein solches Verhältnis beglückt, so lange die wunschlos Geliebte es in seiner Zartheit zu achten versteht. Mir blieb es ein Schirm in allen sinnlichen Anfechtungen über meine Knabenjahre hinaus. Im übrigen hinderte es mich durchaus nicht, daneben ganz unbefangen auch nach andern Verbindungen auszuschauen gleich den Sängern des Mittelalters, die trotz der »Hohen Minne«, die sie priesen, zugleich die weniger hohe in Gang hielten.

Dazu war der Anlaß bald da. Fast alle meine engeren Freunde hatten sich mit der Zeit sogenannte »Flammen« in Gestalt von liebenswerten Kusinen zugelegt. Nur Alex und ich standen noch unversehen da. Das verletzte unser Selbstgefühl, denn wenn die Spielgefährten untereinander ihre Erfolge bei weiblichen Wesen besprachen, waren wir zu beschämendem Schweigen verurteilt. Wir fingen an, ernstlich nachzusinnen, wie dem Übelstand abzuhelfen wäre, es war die höchste Zeit, fast alle jungen Schönen in unsern Kreisen hatten schon ihre festen Verehrer.

Alex hatte ein allerdings noch blutjunges Bäschen namens Jenny, ein zierliches Ding, das dafür allenfalls in Betracht kam. Mir fiel das Töchterchen des Onkel Eduard ein, Florchen, ein rundliches, rosiges Geschöpfchen, still und sanften Gemütes, aber zu jähem Aufflammen fähig, wenn ihre Gefühle verletzt wurden. So war sie einst ihrem Klavierlehrer, der ihr die Finger bei jedem Fehlgriff derb zu verklopfen pflegte, eines Tages in den Bart gefahren, hatte sich darin festgehängt, gezerrt und den Tyrannen nicht eher freigegeben, als bis er ihr in seiner peinlichen Lage versprach, sie nie wieder so unbarmherzig zu schlagen. Das hatte meine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Ich bewunderte ihren jungfräulichen Heldenmut.

Hier waren also für Alex und mich noch zwei geeignete weibliche Wesen vorhanden, an denen wir uns entflammen konnten. Aber wer sollte in wen sich verlieben dürfen, das war die Frage.

Wir lösten sie als ehrliche Kameraden, indem wir beschlossen, jeden eigensüchtigen Wunsch beiseite zu setzen und das Los durch das Werfen von Geldmünzen über unsre Leidenschaften entscheiden zu lassen. Schrift oder Adler! So gewann ich mit dem »Adler« zu meiner Freude das Florchen, während Alex mit der wegen ihrer geringeren Jahre weniger beachtlichen Jenny vorlieb nehmen mußte.

In Merreküll, wo uns die Ferien zusammenführten, schoß nun die von mir ausgeloste Liebe sofort in voller Pracht auf.

Statt durch die Wälder auf Abenteuer streife ich nun durch die Fluren, um dort nach Schillers Anweisung das Schönste zu suchen, womit man die Geliebte schmückt. Einen mächtigen Wirrwarr von Sträußen bringe ich zusammen, die durch Umfang ersetzen, was ihnen an geordneter Zierlichkeit abgeht. Ich biete sie ihr, und sie nimmt leicht errötend die ungeheuerlichen Gebilde entgegen. Beim Krocketspiel unterhalb ihrer Villa schiebe ich ihr die besten Bälle zu und schlage knallend alle feindlichen Kugeln nach Möglichkeit aus ihrer Nähe. Ich verfasse ein langes Gedicht, in dem ich die Hoffnung ausspreche, ihr Haus möge in Flammen aufgehn, damit ich, wenn alles schon an ihrer Rettung verzweifelt, unerschrocken an den knisternden Balken emporklimme und sie den Gluten entreiße. Ich stecke es ihr heimlich zu, und sie bewahrt es. Mir scheint, ich werde wiedergeliebt!

 

Schicksalsschläge

Eine kleine Operation sollte an mir unliebsamerweise mitten in der Ferienzeit vorgenommen werden, und der Vater versprach mir, wenn ich wacker stillhalten und nicht schreien würde, einen Hund, einen wirklichen, lebendigen Hund, den ich mir selber aussuchen dürfe. Ich biß also die Zähne zusammen, um nicht aufzuheulen und damit den Preis einzubüßen. Kaum jedoch hatte der Doktor das Messer beiseite gelegt, stieß ich's weinerlich-stockend hervor:

»Bekomm ich den Hund?«

Und sowie ich dessen sicher war, brach ich, von innigem Mitleid mit mir selber überwältigt, in Gestöhn und Gewimmer aus, ohne meiner stoischen Pflicht als echter Weberabkömmling zu gedenken. Selbst Heldenjünglingen soll dergleichen mitunter zustoßen.

Nun mußte ich beständig auf dem Rücken liegen und mich stillhalten, während ich die Brüder draußen fröhlich-lärmend zum Baden abziehen hörte, und als gar ausgerechnet Florchens Geburtstag nahte, ward ich vollends unglücklich. Tiefbekümmert blieb ich unter der Obhut der Njanja allein im Hause zurück. Da zerbarst, um das Unglück vollzumachen, ein Gefäß, das der Italiener wohllautend » lo vaso da notte« heißt, unter meinem Gewicht, und eine scharfe Scherbe drang mir tief in die Weichteile unterhalb des Rückens. Ich zog sie betroffen heraus. Blut strömte mir über den Schenkel. Ich wartete ängstlich, ob es nicht von selber aufhören wollte, aber das tat es nicht. Ich preßte das Sacktuch darauf, es blutete durch. Mir wurde allmählich schwächlich und übel zumute. Ich fing an leise zu stöhnen. Die Njanja polterte an die Tür. »Was ist mit dir da drinnen? Mach auf!« Ich schämte mich fürchterlich der wenig ehrenvollen Verwundung an solchem Orte und verweigerte ihr den Eintritt. »Geh weg! Es ist nichts! Ich komme dann schon!« Da brach sie die Tür gewaltsam auf, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, als sie mich im Blute am Boden kauern sah, rannte schnurstracks auf dem Wege über die Waldkapelle zu Papmehls und platzte mitten unter die Gesellschaft bei Kaffee und Kuchen mit einem Schreckensrufe hinein, der die Katastrophe schonungslos in ihrer Nacktheit enthüllte.

Als die Mutter mit dem Arzte herbeigeeilt kam, fanden sie mich in halber Ohnmacht vor, trugen mich ins Bett, und der beträchtliche Schnitt wurde mit vielen Nadeln zusammengeflickt, was wenig angenehme Empfindungen in mir auslöste. Dann trat Mundfieber auf, die Rückenlage war nunmehr unmöglich geworden, während die Vorderseite ebenfalls noch unbenützbar blieb. Das Schlimmste für mich aber war die nur zu begründete Befürchtung, daß mir bei den eigenartigen Umständen der Verwundung statt zärtlicher Teilnahme der Fluch der Lächerlichkeit anhaften würde. Und das alles vor ihr, die ich aus den Flammen des brennenden Hauses retten wollte, ein Held mit einer Scherbe des vaso da notte im Leibe!

Aber damit hatten meine Mißgeschicke noch immer kein Ende gefunden. Kaum war ich so weit hergestellt, daß mir die Mutter sagte:

»Morgen kannst Du von mir aus wieder baden gehn, damit die ewige Bettelei endlich aufhört!«

Da machte der Vetter Edia diese lange ersehnte Möglichkeit zunichte. Er sah mich auf einen Baum klettern, schlich auf sachten Sohlen heran und gab mir scherzend einen Schlag hintenauf, der bei seiner schweren Rechten so wuchtig ausfiel, daß die notdürftig geheilte Wunde wieder aufplatzte. Aus war's mit dem Baden, und ich war wiederum auf Wartezeit gesetzt.

Endlich war auch das überwunden. Ich schwamm wieder mit Wonne weit ins Meer hinaus, ich sammelte wieder Blumen für Florchen, ich verjagte wieder die feindlichen Krocketbälle und schob ihr die meinen vor, und meine Minnedienste wurden mit freundlichen Blicken gelohnt. Aber dazwischen stieß ich auch immer wieder auf die Unbegreiflichkeiten des weiblichen Wesens. Unversehens wurde die eben noch lieblich Lächelnde für mich unzugänglich, fremd und kalt sah sie mich an und mied mich offensichtlich. Was war nur geschehen? Womit hatte ich sie verletzt? Ich fand nichts, und bange Zweifel an ihrer Zuneigung überkamen mich.

Nun war grade zu der Zeit ihre Base Mathilde auf mehrere Wochen bei den Papmehls zu Gast, ein strammes Mädchen mit langen, starken, blonden Zöpfen und dichten Brauen über scharfblickenden Augen, Nichte meiner Großmutter Weber und Tochter meiner Tante Lisinka Bötz. Das bedünkte uns ein ganz verzwicktes Verhältnis, und es gab immerfort Anlaß zu scherzhaften Reibereien zwischen uns, da sie als Tante einen Respekt von mir verlangte, den ich ihr als Vetter verweigerte. Da sie die Busenfreundin Florchens war, beschloß ich, mir bei ihr als einer zuverlässigen und aufrichtigen Person Auskunft über die Gefühle der Geliebten zu verschaffen, und als wir eines Abends allein am Strande lustwandelten, fragte ich sie gradeheraus, ob mich Florchen wohl liebe. Sie blickte starr vor sich hin, als kämpfte sie mit sich selber, und stieß es schließlich rauhen Tones heraus: »Sie denkt nicht daran!«

Da hatte ich's nun. Was blieb mir übrig, als mich in die Rolle eines verschmähten Liebhabers zu finden und mich tief unglücklich zu fühlen, was mir offengestanden während der schönen Ferienzeit nicht ganz leicht fiel. Aber ich zwang's mit eisernem Pflichtgefühl. Düsteren Antlitzes fing ich und vernichtete ich Kreuzottern und legte mich allemal mit einem schweren Seufzer zu Bett, der Schlaf freilich und der Appetit ließen sich durch meinen Kummer nicht beeinflussen.

Auf die Dauer aber begann mir die Kraft zu solcher Askese doch auszugehen, und damit beschlichen mich Zweifel, ob denn meine Gefühle für Florchen wirklich so stark wären, wie ich angenommen hatte. Da legte ich mir, um mit mir selber endgültig darüber ins reine zu kommen, die Gewissensfrage vor: Was würde ich wohl tun, wenn mich der Vater vor die Wahl stellte, entweder meiner Liebe zu entsagen oder eine Tracht Prügel mit dem Karbatsch hinzunehmen? Vor diesem herben Forscherhauch erlosch meine künstlich genährte Leidenschaft wie eine Kerze, die unvermutet ein kalter Windstoß ausbläst. Ich entsagte, und an Stelle der Leidenschaft trat später eine dauerhafte und weniger aufreibende Freundschaft. »Prüfet alles und das Beste behaltet!«

Lange Jahre danach, als Mathilde und mir schon graue Haare zu wachsen begannen, gestand sie mir freventlich lachend, sie habe mich damals wissentlich um mein Glück gebracht, denn Florchens Herz hätte sich mir in der Tat zugeneigt, sie aber habe es aus Trotz mir gegenüber verneint. Ich sah die grundehrliche Mathilde verblüfft an.

 

Götter, Helden und Hunde

Die Ferien gingen zu Ende. Der Vater besuchte uns zum letztenmal in Merreküll. Nach dem Abendessen schritt er zum Strande, wie es seine Gewohnheit war, und nahm mich mit. Die Sonne war schon untergegangen, aber der Wolkenhimmel glühte noch von ihrem Widerschein in Purpurstreifen, und auf der majestätisch rollenden Wogenflut glänzte das Dämmerlicht in geheimnisvoll schillernden Farben. Der Vater blieb stehen und blickte, die Arme hinter dem Rücken gekreuzt, unverwandt aufs Meer hinaus. Ich kauerte neben ihm nieder und machte mich daran, eine Burg aus feuchtem Sande zu türmen. Immer, wenn ich von Zeit zu Zeit zu ihm aufsah, wunderte ich mich: reglos, wie versteinert, ragte er einsam im Abendschimmer, dunkel und fremd, vom Gesange der Wogen umrauscht, als schaute er in unendliche Fernen hinaus, der Erde mit seinen Gedanken entrückt gleich einem in Andacht versunkenen Priester. Ein Schauer der Ehrfurcht rieselte mir leis durch die Brust. Zum ersten Male dämmerte mir eine Ahnung auf vom innersten Wesen des Vaters.

Als wir beim Anbruch der Nacht uns endlich aufmachten, nahm er mich sacht bei der Hand, und schweigend gingen wir heimwärts.

Andern Tages, als ich eben erwachte, trat er in unsre Schlafstube und setzte sich zu mir aufs Bett.

»Hör einmal«, sagte er, »ich habe dir einen Hund versprochen, und du bekommst ihn natürlich – außer wenn du selber aus freien Stücken darauf verzichtest, und ich will es dir nicht verhehlen, du würdest mir einen Gefallen damit tun, denn der Onkel Georg hat sich zwei neue Hunde angeschafft, und da würden es auf unserm Hofe doch ein bißchen viele mit dem deinen dazu, Was meinst du, wenn ich dir statt dessen zwei schöne Bücher schenkte, eins von den klassischen Sagen des Altertums und das andre von den Göttern und Helden unsrer eigenen Ahnen, der Germanen? überdies würde unser Kettenhund Mordáschka von jetzt ab dir allein gehören.«

»Mordáschka«, ein gewaltiger Box mit Neufundländerblut in den Adern, dessen Kosenamen »Schnäuzchen« schlecht zu seiner grimmigen Schnauze paßte, mein Herzensfreund, mir zu eigen! Und dazu noch zwei kostbare Bücher, deren Titel allein schon meine Phantasie entflammten! Nie konnte ich einem solchen Angebot widerstehen und dem Vater einen Gefallen verweigern, der mir nur zum Vorteil gereichte!

Als wir vom Lande zurückgekehrt waren und die Kutsche vorm Haus hielt, sprang ich augenblicklich vom Bock, stürmte dem Gartenzaun entlang auf die Hundehütte zu und schrie hellen Jubels von weitem schon:

»Mordáschka, Mordáschka, jetzt gehörst du mir ganz allein!«

Der Köter rannte mir an der klirrenden Kette entgegen, stürzte mir an die Brust, daß ich taumelte, umarmte mich mit den Pfoten über den Schultern, suchte mir ins Gesicht zu lecken und heulte vor Wiedersehensfreude wie nicht gescheit. –

»Mutter, sieh nur«, rief ich gerührt und begeistert, »er hat's verstanden, er freut sich, daß ich jetzt sein Herr bin!«

Danach lief ich in unser gemeinsames Lernzimmer: wie stand es um die mir vom Vater versprochenen Bücher? Wo steckten sie?

Ich war nämlich ein Leseratz »von Format«, wie man jetzt zu sagen pflegt. Sogar im Bette las ich noch stundenlang bei der Kerze, und als mir die weggenommen wurde, entwendete ich Kästchen mit Streichhölzern und überflog bei ihren unsicher flackernden und gleich wieder erlöschenden Flämmchen begierig Zeile um Zeile, bis das letzte Hölzchen ausgebrannt war, und ich in der Finsternis seufzend aufs Kisten zurücksank. So hatte ich Grimms und Andersens Märchen verschlungen, Robinson, Lederstrumpf. Und nun fand ich sie auf meiner Kommode, die zwei neuen, großen, schöngebundenen Bücher!

Nach welchem greif ich zuerst? Nach dem dicksten natürlich, da hat man am meisten davon: Schwabs Sagen des Klassischen Altertums sind's.

Die Ellbogen aufgestemmt, die Finger im Haare vergraben, lese ich. Die Mutter geht an mir vorüber und zupft mich am Schopfe.

»Du, pack deine Sachen aus, hörst du?«

Aber wer nicht hört, das bin ich. Weit weg in eine Wunderwelt bin ich gerückt.

Im Himmelsblau tafeln auf dem hohen Olympos die Götter auf goldenen Stühlen. Die Locken des Herrscherhauptes schüttelt auf dem Throne der hochhindonnernde Zeus. Hebe, die anmutstrahlende, schenkt in die Humpen aus lauterm Kristalle Nektar, den dunkelglühenden, wonneerregenden Trank. Ihrer Herrschaft froh, blicken die Seligen nieder zur Erde … Aber dem Kaukasus windet sich und stöhnt, in eherne Ketten von ihnen geschmiedet, Prometheus, der Titane, denn wider den Willen der Allwaltenden hat er den Menschen die lebenerhaltende Glut, das Feuer vom Himmel gebracht, daß sie aus eigener Kraft schaffen und Herr werden über die Gewalten der Wildnis, die zerstörend das Erdendasein bedrohn. Aber der Hilfe von oben bleiben sie dennoch bedürftig. Herakles, von Alkmene, der sterblichen Mutter geboren, reutet von Ungeheuern, von Unholden und Riesen die Lande durch die übermenschliche Kraft, die er Zeus, seinem himmlischen Vater verdankt. Perseus, von der Göttin Athene beraten, schlägt, das Gesicht abgewandt, dem Ungeheuer mit dem lebenlähmenden Blicke, der gräßlichen Gorgo, das schlangenumwundene Haupt von den Schultern. Theseus, vom Seher erleuchtet, fällt im Irrwald auf Kreta den brüllenden Höllenstier Minotaurus … Wagemut treibt auf Abenteuer die Menschen. Das Fell des heiligen Widders, das goldene Vließ wird bei den Barbaren am Strande des Schwarzen Meeres vom feuerspeienden Drachen gehütet: Jason, der junge Held, segelt auf Argo, dem trefflichen Schiff, mit der Schar seiner tapfern Genossen in die fernen Weiten, den goldenen Schatz mit Gewalt, mit List und Trug dem wilden Volk zu entreißen … Beutegier und Rachedurst hetzt die Menschen in Frevel. Krieg entbrennt. Auf dem Blachfeld vor Troja ringen die Heere der Griechen und Troer in männermordenden Schlachten um Helena, das herrlichste Weib, und die Götter selber, die Unsterblichen stürzen sich in den Kampf unter die sterblichen Helden, bis die stolze Feste des Priamos im Brande loht und Troja in Trümmern zusammenbricht. Odysseus, der göttliche Dulder, irrt nach der Zerstörung der Stadt auf der Heimfahrt, vom Zorne Poseidons, des Meergottes, von Küste zu Küste verschlagen, jahrelang durch die unendlichen Weiten des fischedurchwimmelten Weltmeers, und Penelopeia, sein Weib, verzehrt sich, vom wüsten Schwarme der Freier bedroht, daheim im Gram um den Gatten … Tief unter der Erde aber, im Totenreich, thront finster brütend der furchtbare Pluto und verhängt die Höllenstrafen den Frevlern. Tantalos, der König, der Liebling der Himmlischen, hat vermessen die Hände nach göttlicher Allmacht gestreckt: bis zum Halse ist er in die Flut des Unterweltweihers versenkt, und über dem Haupte schaukeln ihm lockend Zweige voll lieblicher Früchte, doch wenn er, vor Durst und Hunger verschmachtend, die brennenden Lippen zum Nasse niederneigt, entweicht ihm jählings das Wasser, und vergebens hascht er nach den Früchten im Laub über sich, die seinem gierigen Griffe entschnellen. Vergebens wälzt Sisyphos, der als Sterblicher im Rate der Götter gesessen und ihre Pläne verraten, im Reiche der Schatten den ungeheuern Felsblock zum Gipfel: am Ziele entgleitet er stets den zitternden Händen – in ewiger Angst und Qual muß er am Grunde immer von neuem die fruchtlose Arbeit beginnen. Und vor der ehernen Pforte des Hades heult der grimmige Hüter der Unterwelt, der Höllenhund mit den drei Köpfen, aus feuersprühenden Rachen …

Die Mutter tritt ins Zimmer und fragt: »Hast du deine Aufgaben fertig?« »Gleich, Mutter, gleich!« Aber schon halte ich die Götter- und Heldensagen unsrer germanischen Ahnen in den Händen.

Nordstürme tosen. Im Wettergewölk über dem Wipfel der Weltesche, die von der Erde bis zum Himmel reicht und die Menschenlande mit ihrem Laubdache schirmt, hausen in Asgards Halle die Götter. Brünnen, Schilde und Speere blinken rings an den Wänden. Auf dem Hochsitz thront Odin, der Göttervater, der Walter der Welt, Gungnir, den Speer in der Rechten, ein grimmiges Wolfspaar zu Füßen. Zwei riesige Raben, seine schnellen Boten, kreisen ihm um das Haupt und tragen ihm zu, was unter dem Himmel geschieht. Auf den Bänken ums Langfeuer inmitten der Halle sitzen die Helden, die Gefallenen und Wiedererweckten, von den Walküren auf Windrossen vom Schlachtfeld emporgetragen zu ewiger Lust. Vom köstlichen Fleisch des gesottenen Ebers schmausen sie, löschen aus mächtigen Trinkhörnern voll wonnig berauschenden Metes den Durst, und alle Tage messen sie auf dem Gefilde vor Asgard die Kräfte im Waffenspiel gegeneinander: Odins Gefolgsschar im Kampfe der Schaffenden gegen die zerstörenden Gewalten auf der Erde und unter der Erde! Denn aus den Eisklüften der Gletschergebirge strecken die Frostriesen unheildrohend die Schädel, aus den Wogen des Meeres taucht der Borstenkopf der länderumgürtenden Seeschlange gierig empor, Wolkenwölfe jagen hinter Sonne und Mond her, sie zu verschlingen, und im Totenreich grollen die Leichengespenster, grollt Hel, die Herrin der Unterwelt, die verhaßte, und lauert, verheerend unter die Lebenden droben zu brechen. Da rollt am Himmel im Wagen, von finstern Riesenböcken durch die Lüfte gerissen, der Donnergott herbei, Odins Sohn Thor. Sein Feuerbart knistert, funkelnden Auges späht er, den Blitzhammer wurfbereit in der Faust, krachend fährt der Flammenkeil nieder: zerschmettert stürzen die Riesen zu Tal, zum Grunde des Meeres schnellt die Seeschlange erschrocken zurück, kraftlos sinken die Wolkenwölfe zum Himmelsrande hinab, und das Tosen der Höllengespenster verstummt. Der Himmel erblaut: durch die lauen Lüfte des Abends gleitet Freyja, die Göttin, in goldenen Locken, lautlos im Gespann, von zwei Wildkatzen auf weichen Pfoten gezogen, mit Liebeszauber die Menschenherzen zu rühren, und in der Morgenfrühe reitet ihr Bruder, Frey, der Sonnengott, auf dem Goldeber am Himmelssaume empor, und vom Fell seines Borstenrosses schießen die Segensstrahlen über die wärmeverlangende Erde … So hausen, so kämpfen und schaffen die Götter. An den Wurzeln der Weltesche aber sitzen unter dem schirmenden Laubdach drei Riesentöchter, die Nornen, und spinnen, Runenzauber murmelnd, den Menschen das Schicksal: das Schicksal, das in der Brust als Leidenschaft ihnen schlummert und jählings zu wilden Taten erwacht. Gefangen und verstümmelt vom schätzegierigen König, hämmert Wieland, der Schmied, auf ödem Eiland im Meere sich eherne Flügel am Amboß zurecht und schwingt sich befreit in die Lüfte, Schwanenweiß, die Geliebte zu suchen, während der König am Strande verzweifelnd die Arme dem Flüchtlinge nachreckt. Helgi, vom eigenen Schwager aus dem Hinterhalte erschlagen, sprengt über den Nachthimmel auf dem Geisterroß aus Walhalls seligem Saale, vom Jammer der Gattin bezwungen, zur Erde hinab, und in der Höhle seines Grabhügels schlingt die Lebende um den toten Geliebten die Arme. Siegfried, der Sonnenheld, fällt im Odenwalde, hinterrücks vom finstern Hagen durchbohrt, und über den todtrotzenden Nibelungen kracht im Brande die Halle des Heunenkönigs zusammen … Von Frevel verheert, fluchbeladen erschaudert die Erde und bebt. Schneestürme tosen, tief hinab fegt es den Wipfel des Weltenbaumes, und knirschend erzittert der Stamm. Düstern Ahnens schauen die Götter nieder von Asgard, zum letzten Kampf um ihre Herrschaft bereit. Denn auch die Götter sind wie die Menschen schuldig geworden: in bittrer Not haben sie sich gegen das Gebot der Treue verfehlt, den Riesen, der ihnen die Himmelsburg aufgetürmt hat, um den Lohn getrogen und den rasenden Unhold erschlagen. Da bersten alle Bande der Zucht: aus der Unterwelt stürmen die Leichengespenster, die Heere der Riesen und Ungeheuer brausen gen Himmel. Der Kampf entbrennt. Götter und Unholde fallen. In den Flammen des Feuerdämons lodert Asgard, und das All stürzt in den Fluten des rasenden Meeres zusammen. Das ist der Jüngste Tag, Ragnarök, das Ende der schuldbeladenen Welt. Aber aus der grauen Wüste des Meeres, so kündet es das Lied der Seherin, der Wala, steigt dereinst eine neue Welt in höherer Kraft und Reinheit, denn wenn auch die Götter vergehen, das Göttliche, dem der Starke von oben, der Ungenannte, gebietet, es bleibt …

Als ich endlich, aus dem Zauberbanne dieser Wunderwelten erwachend, zu mir selber kam, nachdem ich wochenlang in der Schule vor mich hingeträumt und alle Abende bis in die Nacht über den Büchern gehockt, da hatte ich freilich die Versäumnisse bitter zu büßen. Dennoch:

Jahr und Tage sind entschwunden,
Und doch ruht auf jenen Stunden Meines Lebens Vollgewinn!

Hier, aus meinen Kinderferien heraus wuchs mir meine Lebensaufgabe zu, wenn es auch fast ein halbes Jahrhundert dauerte, bis ich sie, so gut es in meinen Kräften stand, auszuführen vermochte: meine Neugestaltungen der germanischen Sagenwelt und der Odyssee, der Gesänge vom göttlichen Dulder Odysseus.

 

*

Leopold Webers äußerer Lebensgang ist der sichtbare Ausdruck seiner Gesinnung und seines Wesens. Von seiner Kinderzeit in Rußland erfuhren wir aus den vorstehenden Erinnerungen. Es folgen Jahre in Deutschland, wo er, der Bauernenkel aus niedersächsischem und thüringischem Blut, sich als Student der Germanistik an den Universitäten nicht wohlfühlt, so daß er sich von 1888–1894 nach Partenkirchen, damals noch ein stilles Bergdörfchen, zurückzieht. In der einsamen Gebirgswelt gewinnt Weber seine innere Lebenshaltung. 1894 fährt er dann über See zu seinem Bruder nach Oregon, um Farmer zu werden. Im täglichen Kampf mit störrischen Steppengäulen, halbwilden Schweinen und zähen Baumriesenwurzeln im Urwald erkannte Weber, daß sein Sinn im Grunde doch auf etwas anderes gerichtet war. Er kehrte nach München zurück und lebte dort zwölf Jahre lang als Mitarbeiter des »Kunstwart«. Um die Wende 1905/6 reiste er nach Südrußland und half dort seinem Bruder, die Güter ihres Onkels gegen den Ansturm der ersten marxistischen Revolution verteidigen. 1907 setzte er sich wiederum auf die Universitätsbank. Doktor der Germanistik geworden, zog Weber als fast fünfzigjähriger Freiwilliger in den Krieg. Hinter dem im Sturm genommenen Fleury vor Verdun verwundet, zum Offizier befördert, diente er als Dolmetscher an der Ostfront seinem Vaterland. Mit dem E.K.I kam er heim und konnte sich nun endlich seiner Lebensaufgabe ganz hingeben: der Erneuerung des deutschen und nordischen Sagengutes, wobei es ihm, wie er einmal über seine Arbeit sagte, »nicht so sehr darauf ankam, die Vergangenheit um ihrer selbst willen darzustellen, als vielmehr aus der Vergangenheit das Ewig-Lebendige herauszuholen, das in unseren Herzen weiterzuwirken vermag«. Sein Werk liegt in folgenden Büchern vor: Asgard, die Götterwelt unserer Ahnen / Midgard, die Heldensagen des Nordlandes / Grettir, der Isländerheld / Gisli, der Waldgänger / Wikingertreue / Walthari und Hildegund / Dietrich von Bern / Gudrun / Parzival.

 

K. Thienemanns Verlag, Stuttgart

 


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