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Nachwort

Die Landschaft des Böhmerwaldes ist in ihrer Verschlossenheit dazu angetan, aus ihrem Wesen heraus Sagen zu bilden und wanderndes Sagengut an sich zu binden und selbstherrlich zu gestalten. Hier lebt noch der Mythos, und man hört ihn wachsen und ranken und tasten, wenn man tief und geduldig hinhorcht.

Die großen Wälder sind voll wildernster Feier, selten singt ein Wasser darin, selten singt ein Vogel. Der schrille Jagdschrei eines Raubvogels verdichtet nur die Stille und bringt sie stärker ins Bewusstsein. Absonderliche Baumformen, Schreckformen, kropfige Stämme, verzerrtes Astwerk, Stelzenwurzeln, graue, erstorbene Wipfel, wirres, unerbittliches Dickicht vereinigen sich zu einem träumerisch starren Bezirk, darin es am helllichten Tag geistert, darin noch Verschollenes versteckt hausen mag, weltalte Moosfräulein mit ihren Großmüttern, waldverschwisterte Unholde. Und ein fremder Ruf steigt ans dem Schweigen, der Panschrei dieses Gebirges, und lockt in die verderbliche Wildnis: »He, he! Her, her l«

Über den schattenschwarzen Bergsee zuckt es hin, fliegt ein jagendes Huschen. Wer treibt hier sein Spiel? Das kann der Wind nicht sein, denn weit und breit rührt sich kein Wipfel. Spielt hier ein Gespenst, das aus wohnlichem Land hierher vertragen worden ist in die Ödnis, hinab gebannt worden ist in die verrufene Tiefe? In dieser Weltallstille müssen Unirdische walten. Heidnisch belebt ist hier alles: Wasserfrauen baden, feurig geschuppte Fische murmeln Menschenworte, und der See selbst öffnet sich wie ein Rachen und schreit drohend auf, wenn ein Vorwitziger seine Tiefen messen will, und mit zerstörendem Gewitter rächt er den Steinwurf des Buben.

Das Blockwirrsal zammengebrochener Gipfel, die Steinhemmnisse schluchtenverwühlter Flüsse lassen an die Tat des Teufels, lassen an die Gewalt aufbauender und verderbender Riesen glauben. Riesen schleudern von ihrem Hochsitz Hämmer in das Städtlein des Tales, von Berg zu Berg werfen sie einander ihre glitzernden Schnupftabakgläser zu. In dumpfer Ahnung, dass die gesetzlose Wildnis einst durch die bäuerliche Ordnung besiegt wird, verbietet der Riese seiner Tochter, den Bauer und sein Pflugvieh als Spielzeug zu benützen, und weissagt: »Diese Würmlein werden uns Riesen von der Erde bringen.«

An den treibenden, stürzenden Wildwassern entstanden Sägemühlen, Eisenhämmer und Pochwerke, und sie gebaren und beherbergten Gespenster, ehe sie wieder zerfielen und in die Wildnis zurücksanken. In der Hütte zu Vogelsang am grünen Wald buken sich die Glasmacher einen Mann aus Glas und steckten ihm eine brennende Kerze in die Hand, und als sie an ihm niederbrannte, belebte sich der gläserne Golem vor Schmerz und schrie: »Helft, ich verbrenne!«

In lauer Nacht plätschert es unter den Brücken. Elbisches. Volk schafft dort, Waschgeisterlein, die hernach in den Wiesen den weißen Leilach auslegen und im Mondschein bleichen.

Fremde, nie gehörte, unsäglich süße Musik weht mitten am Tag aus den Lüften nieder und lässt die Dorfkinder vor den Türen aus ihrem Spiel aufhorchen, bis erschrockene Mütter sie in die Stuben jagen: »Geschwind fort, die Wilde Jagd kommt!«

Viele verschriene Stellen gibt es, so die abseitige Brechhütte, wo im Herbst, der Flachs gebrochen und gedörrt wird; Mord und Selbsttötung ereignen sich dort, abgestorbene Seelen spielen mit dem höllischen Widersacher Karten, der Wind wehklagt um das Strohdach, Nebel umwittert es. Das Haarstubenweiblein gespenstert.

In den einöden Stätten der Wälder bilden sich düstere Hemmungen. Keiner wagt anzuklopfen, ehe er in eine Stube tritt. Nur Wesen, die nicht von Fleisch und Bein sind, klopfen an. Und pocht ein Fremder abends an ein Haus, so ladet ihn kein Ruf zum Eintritt ein. Und Menschen gibt es, die nach der Abendglocke aus Furcht vor den erwachten Elementarwesen sich nicht mehr ins Freie trauen.

Wenn dann die schweren Bergrücken in die Nacht hinaus dunkeln und die Finsternis noch schwärzer machen, wenn aus der Ferne vereinzelt das zage Licht einer Einschicht ruhelos glimmt, wenn ein greller Schnarrvogel irgendwo in der Wiese anhebt, ein moderiger Strunk leuchtet und die Brunstschreie, Angstschreie, Mordschreie der Tiere laut werden, da löst sich alles Wirkliche auf in Spuk und Gespenst, da walten die Schauer der Öde, und Urmäßiges, das da gelauert hat, sich des einsamen Waldgängers zu bemächtigen, steht in uns auf, bedrängt und erfüllt uns, redet verworren uns zu. Da wird Unsägliches gesagt, Unglaubliches geglaubt. Die Gedanken stocken, eine andere Welt zieht uns in sich. Die klare Klippe der Erkenntnis versinkt in wallendes Nichts. Fieberisch steigert sich die Einbildungskraft, die hochgespannten, überspannten Sinne, die ahnungsvoll das feindliche Dunkel, die lauernde Stille rings durchstoßen wollen, werden irr, und es regt sich die Urfurcht, die Weltangst des Vormenschen, wieder in uns, die Angst vor dem Bösen, das in der Finsternis atmet und mit seinem wilden Fittich immer nahe ist, Grauen, das ohne Grund und darum ohne Grenzen ist.

Das sind die Nächte, wo die Drud ausgeht, den Frieden des Schlafes furchtbar zu stören, auf der Brust des Atmers bleiern zu lasten, wo längst Verstorbene sich besinnen und erheben und umgehen, und die Fenster des Geisterkirchleins leuchten in spätem, verruchtem Licht. Drachen fahren brennend nieder und tauchen in die Rauchfänge. Die Moosgeiß meckert, die Klagemutter beginnt ihr gräuliches, unheilvolles Geschrei. Unerklärlich röhrt etwas in der verschlossenen Wildnis auf. Der zottige Bilmesbock trägt seinen gesichelten Reiter durch die reifen Ähren. Auf der Au zündelt es, glühende Männer hüpfen hin und wider, ihre feurige Fährte führt ins Moor. Schätze rücken empor und blühen. Die Wipfel über uns brennen plötzlich, flackern lautlos und verzehren sich nicht.

Wanderer, der du durch den Spukwald gehst, denke beileibe nicht an den Stilzel! Weh, schon hast du dich seiner erinnert Und schon knackt es im Gebüsch, trabt es hinter dir her, hockt es dir im Nacken und reitet dich. Und Gott genade dir, wenn du nicht bald die Schwelle eines Hauses oder eine Zauntür oder ein Feldkreuz erreichst! Er reitet dich, bis du lechzest wie ein gehetztes Wild, bis dir die keuchende Brust schier zerspringt, bis du in die Knie brichst.

Jahrhundertelang mag der wunderliche Name Stilzel, der auf koboldische Abkunft hindeutet, im Waldvolk von Mund zu Mund überliefert worden sein, ehe ihn gelehrte Forscher verbücherten. Ein Samenkorn der Aufhockersage wehte wohl aus andern Himmelsstrichen hierher, fand mitten unter den wilden Bäumen gedeihlichen Boden, wurzelte sich ein und wucherte zu üppigem Gestrüpp heran. Die Schmuggler, die durch die Grenzwälder wechseln, fanden ihren Vorteil darin, dass das Land ihrer Schleichpfade von andern Leuten gefürchtet und gemieden wurde, und darum förderten sie den willkommenen Ruf des Stilzel, erfanden und verbreiteten neue Gerüchte und vermehrten also den Tatenkreis des Waldschrecks und glaubten wohl schließlich selber an ihn, der ihnen als Schutzgeist ihres lichtscheuen Wandels bequem war und von dem sie behaupteten, dass er die verhassten Zollwächter ins Irre locke.

Vielleicht geistert in all diesen Sagen die Erinnerung an einen unseligen Hirten mit, der vorzeiten in der Gebirgsöde gelebt hat, halbwilden Rossen zugesellt, und der, hässlich und hämisch, niemand verwandt, niemand befreundet, in seiner Wurzellosigkeit von dem berechnenden Walddorf ausgebeutet und zugleich gemieden, zum Menschenfeind geworden ist. Aus Rachsucht, Bosheit und Langweile kühlt er sein Mütchen an den Leuten, indem er sie mit gellem Geschrei erschreckt und in der nur ihm allein völlig vertrauten Wildnis irreführt. Und vielleicht hat sich der verdüsterte, verwilderte Hirt aus Furcht vor harter Strafe selbst entleibt, als er eines der in seine Obhut gegebenen Tiere vermisst hat. Doch welche Mutterseele weiß noch von solch verjährten Dingen?!

Das Gerücht über unseren Waldkobold erstreckt sich von den Hängen des Klinischen Gebirges über den Pass von Neumark hinaus bis, zum Schwarzkopf, den die Tschechen Tscherchov nennen. Bayrisches und böhmisches Grenzland, beides besiedelt von demselben deutschen Stamm, haben teil an dem Unwesen des Stilzel. Und da vor etwa hundert Jahren böhmerwäldische Landsleute, von der lieben Not getrieben, aus den Grenzdörfern nach dem Banat auswanderten, schleppten sie neben ihrer armseligen Habe auch das unheimliche Geistlein der Heimat mit in die Fremde.

Seinen Ursitz scheint der Stilzel in dem bayrischen Dörflein Warzenried am Fuße des Luiberges gehabt zu haben, wo man ihn übrigens Stelzel nennt. Diesem Dorf gehörten vormals die düsteren Weidewälder der Schwarzau. Die hohen schönen Berge Arber und Osser starren in die Landschaft des Stilzel herab.

Die Volkskundler des Böhmerwaldes haben des Öfteren von dem Dasein des Kobolds Kenntnis genommen, dessen Namen noch in dem Worte Rumpelstilzchen rumort; sein Andenken lebt in vielen Sagen und Schwänken des Volkes, in Sprichwort, Redewendung, Aberglaube und Neckerei weiter, und mit seinem Namen schilt man hierzulande kosend ein ganz besonders lebhaftes Kind. Die im nämlichen Gelände spukenden Gebilde, der Glühende Mann und der Böhmische Mann, sind trotz ihres weit grauenhafteren Treibens doch nur Absprossungen seines Wesens.

Zahllos geistern die Alpreiter in aller Herren Landen und unter den seltsamsten Formen und Namen. Lastet doch in der Legende selbst das Heilandkind auf dem gebeugten Nacken des Riesen. Doch nirgendwo tritt uns der Rufhocker so leibhaft und greifbar, mit so vielen buntwechselnden Zügen versehen und so mit Landschaft und Volkstum verwoben entgegen wie in der Gestalt des Stilzel. Unsere nüchterne, verstandeskalte Zeit hat mit den Gespenstern gründlich aufgeräumt, der Stilzel jedoch war bis heute nicht umzubringen.

Ich habe in treuer Anlehnung an Überlieferung, Sage und Sitte seiner Landschaft versucht, eine Schöpfung des dichtenden Volksgeistes zu bewahren und dem Volke näherzubringen, indem ich die Gerüchte über den Stilzel zusammenfasste, sie aus den Anschauungen des Volkes heraus gestaltete und bereicherte, bis der Kobold als geschlossener Kerl dastand. Mich leitete dabei die Sehnsucht, meiner schönen und in ihrem Volkstum unsäglich reichen Heimat etwas Ähnliches zu schaffen wie weiland der alte Praetorius dem Riesengebirge mit seinem Rübezahl. Vielleicht bewog mich auch die Absicht, jenes Gruseln zu lehren, das ich seltsamerweise im fremden Land nicht kenne, das aber unerklärsam in meinem Blut erwacht, wenn ich nachts durch die großen Wälder der Heimat wandere.

Seit diese Zeilen geschrieben wurden, ist der Zweite Weltkrieg vorübergedonnert. Das Volk des Böhmerwaldes ist aus seiner uralten Heimat verwiesen worden. Mit den Menschen sind auch die Geister ausgewandert, alle Überlieferung ist in der verlassenen Landschaft erloschen, die Kultur ist abgerissen, die Wälder sterben, die Dörfer verfallen, die unbestellten Äcker verunkrauten; seelenlos liegt die Erde da. Wir Verwiesenen aber drücken all unser Heimweh in das Herz zurück. Wir suchen die Heimat in den Sagen der Väter.

Tremmelhausen bei Regensburg,
Hans Watzlik

im Herbst 1948, gestorben am 24. 11. 1948


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