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Am Tag Mariä Kräuterweih 1878.

Mein Leben ist vorüber, ohne dass ich es gelebt hätte. Ich bin schon lange tot, ob auch mein Leib noch außerhalb der Friedhofsmauern umgeht. Ich bin vergessen: Niemand in der weiten Welt draußen weiß von mir, der ich einmal die Welt aus den Angeln habe reißen wollen. Ein Gespenst meiner selbst hause ich hier unter den Bauern, die mich als einen harmlosen, verlorenen Narren missachten und meiner Wege laufen lassen. Die Kinder schauen mich scheu an, sie fühlen ein Geheimnis um mich schweben und wagen nicht, reich darum zu fragen. Was könnte ich ihnen auch antworten?

Ist es ein Glück oder ein Leid, dass ich kein Schicksal mehr trage? Wie von einer fernen, kühlen, unbeachtet über den Abendhimmel gleitenden Wolke aus betrachte ich das Leben, das mich nichts mehr angeht. Ich bin unbeteiligt. Ich bin ohne Erwartung, ohne Sehnsucht. Früher, vor langer, langer Zeit, hätte dieser Zustand meinem Herzen gewiss sehr weh getan. Heute nimmer.

Das belanglose irdische Geschäft, das mir ganz bedürfnislosem Menschen die bescheidenen Mittel zu einem Leben ohne Sorge gewährt, verknüpft mich nur lose mit der Welt. Ich habe nichts zu tun, als einen schönen, nutzlosen Garten zu betreuen und ein weitläufiges, von den einstigen Besitzern verlassenes Haus zu bewohnen und manchmal dessen Fenster zu öffnen, dass die frische Wiesenluft hereinschlage in die Räume, die ein wenig dumpfig und düster sind, weil sie niemand belebt als ich alter, müder Mann.

Wie ein Verwunschener stehe ich mitten in dem prunkvollen, fast schwülstigen Hausrat, der nicht zu mir aus der Armut gewachsenem, schlichtem Menschen passt. Alles soll hier aus kostbarem Brasilienholz gezimmert sein. Mein Gott, was verstehe ich davon?! Von den Mauern fragen die zwielichtfarbenen Bilder vergangener Leute hernieder, deren Leben und Tod mir fremd ist wie ihr Name, deren Schicksal von mir nicht erforscht werden kann. Die zierlichen, verstummten Harfenuhren weisen keine Stunde mehr, und ihre Pfeile jagen in sinnloser, regelloser Hast über das Zifferblatt, wenn ich, selten genug, aus meiner Altenleutlaune heraus das rostige Werk wieder einmal aufziehe.

Behutsam schreite ich in meinen Schlürfschuhen über die glatten, eingelegten Fußböden, und die Teppiche, die die Namen märchenweit entlegener östlicher Städte und Landschaften führen, wo sie gewoben worden sind, sie funkeln so tief und traumhaft, wie die Blumen glühen mögen, die zwischen den Wendekreisen in unerschlossenen Wäldern wohnen. Ich trete nur ungern auf diese schönen, weichen Teppiche, weil es mich wie eine Schändung ihres Zaubers dünkt.

An den Borden des Speisezimmers schimmern Silber, Zinn und edelstes Glas, Altwiener und Meißner Geschirr; Teller lehnen dort, bemalt mit goldverbrämten Rosen oder mit den schwermütigen geborstenen Säulen und Tempeln und Früchten altgriechischer Gestade. Der Kronleuchter blitzt aus vielhundert geschliffenen Kristallen; ein tauspiegelndes Wunder, hat er einst über Wein und Schmaus und Fest geschwebt.

Mancher dieser feinen, verlassenen Räume ist wie von süßem Weltschmerz durchbangt; schwere Vorhänge wehren dem allzu bäuerlich gesunden Licht draußen; aus behaglich geschweiften braunen Schubladen weht rührend noch ein Rüchlein Lavendelgeist; in den Schränken hinter strengem Glas harren vergeblich die ganz zart gebundenen, seidenen »Taschenbücher für gebildete Frauen«; seidene Polstersessel umträumen brokaten gedeckte Tische, die versiegte, leere Blumenkrüge tragen. Hochgerüstete Prachtbetten begehren nach Leibern, die weich und warm darein sich schmiegen sollen; große Spiegel dämmern silbern und sehnen sich nach den Bildern lachender, wagender Männer und schöner, weltwissender Frauen.

Ach, mein einsamer, dürftiger Atem, mein dünnes, trauriges Lachen hat nicht die Kraft, diese seltsamen Räume wieder zu erwecken!

Dieses Gebäude mit seiner eingeschlafenen, vergessenen, gebannten Pracht gehört nicht in das Dorf. Es sollte in dem Adelsviertel einer geräuschlosen, dämmernden Stadt oder abgesondert irgendwo in einem tiefen, wenig zugänglichen Wald erbaut und von einem fürstlichen Sonderling bewohnt sein, der seine Köstlichkeit zu genießen weiß. Hier steht es ohne Sinn.

In der Küche ist es auch noch wie voreinst, da die Mägde hier rüstig schalteten und auf dem riesigen Herd das erlesene Mahl zugerüstet wurde für jene, die in den stolzen Gemächern nebenan ein selig müßiges Dasein zu leben schienen. Noch bekleidet rotkupfernes Geschirr die Wand, von damals her noch füllt Zucker und Kaffee die Dosen. Sogar die Kreuzer für die armen Leute, die einst hier um ein Almosen angepocht haben, warten noch wohlvorbereitet in einer Pilgermuschel der barmherzigen und der empfangenden Hände.

In den stattlich gemauerten Schuppen dunkeln die bequemen, veraltet geformten Kaleschen und Schlitten. Ich habe sie jüngst vom Staub und von den graudüsteren Spinnweben reinigen lassen. In dem geräumigen, gewölbten Stall riecht es noch nach Rössern.

Oft ist mir, die Herrschaft sei erst gestern zum Besuch eines benachbarten Schlosses ausgefahren und ausgeritten, um dort den sommerlichen Abend zu vertanzen, und habe alle Diener mitgenommen, und spät nachts müssten sie alle, alle wieder zurückkommen mit rauschendem, fröhlichem Lärm, mit Fackeln und wiehernden Tieren, Tor und Türen müssten fliegen, die Fenster im Kerzenlicht erstrahlen, und an dem perlmutternen Spinett müsste die wunderschöne Hausfrau sitzen und im Nachklang berauschter Stunden das himmlischste aller Menuette Mozarts spielen.

Hast du das Träumen noch immer nicht verlernt, törichtes Herz? Es ist doch hier alles aus und vorbei, seit Jahrzehnten vorbei, für immer vorbei. Die Besitzer sind fortgezogen. Leichtmütig haben sie das reiche Haus hier und das Bergwerk drunten in der Au dem Fürsten verkauft. Sie sind nimmer in diese Gegend zurückgekommen.

Ja, der Fürst erwirbt hier alles, was über und unter der Erde ist; die Wälder und Berge zieht er an sich; seinen stolzen Besitz abzurunden scheut er keine Kosten. Ein Königreich will er haben im Land. Und dieses gekaufte, entseelte Gebäude hier überlässt er sich selber, überlässt er aus Gnade der Obhut eines grauen Wärters, der, schicksalsverwandt mit diesem Schlösslein, längst schon über dem Leben, hinter dem Leben steht.

 

In einer Vollmondnacht 1878.

Mein Leben verklingt fern hinter mir wie eine Nebelharfe. Ich bin kein ringender Mensch mehr. Ich leide nimmer, ich freue mich nimmer. Zu Leid und Freude gehört Kraft. Sie ist mir entglitten. Der Held in mir ist gestorben. In nüchternem, kahlem Gleichmaß rinnen meine Tage hin.

Ich gleiche einer Sehne, die einmal bei einer Gewaltanstrengung an dem Bogen zerdehnt worden und nun der Schnellkraft verlustig ist.

Von dem großen Leben, das draußen in Staaten und Städten donnert, erfahre ich wenig, seit mich keine Zeitung mehr erreicht. Große Kriege dringen nur als nebelhafte Gerüchte an mein Ohr. Ich wandle zeitlos meine engen Kreise. Die Welt ist mir entrückt. Vielleicht besteht sie gar nicht mehr, seit ich mich von ihr geschieden habe. Vielleicht ist sie nur ein Wahn gewesen. Oder ist sie gestorben, und Gott hat sie in seiner düsteren Ewigkeit begraben und mit Schweigen überschüttet.

Nur die flammenden Gewitter leben noch und die grünen und blauen Wälder rings und die einsamen Tiere darin: das fromme Reh, das kluge Fuchslein, das eilige Eichhorn, der schüchterne Kuckuck und die unsichtbaren Vögel, die so wundertraurig schlagen, als wüssten sie von vergangener Zeit. Und die Landschaft lebt und tut in den feierlichen Spielen des Lichtes, der Nebel und des Gewölkes ihre stille, große, unschuldige Seele auf und verschließt sie schwermütig wieder. Und ewig verjüngen sich die Wiesen, wachsen die Wälder, kränzt das unsterbliche Gebirge das Land.

Und das Dorf lebt. Hellauf atmet es mit seinen stolzen, herrischen Bauern, seinen gelbhaarigen Kindern, mit den schweren Ackertieren, den weiträumigen, blanken Häusern und breiten Scheuern und mit den hageren, berußten Männern, die Tag und Nacht in den Berg einfahren, den schwarzen Segen zu heben. Es ist ein fröhlicher, kraftvoller Strudel in dem reichen Dorf. Gott erhalte es in seiner Lust!

Ich gehöre nicht dazu. Ich bin ein Gelandeter. Zwar wogen die Schicksale der benachbarten Menschen um mich und möchten mich gern zurückholen in ihren blinden Wirbel. Ich aber schüttle den Kopf. Ich will wie einer jener stillen Spiegel im toten Herrenhaus sein, die die Bilder hinnehmen, die sich darein ergießen, und dabei in ihrer kühlen Silberruhe verharren und nichts von sich verlieren. Ich kann das Menschenleben nimmer ernst nehmen.

Wenn ich diese Blätter hier fülle mit gegenwärtigen und vorübergegangenen Dingen, so ist das bloß ein müßiger Zeitvertreib. Mein Herz soll nichts damit zu schaffen haben. Ich kürze mir die Nächte, die mich nicht mit dem lieben Schlaf segnen. Ich vergesse mich selber dabei.

Draußen schwebt der volle Mond über der Dorftanne wie ein regungsloses Flammenrund über einer dunkeln Kerze. Der Dorfbrunnen raunt. Ohne Aufhör wandert das Wasser. Vom Bergwerk her ruft das Horn des Wächters wie ein verirrtes Tier.

Plumpe Falter geistern zum offenen Fenster herein und schwärmen um die Lampe. Tanzt nur um euern Götzen, ihr kindischen Gäste! Doch nehmet eure Flügel in acht! Wie leicht verkohlt solch zartes Gebilde! Tanzt nur! Es ist euch erlaubt.

Es ist tiefste Nacht. Wie schwer auf einmal das Haus aufschweigt, das mich Einsamen umgibt! Ich will mich in die dunkle Luft hinaus neigen und die lebendigen Sterne droben sehen. Ich will meine Flöte nehmen und eine verschollene Weise hinaus blasen in die fahle Sommernacht.

 

In der Nacht vor Barthelmä 1878.

Wenn man heutzutage den jungen Leuten erzählt, wie es seinerzeit um das Dorf Dürrnstauden bestellt gewesen, da lächeln sie ungläubig wie über ein knallblaues Lügenmärlein.

Und doch, als ich noch klein war und mit den Mädchen unter der Tanne »Blauer, blauer Fingerhut« tanzte, da standen die Bauernhäuser hier schief und verwahrlost und waren mit Stroh gedeckt und mit faulenden Schindeln, und Sonne, Wind und Schnee kehrten in den löcherigen Dächern ein. Aus den Ställen taumelte erbärmlich dürres, schmutziges Vieh hinaus auf die schlecht bestellten, rauen Felder, die nur spärlichen Hafer und kümmerliches Winterkorn zeitigten. Die Wiesen waren moosig und mager. Die Schmalbäuerlein, die diesen abseitigen Ort besiedelten, mussten sich mit ihren zwei Händen vom grauen Morgen bis in den grauen Abend hinein rackern und plagen. Es war ein sorgenvolles, gebücktes Volk. Der Spott der glücklicheren Anrainer stach auf das Dorf los, das als das ärmste und kläglichste weitum verschrien war und dem die Bettelleute in scheuem Bogen auswichen.

Hundert spitzige Hohnlegenden und Neckgerüchte gingen über Dürrnstauden im Schwang. Unser Herrgott soll bitterlich geweint haben, als er auf seiner Wanderschaft einmal durch unser Dorf gegangen ist, und eine Maus soll bei uns verhungert sein, und was dergleichen Schimpf mehr ist. Und in ganz Dürrnstauden sei dazumal nur ein einziges Paar Stiefel zu finden gewesen, weshalb an den hochheiligen Festtagen immer nur einer in den Flecken Schönweid hinuntergehen konnte, das Hochamt zu hören, und die anderen Tröpfe hätten müssen außerhalb des Kirchortes am Zaun sitzen und warten, bis der Nachbar zurückkam, und hernach sei gelost worden, wer sich fürderhin zum Messgang stiefeln dürfe.

Das Elend der Dürrnstaudner hörte jäh auf, als der Hirt Wenzel beim Kalkbühel den fröhlichen Fund machte. Um sich aus einer Wurzel einen Hakenstock zu schnitzen, riss er eine Haselstaude aus dem Grund, und da hing die speckige, glänzend schwarze Erde schwer und klumpig daran, der kostbare Graphit, den man hierzulande den »Tahel« heißt.

Damals war ich gerade das vierte Jahr an der Hochschule zu Wien. Ich hörte von den Landsleuten, die mich in der Fremde heimsuchten, wunderlei reden von der schmierigen Erde und der Gewerkschaft, die die Dürrnstaudner Bauern gegründet hatten, den schwarzen Schatz zu gewältigen; doch kümmerte ich mich in jenem leidenschaftlichsten Jahr meines Lebens wenig darum und ahnte nicht, wie tief der Fund des Hirten in das Schicksal meines Dorfes einschnitt. Und als ich bald danach verfemt und gebrochen heimkehrte, wich ich dem unterirdischen Geschäft aus und fuhr auch niemals ein in das Bauernwerk, denn ich hatte lange genug in der Finsternis weilen müssen, da mich meine Mutter jahrelang vor den Schergen versteckt hielt.

Dürrnstauden ist eine wahre Goldschmiede geworden. Wo einst das Dorf wie ausgestorben und verstoßen gelegen, hämmert heute die Schmiede, wälzt sich das Mühlrad, kreischt die Säge, rattert das Fuhrwerk, winkt verlockend des Wirtes Schild. In Scharen laufen die Bettler zu und lassen sich den Speck zum Fenster herauslangen von denen, die jetzt in der Fülle sitzen.

Die baufälligen Holzhütten sind weggeräumt, an ihrer Statt prahlen weiße, einstöckige Häuser mit vielen blinkenden Fenstern über die Fluren hin und bergen in sich ganz gewaltige Esszimmer und zahlreiche Stuben für die Kinder, das Gesinde und die Inwohner. Rote Ziegeldächer brennen, Fensterläden grünen freundlich. In den Ställen stampfen stolze, starke Rösser. Um die Rinder kümmern sich die Dürrnstaudner weniger, sie züchten noch immer den vorsintflutlichen Steinbeißerschlag. Doch würde es als bitterste Schande gelten, wenn einer im Ort eine Geiß hielte.

Die altherkömmlichen Gewänder sind verschwunden. Nur hin und wieder sieht man noch einen vorväterlichen Rock an einer Krähenscheuche flattern oder am Leib eines Fechtbruders. Wohlleben ist in Dürrnstauden jetzt daheim. Die Bauern machen hohe Sprünge, stehen sie doch als Bergherren gleichwertig neben dem Fürsten, der die großen Tahelgruben in dem benachbarten Dorf Schwarzenerd besitzt und auch das Auwerk an sich gelassen hat. Die Dürrnstaudner Grafen – so hören sie sich gar zu gern schelten – sondern sich weit von ihren Bergleuten, den rußigen Tahelgräbern, ab; steif und breitspurig schreiten sie daher, und mir scheint es, als wäre der Menschenschlag hier um einen Kopf höher gewachsen, seit das Geld häufig geworden ist hierzulande. Auf mich schauen sie hoch von oben herunter und nicken mir großmütig zu. Sie haben damit ja nicht unrecht.

Unsere Bäuerinnen, die einmal demütig und schüchtern in den Kirchwinkeln gekniet haben, sie breiten sich heute mit ihren schillernden, vielfaltigen Kleidern hoffärtig in den vordersten Kirchstuhl, der mit einem Türlein verschlossen werden kann, und sind dem Segen des Pfarrers am nächsten und für die neidischen Augen der anderen Weiber am besten zu sehen. Sie haben ein Recht auf diesen vornehmen Platz, denn ihre Männer stiften eifrig Kelche und Orgeln und gemalte Fenster und Goldgewänder für die Häuser Gottes.

Wenn die Dürrnstaudner zu einem Scheibenschießen oder zu einem Tanz nach Oberplan oder Krummau fahren, da treten in allen Dörfern und Einschichten, die am Weg liegen, die Leute an die Straße und schreien einander zu: »Die Dürrnstaudner kommen daher!« und staunen die drallen, schnellen Rösser, das schmucke Fahrzeug und die geputzten, festlich steifen Bauern an, die mit Peitschenknall und Schellengeglöckel märchenhaft vorüberbrausen.

Die Dürrnstaudner Bauern arbeiten nimmer. Sie haben es nimmer nötig. Nur ein einziges Mal im Jahr machen sie sich mit dem Acker zu schaffen, und das nimmt sich mehr wie ein eitles, prunkhaftes Schauspiel aus als redliche, schlichte Arbeit, trotzdem dass es den Zuschauer immer wieder ganz feierlich stimmt, die Bäuerin geht in leuchtendem Sonntagskleid über das Feld und streut mit breiter, ehrwürdiger Gebärde die Saat aus, der Bauer aber lenkt mit rauem Ruf die spiegelglatten, rauchenden Rösser und eggt die Körner ein.

Der Schinder, der früher innerhalb der Gemarkung des Dorfes sein unehrliches, verachtetes Gewerbe getrieben, hat längst davon müssen, eine Einöde hat man ihm zum Wohnsitz zugewiesen, und von dort aus schickte er in seinem Groll manchen wütenden Hund in das Dorf, um seine Vertreibung zu rächen.

 

Zu Ägidi 1878.

Von den allen Häusern steht nur noch ein einziges. Es hat dem Andreas Höpfler gehört, den jetzt freilich auch schon das Friedhofgras zudeckt. Der alte Höpfler duldete nicht, dass das Haus, daraus er stammte, abgetragen werde.

Neben seinem neuerbauten Gehöft sollte es weiterbestehen, damit er allezeit die vergangene Not hübsch nahe vor Augen habe und nicht übermütig werde. Ein weitausgreifender, knorriger Holzbirnbaum übergrünt das Dach, das einzige fruchtende Holz war er vormals in dem kargen Dorf.

Ich luge gern in die halbdunkle Stube, die mit winzigen Fenstern atmet. Da tritt der Fuß noch auf urtümliches Steinpflaster, und inmitten des Raumes steht der grüne Kachelofen mit erprobten Wetterregeln beschrieben und ausgeziert mit den Bildern allerhand teurer, ackergewogener Heiliger. Da zielt noch eine halsbrecherische Stiege in den finsteren Spukboden hinauf, wo der wilde Bauernplager Kaspar Ruchler gespenstert, dessen steile, herrische Unterschrift heute noch in den modrigen Scharwerkbüchern zu lesen ist: »Wir Kaspar Ruchler, Richter allhier!« Vor hundert Jahren, da noch die Leibeigenschaft galt, mussten die Dürrnstaudner ihm fronen und ihm Schmalz und Holz bis an seine Tür bringen. Den Stall mussten ihm die Bauern mit Rindsklauen pflastern, und er hätte die armen Leute am liebsten gefressen, und wenn ihm einer nicht gleich nach Willen tat, so ließ er ihn auf eine Bank binden und ihm fünfundzwanzig auf die Mitternachtseite .herunterzählen. Junge Burschen verkaufte er an die Soldatenwerber. Einmal soll der Kaspar Ruchler sogar ein schwangeres Bauernweib, das ihrer schweren Stunde entgegen sah, in den Stall zu den Säuen gepfercht haben. So wenig soll er Gottes Bild im Menschen geehrt haben. Vor seinem Sterben mag ihm die Scheu gekommen sein, denn er stiftete drunten in Schönweid noch geschwind mit seinem blutigen Geld die Kaplanei, und seit hundert Jahren schon muss jeden dritten Tag seiner Seele zum Trost eine Messe gelesen werden. Aber es hilft ihm nichts, die Bauern lassen ihn geistern. Auf alten Dachböden soll er poltern und schnaufen und röcheln oder auch am lichten Mittag, mit einem grauen Schirm bewaffnet, auf den Feldern spuken, wo er einst die Bauern gehetzt und gepeitscht hat. Der Volksglaube verurteilt ihn zu ewiger Unruhe, gerade so wie den alten Lobinger, der den Grenzstein verschoben hat. Der verstorbene Lobinger weihizt über die Raine hin und schleppt den Stein, daran er sich verfrevelt hat, und den Leuten, die nachts unterwegs sein müssen, schreit er zu, wohin er denn um Gottes willen die entsetzliche Last geben solle. Es hat ihm aber bisher noch keiner geantwortet.

In dem alten Häusel wohnt, ungekränkt von dem Poltergeist am Dachboden, eine arme Frau, die Wittib des Tahelgräbers Johann Kerschagl. Sie verlor an einem einzigen Tag ihre nächsten Verwandten, um einer kleinen, billigen Grubenlampe willen. Der Kerschagl hatte sie in einem Schacht vergessen, der eben geschlossen worden war, weil sich darin giftige Luft gebildet hatte. Mein Gott, so einem ganz unvermöglichen Schwarzgeher ist eine Lampe schon ein Reichtum! Er wollte sie nicht hinten lassen und stieg trotz der Warnung seiner Kameraden ein und kam nimmer. Da, schaute sein Vater nach, wie es um ihn stünde. Auch der blieb drunten. Nun ließ sich der Bruder der Kerschaglin hinunter, den Schwager zu retten. Keiner von den dreien kam wieder zu Tage. Es war damals ein großes Geschrei im Dorf, und in den Zeitungen stand alles genau zu lesen. Der Schacht wurde hernach verschüttet, und die drei Bergleute liegen drunten begraben. Die Kerschaglin weinte sich die Augen blutig. Dann aber nahm sie tapfer den Kampf gegen die Not auf, arbeitete wie ein Mann und ergab sich nicht.

Heute sah ich ihr heimlich bei der Arbeit zu. Ich saß auf der Steinmauer, die die Waldwiese im Buchholz umfriedet. Der Höpflerbauer hat diesen grünen Fleck der Kerschaglin zur Hand überlassen, weil er so abseits und ungünstig liegt. Das Weib wendete mit dem Rechen das Grummet, dass es weithin schnellte und gelockert niederfiel. Ein in der Arbeit sich vergessender Mensch ist ein gar frommes Bild. Wie brennt ihm das Blut in den Wangen! Wie freudig fliegt ihm der Atem! Wie ernst glüht sein versunkenes Auge! Bei solchem Anblick versteht man Gott, der die Mühsal erschaffen hat.

Der Wittib ihr kleiner Bub, der Sonntaghansel heißt er im Dorf, weil er an einem Sonntag zur Welt gekommen ist – erlustigte sich in dem nahen Wald, zwitscherte und sang seine kindlichen Gedanken für sich hin und zupfte sich zuweilen eine Moosbeere aus dem Gekräut. Auch er wurde meiner nicht gewahr oder mochte mich mit meinem grauen Rock und grauen Haar für ein wunderlich gekrümmtes Stück des Granites halten, darauf ich rastete. Wenn das Kind zeitweise still wurde oder sein Singsang sich entfernte, hob das Weib den Kopf und rief seinen Namen. Sie fürchtete sich um den Knaben, denn gar oft lagerten im Buchholz Zigeuner und fahrende Scherenschleifer und anderes fremdes, verdächtiges Volk. Und der Hansel ist ein seltsam feines Büblein und gilt als mit zauberischer Heilkraft begabt, weil er an einem hohen Tag geboren worden ist. Hat einer im Dorf entzundene Augen, so holt man gläubig den Hansel, und er muss in die kranken Augen blasen, dann wird alles gut. Auf ein solches Kind muss man achten.

Am Waldrand quillt dunkelklares Wasser aus dem Grund, es ruht eine Weile in dem schattigen, umblümten Tümpel und rieselt hernach in einem schmalen Rinnsal glucksend von dannen. Der Sonntaghansel lauscht jetzt dem klingenden Brunnen; er traut sich aber nicht hin: er ängstigt sich wohl vor der dunkeln, rätselhaften Wasserwiege. Dann ruft er scheu über die Wiese hinüber: »Mutter, was sagt das Wasser?« Die Frau ist eben mit ihrer Arbeit fertig geworden, sie wischt sich mit der Schürze die feuchte Stirn, lädt sich den vollen Graskorb auf den Rücken und lächelt: »Das dort ist der Kinderbrunn. Dort heraus kommen die Kinder.«

Der Bub steht zuerst still wie ein Bildstöckel und denkt nach. Dann springt er zu der Frau hin, nimmt ihr den Rechen ab und schultert ihn wie einen Spieß. Und er tastet nach ihrer Hand. »Mutter, geh mit mir hin zum Kinderbrunn!« Dreister und gesichert in der Nähe der starken Mäherin, tritt er hart an die Quelle hin und schaut wundergierig hinunter zu der spiegelnden Fläche. »Mutter, Mutter«, staunt er plötzlich und deutet hinab, »und da ist schon einer drin, und einen Rechen hat er auch schon!« So eifervoll redet er, als wolle er sie bewegen, das Kind dort aus dem Wasser zu fischen. Sie lacht: »Bub, ich hab genug an dir!«

Am Fuchsengupf holte ich hernach die beiden Leutlein ein. Von der mit einigen zierlichen Lärchen und einer wildmalerisch verfallenden Brechelstube besetzten Anhöhe überschaut man ein feines rundes Stück Welt; so innig und holder Heimlichkeit übervoll, dass man drüben in der himmlischen Seligkeit selber ein heiliges Heimweh danach kriegen könnte, wenn es dort ein Erinnern gäbe an die verlassene Erde. Nur die öden Halden um das Bergwerk zu Schwarzenerd stören als stumpfer, düsterer Fleck die grüne Lieblichkeit. Dahinter aber wellt in fast erlöster Bläue das Thomasgebirge, aus dessen Rücken der Würfel einer ausgebrannten Burg stößt, und der Hochficht und der felsige Plöckenstein und weiter das steinerne Sagengestühl der drei Landfürsten starren in breiter Kraft, und sanft und gewaltig lagert die Kette der Fuchswiese.

Der Sonntaghansel stand nachdenklich vor dem mächtigen Landschaftsrund. »Jetzt sind wir mitten in der Welt«, meinte er halblaut.

Die Kerschaglin wies gegen die Thomasberge.

»Schau, dort ist das altverfallene Schloss, wo die Wuldagrafen gesessen sind!« »Und dort, wo es so raucht und schmutzig ist?« fragte das Kind. »Das ist das Fürstliche Bergwerk. Und das nahe Werk da gehört unsern Bauern.« »Und was tut man mit dem Tahel, den sie aus der Erde graben?« »Der Tahel, Kind, kommt in fremde Länder und übers Meer. Feine Stifte für die Schreiber werden daraus gebacken, und Tiegel werden aus dem Tahel gemacht, und darin schmelzt man Gold und Silber. Und es soll noch etwas anderes daraus hergestellt werden, aber das dürfen wir gewöhnlichen Leute nit erfahren, das ist das größte Geheimnis auf der Welt.«

Der Bub starrte in das Gras. Man sah, dass er dachte. Ihn mochte das letzte Geheimnis des Tahels zu schaffen geben. Schließlich sagte er: »Mutter, die Leute auf dem Ritterschloss und der Fürst und die Bauern in Dürrnstauden, alle sind reich. Sag, gibt es mehr reiche oder mehr arme Leute im Land? Und warum sind gerade wir zwei arm?«

Sie konnte ihm die Frage, die an das Wesen des Schicksals rührte, nicht beantworten. Sie schaute nur finster auf das Bauernwerk hinunter. »Dort heraus holen die Dürrnstaudner Grafen ihre Tausender«, murmelte sie. »Und darum haben die Bäuerinnen alles, was ihr Herz begehrt.« Sie seufzte.

Der Hansel schwebte schon wieder ferne seiner Frage. Die Hangwiese breitete sich wie ein allgemein zugänglicher Reichtum vor ihm aus, mit bunten, verführenden Blumen bewaldet, heimgesucht und geplündert von feurigen Faltern und behaglichen Sumserinnen, hingeschüttet für alle Geschöpfe aus den gnädigen Händen der ewigen Gewalt. Und das Kind stieg behutsam in den freien, wilden Wiesengarten hinein, damit es keines der blühenden Kleinode zertrete und keinem der flatternden, summenden Gäste ein Leides tue mit seinem Fuß, und es griff nach einer sehnsüchtig leuchtenden blauen Blume. »Mutter, die bring ich dir.«

Da steht, wie aus dem Dornbusch gewachsen, plötzlich der Zisterer da, der geizigste Bauer, den jemals ein Acker getragen. Die Augen hat er so eng beieinander, als wolle er sogar mit seinem Gesicht sparen. An seiner schiefen Nase merkt man ihm den mürrischen Kerl an, den ewigen Raunzer und Menschenfeind. Das dürre Kinn schlottert ihm vor Wut; er droht mit dem hageren Arm. »Wirst du aus meinem Gras gehen, du Nixnutz! Allweil sind die Bettelleutkinder am ärgsten. Weil sie nix haben und nix kriegen verderben sie uns Bauern das Gut.«

Der Bub duckt sich, schleudert erschrocken die blaue Blume von sich und flieht blass und zu Tod erschrocken zu seiner Mutter.

 

Zu Michaeli 1878.

Auf dem Dorfplatz ist ein Leben und Treiben wie in einem Heerlager. Da stehen die langen Plachenwagen angereiht, darin der Tahel in schmutzigen Fässern verfrachtet wird; die Rösser schnauben und schmausen aus den Krippen; die Fuhrleute halten die erste Rast und freuen sich bei stiebenden Kegeln, scharfem Branntwein und mildem Krummauer Schlossbier, und der Wirt »zum Abendstern« zapft an und lacht.

Unter den jungen lärmenden Männern von der Peitsche sitzt ein graubärtiger Gesell, der ist noch mit dem weißleinernen Fuhrmannskittel angetan, wie er in der guten Zeit des Vormärzes und noch früher bräuchlich gewesen ist. Ich schüttle ihm die Hand, meinem Freund Josel Tugut. Wie es mir im Achtundvierziger Rummel um den Hals gegangen ist, hat er mich gerettet und in einem Jauchenfass heimlich aus Wien hinaus gefuhrwerkt, knapp an den Nasen der kaiserlichen Häscher vorbei.

Der Josel Tugut und ich sind an demselben Tag geboren worden, er aber hat sich rüstiger erhalten als ich. Er steht noch gerade wie ein Baum. Das kommt daher, weil er sich mit dem Leben niemals zu tief eingelassen hat. Er hat frisch und fromm mit der Peitsche geknallt, seine weichselne Pfeife geschmaucht, seine wackeren Rösslein gestriegelt, kein Einkehrhaus versäumt und ist talab und bergauf gefahren. In Sommer und Schnee und hat sich nicht sonderlich viel Sorgen gemacht um die Weltläufte und wie sie abzuändern und zu bessern wären und ob der Kaiser Herr sein soll im Land oder irgend ein anderer. Drum ist der Josel auch heute noch so ungebrochen und gesund bis zum letzten Knochen. Wie morsch und abgetan stehe ich neben ihm! Er überlebt mich sicherlich um hundert Jahre. Mein Gott, ich vergönne es ihm!

Mit seinem freien Blick, der gerade Straßen und weiten Himmel gewohnt ist, schaut er mich freundlich an, schlägt hernach mit der Geißel drei Kreuze in die Luft, schreit hüoh und reist in Gottes Namen davon.

 

Zu Petri Stuhlfeier 1879.

Beim Hohenrieder geht es heute wieder einmal wild zu. Der Bauer brüllt, die Bäuerin zetert um Hilfe, und im Hof raufen die beiden Söhne miteinander. Das unbändige Blut des Bauernpressers Kaspar Ruchler lebt in den zwei hochgewachsenen, schlanken, bildsauberen Burschen weiter. Es ist sehr schade um sie. Wie rasend schlagen sie aufeinander los, drosseln sich und drücken einander an die Mauer. Zuletzt reißt der Albert die geschliffene Axt aus dem Hackstock und rennt dem flüchtenden Franz ins Haus nach. Und die Dorfkinder stehen unheilslüstern dort; mit verhaltenem Atem und schillernden Augen warten und hoffen sie, dass sich etwas Grausiges ereigne. Die dreisteren Buben schleichen in die Stuben hinein, die Blutlachen drin zu sehen.

Heute schon, wo der Vater noch in voller Manneskraft über seinen Grund schreitet, neiden die Brüder einander das künftige Erbe. Jeder möchte das ganze, schön abgerundete, stolze Gut für sich allein haben und mit niemand teilen. Die Fichten schauern schlagreif am Hohriederberg; breit ziehen die fetten Äcker, sanft schweifen die nahen Wiesen über Hügel. Es ist das beste Geschäft im ganz reichen Dorf. Was wird da einmal geschehen, wenn der Alte nimmer darein fahren kann mit seiner harten Stimme, oder gar, wenn er das Zeitliche segnet?

Vor dem Hof auf dem Rasen lümmelt der Ignaz Spindelhirn, der kluge Dorfnarr. Er lacht und denkt aus vollem Hals: »Halt ja; zwei Hund an einem Bein kommen nit überein?«

Die Hohenriederin ist gewiss schon zwanzig Jahre nicht aus dem Haus gekommen. Sie ist unmäßig dick geworden, und die Nachbarn spotten, sie leide an der Elefantenkrankheit, und ihre Strümpfe seien so groß, dass man in jeden ein Viertel Korn unterbringen könne.

Die Hohenriederin ist ein unglückliches Weib geworden. Nicht nur, dass sie den bösartigen Streit und die tägliche Rauferei ihrer störrigen Söhne erleben muss, es finden sich Leute; die ihre bäurische Eitelkeit aufs unverschämteste auszubeuten wissen und ihr allerhand tolles und schändliches Zeug einreden, das die ohnehin leutscheue und ein wenig schwermütige Bäuerin ganz und gar verwirrt. Den meisten Nutzen zieht von ihr die Frau des Werkmeisters Schöllhammer, dem die Bauern ihr Bergwesen anvertrauen müssen, weil sie selber davon keinen blauen Dunst haben.

Seit jeher schleicht die Schöllhammerin die dummstolze Bäuerin an, mit dem unglaublich plumpsten Mittel kommt sie zum Ziel. Sie richtet mit kupplerischem Geheimtun immer wieder Grüße und Artigkeiten des Fürsten aus und singt der sich nur wenig sträubenden Frau das Lob ihrer Schönheit ins Gesicht, wie sie, die Werk-Meisterin, es angeblich von Seiner Durchlaucht gehört hat, der ja gewiss die Hohenriederin zu seiner Fürstin genommen hätte, hätte er sie nur früher gekannt. Dem einfältigen Weib ist ihr Bauernreichtum schon längst über den Verstand hinausgestiegen, sie glaubt alles, hält alles für wahr und für möglich, und sie belohnt die Botin, die gar künstlich zu seufzen weiß und sich selber ein über das andere Mal ein betrübtes Bettelweib schilt, belohnt sie mit allem, wonach die Listige schmeichelt: mit Seide und Samt und ererbter Leinwand, mit goldenen Halsgespängen und Ringen. Das falsche Weib hat die Bäuerin so fest in den Krallen, dass sie sich aus dem Hof nehmen kann, was sie will. Die Schöllhammerin hat in einer ihrer Bettstätten Tuchent auf Tuchent so hoch gestaffelt, dass sie eine Leiter anlehnen muss, wenn sie die ausgesonnten Betten wieder übereinander legen will. Und alles erschlichen und erbettelt. Der Bauer muss zuschauen und kann ihr den Zugriff nicht abstellen. Er gilt nichts bei seinem Weib. Bei ihr gilt allein der Fürst, den sie nur wie eine unklare Sage kennt, den sie ihr Lebtag nicht gesehen hat. So weit ist es mit der Hohenriederin schon gekommen, dass das Bild des Fürsten in Traum und Wachen sie verfolgt. Neulich hat sie seine Schatten sogar im Küchenbrunnen zu sehe vermeint und hat lange mit ihm geredet.

 

In den Bittagen 1879.

Der Amisch hat mit Rössern und Wagen die Bergkapelle aus Schwarzenerd geholt. Morgen feiert seine Bäuerin den Namenstag, und da muss es weltkundig werden, wie ein Dürrnstaudner Bergherr sein Weib ehrt. Die Musikanten in schwarzer Knappentracht, die gekreuzten Bergfäustel am Arme, Abzeichen der unterirdischen Zunft, blasen vor ihrem Fenster die schönen, vertrauten Wiener Walzer, dass mich eine dunkle Sehnsucht nach der Stadt an der Donau bedrängt und mir wird, als habe ich dort etwas Köstliches, Unwiederfindliches verloren.

Es ist dämmerig worden, da schleiche ich mich in die Nähe des Festes. Ich setze mich an den steinernen Dorfbrunnen. Über mir saust die hohe Tanne. Ein Glöcklein hängt hoch droben. Die Dürrnstaudner haben einen grünen Glockenstuhl. Der Dorfnarr, der Spindelhirn, pflegt zu sagen: »Wir brauchen keinen Kirchturm, bei uns hält die Tanne das Dorf zusammen.« Er hat recht. Der ehrwürdige Baum gilt als Wahrzeichen und Wegzeiger, von aller Ferne zu schauen, und um ihn rundet sich das Bild des Ortes. Unter dem Druck des Sturmes, der seine hochragende Krone scharf packen kann, und nach anderen launischen Gesetzen hat er sich so sonderbar verästet, dass er einer Monstranz gleicht. Er heißt auch allenthalben der Monstranzenbaum. Gott weiß; wie alt er ist! Er mag wohl schon vor der Schwedenzeit ganz ansehnlich da gesaust haben.

Kühl fühlt sich in der Maiennacht der steinerne Brunnen an. Er ist aus mächtigen Graniten zusammengefügt, die die Steinmetzen aus dem Leib des Hohenriederberges gerissen haben. Die Stimme des Baumes über mir erwidert eindringlich die geruhige Rede des fallenden Wassers.

Dann aber türmen die Musikanten wieder einen übermütigen Tusch auf, es schmettert und prallt von den Gehöften wider, und die Amischbäurin zeigt sich im Fenster und lacht glücklich mit ihren weißen Zähnen. Ein neues Silbergespäng funkelt ihr um den Hals.

Auf dem Dorfanger sind Tische und Bänke aufgerichtet; Bierfässer rollen heran, und im Rauch geschweichte Rindszungen gibt es zu essen und Schinken, die, in Brotteig gewickelt, im Backofen mürb und saftig gebacken worden sind, Fleischwürste und dampfendes Sauerkraut dazu. In Dürrnstauden weiß man, was gut schmeckt.

Die Bauern tragen schwarze Samtkäpplein, wie sie hierzulande sonst wenig üblich sind. Die Bergherren wollen sich von anderer Leute Kindern unterscheiden. Drum sitzen sie auch allesamt an einem besonderen Tisch und wachen eifersüchtig, dass sich kein Geringerer, .etwa ein Bergmann oder ein Inwohner unter sie mische. Nur den Werkmeister Schöllhammer dulden sie unter sich. Sie brauchen ihn. Sonst geht ihr Stolz gar hoch.

Und so sitzen sie gespreizt, breit und gesund, lassen die Fingerringe im aufsteigenden Mond glitzern, bieten einander die silbernen Tabakdosen und ziehen die schweren goldenen Uhren aus dem Sack, ohne dass sie sich sonderlich um die Stunde kümmerten. Der Amisch hebt den Krug. Darauf steht in altdeutschen Buchstaben zu lesen: »Füllen und leeren! Nimmer entbehren!«

Gesinde, Kinder und allerlei neugieriges Volk aus den umliegenden Dörfern oder von der Straße her lungern herum und erschnappen ihr reichlich Teil von der Festtafel. Engherzig sind die Dürrnstaudner nicht, sie leben und lassen leben.

Als einmal die lustige Musik aussetzt, erhebt sich dünn und zart ein Lied. Bergleutkinder, kühn gemacht an diesem klingenden Abend, heben es an. Sie kauern im Wegerich des Dorfangers.

»Wo nähme der König die Krone denn her,
wenn tief in der Grube der Bergmann nicht wär?«

Dieses Lied, das an die Mühsal des armen Tahelgräbers in der Grube erinnert, behagt den Schmausern am Herrentisch nicht. Im Laternenlicht erhebt sich die massige Gestalt des Höpfler; er wirft einige Krapfen unter die singenden Kinder und ruft: »Da, ihr Notleider! Macht euch eine gute Stunde! Aber euer Gstanzel lasst euch! Heute haben wir unsere eigene Musik.«

Ein Trupp Schwarzgeher schreitet dunkel vorüber. Die Arbeit ruft sie. Sie streben zur Nachtschicht hin gegen das Bauernwerk.

Der Höpfler schlägt schon über den Strang. Er wirft den Bläsern Geld in die Trompeten, schüttet ihnen Bier in die Basshörner, und auf einmal schreit er prahlerisch, dass es das ganze Dorf hören soll: »Spielt auf, Spielleut! Den Jägermarsch begehr ich! Da habt ihr einen Hunderter!«

Aus der Schar der vorüberziehenden Schwarzgeher schneidet eine Stimme: »Bauer, lass dir den Hunderter! Er könnt dir einmal abgehen!«

Der Höpfler lacht spöttisch und ärgerlich, reißt die pralle Geldtasche aus dem Rock und wirft sie mitten unter die Musikanten hinein. »Da nehmt euch den Fetzen!« schreit er. »Und mit meinem Geld tu ich, was mich freut!« Die Schwarzenerder blasen stramm und schneidig den Marsch und lenken dann in einen schmiegsamen Walzer über, und der Höpfler schwenkt das samtene Barett, wiegt sich in den Hüften und jauchzt mit seiner dumpfen Stimme wie ein Nachtkauz.

Die Sterne kreisen um den schwarzen Tannenwipfel, als sei er der Nordstern. Kinder und Gesinde verhuschen sich eins ums andere. Die Musikanten packen die Noten ein, raffen ihr Gerät zusammen – und ziehen blasend ab.

Jetzt sind die Bergherren unter sich. Es freut sie, im freien Mondlicht zu trinken, zu singen und mit ihrer hagebuchenen Meinung über den Lauf der Welt aufzutrumpfen.

Ich aber horche selbstvergessen den Stimmen des Baumes und des Wassers, die machtvoller geworden sind in der Stille, bis ich aufschrecke und merke, dass ich nimmer allein am Brunnenrang sitze. Neben mir lehnt ein Kerl, den Hut schief auf dem Schädel, das Gesicht gedunsen, den Grind im Bart und in der Hand einen Stecken, den er sich wohl aus einer Föhre gerissen hat. Die Hosen spiegeln ihm im Mondenschein, und zerfetzt ist er, als seien alle Hunde des Dorfes an ihm gehangen.

»Wie gefall ich Ihnen, Herr Engelbert Reif?« redet er mich an. »Fein bin ich beieinander, gelt? Meine Joppe hat nur einen Ärmel, meine Füße haben nur einen Strumpf.«

Ich forsche in das blattersteppige Gesicht.

Er schabt sich die krätzigen Finger. »Mir scheint, ich bin Ihnen wild und fremd geworden. Hab ich mich denn so hart verändert?«

Er beugt sich weit über den Brunnen zur Röhre hin, lässt sich das Wasser in die hohle Hand springen und schlürft. »Pfui Teufel!« ächzt er. »So tief bin ich gefallen. Nacktes Wasser muss ich saufen! Wie ein Vieh!«

Jetzt erkenne ich den Menschen. Der Geißleitner ist es. Vor zehn Jahren hat er sein hübsches Anwesen in Dürrnstauden verkauft und hat fünfzehn Pfund Silber dafür auf den .Tisch bezahlt bekommen. Das Geld hat er in ein Tuch gebunden und das Bündel am Stecken über die Achsel gehängt. So ist er zum Dorf hinaus, so hat man ihn zum letzten Mal gesehen. »Ich trag mein Haus auf dem Buckel fort!« hat er damals gelacht.

Der Lump neben mir richtet sich auf und deutet auf einen der breiten, würdigen, mondangeschimmerten Giebel. »Das ist einmal mein Haus gewesen«, murmelt er.

Hernach spuckt er aus. Es ist ungewiss, wem dies gilt, der Welt oder sich selber. Er rafft sich zusammen und hinkt auf die Bauern zu.

Die Dürrnstaudner werden still, als der fremde Landstreicher in den Schein der Laterne tritt, die ihnen der Wirt auf den Tisch gestellt hat. Sie recken die Hälse und lauern.

»Treff ich euch alle hübsch beieinander, ihr Großkopfeten?« gröhlt der Landstreicher. »Grüß euch Gott allesamt! Lasst mich rasten bei euch! Ich bin müd. Einmal hab ich zu euch gehört.«

»Jetzt nimmer!« sagt der Hohenrieder eiskalt. Trotz seiner Verelendung haben die Bauern den einstigen Nachbar gleich wieder erkannt.

»Schau ich euch nit fein genug aus?« lacht der Geißleitner. »Ja, ja, arg zerlumpt bin ich, das ist wahr. Drei Hunde könnten sich an mir zu Tode bellen.«

Der Hohenrieder sagt: »An unserm Tisch hast du nix mehr zu suchen. Halt dich zu deinesgleichen, du Auswürfling!«

Die anderen Bauern sitzen steif aufgereckt, sie blasen den Rauch ihrer Pfeifen weit von sich und schauen an dem heimatlosen Mann vorüber, als sei er Nebel und Wind.

Der Geißleitner ist auf einmal ganz heiser. Er höhnt: »Reitet euch der Hochmut? He? Einmal sind nur dürre Stauden da gewachsen in dem Nest. Einmal hat es im Ort nur ein einziges Paar Stiefel gegeben. Es ist noch nit so lang her.«

Der Schimpf steckt wie ein Pfeil. Die Bauern fahren in die Höhe, der Hohenrieder tut zwei Finger in den Mund und pfeift, dass es gellt.

Weit hinten in den Bergwäldern wiederholt sich der fürchterliche Pfiff und erlischt.

Der Wirt kommt gelaufen, sieht den zerrissenen Menschen und zerrt ihn schon beim Kragen. Der wehrt sich und fletscht wie ein Hund hinterm Zaun. »Lass mich aus! Mich dürstet. Bier will ich haben! Wein und Schnaps! Wie ein Bergherr aus Dürrnstauden.«

»Heb dich, Lump! Kauf dir es wo anders!«

»He, Sternwirt, mein Geld ist kein Fuchsdreck! Einmal hast du es mir gern abgenommen!«

»Die Zeiten sind vorbei«, sagt der Wirt. »Hättest du besser gehaust, du elementischer Kerl, heut tät ein jeder den Hut vor dir rücken. Du säßest unter den andern da.«

Mit einem jähen Ruck befreit sich der Geißleitner aus dem Griff des Wirtes. Er stürzt zu dem Bauerntisch hin und schlägt so ungestüm mit seinem knorrigen Stecken darauf, dass es kracht und die Gläser stürzen. Der Hohenrieder packt seinen Krug, holt aus und zielt nach ihm.

Aber der Lump ist verschwunden. Der Schatten einer Hauswand, eines Baumes irgendwo hat ihn aufgenommen. Oder hat ihn die Erde eingeschluckt wie einen Irrwisch. Die Bauern drohen ihm nach und versprechen ihm alles Böse, wenn er sich wieder im Ort spüren lasse. Der Hanichler hebt an, das liederliche Leben des Geißleitner von der Wurzel aus zu erzählen.

Ich schleiche heim in mein großes, ödes Gebäude. Der Schritt hallt in den Gängen nach, als folge mir jemand Unheimlicher nach. Ich spähe noch einmal durch das offene Fenster aus. Drunten haben sich die Bauern vertrollt. Blausilbernes Licht umwittert das Dorf. Der Brunnen spricht fast beschwörend. Der Wipfel des Monstranzenbaumes schneidet in das Sternbild des himmlischen Fuhrwerks hinein.

 

Im Rosenmonat 1879.

Viermal im Jahr hat die Kathreinel die Zimmer des Herrenhauses aufgewaschen, den Staub aus Decken und Teppichen geklopft und auch viel unnötig gerumort unter dem adeligen Hausrat, der in seiner unberührten Verschlossenheit einer reinigenden Hand kaum bedarf. Jetzt sind dem alten Weiblein Hände und Rücken zum Brechen müde worden, sie kann nimmer heben und tragen und sich bücken, und ihre Kraft, die achtzig Jahr lang gehalten hat, lässt aus. »Das Leben ist ganz kurz«, seufzt sie jetzt immer.

Ich habe ihr Geschäft der Wittib Kerschagl zugeschanzt. Dieses behände Weib nimmt es ernsthafter und gründlicher als die ermattete Vorgängerin, sie schleppt die Teppiche, Vorhänge und Polstersessel in den Hof hinunter, stäubt sie aus in kräftigem, lustigem Takt, schleppt singend die Wasserkübel die Stiegen auf und ab und kniet und reibt in grenzenlosem, mir unbegreiflichem Eifer den getäfelten Fußboden. Die Fenster öffnen sich weit; frisch streicht der Wind ein und aus; die finstern, schweren Vorhänge erwachen und wehen. Aber .der leise Modergeruch weicht doch nicht.

Die Kerschaglin ist noch nie in einem solch vornehmen Haus gewesen. Nun staunt sie jedes einzelne Gerät an, den gefrorenen Tau des Kronleuchters, die seidenen Decken, die hohen, leuchtenden Spiegel, die die ganze Gestalt eines Menschen fassen können, die dämmerigen Bilder. Viel Ehrfurcht flößt ihr die Jakobspilgermuschel in der Küche ein. Sie staubt sie ab, betrachtet sie lange und .flüstert dann andächtig: »Ein Altertum aus dem Meer!«

Ihr Sonntaghansel sitzt inzwischen tief versunken in einem weichen Polsterstuhl. So fein und lind ist er sein Lebtag noch nie gesessen. Mit fremden Augen schaut er bald die ungewohnt feierliche Umgebung, bald wieder mich an. Es mag ihm nicht besonders heimlich ums Herz sein. Er hat gewiss viel Sagenhaftes, viel Unfassbares über mich graues Männlein gehört. Wer weiß, wie schrullig die Kinder über mich schwätzen mögen, wenn sie allein unter sich sind!

Ich nehme den kleinen Kerl mit mir in meine Stube. Scheu blickt er nach meiner Flöte, nach den Notenblättern, nach den Bildnissen der wildäugigen Rebellen an der Wand, daran der Efeu, den ich mir einst vom Grabe der Märzgefallenen in Wien habe bringen lassen, längst verdorrt ist. Vor meiner Elektrisiermaschine schrickt er zurück. Sein Atem stockt. Er schaut mich an wie einen unergründlichen Zauberer. Was wird mit ihm jetzt geschehen? Wird er mit heiler Haut davonkommen aus dieser Stube?

Um ihn zu beruhigen, zeige ich ihm den Zeisig, der in seinem grünen Bauer zierlich von Stänglein zu Stänglein hüpft und den zarten Schnabel daran wetzt. Ich heiße den Vogel »das Zigeunerlein«, weil ich ihn von einem Zigeuner gekauft habe. »Ich geb nicht gern her«, hat der schwarze Bursch geradebrecht, »aber ich hab Not.« Das Zigeunerlein hebt gerade einiges Liebliche zu singen an, und er scheint mit seinem Gesätzlein zwischen mir und dem Knaben zu vermitteln, denn er wird plötzlich zutraulich und nimmt mich bei der Hand.

Ich zeige hernach dem Hansel den Garten. Der ist auf einem umfänglichen, ebenen Platz hinter dem Herrenhaus angelegt, ein schöner Rest der Pracht, die vormals hier entfaltet worden ist. In diesen Tagen glüht er von dunkeln Samtrosen, die erschütternd duften. Die jugendliche Gattin des letzten Herrn hier hat manch fremdartige Pflanze aus fernen Himmelsstrichen herschaffen lassen und viele Kisten der dazu gehörigen Muttererde, dass die Fremdlinge sich einbürgerten und nicht in ungewohntem, unpassendem Boden verdürben. Jetzt verkümmern sie langsam, die bunten Ausländer. Bei mir finden sich wohl nicht die rechte Liebe, die sie gewohnt gewesen bei der empfindsamen Pflegerin. Ich habe sogar ihre Namen vergessen, die wunderlichen, fernländischen. Aber noch überschwillt der Garten von blauen Rittersporndickichten, von Jasmin, Nelken, Levkojen, Geißblatt und von Rosen, gelben, schneeweißen und dunkelroten.

Dieser Fleck Erde gehört zu den wenigen Dingen, die mir die Welt noch lieb machen. Ich erlebe meine Blumen, wie sie je nach der Jahreszeit geheimnisvoll aufbrechen oder selig blühen oder schmerzlich ausglühen. Wenn ich mich unbelauscht weiß, rede ich mit ihnen. Ich rede mit ihnen lieber als mit den Menschen.

Der Hansel hat bisher nur durch die verwitterten grauen Zaunstecken in die bescheidenen, wenig gepflegten, mit nüchternem Gemüse bepflanzten Dorfgärten geschaut. Die holde Zwecklosigkeit hier, die Rosen, die nur die eigene Herrlichkeit feiern und ungenützt vergehen, das mutet ihn bedenklich an. Auf dem glitzernden Kiesweg, den ich tagtäglich glätte und von dem leisesten Unkräutlein säubere, trippelt der Knabe ängstlich dahin und schaut sich nach der kleinen Fußspur um. Er fürchtet, die peinliche Ordnung zu stören. Er wagt es kaum zu schnuppern. Bang wird ihm in dem Rosenland.

Mir erbarmt er. Ich schließe ihm die Tür auf, die in die wildweinbelaubte Mauer gebrochen ist, und wir schlüpfen auf den Hang hinaus, der mit tiefem Gras und Wiesenblumen zum Bach talnieder gleitet.

Der Bub seufzt heftig auf, als sei er einem schauerlich engen Gefängnis entronnen. Die vertraute Welt, die mauerlose, unausschöpfliche, unabsehbare Freiheit begrüßt ihn wieder. Es winken die Wälder, darin keine begrenzten Pfade sind, darin überallhin der Schritt erlaubt ist, wo man pflücken kann, was das Herz begehrt, die blaue Beere für den Gaumen, das grüne Reis für den Hut.

Eine seltsam große Schnecke reist durch das Gras, mit dem stolzen Viergehörn vorausspürend. Der Hansel kauert zu ihr hin und tappt ihre Fühler an. Flugs hat sich das Geschöpf beleidigt in sein festes Schlösslein zurückgezogen. Da nimmt der Bub eine grimme Stimme an: »Schneck, Schneck, zeig mir deine Hörner, sonst erstech ich dich!« Er klaubt in der Tasche herum, wickelt aus allerhand Stricklein, Nägeln, Knöpfen, Dreikreuzermessern und ähnlichem. Dorfbubenwerkzeug einen Stift heraus und malt damit säuberlich an das Schneckenhaus ein blaues Fenster mit einem Blumenstock darin und fügt eine Hausnummer dazu, wie es die gestrenge bürgerliche Ordnung vorschreibt.

Ich erzähle ihm, wie die Ururgroßmutter dieses Tierleins da vorzeiten zum Viehstand des Herrenhauses gehört habe, und wie die feinen Herrschaften droben auf dem grünen Abhang vor uns ihren Schneckengarten angelegt haben, darin sie die fleischigen Leckerbissen ausgesetzt, gezüchtet und geerntet haben, um sie hernach zu schmoren und zu schmausen. Dem Buben steigt ein Grausen im Hals auf, und er tritt erschrocken vor der Schnecke zurück.

Droben aus den aufgetanen Fenstern des Hauses schallt in klagenden, gezogenen Tönen ein rührsames Bänkellied, wie es die Dorfmädchen gern anheben am Feierabend. »Weint mit mir, ihr nächtlich stillen Haine! Zürnt mir nicht, ihr morschen Totenbeine!« singt die Kerschaglin. Die modrige, öde Stimmung der verlassenen Gemächer hat in ihr das heulende Elend geweckt.

 

Am ersten August 1879.

Der neue Monat beginnt. Im Wirtshaus »Zum Abendstern« hat der Werkmeister Schöllhammer seine Amtsstube aufgeschlagen, dort lässt er den Dürrnstaudner Bergherren den Anteil an dem monatlichen Gewinn klirrend auf den Tisch zahlen. Die Bauern tragen in blauen Leinwandschürzen das schwere Geld heim.

Inzwischen ist der Schwarzenerder Jud im Dorfeingefahren. Der Jikef weiß, wann ihm ein fettes Geschäft blüht. Eine gehäufte Fuhre Kleiderstoffe bringt er auf seinem Wägelchen daher. Er kennt den bunten, derben Geschmack der Bäuerinnen. Abends reibt er sich hernach das Fäustlein und reist mit leerem Fuhrwerk wieder ab.

Ich schaue im Gehöft des Hanichler zu, wie der flinke, beredsame Mann Tisch und Bänke mit seinem guten und teuern Zeug bedeckt. Mit geschickten Fingern breitet er die Seidentücher hin, die spitzenbesetzten Unterröcke, die feinen Hemden und allerlei Aufputz und Schmuck. Er drängt nicht, er lobt nur und legt aus. Eine köstliche Perlenschnur tut er zu den Stoffen.

Die Hanichlerin schaut mit zündelnden Augen auf diese Schätze. Sie ist ein schönes Weib, die Hände hat sie glatt wie Taft. Sie arbeitet nichts. Um ihren Kopf schlingt sich üppiges, überreiches braunes Haar, es lässt sich kaum bändigen. Der Jikef streichelt darüber. »Die Kaiserin Liesel, so schön sie auch ist, sie tät dir dein Haar neiden, Bäuerin«, schmeichelt er. »Nächstens bring ich dir einen silbernen Kamm mit. Den musst du haben.«

Das Weib legt die Perlenschnur um den Hals. Hurtig greift der Jikef in den Sack und hält ihr ein Spieglein vor. Da ist sie verloren.

Ihre kleinen Kinder tanzen um den Händler, zupfen ihn am Rock und necken ihn: »Mauschel, Mauschel, schalamachei!« Er lächelt dazu, lässt sie gewähren, und nur selten wehrt er die immer dreister Werdenden ab und stopft ihnen den Mund mit Kandiszucker.

Die Hanichlerin ist eine Spiegeldocke worden; eine putzgierige Kleidernärrin. In Dürrnstauden will eine Bäuerin über die andere hinaus, jede möchte am schönsten angezogen sein, und der Reichtum, der von der schwarzen Erde ausgeht, erlaubt ihnen den großen Aufwand. In einem Saal des Obergeschosses hat die Hanichlerin an einer langen, gestützten Stange zweiundfünfzig Kleider aufgereiht, für jeden Sonntag im Jahr ein anderes. Man kann darin blättern wie in einem dicken Buch, und noch immer genügt es ihr nicht: sie möchte es am liebsten so weit bringen wie jene eitle Märchenkönigin, die an jedem Tag ihres Lebens ein anderes Gewand getragen hat.

Der Hanichler trottet in die Stube. Er nickt dem Händler mit gutmütigem Spott zu: »Jikef, hat dir die Bäuerin schon einen Speck fürgesetzt?« Der Jikef lächelt und weicht dem Bauer höflich aus. »Ehre, dem Ehre gebührt!« sagt er.

Hastig wird der breite Tisch abgeräumt, und der Hanichler leert die blaue Schürze darüber. Das blanke Silber rollt daraus. Die Kinder kriechen auf die Bank, tappen in den schimmernden Haufen, suchen sich Rädlein daraus und lassen sie kreiseln.

Die Bäuerin wählt den teuersten Stoff, hält ihn dem Hanichler vor die Augen und lacht: »Dieses Kleid da will ich tragen, und sollt mein Mann zu Tod mich schlagen!« »Kauf dir, was dir gefällt!« schmunzelt der Bauer. »Wir haben es ja.«

Ich sitze auf der Ofenbank, streichle die Katze, und niemand achtet meiner. Ich bin ganz wertlos. Und doch habe ich einmal viel gegolten: fünfhundert Gulden hat der Kaiser auf meinen Kopf gesetzt gehabt.

 

Am Tag des heiligen Laurentius 1879.

Den Bauern geht es dick gegen den Strich, dass das reiche Dorf noch immer den trübseligen Namen Dürrnstauden führt, der gar so lästig auf die längst zur Sage gewordene Armut des Ortes zurückdeutet. Da kamen unlängst der Zuschröter, der Amisch und der Höpfler zu mir, sie wollten bei der hochlöblichen Statthalterei zu Prag um einen besseren Ortsnamen bittlich einreichen, und ob ich ihnen in dieser Sache, die mich als Einheimischen ja auch betreffe, nichts vorschlagen könne, ich sei ja auf der hohen Schule gewesen und müsse in derlei heiklichen Dingen bewandert sein. Der neue Name hingegen sollte so gesetzt sein, dass die spitzfindigste Nase nichts von der alten bösen Zelt daraus erschnüffeln könne, sondern dass vielmehr der erfreuliche Aufschwung und Reichtum der hiesigen Bauernschaft in ein helles Licht gerückt werde, niemand zum Leid, dem Land aber zur Ehre. Ich schlug nach einigem Besinnen den Namen »Reichenerd« vor, und die dreiköpfige Gesandtschaft war damit hochzufrieden und zog strahlend ab.

Sie möchten das Dorf in jeder Weise hochbringen. So hub man heuer an, den Grund zu einer eigenen Schule zu graben. Die Dürrnstaudner Kinder sollten nimmer den weiten Weg nach Schönweid laufen, der besonders zur Schneezeit sehr anstrengend und gefährlich ist. Der Bauplan war fertig, und die Behörde würde nichts dagegen haben.

Die Taglöhner gruben aber nur ein paar Stunden. Denn der Zuschröter legte sich ins Mittel. Er ließ den Gemeindestecken umgehen, und als die Bauern sich einfanden, sagte er zu ihnen: »Nachbarn, ich hab mir es überlegt. Schade um die Unkosten! Wegen der paar Kinder sollen wir bauen? Wenn die einmal groß sind, sind wieder keine da, und wir haben die leere Schule dastehen!« Er brauste in die Höhe und stieß die Faust in den Tisch. »Ich bin gegen das Schildbürgerstück. Wer ist dafür?«

Die Gemeinderäte gaben ihm recht. Der Bau wurde sogleich eingestellt, die Taglöhner zogen ab, und das Loch blieb zurück. Es ist jetzt noch zu sehen. Ei ja, stultus und stolz blüht auf demselben Holz!

Meine lieben Dürrnstaudner geben nichts auf Bildung; sie finden sie nicht für nötig, weil sie selber ohne Wissen und Können und ohne viel Schule reich geworden sind. Die Meinung der Väter findet in den Kindern einen fruchtbaren Acker. Die hiesigen Bauernkinder sind samt und sonders klug und von guten Anlagen; aber sie faulenzen allzu sehr und pochen schon als Knirpse auf den Geldsack der Alten. Die heranwachsenden. Töchter hocken daheim, stricken weiße, grobe Strümpfe und rote Rosmarinzweiglein darein: ein tätiger Müßiggang. Die Burschen lümmeln auf den Rössern, birschen den Mägden nach und leben gedankenlos in den Tag hinein, der schönen Erbschaft gewiss.

Dem Zuschröter sein Stammhalter, der kleine Seppel, tat sich bei der letzten öffentlichen Kirchprüfung in Schönweid besonders hervor. Der Pfarrer fragte ihn: »Wie haben denn die ersten Eltern geheißen? Geh, sag es, Seppel!« »Moises!« stieß der Seppel kurz heraus. Der Pfarrer fragt ihn hernach wiederum: »Wie hat denn Unsere Liebe Frau mit Namen geheißen?« Der Seppel biegt sich verschämt und sagt schier zärtlich: »Katherl, Katherl hat sie geheißen.«

Der Zuschröter freute sich abends im Wirtshaus zu Tod über das Kreuzköpfel.

Der Amisch hat einen bildhübschen Buben, die Gescheitheit lugt ihm aus den ernsten, weichselbraunen Augen heraus. Er verschlingt die Bücher. Jetzt wäre es gerade an der Zeit, dass er in die Lateinschule nach Krummau käme.

Ich klopfe bei dem Amisch behutsam auf den Busch. Aber der Bauer lacht mich aus. »Mein Vinzenz hat es nit nötig, das Studium. Er kriegt den Hof und einen Anteil am Bergwerk. Was sollt dann aus ihm werden? Ein versprengter Student wie Ihr, Herr Reif?«

Dieses bittere Wort bekomme ich von den Bauern häufig zu kosten. Aber sie meinen es nicht so spitzig, wie es herauskommt. Sie sind gerade Michel und verstehen es nicht besser. Mich schmerzt nur, dass ich durch mein unseliges Geschick und schlechtes Beispiel das Studium in übeln Ruf gebracht habe und darum schuld bin, dass sich manchem begabten Kind der Weg zu dem Glück eines geistigen Berufes verschließt. Und darum rede ich weiter: »Amisch, es hängt nicht über jedem der Unstern wie über mir. Ihr solltet Euern Buben den Bergbau studieren lassen. Ihr braucht in Dürrnstauden Fachleute aus euerm Blut heraus. Denen könnt ihr vertrauen, und mit denen werdet ihr gut fahren.«

»Uns geht es nit schlecht«, sagt der Amisch. »Und die Fachleute zahlen wir uns. Unser Werkmeister ist ein bergverständiger Mann. Und wenn es nötig ist, kaufen wir uns noch einen zweiten und einen dritten Werkmeister dazu. Soweit langt es. Und mein Vinzenz braucht nit zu studieren. Er kriegt einmal Geld genug. Und das Geld fliegt uns zu. Es kommt uns von selber, wir brauchen ihm nit entgegenzurennen.«

Damit lässt er mich stehen.

Er hat recht. Die Berggrafen von Dürrnstauden tun wirklich nichts zu ihrem Glück. Es ist über sie gekommen, sie wissen nicht wie. Sie sorgen sich nicht, wie lange es dauern wird. Sie haben keinen Begriff, mit welcher Mühsal und mit welcher Arbeitsweise von anderen Menschen ihnen der Reichtum gehoben wird. Keiner von den Bauern steigt je in die Förderschale, um sich in die Teufe hinabzulassen, in das Schattenreich des keuchenden Tahelgräbers; keiner schaut nach, ob die Pölzung über dem Haupt der Arbeiter nicht vermorsche; keiner kümmert sich darum, wie der Tahel gekuttert, geschwemmt und gepresst wird; keiner weiß die Lagerung und die Launen des streichenden Graphits. Sie überlassen getrost alles ihrem Werkmeister. Sie reden sich aus, der Bauer müsse über der Erde gehen, nicht darunter.

Der Zuschröter ist Bürgermeister von Dürrnstauden. Aber er kann außer seinem Namen nichts schreiben. Und wenn er sich irgendwo unterfertigen muss, so haut er zuerst Weib und Kinder aus der Stube, damit ihn keines in dem mühsamen Werk störe. Hernach malt er ächzend und pfauchend und vorsichtig seinen Namen mit der linken Hand in Spiegelschrift hin.

 

In der Sankt Ulrichsnacht 1880.

Es ist schwerster Sommer. Das Gesinde und die Inwohner baden in ihrem eigenen Schweiß. Sie mähen die Wiesen, und eine Wiese gibt keinen Schatten. Sensen funkeln und surren; die Rechen raffen; das Heu wird gewendet, geschobert und aufgeladen. Mensch und Tier spannen qualvoll ihre Kraft an, die knisternde Ernte zu bergen.

Doch von den Bauern ist keiner auf diesen Kampfstätten der Arbeit zu schauen. Sie haben anderes zu tun.

Der Höpfler taumelt aus dem Haus »Zum Abendstern«. »Die höllische Hitze! Die Hitze!« murmelt er. Und dann starrt er mit glasigem Blick um sich und schreit herausfordernd, als wittere er einen Widerspruch: »Ich bin halt noch ein Mann beim Zeug!«

Der Zaunrieder begegnet ihm, der älteste Bauer in Dürrnstauden, jetzt freilich im Ausgeding. Er ist noch einer, ein Letzter, aus der Zeit, wo die Not Bürgermeister gewesen im Dorf. Die Leute, die heute am Ruder sind, mögen ihn nicht leiden; nicht nur, weil sie jeden Austrägler ungeduldig anschauen, der sich hartnäckig gegen den Tod stemmt, das Leibtum allzu gesund und allzu lange genießt und dem Nachfahren an der Schüssel sitzt: den hochfahrenden Emporkömmlingen ist der alte Zaunrieder ein ewiges Denkmal jener Tage, wo die Gemeinde wegen ihrer Armut allen Zungen ein willkommener Spott gewesen ist.

Der Ausnehmer, übrigens noch ein prachtvoll gerader Mann, der überall zugreift und überall guten Rat weiß, er stößt den Stecken in die Erde und starrt mit seinen blendend blauen, harten Augen den betrunkenen Höpfler an. Er fragt: »He, wohin, Bauer?«

»Ist dir etwas nit recht?« sagt der Höpfler misstrauisch. »Wer ist rauschig? Ich nit! Schau dir die Leut erst an, eh du sie verdächtigst!«

»Ich will dir sagen, Höpfler, wohin du rennst«, spricht der Ausnehmer. »Du rennst ins alte Elend zurück!«

»Bist du vielleicht der Wegzeiger dahin?« spottet der Trunkene.

»Ins alte Elend zurück!« wiederholt der Zaunneder. »Freund, ich kann dir ein Lied singen von der Zeit. Es ist uns schlecht genug gegangen. Dein Vater, Bub, merk auf, dein Vater ist in seiner Not einmal auf den Acker hingekniet und hat den Herrgott mit gerungenen Händen um Hilfe angeschrien. Dein Vater, Bub, der hat das Bier nur vom Hörensagen gekannt. So geht es leider: der Alte spir spar, der Junge rips raps.«

»Ist die Predigt schon gar? Jetzt will ich dir antworten. Weißt du, wer ich bin? Ein Bergherr bin ich!« Also brüstet sich der Höpfler.

»Du wendest dem Herrgott seine Gunst übel an«, zürnte der Alte. »Spar für die künftigen Jahre! Am helllichten Tag schon einen Rausch! Das ist vorzeiten nit der Brauch bei uns gewesen. Lach nit und hör auf meine Rede! Wenn ein alter Hund bellt, soll man vors Haus schauen.«

»Meinem Geld werd ich noch Herr!« grölt der Höpfler, gibt sich einen Ruck und wankt davon.

Jetzt liegt er auf dem langen Rain gegen den Hohenriederberg an einer Dornstauden und schläft sich den Taumel aus.

Der liebe Höpfler hält übel haus. Alle Warnung schlägt er hoffärtig in den Wind. Seine Mägde werden schlampig. Sein Knecht verkauft heimlich Hafer.

Und man findet leider bei allen anderen Bauern im Dorf ähnliche Beispiele, man braucht nur um sich zu schauen.

Wenn die Dürrnstaudner nicht gar so dick im Glück drin säßen, man wäre versucht, ihnen das Schicksal zu weissagen, das die Bauern von Föhretschlag betroffen hat. Die Föhretschläger haben einen gewaltigen Wald besessen und sind darum reich gewesen und angesehen im ganzen goldenen Unterland. Da sticht sie der Hafer: sie fällen den Wald, verkaufen ihn und lassen sich von den Händlern das Holzfuhrwerk übertragen. Und Holz führen ist ein gutes Geschäft und ein lachendes Leben, und die Föhretschläger tun das liebe lange Jahr nichts anderes als die Rösser ein- und ausspannen, in der Stadt einkehren bei Bier und bei Wein, allerhand Neues erfahren, was man in dem langweiligen Dorf sein Lebtag nicht gehört hätte, und mit feuchten Brüdern Freundschaften schließen. Ein volles, schönes Jahr lang sind sie von der eintönigen Plage auf der Scholle befreit! Aber in diesem vollen, fröhlichen Jahr haben sie das Trinken und das selige Nichtstun gelernt, und als hernach das nächste Frühjahr wieder nach ihren Kräften begehrt hat, da hat ihnen das mühselige Bauernleben nimmer geschmeckt, sie haben Wiese und Acker vernachlässigt, haben einer nach dem anderen abgehaust, und das Dorf ist auf den Hund gekommen und kann sich nimmer erholen.

 

In der Herbstnachtgleiche 1880.

Die Dürrnstaudner werfen für allerlei Läpperei und Unfug das Geld hinaus. Beim Arzt aber wissen sie wohl zu sparen. Sogar dort, wo es um den eigenen Leib oder um die Gesundheit der Kinder geht. Das ist wohl überall törichter Bauernbrauch. Und wenn der Tod den Kranken schon bei den Füßen packt, so zögern sie immer noch, den befugten Arzt zu holen, sie klopfen lieber bei den kläglichen Zauberinnen an, die durch abgeschmackte Spann- und Messkünste den Bresthaften zu heilen versuchen oder mit geheimen Sprüchen das Siechtum aus seinem Versteck jagen wollen.

Viele suchen auch mich auf. Ich koste ihnen nichts. Sie wissen, dass ich einmal der Heilkunde beflissen war und dass ich eine leidlich geschickte Hand und einen gewissen Spürsinn für Krankheiten habe. Nach dem Gesetz darf ich freilich nicht ausüben, was ich einst gelernt habe. Ich lasse mich auch ungern her, den Winkelarzt zu spielen; ich hasse die Heimlichkeit, womit ich zu dem Kranken schleichen muss, um dort meine halben Kenntnisse anzuwenden. Obzwar ich gerne helfe und fühle, welche Seligkeit in einem helfenden Menschen ist, habe ich doch hundertmal und hundertmal meinen ungebührlichen Beruf verschworen. Aber das Mitleid mit dem einsamen Leidenden und der Ruf der Sterbenden bringt mich immer wieder von meinen Vorsätzen ab. Nur der Güte und Nachsicht der benachbarten Ärzte, die in mir den unglücklichen Zunftgenossen sehen, habe ich es zu danken, dass ich nicht längst schon wegen Kurpfuscherei in Gewahrsam sitze.

Auch bei Viehbresten holen mich unsere Bauern gern. Mit ihrem Getier sind sie sehr heikel und fackeln nicht lange, sie würden sich es auch einen schönen Batzen kosten lassen, wenn ein zünftiger Rossarzt dabei zu schaffen hätte. Sie wähnen bei mir ein tiefgründiges Wissen um den Leib des Tieres. Einiger Erfahrung kann ich mich ja rühmen, und in ungewissen Fällen ziehe ich ein vergilbtes Vieharzneibuch zu Rate, darin manches scharf Geschaute und Erprobte zu lesen ist, wenn es auch, leichthin betrachtet, blutigem Köhlerglauben verdammt ähnlich schaut.

Mit sich selber nehmen sie es, wie gesagt, längst nicht so genau. Am liebsten greifen sie zu alten Hausmitteln, die meist wunderlich genug sind. Kürzlich hatte der geizige Zisterer grimmige Halsschmerzen, tagelang ging nichts in seinen Schlund hinunter, und er fürchtete zu verhungern. Da holte er endlich einen schäbigen Hasenbalg vom Gerümpelboden und wickelte sich ihn um den Hals. Am nächsten Tag sagte er: »Es bessert sich. Der Hals arbeitet schon.« Am dritten Tag hielt er es nimmer aus, und er riss den Hasenpelz herunter. Da war ihm der feuerrot und blutig angefressen von den Würmern, die in dem Fell genistet hatten. Aber gesund war der Zisterer wieder, und den Arzt hat er auch nicht bezahlen müssen.

Heute wurde ich zum Mauthäusel geholt, der einstigen Zollstätte auf der Straße, die vom Bergpass vor Aigen in das Wuldaland herein führt. Ein Tahelfass sei vom Wagen dem Fuhrmann auf die Brust gefallen, und jetzt liege er mit zugetanen Augen und sei nimmer zu wecken.

Unterwegs hörte ich, wie sich ein ferner, scharfer Pfiff von Wald zu Wald schwang und lange nachhallte. Noch nie hatte ich in unserer stillen Gegend außer den Glocken solch weittragenden Laut vernommen. Der Knecht, der mich begleitete, wusste Bescheid. Der Bau der neuen Bahn, den der Fürst ganz in die Nähe seiner Bergwerke und mitten in seine holzreichen Forste zu lenken gewusst habe, rücke nun heran, und was also grell pfeife, das seien die ersten Dampfmaschinen, die schon gegen den Flecken Schönweid vorspürten, und diese Teufelsochsen würden mit ihrer rußenden Kraft bald alle Fracht aus dem Wald schleppen und Fuhrleute und Rösser ablösen.

Wieder schollen die Pfiffe und störten wie das schrille Frohlocken eines bösen Geistes den Frieden dieser Höhen. Die eiserne Schlange kriecht in unser Land. Eine neue Welt tut sich auf. Sie bringt neue, hastigere Menschen, die keine Zeit mehr für sich und keine Zeit mehr für Gott haben.

An dem Unglücksort fand ich den Josel Tugut in seinem altleinernen Kittel, sanft und gestillt, die Peitsche fest in der Hand, als wolle er sich damit begraben lassen. Sein Herz schlug nimmer.

Ich konnte ihm nimmer danken, dass er den verfemten Studenten einst vor Pulver und Blei errettet, dass er mich durch alle Gefahr hindurch in seinem Plachenwagen in die Heimat geschafft hatte.

Fern gellte der geile, erobernde Pfiff. Mir war, das stille Fuhrmannsgesicht lächle schalkisch und überlegen. Der eiserne Gegner mochte auf tausend Rädern ins Land stoßen: dem Josel kann er das tägliche Brot nimmer nehmen, der hat zur rechten Stunde ausgespannt.

 

Nach Neujahr 1881.

Die große Jahresrechnung ist gemacht worden, das müssen unsere Bergherren rechtschaffen feiern. Schweine sind abgetötet, Bier ist eingeschafft worden, der Wirt steht Tag und Nacht bei der Piepe. Die Bauern liegen schon den dritten Tag im Haus »Zum Abendstern«. Den Weibern werden Leckerbissen, gezuckerter Wein und süßer Schnaps ins Gehöft hinüber geschickt, damit sie auch ihren Teil hätten und in froher, zuwartender Laune sich erhielten. Die kleineren Kinder huschen in die Wirtsstube und stecken den Schnabel in den vollen Krug des Vaters.

Ich höre den Dürrnstaudnern nicht gern zu in ihrer Völlerei und trunkenen Pracht. Sie sticheln aufeinander los, wissen einer vom anderen alles Schlimme und Lächerliche, denn sie sind alle miteinander verschwägert und verfreundet und schleudern einander die hagebuchenen Sünden der Väter und Vorväter ins Gesicht.

Heute war ich leider gezwungen, den Zeugen für ihr Polterspiel abzugeben. Das jüngste Mädchen des Wirtes fieberte und wurde von Träumen erschreckt, darin das Haarstubenwaberl eine wilde Rolle innehatte, ein Gespenst, das in öden Flachsbrechelhütten seinen Schlupf findet. Da saß ich in der Küche bei dem irr flüsternden, immer wieder klagend aus grässlichen Gesichten auffahrenden Kind, nahm ihm das faulende Fleisch weg, das ihm ein altes Weib in blödem Aberglauben auf eine Wunde gebunden hatte, damit es diese auszöge, und hielt das heiße, unruhige Händlein. Daneben im Schenkraum tobten und prahlten die berauschten Männer, und wenn die Tür zuweilen offen stand, sah ich die roten, erhitzten Köpfe, und der grobe Qualm der Pfeifen schlug heraus.

Der einzige Zisterer war nüchtern geblieben. Aus Geiz. Er hockte vor seinem lau gewordenen Bier, rührte es nicht an und nippte nur mit säuerlichem Lächeln davon, wenn ihm die Nachbarn höhnisch den Krug zubrachten und ihn anschrien: »Um Gottes willen, tu einmal dein Bier heraus!« Er allein teilte das allgemeine Hallo nicht und krächzte in die hochtrabenden Reden der anderen darein wie ein missmutiger Rabe in die ausgelassene Lust der Waldvögel. Er greinte, dass die Wirtschaft nichts eintrage; dass man keinem Menschen mehr trauen dürfe, dass die Steuern ins Unerschwingliche wüchsen, und dass sich auch der tiefste Brunnen einmal ausschöpfe, und wenn einmal der Tahel unter der Erde aufhöre, dann könnten sie allesamt den Stecken nehmen und betteln gehen.

Auf die Ellbogen gelümmelt, pochend auf das Glück, das aus der unversieglichen Tiefe steigt, lachten ihm die andern ins Gesicht. Der Griesgram möge seinen Unkenruf einstellen, sagten sie. Der Tahel könne in alle Ewigkeit nicht enden; das ganze weite Tal, die Wälder drunten und die Auen stünden auf lauter Tahel. Und jetzt nähere sich gar die Eisenbahn, da würde noch viel mehr gefördert und verfrachtet werden können. Auf alle Inseln und Weltteile würden dann die Dürrnstaudner ihre feine Ware ausführen; die rabenschwarzen Mohren, die Indianer und die Chineser würden aus dem Dürrnstauïner Tahel ihre Bleistifte backen, und der Ort werde dann einen würdigen Namen führen, und auf den Fässern werde geschrieben stehen: Reichenerder Graphit.

Der Zisterer begann ein anderes Lied. »Aber die fremden Gänse dürfen mir nimmer in mein Gras!« drohte er. »Wenn ich eine erwisch, ich tu ihr etwas an.«

»Bist du aber heikel mit deinem Grund!« höhnte der Amisch und wischte sich die feisten Hängebacken. »Du dürftest Geldsamen gesät haben!«

Ein unbändiges Geschrei und Gelächter hob an. Denn der Spindelhirn kam zur Tür herein. »Ihr habt mich holen lassen!« sagte er. »Da bin ich.«

Der Spindelhirn hatte sich nach seiner krausen Laune herausgeputzt: am Hut trug er statt des Gemsbartes einen abgedankten, kargen Balbierpinsel; den altmodischen, knallhimmelblauen Frack hielt per mit den buntesten Knöpfen geschlossen, mit hölzernen und beinernen, mit einem hirschhornenen Jägerknopf, mit einem messingnen, darein der österreichische Zwillingsadler gepresst war, und im untersten Knopfloch klingelte gar eine Schelle. Bloßfüßig stand er in den Holzschuhen. Eine lange, einfältige Nase wuchs ratlos zwischen den scheinheiligen, zwinkenden Augen herfür.

Der Spindelhirn ist ein Allerweltskerl: er hat im Dorf alles zu verrichten, wovor die andern zurückschrecken, weil es zu schwierig oder zu abscheulich ist. Zu allem Außerordentlichen wird er berufen, und er greift überall ohne Scheu zu und löst jede Aufgabe so schnell und urwüchsig, dass jedermann zufrieden ist und zugleich staunen und lachen muss. Wird eine Katze toll, der Spindelhirn packt sie tapfer beim Genick, steckt sie in einen Sack und schlägt sie darin an einen Baum. Kommt eine Bäuerin in die Wochen, so rennt er um die Hebemutter. Auf der Wallfahrt ist er der nimmermüde Vorsinger, mit seiner geschmeidigen Fistelstimme jodelt er zwischen die frommen Reime allerlei ergötzliche Anzüglichkeiten darein, so dass sich jeder bei der Nase nehmen kann, den es angeht. Er schneidet das Kraut und steigt beim Einsetzen der Pumpen in die gefährlichen Brunnen; er ist von der Gemeinde beamtet, an den drei Tageszeiten das Glöcklein am Monstranzenbaum zu läuten; er weiß sich bei Hochzeiten und Begräbnissen und Feuersbrünsten wichtig zu machen und treibt alle Handwerke und keins. Das Schicksal des Dorfes fügt es, dass dem Spindelhirn fast an jedem Tag eine wunderliche Arbeit in den Wurf gerät, woran er verdient und sein lachendes Leben fristet. Dabei steckt er bis über die Ohren in jähen, possenhaften Einfällen, dass er hernach sich über sich selber wundert, dass ihm derlei hat von der Zunge springen können. In dieser drolligen Art und in seiner tollen Gelassenheit ist er wohl der unabhängigste Mensch im Ort.

Wie sich die Fürsten vergangener Jahrhunderte ihre Hofnarren gehalten haben, so bestallen auch die Dürrnstaudner Bergherren den Spindelhirn zu ihrem Schalk, schieben ihm alle guten Brocken zu, hänseln ihn und lassen sich von ihm mit schärferer Münze zurückzahlen. Er weiß ihr wenig beschwingtes Bauernhirn mit seinen Torheiten zu beflügeln und ist zugleich das Dorfgewissen hinter der Larve des Narren.

Als ihn nun die Bauern begrüßt hatten, wies ihm der Wirt ein Katzenstühlchen im Winkel an und schob ihm einen reichlichen Teller voll Leberwürste vor.

»Ich zahl alles«, schrie der Höpfler. »Ein Spaß ist sein Geld wert.«

Der Amisch kichert: »Spindelhirn, es ist ewig schad um dich, dass du nit unter uns Bauern sitzen darfst.«

»Ich geb die Hoffnung nit auf«, erwidert der Schalk. »Ich hab es doch schon weit gebracht: nackt bin ich auf die Welt gekommen, und heut hab ich schon zwei Holzschuhe.«

Der Zisterer tut, als habe er sich schon allzusehr mit Bier beladen, er erhebt sich schwankend und taumelt auf den Spindelhirn zu und klopft ihm gnädig auf die Achsel. »He, morgen kommst du zu mir, eine feiste Sau stechen!« Der Zisterer tut gern groß, wenn es ihn nichts kostet.

Der Spindelhirn winkt mit einer lustig verzichtenden Gebärde ab. »Zu dir geh ich nimmer. Das letztemal hast du mir zu Mittag nix vorgesetzt als einen steinharten Knödel. Ihrer drei haben wir ihn teilen müssen, einer allein hätt das gar nit zuweg gebracht. Und der Knödel rutscht aus, schlägt durch das Fenster, schlägt doppelt durch, schlägt an einen Stein draußen, dass es Licht gibt, und rodelt hernach ins Tal hinunter. Der Zisterer aber schreit: »Den Knödel lassen wir nit hinten! Mit der Spitzschaufel ist er ihm nachgerannt und hat ihn ausgegraben.«

Die Bauern brüllen, dass man glauben könnte, die Balken kommen von der Stubendecke herunter. Ja, der Spindelhirn, der kann einem gehörig zurückfeuchten! Der hat dem Neidskragen die rechte Antwort gewusst! Und ein harmloses, dummes Gesicht schneidet er dabei, als verstehe er gar nicht, wie lustig das ist, was er vorbringt.

Der Zisterer zupft sich den schütteren, fahlen Bart. Er will den schwänkischen Mann von sich ablenken. »He, Spindelhirn, red nit so viel! Es wird dir ja die Wurst kalt. Iss! Die Wurst legt sich auf die Rippen.« Er schnalzt mit der Zunge, als wolle er das Gelüst des Narren steigern.

Der Spindelhirn lässt sich nicht bestechen. Er plaudert weiter: »Dem Höpfler seine Bäuerin, meiner Seel, die kocht einen Sterz, der rinnt einem so mild, so lind hinunter in den Hals. Aber den Sterz, den man beim Zisterer kriegt, um Himmels willen, der spreizt sich, der scheppert, wenn man ihn schlingen will, und man weiß nit, geht er hinauf oder hinunter. Und einmal hat der Zisterer sein Weib vom Ofen weggejagt und hat selber Nudeln gebacken. Sein Hütbub hat hernach so eine Nudel in die Stalltür eingezwickt, hat sie gemartert und sie angeschrien: »Nudel, jetzt schwör, ob du ein Schmalz gesehen hast!«

Die Bauern biegen sich vor Lachen. »Der Schlag könnt einen treffen!« schreit der Schmalreiter.

Der Zisterer tut entrüstet. »Was?! Von einem Fechtbruder soll ich mich spotten lassen? Und ihr Nachbarn lacht noch dazu, statt dass ihr den Spitzbuben da aus dem Dorf hinaustreibt?!« Er schlägt mit der Faust auf den Tisch nieder und geht. Dabei hat er vergessen, seine Schuldigkeit zu bezahlen.

Der Wirt kommt zu mir in die Küche heraus. »Wenn ich lauter solche Gäste hätte, könnte ich mich aufhängen«, brummt er. »Wie geht es dem Kind? Sie müssen es elektrisieren, Herr Reif!«

Beschämt sinke ich in mich zusammen und finde nur noch die Kraft, heftig den Kopf zu schütteln. Es gab eine Zeit, wo ich die Menschen wider mein Wissen und Gewissen hinterging. Aus Not nur. Das soll mich ein wenig entschuldigen. Als ich nach dem Jahre achtundvierzig begnadigt wurde und aus meinem Schlupfwinkel kroch, da war es mit meinem Lebensunterhalt elend genug bestellt, die Mutter schalt mich aus lauter Zorn und aus Leid über mein verpfuschtes Leben den verfluchten Fahnenträger, kaufte mir aber schließlich doch eine kleine Elektrisiermaschine, dass ich daran verdienen könne und nicht verhungere. Viele Kranke suchten mich auf, denn dazumal war das Elektrisieren in der Mode, und man glaubte, es sei gegen das schwerste Übel gut und vertreibe den Tod. Vielleicht half es dann und wann auch einem, der mit zuversichtlichen Augen die Griffe meiner kleinen Maschine in die Hände nahm. Aber ich schämte mich meiner Quacksalberei und atmete auf, als ich mir das Brot wieder auf redlichere Art verdienen konnte.

Immer trunkener geht es in der Schenkstube zu. Die Bauern singen, lachen, tanzen und reden wirr durcheinander.

Der Hohenrieder reitet das hohe Ross, er lobt sein Vieh, seine Äcker, seinen Bergwald, er prahlt, er sei der Reichste im Dorf. Er spricht sehr langsam, und jedes Wort fällt bei ihm gewichtig wie das As im Kartenspiel.

Der Höpfler hält den Arm um den Spindelhirn geschlungen und singt ihm ins Ohr.

»Der Bettelmann hat's gut,
drum steigt ihm der Mut,
darf in die Mühl nit führen,
darf keinen Wagen schmieren.«

Der Spindelhirn lässt sich davon im Essen nicht irren. »Tu, wie du willst, Höpfler!« sagt er. »Reck dich noch um ein Stockwerk höher! Du bleibst halt doch ein grober Bauer. Ja, die Schreiber in Schwarzenerd drüben, das sind Herren, die sind zierlich!«

Der Höpfler brüllt wie ein Stier. Er erbricht fast die Worte. »Und das Herrenhaus kauf ich! In die seidenen Betten leg ich mich mit meinem Weib! Auf den seidenen Sesseln rast ich mich aus! An dem seidenen Tisch esse ich meine Knödel! Und meine Töchter müssen herrisch werden! Und sie müssen das Fortepiano spielen!«

»Und deine Ochsen lasst du studieren«, nickt der Spindelhirn ernsthaft. »Am liebsten die Mederazin!«

Damit hat er auf mich gezielt.

Das kranke Mägdlein hat sich beruhigt. Es ist ein richtiges Wirtskind, es kann in dem Lärm und Wirbel schlafen.

Als ich hernach heimging, torkelte der Höpfler aus dem Wirtshaus und schlug ungefähr die Richtung gegen sein Gehöft ein. Er hatte in diesen drei Tagen zu viel aufgeladen. Der Stecken fiel ihm aus der Hand, und er bückte sich danach. Als er sich wieder aufreckte, stieß er mit dem Schädel fürchterlich stark an eine Wagendeichsel. Ich meinte jeder Bauer müsse nun mit zerschmetterter Hirnschale zusammenbrechen. Er stand auch eine hübsche Weile wie entgeistert. Hernach spreizte er den Daumen aus und versuchte damit Stirn, Mund und Brust zu berühren und das dreifache Kreuz darauf zu zeichnen. »Ist das ein Donnerschlag gewesen!« sagte er staunend zu sich selber. »Nein, so ein wildes Wetter! Herr, steh uns Bauern bei! Wo das niedergeht, dort ist alles hin!« Sprach es und taumelte in das Wirtshaus zurück.

 

Zu Michaeli 1882.

Wenn unser Herrgott den irdischen Reichtum nur denen in die Hände spielte, die ihn anständig zu verwenden wissen, die Dürrnstaudner säßen samt und sonders noch drinnen in ihren moderigen Holzhütten.

Der Zisterer geht am unwürdigsten mit seinem Geld um. Und am dümmsten. In der Truhe daheim mag er hübsch ein paar tausend Silbergulden haben. Aber er lässt keinen los. Er vergönnt sich nichts. Sein Weib, die arm genug daran ist, redet ihm zu: »Tu Geld her! Ich muss einkaufen. Alles ist teuer.« Er grinst: »Mir tut die Teurung nix.« Wenn sie, die als einzige ärmlich gekleidet geht unter den Bäuerinnen, zu ihm sagt: »Wir haben nix mehr zum Anziehen! Schämst du dich nit für dein Weib? Schau her, wie arm ich umgehen muss! Ich, eine Bergfrau! Kauf mir ein Gewand!«, da lachte er böse: »Du wirst solange Kleider kaufen, bis wir nackent werden gehen müssen!«

Freigebig ist er nur gegen die Zigeuner, die er fürchtet, weil sie ihm den roten Hahn aufs Dach setzen könnten. In die Kirche geht er selten, er kann den Klingelbeutel nicht vertragen. Das Vaterunser ist ihm nur ein Zeitmaß, darauf er sich aber mehr verlässt als auf seine rostige Sackuhr. Mit Gott hat er wenig zu schaffen. Nur bei Gewittern, wenn er sein Geld und seine Bankozettel zusammengerafft hat, dass er sie im schlimmsten Fall gleich bergen kann, betet er hurtig und schreiend und breitet die Hände über den kahlen Scheitel, als wolle er ihn schützen.

Im vergangenen Sommer riss ihn sein Geiz zu einer Roheit hin, die das ganze Dorf entsetzte. Fremde Gänse grasten in seiner Wiese, und er trieb sie in seinen Hof, fing sie und spreilte den armen Geschöpfen mit kleinen Pflöcken die Schnäbel auseinander, dass sie sie nimmer schließen konnten, und ließ sie in diesem Zustand laufen. Es war ein klägliches Bild.

Der Zisterer soll einmal fröhlich und gut und menschlich gewesen sein. Das schwere Geld, das ihm das Bergwerk einträgt, hat ihm das Herz verwirrt und zuletzt steinern gemacht. Das Gesinde rennt ihm davon, und selbst der Spindelhirn, der vor nichts zurückschreckt, weigert sich, bei ihm zu tagwerken und jammert: »Der kocht einen hafernen Sterz, den zwing ich nit übers Herz.«

Der Zisterer hat sich jetzt den Sonntaghansel als Hütbuben gedungen. Dem gibt er nicht viel Lohn. Der muss froh sein, wenn er sich ein Hemd und ein paar Kreuzer verdient. Der Hansel geht schon das zweite Jahr in die Schule und lernt dort aus den Fibeln der anderen lesen.

Jetzt, wo er mit der untersten, verachtetsten Stufe der bäuerlichen Rangordnung begonnen hat, muss er oft den Unterricht versäumen. Es geht ihm auch sonst nicht zum Besten. Das Vieh grast nun schon in den Haferstoppeln, in der trostlosen, spätesten Weide. Der böhmische Wind weht kalt, und den Hansel trifft es wie vormals die Dürrnstaudner Bauern, er hat keine Schuhe. Und so tritt er in die frischgefallenen, noch rauchenden Fladen seiner Kühe, um sich die frierenden Füße ein wenig zu wärmen. Dann singt er wieder über die hallende Herbstöde mit seiner spröden, unfertigen Stimme:

»Mein Gott und mein Herr, und mein Herz ist so schwer, mein Bauer gibt niemals ein Hüterbrot her!«

Doch bleibt trotz allem sein sonntägliches Herz heiter und hoffend. Als ich ihm heute ein Paar – für ihn freilich viel zu geräumige – Schuhe auf die Weide brachte, da war er ganz hellauf und erzählte mir von seinen Plänen. »Wenn ich einmal reich bin«, sagte er, »hernach treib ich die Kühe nimmer barfußet aus, hernach reit ich den allerweißesten Schimmel hinterher!« Und glücklich warf er den mit klirrenden Ringen geschirrten Hirtenstecken hoch in die Luft, dass sich das Vieh erschrocken um ihn sammelte und großäugig den kleinen Gebieter anschaute.

Träume, Kind! Und möge dein Traum nicht allzu genau sich erfüllen. Denn viel Geld macht die Seele eng. Und Geld ist so hart und kahl, dass keine Blumen darauf wachsen können.

Das sieht man in Dürrnstauden. Da führt der Überfluss zur Überhebung. In keiner andern Gemeinde treiben es die Bauernsöhne so wild und übermütig wie bei uns.

Neulich hielt ein armer Teufel, ein reisender Gaukler, auf dem Dorfanger Rast. Der grüne Wagen wimmelte voll winziger Knirpse, und sein Weib, ein blasses, schmächtiges Ding mit übergroßen Schwermutaugen, war schon wieder gesegneten Leibes. Der Fahrende sprang mit einer brennenden Fackel von einem Seil in den Dorfteich hinunter, und er pries das als den Sprung auf Leben und Tod. Dann warf er sich in die Luft, schlug Räder, wand sich wie eine Natter zwischen die Sprossen einer Leiter hindurch und führte zuletzt einen dürren, struppigen Köter vor, der ein Kindergewehr abdrückte und einigemal verdrossen durch einen Reifen hüpfte. Es waren Bettelkünste, mit gezwungenen, freude- und witzlosen Hanswurstscherzen untermischt, wobei der Zuschauer vor Erbarmen hätte heulen können.

In der Nacht darauf stürzten die Dürrnstaudner Burschen dem Gaukler aus reinem Übermut den Wagen um. Der fremde Mann kroch entsetzt aus dem Durcheinander heraus und wusste nicht, was geschehen war. Die aus dem Schlaf gerissenen, geängstigten Kindlein weinten, die Fensterscheiben lagen zerschellt, und alles Gerät war heillos durcheinander geschleudert und zum Teil zersplittert. Zu all dem Schrecken näherte sich der Frau des Gauklers ihre schwere Stunde. Da suchte der arme Tropf beim Schein der Laterne sein klägliches Geraffelwerk zusammen, spannte den Klepper ein und fuhr mit der gebärenden Frau in die Finsternis hinein, fürchterliche Verwünschungen gegen das Dorf schreiend.

 

Vor dem Kornschnitt 1883.

Ein grauer Stein ragt aus dem Bergwald, und ich raste wiederum auf dem sommerlich brennenden Felsen, darauf ich vor Jahren einst gesessen bin und ins Land hinunter gespäht habe, ob die Findhunde und Schergen, die mir der allergnädigste Landesherr nachschickte, nicht die Straßen daher ritten. Rote, schlanke Weidenröslein umblühen diesen Felsen, darein ich damals in den müßigen Stunden die Zahl 1848 gemeißelt habe. Drunten im Geröll ist die Höhle, darin ich mich verborgen gehalten und wohin mir die Mutter heimlich das Essen gebracht. Heute verbergen die Wildschützen dort ihre Gewehre.

Die schillernde Kreuzotter sonnt sich neben mir; Äste wiegen sich gemächlich, von der Flucht der Eichkatze bewegt; der kluge Kopf des Rehes lauscht aus den Büschen. Die Vögel kichern und zirpen sich allerlei schalkische oder wichtige Dinge zu. Ein Specht wiehert.

Drunten und draußen verträumt sich die weiche, leidenschaftlose Landschaft. Die Gebirge schimmern, sie ruhen wie ewig. Alle Zeit rinnt spurlos an ihrer Größe vorüber, und aller Wandel, alles Schicksal wird im Anblick der trotzigen, unveränderlichen Berge unwesenhaft und gleichgültig.

Bin ich auch einmal jung gewesen, ich scheuer, geduckter, grauer Kauz? Hat meine gestillte Seele je gerungen, gehofft, gesehnt? Ist es bloß ein schmerzliches Märlein, das weit hinter dir im aufsteigenden Dämmer der Vergangenheit leise einschläft?

Ja, du träumerischer, alter Gesell auf dem Felsen da, auch dir glühte einmal die Welt, und du liebtest die Menschheit! Süß und gewaltig sang in dir eine Stimme auf, so musste der Engelbote gesungen haben vom Anfang des Heiles. Ein Leben voller Gedanken und Taten lag vor dir. Himmelstürmend verflogst du dich in deinem Überschwang, ein Adlermensch.

Ja, ich war der ungestüme Kämpfer, der auf den Gassenverhauen mitten in Schuss und Rauch dem Volk die Fahne vorantrug! Das Wort glühte mir damals, das hinreißende, aus dem Mund. »Das Volk ist mündig! Es lässt sich nimmer gängeln. Freiheit der Rede wollen wir! Freiheit des Glaubens! Freiheit des Menschen! Freiheit! Freiheit!« Das war eine hohe Zeit, und nimmer kehrt sie wieder. Da begehrte alles, was ein Herz hatte, nach dem einigen, großen Reich aller Deutschen. Ja, du alter, stiller Mann, damals erhobst du dich gegen den Kaiser und seine Macht! Und Österreich zuckte, Habsburg röchelte, und der Herrscher flüchtete.

Dann kam der Umschwung. Alles fügte sich dumpf und stumpf der Übermacht. Geächtet, verfolgt kam ich heim zu dem Letzten Einzigen, das einem Menschen bleibt, wenn er alles verloren hat, zu der Mutter. Mit wilden Vorwürfen begrüßte mich die greise Frau. »Du verfluchter Fahnenträger!« fuhr sie mich an. »Du missratenes Kind! Auf den Kaiser hast du geschossen! Den Kaiser, der heilig ist, hast du fangen wollen! O was für einen Menschen hab ich zur Welt gebracht!« All ihre Hoffnung, all ihr Lebensglück hatte dieses Weib auf mich gesetzt:

Die Krummauer Grenadiere suchten mich in der Heimat. Die Mutter hielt mich lange versteckt, zuerst auf dem Dachboden unter den Brettern, dann hier unter diesem Felsen. Den Bart ließ ich mir wachsen, damit mich niemand erkenne, und er wuchs mir so grau und greisig aus der Haut, wie er heute ist. Ich war fortan ein alter Mann.

Die Mutter nähte sich ein schwarzes Kleid, nach Wien wollte sie reisen und vor dem neuen Kaiser einen Fußfall für mich tun, damit er verzeihe. Doch ich gab dies in meiner Verbitterung nicht zu, mit dem Kaiser wollte ich nichts zu schaffen haben, ich anerkannte keinen Kaiser. Die Mutter trug hernach das schwarze Gewand alle Sonntage wie ein Trauerkleid. Sie betrachtete mich wie einen Verstorbenen.

Meine Taten irren noch als unsichere Sage hier unter den Landsleuten. Sie erzählen, dass ich durch Abortröhren und Abwasserkanäle aus dem Gefängnis geflohen und durch die Donau geschwommen und dass dabei neben mir mein bester Freund Hammerschmid ertrunken sei, dass ich mich dann noch einmal in die von dem kaiserlichen Marschall Windischgrätz besetzte Stadt gewagt habe und dort als Flötenspieler verkleidet mit einem falschen Pass umgegangen sei, den ich selber mit der linken Hand geschrieben und dazu ich mir ein falsches Gemeindesiegel geschnitten habe. Ach, das Traurigste davon ist wahr.

Später kam der Gnadenerlass, der junge Kaiser vergab und vergaß. Jetzt durfte ich mich wieder unter den Leuten zeigen. Aber alle Wucht, alles Feuer meines Wesens war verpufft, es war, als hätte ich mich ganz ausgegeben und nichts wäre mir geblieben. Die Mittel der Mutter reichten nicht, dass ich von neuem hätte die Hochschule beziehen können. Und die Leute wichen dem einstigen Rebellen aus wie einem gemeinen Dieb, und so konnte ich keine für mich passende Arbeit bekommen, so unterwürfig ich auch darum ansuchte. Weil ich kein Handwerk gelernt hatte, musste ich in den Taglohn gehen und Steine und Mörtel schleppen, wenn irgendwo ein Bauernhaus gebaut wurde. Die Mutter warf mir oft vor, ich hätte Bischof von Budweis werden können, wenn ich nur gewollt hätte. Das arme, in ihren Hoffnungen betrogene Weib verbitterte mir mit ihren unaufhörlichen Anklagen das Leben derart, dass ich mir nimmer anders zu helfen wusste, als dass ich eine Rebschnur neben mich auf den Tisch hinlegte. Sie verstand die Drohung und wusste, dass sie ernst gemeint war. Seither redete sie nimmer über das Vergangene. Dann arbeitete ich mit der Elektrisiermaschine, als verpfuschter Arzt genoss ich ja einigen Ruf: Hernach wurde ich Schreiber in der Gemeindestube zu Schönweid. Und zu guter Letzt bestellte man mich gnadenweise zum Hüter eines verlassenen Hauses. Dort gespenstere ich in meinem grauen Rock, mit grauem Gesicht und Bart und Haar und führe meinen Namen zu Recht. Grau wie der Reif im Spätjahr bin ich.

Aber die Welt rings steht jung, und grün und zu allem Guten und Kommenden bereit. Und ein Spottvogel schreit aus dem Tann herauf: »Geh heim, geh heim, du wunderlicher Grillenfänger!«

 

In der goldenen Samstagnacht nach Michaela 1884.

Der Gottfried Hanichler – Gott lass ihn selig ruhen! –, wie erschrak er, als sich sein Sohn, der jetzige Bauer, eine goldene Uhrkette kaufte! Er sagte zwar kein Wort des Tadels dazu und wickelte nur seine billige, kupferne Kette aufgeregt sich um die Finger; aber hernach wallfahrtete er nach Mariazell, die Himmelsmutter zu bitten, dass die Hoffart seines Kindes nicht auf Erden und nicht im Jenseits bestraft werde. Jetzt schläft der Gottfried schon längst unterm grünen Gras. Wenn er heute zuschauen müsste, wie hoch die Dürrnstaudner Bergherren fahren, mein Gott, wie weit müsste er da wallfahren gehen!

Das vergangene Geschlecht hat sparsamer, vorsichtiger, ehrfürchtiger gehaust. Die paar uralten Leute, die noch aus jenen Tagen übrig geblieben sind, verstehen nicht recht, was da vorgeht, und meinen, die Welt habe ihren Sinn verloren.

Der hochbetagte Zaunrieder wundert sich jetzt über nichts mehr. Er wettert nimmer über den Aufwand, den die putzsüchtigen Weiber treiben und der sich für eine Bäuerin nicht zieme; er tritt immer predigend den Bauern in den Weg, wenn sie am lichten Tag aus dem Wirtshaus taumeln. Er stellt sich jetzt ganz seltsam gegen das Dorf. Er verzichtet auf sein Leibgeding und geht in den Steinbruch zu Schönweid tagwerken. Dort liegt er den ganzen Tag auf dem Stein, sprengt mit Haken und Brecheisen die schmalen Platten ab, hilft sie aufschichten oder auf den Wagen des Steinmetzes heben und geht dürftig und abgerackert im Mondenschein heim, als ob er gar nicht der Vater eines reichen Bergherren wäre. Der Sohn und die Nachbarn wollen ihm sein Treiben ausreden, aber er bleibt hartnäckig dabei und fertigt alle grob ab. »Glaubt ihr, ich bin so wie ihr, dass ich die Arbeit scheue wie der Teufel das Kreuz?« sagt er.

»Uns allen tut Ihr ein Unehre an!« schreit ihn der Bürgermeister an. »Meinetwegen!« schreit er zurück.

 

Am Tag darauf.

Die Unehre für die Dürrnstaudner hat bald ein Ende gefunden.

Der alte Zaunrieder tat sich mit dem Steinheben den Tod auf. Er klemmte sich zwei Finger ein, der eine wurde blau, der andere bekam eine unscheinbare Blase. Weil ihm darauf übel wurde, ließ er sich vom Spindelhirn auf einem Steinschubkarren heimfahren. Auch dieses Fuhrwerk nahm er dem stolzen Dorf zum Trotz.

Ich wurde gerufen. »Das Blut hat sich geschreckt, Herr Reif«, sagte er zu mir. »Das Herz mag nimmer arbeiten. Es ist gescheiter, ich geh heut schon als in zehn Jahren. Ich kann den Dürrnstaudnern nimmer zuschauen.«

Der Mann gefiel mir nicht. Ich riet dem jungen Zaunrieder, sofort einzuspannen und den Arzt zu holen, mit der Verwundung sei nicht zu spaßen. Der Bauer tat es, ob auch der Alte schimpfend sich dagegen verwahrte, er habe sein Lebtag keinen Arzt gebraucht und brauche auch zum Sterben keinen.

Er schändete und schalt hernach bis zu seinem letzten Atemzug über die Dürrnstaudner Bergherren und lobte die gewesene Zeit. Mit so starker Stimme schrie er seinen Zorn und sein Lob aus, dass die Holzknechte, die hoch droben am Gipfel des Hochriederberges arbeiteten, fast jedes Wort hörten und verstanden.

Er schrie: »Damals haben sie in Prag entschieden: der soll das Bergrecht haben, der zuerst die Fundgrube anlegt. Und wie die Entscheidung zu uns heruntergekommen ist, da ist in derselbigen Nacht ein schreckliches Wetter niedergegangen, dass sich die Fürstlichen nit zumuten getraut haben. Aber wir, wir alten Dürrnstaudner sind aus in der Mitternacht, der Regen hat auf uns niedergedroschen, der Blitz hat gezüngelt, dem Hanichler seine Haarstube ist in hellen Flammen gestanden, und – bei Blitz und Donner – und beim Brandschein haben wir gemessen und gemutet, wir alten Dürrnstaudner! Und hätten wir damals nit so frisch uns ins Zeug gelegt, die großmächtigen Dürrnstaudner Grafen heut wären noch die armen Himmelhunde.«

Am Abend des anderen Tages zankte und fluchte er noch immer. Der Atem ging ihm nicht aus. »Wir alten Dürrnstaudner, wir haben die Stöcke abgetragen, das Moor gereutet, Torf gestochen, geackert, gemäht! Das sind noch Zeiten gewesen! Den heutigen ist nit einmal unserm Dorf sein Name recht, den wir Alten hochgebracht haben. Ach ja, die heutige Zeit! Pfui Teufel!

Er kehrte sich an die Wand und starb mit diesem »Pfui Teufel!« auf den Lippen. – – Jetzt ist die Kreszenz Schmalreiter der älteste Mensch im Ort. Sie ist die einzige Frau in Dürrnstauden, die noch Flachs spinnt. Von den andern Weibern kann keine mehr mit Rad und Rocken umgehen. Die Leinwand ist ja um Geld zu haben.

Im Vorjahre suchte sie mich einmal .heim, das Gedächtnis der alten Tage aufzufrischen. Ich führte sie damals in die feinen Zimmer, dass sie sähe, wie die Herrenleute leben. Sie konnte schier nicht glauben, dass es solche Pracht und solchen Glanz in der Welt gebe. Zum ersten Mal sah sie einen hohen Spiegel und sich selber drin vom Kopf bis zu den Füßen abgebildet, haargenau abgebildet, mit den verdorrten Händen, den rotgeränderten Augen und den tausend Falten und Fältlein im Gesicht und dem krummen, verfallenen Leib, und sie stand da und staunte und trat plötzlich ganz nahe an ihr Bild heran und sagte traurig zu ihm: »Mein Gott und mein Herr! Das sollst du sein, Schmalreiterbäurin?! Bist du aber alt geworden!« Ganz kalt ist es mir über das Genick gelaufen, als sie so redete. Ich tröstete sie, dass die Spiegel heutzutage nimmer recht zeigen.

Schon damals war ihr Augenlicht etwas schwach, heute ist sie halb blind. An einem langen Stecken tastet sie durchs Dorf. »Die Welt wird allweil finsterer, und ist doch einmal so hell gewesen!« klagt sie. »Das muss doch eine Strafe Gottes sein, weil es gar nimmer licht wird. Allweil der Nebel und allweil der Nebel!«

Ihr Sohn, dem die Austräglerin in ihrer Unsterblichkeit sehr lästig fällt, fauchte sie unlängst an: »Ein altes Weib und ein neuer Pflug sind am besten unter der Erde!« Am selben Abend verirrte sie sich hinter dem Bauernwerk zwischen die Halden. Ein Wunder ist es, dass sie in den tiefen Tümpeln dort nicht ertrank. Der Sonntaghansel fand sie und brachte sie wieder heim.

Heute saß sie unter dem Monstranzenbaum. Ich redete sie an: »Was tut Ihr denn allweil, Schmalreiterin?« Sie besann sich eine Weile, wer ich sein könnte, hernach sagte sie: »Was hat eine steinalte Ausnehmerin noch viel zu tun? Sitzen und auf den Tod warten.« »Und Gott bitten um ein gesundes Sterben!« fügt der Spindelhirn hinzu, der gerade gefährlich droben am Baum hing und an der Glocke einen neuen Strick anbrachte. Sie seufzte: »O, das Herz! Das kann halt nimmer! Dreiundachtzig bin ich. Es wird doch einmal ein End nehmen! Zwölf Staffeln in den Keller, fünf Staffeln in die Stube, neunzehn in mein Stüblein und noch einmal neunzehn auf den Boden ums Heu!«

Und sie vergaß mich und hub mit ihrer tonlosen Stimme ein Schullied an, das sie ihren Enkeln abgelauscht hatte: »Seht, wie die Sonne schon sinket hinter dem nächtlichen Wald!« Und dann löste sie einen Altsommerfaden von ihrem Gesicht, und was sie dabei murmelte, mochte wunderlich genug sein.

So ist das hohe Alter, Freund Reif!

 

Zu Mariä Geburt 1885.

Die Tochter unseres Bürgermeisters war eine hübsche Bauerngretel, ihre Zähne lachten immer so blank, als habe sie sie mit Zinnkraut gescheuert. Ich alter Narr muss gestehen, dass ich mich immer nach ihr umdrehen musste, wenn sie vorüberging. Sie wurde bei einem Kirchweihtanz mit dem jungen Wenzel Traxler bekannt, einem Bauernsohn aus Schwarzenerd. Dessen Vater wollte ihm die ansehnliche Wirtschaft übergeben, dass er die Anna heimführen könne. Aber unserm Bürgermeister, dem Zuschröter, passte der Eidam nicht. »Um meine Nanndel muss einmal einer vierspännig angefahren kommen!« prahlte er.

Nun geschah, was bei solch langem Warten müssen im Dorf und auch sonstwo häufig geschieht, die Anna hatte die nussdunkeln, sanften Augen verweint, und als sie ihren veränderten Leib nimmer verhehlen konnte, da gestand sie den Eltern, was das ganze Dorf schon wusste. Die Bäuerin rang die Hände und schrie, die Erde möge sich zerspalten. Der Zuschröter aber, der den Jähzorn von seinem Großvater geerbt hatte, welcher einmal vor Wut seinen Ochsen in die Ohren gebissen, der Zuschröter brach in fürchterliche Tobsal aus, er riss seine Tochter bei den Haaren in der Stube herum, verfluchte sie und das werdende Leben in ihr mit grässlichen Schwüren und sperrte sie in eine vergitterte Kammer ein. Er war in seinem Stolz aufs empfindlichste getroffen. Es war, er habe die Anna für einen Grafen aufsparen wollen.

Am Sonntag darauf kam der Traxler mit seinem Sohn nach Dürrnstauden, um für diesen zu werben und geschwind noch alles gutzumachen, ehe das Kind zur Welt käme. Er kam mit dem redlichsten Willen, freilich nicht vierspännig, aber sein Steirerwagen war sauber und schmuck und das Ross davor ein praller,, kräftiger Schimmel; und der Alte lenkte mit fester Hand, und der Sohn war fesch beisammen, den Hut hatte er mit einem netten grünen Band eingefasst.

Der Zuschröter mochte geahnt haben, dass sie kommen. Mit seinen Geieraugen erspähte er sie schon von weitem. Leichenweiß rannte er ins Haus. »Jetzt kommen die Traxlerhunde!« zischte er. Die Kugelbüchse hing geladen an dem Hirschgeweih. Er riss sie herunter, stürzte damit zum Fenster und schoss blindlings den Werbern entgegen. Zweimal schoss er.

Der Traxler riss den Schimmel herum, dass schier die Deichsel geborsten wäre. Den halsbrecherischen Abhang an der Straße fuhr er flüchtend hinab, mitten in das hohe Korn hinein.

Der Zuschröter wollte noch einmal laden, doch sein Weib hängte sich ihm heulend in den Arm.

Diese Sache kam nicht vor Gericht. Der Traxler unterließ die Anzeige. Und die Gendarmen waren froh, dass sie das Haus des zu allem fähigen Wildlings nicht betreten mussten. Schließlich ließ es sich der Zuschröter etwas kosten, die beiden Schüsse zu vertuschen.

Die schöne Anna welkt seither ab. Es ist ein Wunder, wie schnell ein Mensch um seines Herzens willen verblühen und schwinden kann. Jetzt wirbt einer, ein Finsterer, um ihre Hand, und dem wird sie der stolze Vater nicht verweigern können.

Das vorfrüh geborene Kindlein kam an ein und demselben Tag auf die Welt und unter die Erde.

Ein Sebenbaum steht düstergrün lauernd und in sich verkrochen abseits den freundlichen Stauden der Gärten. Allen graut ihm, und niemand reißt ihn aus. Wenn die Frauen und Mägde daran vorübergehen, so blicken sie zu Boden und schaudern.

 

Zu Mariä Erwartung 1885.

Die Zeit überstürzt sich. Wieder ist es tiefer Winter. Die Krähen sitzen auf dem verschneiten Zaun; der Dorfbrunn ist vereist. In den Scheuern rührt sich der Flegel.

Die Bauern dämmern hinter dem Krug oder sind auf der Jagd. Ihre Weiber rüsten für den Fasching. Fremde Schneiderinnen werden in den Gehöften beherbergt und üppig bewirtet. Was sie nähen, bleibt einstweilen geheim. Die Bäuerinnen und ihre Töchter wollen mit ihrem neuen Staat die Nachbarinnen beschämen und überrumpeln, in teuren, schillernden Kleidern wollen sie daher rauschen, wenn der Tanz anhebt.

Diesmal wird die schönste Tänzerin fehlen. Die Anna Zuschröter schläft unter dem Schnee. Als sie die letzte Ölung bekam, wurde sie irrsinnig.

Leer und weiß ruht mein lieber Rosengarten. Der Wind fährt darüber und stäubt und füllt meine Spur mit sanftem Staub.

Elisabeth! Diese Stunde ist erfüllt mit tiefer Wehmut um dich.

Ohne äußere Ursache fasst mich die Erinnerung an, wie jüngst in der Nacht die Harfenuhr von selber hat zu spielen angefangen.

Elisabeth! Wo bist du jetzt? Lebst du noch? Oder haben sie deine liebe Stimme schon begraben und Erde über dein schönes Lächeln geworfen?

Auf der Wehmutinsel der verzitternden Erinnerung knie ich und hebe die Arme bang zurück gegen das, was gewesen ist. O Jugend, nur mehr ein müdes Traumbild, im Untergang begriffen!

Meine Mutter ließ mich mit ihren blutig erworbenen, um den Preis des gesättigten Leibes zusammengekargten Kreuzern studieren. Nicht nur, weil ich eine so ebenmäßige, glatte Handschrift hatte. Ihr Seelenwunsch sollte sich erfüllen: am Altar sollte ich ihr einmal das geweihte Brot reichen, von der Kanzel hernieder sollte sie ihrem armen, unerfüllten Leben Trost zusprechen und von der Krönung der Armen in der Seligkeit erzählen. Aber als ich dich kennen lernte, Elisabeth, da wusste ich, dass ich niemals Geistlicher werden könne. Deinetwillen, Elisabeth, betrog ich die Mutter in ihrer frommen Sehnsucht.

Dann kam der Tag, wo ich der Mutter das zweite Schwert ins Herz stieß. Ein versprengter Aufrührer, zitternd vor dem kaiserlichen Rächer, klopfte nachts an ihre Hütte. Mein Heil und meine Zukunft waren vertan; verzweifelt sah ich alle Brücken vor mir versinken in die Flut eines grauen Lebens. O der Wehschrei meiner Mutter! Über die Sterne hinaus musste er gedrungen sein; und der dunkle Richter hob den Griffel und brannte meine Tat hinein ins ewige Schuldbuch.

Und du, Elisabeth? Ich durfte sie nicht ernten, die heilige, goldene Wipfelfrucht des Lebens. Die Liebe des Weibes, der Kuss des Kindes waren mir versagtes Land. Du musstest mich vergessen, Mädchen, ich begehrte es von dir. Ungeliebtem Manne folgtest du in eine ferne Stadt. Wie weitab, wie verdämmert stehst du mir! Ich besitze kein Bildnis von dir. Mein Gedächtnis versagt, wenn ich träumend mir dein Gesicht, deine Hände, deine Augen formen will. Sag, hast du je gelebt? Fast zweifle ich daran. Habe ich dich je geliebt? Liebe ich dich noch?

Der Wind hebt sanft den Schnee und verschüttet jegliche Spur.

 

Am Dreikönigstag 1886.

Der Spindelhirn läuft durchs Dorf, das Gesicht mohrenhaft mit Tahel bestrichen, auf dem Kopf eine Angströhre, darauf er C M B gekreidet hat, die Anfangsbuchstaben der heiligen drei Könige. Auf einer Stange trägt er den goldbeklebten, steifen Exzelsisstern, dreht ihn emsig und schreit vor den verschneiten Gehöften überaus laut seinen Spruch, denn er ist der Statthalter sämtlicher drei freudigen Weisen. Er gellt:

»Kotztausend ihr Bauern,
schaut her auf den Stern!
Wir gehn unser drei
zu Jesus dem Herrn!

Der Melcher bringt Gold,
der Balthasar Harz,
der Kasper ist wie der Teufel
kohlschwarz.

O Jesulein süß,
mich friert in die Füß!
Halleluja!«

Im Neuschnee meines Gartens ist die feine Fährte des Wiesels abgedrückt, und die Fußspuren der Vögel liegen dort wie zarte Blumen hingehaucht. Äste und Zweige sind flaumig behangen.

Ich grabe den tiefen Schnee neben der Mauer behutsam weg, bis er grau und friedlich in sich verrollt vor mir atmizt mein Freund, der Igel. Sanft hebt sich sein stachlig Wämslein. Er seufzt. Wie geborgen er ist, der wunderliche Lebenskünstler! Wie selig verschläft er seine lange Nacht! Ich decke ihn leise wieder zu.

Daheim in der Stube ist der andere Winterfreund, der graue Stein, den ich mir aus der Wulda geholt habe. Die Wasser haben ihn rund und glatt geschliffen. Ich kenne ihn wie meine eigene Hand: die feinste Runzel daran, das geringste weiße Kieseläderlein ist mir vertraut. Vom warmen Ofen hole ich ihn mir ins Bett, dass er mir kaltem Greis die Knie wärme, die das pulsende Blut nimmer erwärmen kann.

Die Nacht sinkt ein. In großen, langsamen Flocken fällt der Schnee, und das geschieht so traumhaft.

Die Schlitten der Bauern fahren nach Schwarzenerd zum Ball, wozu die Beamten des Fürstlichen Werkes sie eingeladen haben. Schellenkränze läuten, Peitschen knallen schneidig, die Hufe der Rösser sind frisch gewichst und glänzen vor Lack. Es ist, als sollten die gezierten Tiere mittanzen in dem lichten Saal. Die Schlittenkufen knirschen. Stehend fahren die Bäuerinnen und ihre Töchter dahin, sie wollen sich die neuen, schweren Seidenkleider nicht zerknittern.

Der Bauer kutschiert selber. Heute geht im Dorf das Gerücht um, dass endlich die Änderung des Ortsnamens bewilligt worden sei. Es gibt fortan kein Dürrnstauden mehr auf der Welt. Die nächsten tausend Jahre wird das Dorf Reichenerd heißen. Das ist fürwahr ein vornehmes Neujahrsgeschenk. Breitet und gewichtiger als sonst sitzen heute die Bauern auf dem Schlitten, das Lenkseil in den Händen.

Bergleute begegnen ihnen, das glänzende Schwarz im Gesicht. Müde kommen sie aus den triefenden Stollen. Sie springen vom Weg in den tiefen Schnee, dass die feurigen Rösser sie nicht zertreten.

Ich schaue aus dem Fenster den Schlitten nach. Laternen glimmen und schwinden wie Irrwische.

Heute ist mir so bang. Die Flöte rühre ich nimmer an, ihre Pfiffe hallen immer so schauerlich nach in dem leeren Haus. Mein Zigeunerlein schläft schon. Es wird spät.

Schlaflos starre ich in den Mond, er hängt kalt und herzlos über den Thomasbergen. Ich lausche dem wesenlosen Plätschern des Dorfbrunnens. Der Monstranzenbaum saust.

Leben, du eitles Sehattengefecht! Mit einem einzigen Schuss wäre der müßige Zauber zertrümmert. Aber früher habe ich mich davor gefürchtet. Und heute steht es nimmer dafür.

 

Am nächsten Tag.

Als die Bauern frühtags vom Tanz heimkehrten, blieben dem Amisch, der als erster voran fuhr, plötzlich die Rösser stehen und schauderten. Der Amisch, nimmer recht nüchtern, peitschte darein, dass schier das Feuer aus den Tieren spritzte. Aber sie wichen nicht vom Fleck. Es war hart bei der Mühle. Da sah der Amisch etwas Schwarzes vor den Rössern auf der Straße liegen. Er sprang ab und schaute nach. Sein abgehauster Nachbar, der Geißleitner, lag dort, zerfetzt und verkommen.

Der Amisch rüttelte ihn: »He, Lump, besoffener! Weich aus! Die Reichenerder Bergherren kommen!«

Der Geißleitner wich nicht aus, er war erfroren.

Sein Elend hatte ihn wohl noch einmal in die Heimat zurückgetrieben. Er hat sie nimmer erreicht.

 

Zu Jakobi 1885.

Beim Hohenrieder wurde wieder einmal gestritten. Es ging so heiß zu, dass die Bäuerin, die weit über zwanzig Jahre das Haus nimmer verlassen hatte, sich wieder auf der Straße zeigte. Mit blutender Stirn lief das unförmlich dicke Weib durch das Dorf und klagte heulend: »Der gottvergessene Bub! Die eigene Mutter will er erschlagen! Ins ärgste Gefängnis gehört er!« Sie suchte bei ihrem Bruder, dem Amisch, Hilfe. Als sich dieser dann zu dem Hohenriederhof begab, Frieden zu stiften, wurde er dort mit Steinwürfen empfangen und zurückgetrieben.

Der Streit hatte sich entsponnen, als sich die Schöllhammerin nachmittags in das Gehöft einschleichen wollte. Der Albert begegnete dem verhassten Weib und fletschte sie an: »Du hergelaufene Zigeunerin! Du höllisches Feuer! Dass du dich nimmer blicken lässt bei uns!« Die Bäuerin wollte ihre Freundin in Schutz nehmen, da packte der Albert in grenzenloser Wut das erstbeste Ding, das ihm In die Hände geriet, einen eisernen Topf, und schlug ihn der Mutter auf den Kopf. Das war das Zeichen, dass Vater und Söhne schreiend übereinander herfielen.

Die Hohenriederin war einmal die schönste und reichste Braut weit und breit, ein Mädchen wie von Milch und Blut. Hernach wurde sie ein gebieterisches Weib. Wenn einer sie anredete, tat sie vor lauter Stolz, als höre sie nicht. Das Gesinde zitterte vor ihr. Einen bärenfesten Knecht, der sich widerspenstig zeigte, prügelte sie mit dem Ochsenziemer aus dem Hof hinaus. Als der Knecht sie vor das Gericht forderte, trat sie herrisch vor den Richter hin und sagte hochmütig: »Ich bin die Hohenriederin!« Es half ihr freilich nichts.

Jetzt hält sie sich wie ein krankes Tier vor der Welt versteckt und vertreibt sich ihr Leid und ihre Schande bei der Tabakspfeife. Den ganzen Tag weht der Qualm zu ihrem Fenster heraus.

Der Bauer hat einen eishaarigen, wunderbar gefurchten Kopf, wie der Apostel Peter schaut er aus, zornig und ehrwürdig zugleich. Doch der herangewachsenen Söhne kann er sich nimmer erwehren.

Der Albert und der Franz! Wie mannhaft und edel sind ihre Leiber gebaut! Wie ritterkühn sind ihre Gesichter! Sie sind selten in der Gesellschaft der anderen Dorfburschen zu treffen, und besonders der Albert ist von solch verschlossenem Hochmut, dass er, wenn das schönste Mädchen bei ihm läge, ihr den Rücken kehren würde. Doch die dunkeln Augen der beiden jungen Männer gleißen gefährlich wie die giftigen Beeren im Wald.

Der Franz hätte studieren sollen. Doch tat er in der Fremde nicht gut. Er dachte zu viel an den Geldbeutel seines Vaters und fand darum die Plage an der Lateinschule zwecklos. Die Zeugnisse verfasste er sich selber, und er schrieb nur hübsche Noten darein, dass sein Alter, der mit dem Lesen und Schreiben und derlei Schulkünsten auf Kriegsfuß stand, seine helle Freude daran hatte. Doch dann kamen Tage, da frohlockte der Hohenrieder nimmer über seinen gescheiten Franz, finster und mürrisch brütete er im Haus »zum Abendstern« hinter seinem Krug. Und einmal lümmelte der Franz droben im Bergwald des Vaters, zerlumpt wie ein Strolch war er heimgekehrt, ein ausgepeitschter Student, und er schickte den Spindelhirn in den Hof hinunter, der Bauer solle ihm eine Hose senden, dass er ins Dorf hinuntergehen könne. Und der Hohenrieder schickte ihm eine, die war noch vorn mit einem Türlein versehen, wie es vor Zeiten üblich gewesen. Der Franz nahm sie nicht an; scheltend warf er sie dem Spindelhirn hin. Jetzt lebt er zu Hause und faulenzt, und weil er an Saus und Braus gewöhnt ist und der misstrauische Alte den Geldkasten versperrt hält, so bestiehlt er ihn. Er hat ein Loch in die Decke unter dem Getreideboden gebohrt, fängt das Korn mit einem Sack auf und verkauft es hehlerischen Freunden. Der Hohenrieder ahnt nichts davon, er meint, es sei alles sicher, wenn er den Schlüssel zum Boden bei sich trage.

Der Albert wiederum ist ein erpichter Kegelschieber, und jetzt fängt er auch das Trinken an: die Rumflasche trägt er tagsüber bei sich in der Tasche, nachts nimmt er sie mit ins Bett.

Es ist kaum zu glauben, dass sich diese Wirtschaft so lange hält. Alles zehrt an dem Hof, und so viele Mäuler sind zu füttern, so viele Löhne zu zahlen. Allzu viel. Gesinde lungert herum: da ist der große Knecht, der kleine Knecht, der Rossknecht, die große Dirn, die kleine Dirn, die Stubendirn, die Küchendirn; – die Kindsdirn ist beim Hohenrieder nimmer nötig – und ganz hintendrein der Hütbub. Und während der Ernte schließlich noch die Schar der gedungenen Mäher. Aber der Tahel ernährt alles, hält alles zusammen. Und der Bauer legt unbekümmert die Hände in den Schoß und sagt: »Alles unter uns wird zu Geld. Wir brauchen nur graben zu lassen.«

Der Spindelhirn ist anderer Meinung. Wenn der an die Hohenrieder Wirtschaft denkt, brummt er immer: »Der Bauer wird noch einmal mit der Geiß ackern!«

Die Bäuerin ist schon ganz von Sinnen gekommen, sie bildet sich ein, die stattlichen Söhne seien die Kinder des Fürsten. Der Bauer erzürnt sich oft über solche Hirngespinste und wettert: »Sie sind geradeso meine Buben wie die deinen.« Aber sie lässt es sich nicht ausreden. »O ihr armen Waislein!« sagt sie. »Ein dummer Bauer will euer Vater sein!«

 

Am Sonnwendtag 1886.

Es war nur ein vorschnelles Geplauder gewesen, dass der Ort schon auf den schöneren Namen umgetauft worden sei. Er wird noch immer mit dem alten, mageren, spöttischen Namen geführt. Der Amtsschimmel trabt langsam. Unser Bürgermeister braust auf und stößt in den Gemeindetisch: »Nachbarn, jetzt werde ich halt selber einmal nachfragen müssen in Prag hinten. Aber ich werde es dem Statthalter hinein sagen. Der wird blass werden! Er kennt den Bürgermeister von Dürrnstauden nit.« So droht er. Doch bleibt alles beim Alten.

Auch sonst lassen die Dürrnstaudner die Nasen hängen. Sie fluchen, murren und trinken mehr als sonst, lassen auch, was früher nie vorgekommen ist, ihren Groll an den Weibern aus. Im Wirtshaus stecken sie die Köpfe zusammen und flüstern, und wenn sie des Guten zu viel genossen haben, kommt das Geheimnis an die Sonnen.

Der Werkmeister Schöllhammer findet nichts mehr. In welche Richtung auch immer er schürfen lässt, überall stößt er auf wertlosen Stein. Es ist, als sei die Erde schon ganz ausgeraubt. Der Tahel ist wie vom Teufel verwunschen. In diesem Jahr zählen alle Arbeiten und Auslagen für nichts. Das Werk wird heuer nichts eintragen, man wird im Gegenteil noch daraufzahlen müssen.

Manchmal fällt ein argwöhnisches Wort gegen den Werkmeister: es sei bedenklich, dass er es immer gar so eifrig den Bauern ausgeredet habe, dass sie ihre Buben in die Bergschule geben, und er könne keinem gerade in die Augen schauen, so süß er sonst auch tue. Doch die Bauern, die das Heft in der Hand haben, nehmen ihn in Schutz. Das müsse ihm der Neid lassen, er verstehe seine Sache von allem Grund auf, und wenn der Tahel gar und zu Ende sei, müsse man jemand andern verantwortlich machen und nicht den Schöllhammer. Und dass er so unsichere Augen habe, dafür könne er auch nichts, der Herrgott gebe jedem seine Gestalt und sein Gesicht, und man müsse das hinnehmen und ehren wie eine jede andere Gottesgabe. Und was gewänne der Schöllhammer, wenn er vielleicht doch mit boshaftem Vorsatz in eine Richtung grabe, wo kein Bergglück zu hoffen ist? Er habe ja auch seinen Anteil an dem Werk und werde es sich darum sauber überlegen, seine Brotherren zu betrügen und sich selber ins Fleisch zu schneiden.

Wenn man nur ein bisslein in das Dorf hinein horcht, hört man überall die uneingestandene Angst durch, der Tahel könne erschöpft sein, und den Ärger, dass man jetzt kein Geld herausschlage und daraufzahlen müsse. Die lieben Dürrnstaudner Bergherren sind wenig geduldig, diese wenigen Monate des Misserfolges haben sie um den Mut gebracht.

Der Zisterer fürchtet sich am meisten, dass er zu Schaden kommen könne. Jüngst blinzelte er die Nachbarn verschlagen an und riet: »Mit unserm Werk schaut es windig aus. Hängen wir es beizeiten einem reichen Juden an oder dem Fürsten, der hält es aus! Aber schnell muss das geschehen, sonst wird es offenbar, dass unter der Dürrnstaudner Erde der Tahel verblüht ist, und wir kriegen einen Pfifferling dafür!«

Der Hohenrieder leuchtete dem Versucher gehörig heim. Mit der Faust drang er auf ihn ein, und die andern mussten ihn wie einen wilden Stier halten, sonst wäre ein Unglück geschehen.

Der Zisterer führte übrigens im verflossenen Winter wieder ein Stücklein auf, das sein Herz und sein Wesen recht hell beleuchtete: aus lauter Geiz schrieb er den Kalender, den er noch nicht bezahlt hatte, mit Stumpf und Stiel samt den Jahrmärkten, Wetterregeln und Mondfinsternissen ab und wollte ihn hernach dem Krämer zurückgeben, er brauche ihn nimmer. Der Krämer warf den Zisterer fluchend hinaus.

 

Im Fasching 1887.

Ich wurde zu einem Erschlagenen geführt, einem fremden Burschen, den ich vorher nie gesehen hatte. Er soll es mit der Zaunriederdirn gehalten haben.

Unsere Dorfburschen sind eifersüchtig wie die Hirschböcke im Herbst. Sie singen gern einen drohenden Reim: »Dürrnstauden ist eine Engelgassen, da darf sich kein fremder Bub blicken lassen!« Die einheimischen Mädchen sollten nur einheimische Liebhaber haben.

Besonders scharf hatten die Burschen es gegen den Schatz der Zaunriederdirn, die wegen ihrer kernfesten Leibesformen bei ihnen als begehrte Schönheit galt. Darum bereiteten sie sich starke Holzknüttel vor, beschlugen sie über und über mit Hufnägeln und zogen abends, also furchtbar gerüstet, aus. »Den stöbeln wir heim!« redeten sie einander zu. »Dem pfeifen wir heut eine Vesper!«

Der Spindelhirn begegnete ihnen und witterte ihr Vorhaben. »Aha, ihr wollt allesamt an einen Galgen?« rief er ihnen zu. »Ich halt euch nit auf!« Da wollten die wilden Buben über ihn her, und er musste schleunig Reißaus nehmen.

Unter dem Fenster der Zaunriederdirn überfielen sie den fremden Burschen. Unbarmherzig, in äußerster Wut und Roheit schlugen sie auf ihn ein. Das Mädchen schrie zum Gitter heraus: »Buben, ihr erschlagt ihn ja! Um Gottes Christi Blut, Lasst ihn gehen!« Er kniete auf der Erde und winselte um Erbarmen. Sie schonten ihn nicht. Entsetzliche Triebe waren in ihnen erwacht. Einer gab dem Winselnden einen Hieb auf den Kopf, dass es krachte. Dann rannten sie davon.

Ich konnte dem armen Kerl nimmer helfen. Tot ist tot. Entstellt lag er vor mir. Der Schnee war rot von Blut. Er war der einzige Sohn eines vermöglichen Bauern aus dem Waldgericht.

Der Bürgermeister kam gelaufen und sah die schreckliche Bescherung und murmelte: »Bei uns gibt eine Schande der andern die Türklinke in die Hand.«

Die Missetäter zeigten sich nicht. Sie mochten wohl jetzt erst begreifen, was sie verbrochen hatten. Das böse Gewissen würgte sie. Einer von ihnen ließ sich hören, er sei besoffen gewesen, das sei ein Milderungsgrund, und ihm könne darum nichts geschehen.

Ein Knecht, Peter Ascher hieß er, war dabei gewesen bei dem blutigen Händel, auf den schob man die schwere Schuld. Doch er verwahrte sich leidenschaftlich dagegen, nicht ein einziges Mal habe er zugeschlagen, er sei nur mit den anderen gegangen, weil er sonst auch immer in ihrer Gesellschaft gewesen sei. Doch die Bauern nahmen ihn gleich ins Gebet und redeten auf ihn ein, er möge alles auf sich nehmen, es werde sein Glück sein. »Was kann dir geschehen?« sagten sie zu ihm. »Du bist arm. Aber wir reichen Leute kämen um Haus und Hof. Du sitzest ein paar Jahre ab, und wenn du hernach wieder nach Dürrnstauden kommst, tut dir jeder von uns gern die Tür auf. Wir werden dir es danken«, versprachen sie ihm. »Einen Pachtgrund für zwei Rinder Vieh überlassen wir dir. Heiraten kannst du, wenn du nit im Dienst bleiben willst.« Der Knecht schüttelte störrig den Kopf. »Ich weiß, wer ihn erschlagen hat. Ich bin es nit gewesen«, sagte er und ging.

Nachmittags stellten sich die Gerichtsherren ein. Die Zaunriederdirn wurde einvernommen. Schluchzend nannte sie alle die Buben, die ihren Liebsten überfallen hatten. Sie erzählte alles, nur den konnte sie nicht angeben, der den tödlichen Streich geführt hatte, es war zu finster gewesen und das Getümmel zu wirr.

Hernach wurden fünf Bauernsöhne – ich will ihre Namen der Schande wegen nicht aufschreiben – und der Knecht Peter Ascher gebunden davon geführt. Sie schienen sich der Fesseln nicht zu schämen, dreist und trotzig schritten sie aus, als wären sie Helden. Nur der Knecht senkte gar armesünderlich die Stirn. Mir ist sehr leid um ihn. Er hat als fleißiger, stiller und rechtschaffener Mensch bisher einen guten Ruf genossen.

Die Zaunriederdirn aber floh, die Rache des Dorfes fürchtend, am selben Tag noch aus Dürrnstauden.

 

Zu Christi Himmelfahrt 1887.

Ein Entsetzen und eine Scham ist im Dorf: die Buben der stolzesten Bauern des Mordes verdächtig, angeklagt, in Untersuchungshaft, mit dem einen Fuß schon im Zuchthaus! Die Weiber flennen sich, die Schürzen feucht. Die Männer lassen eifrig einspannen und fahren mit geschwollenen Brieftaschen zu ihren Rechtsbeiständen in die Stadt. Die Buben wollen sie freihaben. Betrunken und missmutig kommen sie wieder zurück.

Das reißt höllisch ins Geld. Und gerade jetzt, wo es so bitter notwendig wäre, jetzt trägt die Grube nichts.

Die Schwarzgeher freuen sich über das Ungemach der Brotgeber, wie denn auf der Welt der, der nichts hat, dem Besitzenden alles Schlimme freudig gönnt.

In meinen schlaflosen Nächten höre ich die Bergleute drunten auf der Straße vorübergehen. Ich kenne sie alle schon am Schritt. Da trabt der hastige Nusko, der es immer eilig hat, zu seinen Kindern heim zu kommen, denen er aus dem Stollen die grünlichen Tropfsteine zum Spielzeug mitbringt. Da schleicht der alte Wick, als ob er die Beine bei den Knien zusammengebunden habe; jeden Tag glaube ich, heute sei sein letzter Heimgang. Da stampft der rüstige Reitinger daher, mit seinen Holzschuhen läutend; er hält nach Mitternacht die Wacht drunten am Werk. Da ist das harmlose Dieblein, das täglich vom Schacht ein langes Backscheit für den eigenen Herd mitschleppt, indem er sich darauf stützt und also einen ehrlichen Stecken vortäuschen will. Ich erkenne sie alle an ihrer Eile, ihrer Müdheit, ihren wachen oder verträumten Schritten, die zur Rast oder zur Frone streben.

Der Wind wirft ein Lachen durch die Nacht zu mir herauf. Drunten stehen zwei Bergleute beieinander, ich höre einen zum andern sagen: »Er lässt uns allweil gegen die Felsen hin schürfen, wo in Ewigkeit nix zu finden ist. Wenn mich einer fragte, ich wüsste schon, wo der Tahel gelagert ist, schwarz und fett zum Hineinbeißen. Da unter unsern Füßen, da unterm Dorf streicht das große Lager hin. Aber mich fragt keiner von den großen Herrn. Und was geht es mich an? Ich bin nit da, dass ich den groben Bauern den Geldbeutel fülle.«

Die beiden Männer trennen sich. Der eine wandert zur Schicht, er hat die harte Mühsal vor sich, den Einstieg in die Unterwelt, das vergebliche Suchen. Das Lichtlein seiner Laterne schimmert die Mauern der Gehöfte an, die aus dem Schweiß der Tahelgräber sich aufgerichtet haben.

Ich höre dem Zisterer seine grämliche Stimme. Weiß der liebe Kuckuck, was der in der Nacht noch auf der Straße zu schaffen hat! »Schau zu, dass du was findest!« ruft er dem Bergmann nach. »Wir müssen euch umsonst füttern!«

»Glück auf!« grüßt der Bergmann spöttisch zurück.

In den geschwärzten Männern lebt ein Zorn gegen die satten bäuerlichen Nutznießer ihrer Arbeit. Er offenbart sich in Blick und Rede und Schadenfreude.

In Schönweid versammelten sich unlängst die Schwarzgeher um einen fremden Redner, der aus der Stadt zu ihnen verordnet war. Er trug eine grellrote Halsbinde und redete mit brennenden Worten von den ausgesogenen Massen und ihrer Qual über und unter der Erde, vom Sturz der Geldmächte, von Ketten, die zerrissen und zerbissen werden müssen, und von der Erlösung des fronenden Menschen auf der ganzen Welt. Die Schwarzgeher kehrten mit glühenden Augen von der Versammlung heim.

Mich hatte jener Redner auch zu der Tagung eingeladen »als alten Achtundvierziger«, wie er mich in seinem Brief ansprach, »der das Banner der Freiheit auf den Barrikaden geschwungen und dafür gelitten habe.« Ich ging nicht hin. Mögen sich die neuen Gedanken ihre neuen Formen suchen! Was soll das einem, der schon längst vorüber ist?!

Ferner blinken die Laternen durch die Finsternis. Die schwarzen Arbeiter schreiten grollend durch die Halden ausgeworfenen Schuttes auf dürrer, trostloser, verdorbener Erde, darunter die heilige, gottgeschenkte Scholle erstickt ist.

 

In der Sankt Ulrichsnacht 1887.

Der Wagen mit dem Sprengstoff für das Werk rumpelt schwarz und schaurig und mit einem Totenschädel warnend bemalt durch Dürrnstauden. Mit der Fracht dieses teuflischen Wagens könnte das ganze Dorf in die Luft gepulvert werden. Der lustige Lärm schweigt, die Kinder drücken sich ängstlich in den Schoß der Mutter, scheu weichen die Großen dem Gefährt aus, der Atem stockt im beengten Hals. Sogar die Tiere scheinen den unheimlichen Zauber zu wittern, der da waltet, als wandle der leibhafte Tod durch den Ort.

Ich lebe jetzt nur meinem Garten. Die sanfte Welt tut mir wohl. Alles, was da mit Stengel, Blatt und Blüte aus den Wurzeln sprießt, halte loh in strenger Zucht, jeder Blume, jedem Stäudlein ist sein Raum angewiesen, darüber hinaus es nicht wuchern darf, und die eigenwilligen Disteln fasse ich grob an, wenn sie die bis aufs Tüpflein saubere Fläche der bekiesten Lustwege durchbrechen wollen. Nichts darf dem Freiheitsmann von anno achtundvierzig die Gesetze seines Gartens stören.

Träumerisch zähle ich meine Rosen, tränke sie und schneide sie ab, wenn sie überreich den Strauch belasten, und halte sie dann unschlüssig in der Hand.

In der Haselnussstaude sitzt eine Amsel, sie hat einen lichten Ring um den Hals und ein gesprächiges Schnäblein, und wenn sie ihr Lied wie einen buntschillernden Fächer entfaltet, da zittern die Herzen der Rosen, worum meine Hand wie eine hässliche Vase liegt.

Und abends, bevor ich schlafen gehe, grüße ich nochmals die vertrauten Blumen und die wispernden Stauden und die fremden, schönen Nadelbäume, die hoch gewachsen sind, seit ich hier ihr Schutzherr worden bin. Ach, nirgends kann man so augenscheinlich die Flüchtigkeit der Zeit ermessen als an einem wachsenden Tännling!

Manchmal besuche ich zu später Stunde den schlafenden Garten und schaue mir bei Laternenlicht die ahnungsvollen Nachtfarben der Blumen an, die wie ein Zauber mich rühren, wenn sie aus der Finsternis aufglühen. Und der Igel trollt gemächlich und ehrbar des Weges daher, und geflügeltes Dämmervolk wirft sich in törichter Gier gegen mein Licht, und ich trage dieses zu einem Rosenstrauch, darunter seit einigen Tagen mein sanfter Lebensgefährte von seinem kleinen Leben ausruht, das milde Gefangenschaft gewesen und Gesang.

Ja, das Zigeunerlein ist nimmer der Genosse meiner Einsamkeit. Ich fand ihn starr vom Stänglein niederhangen, die lieben, klugen Augen gebrochen. Kinder begruben ihn hier unter den Rosen, und weil sie dies besonders feierlich und herzeindringlich tun wollten, sangen sie das österreichische Kaiserlied dazu. Ich habe dieses Lied sonst nur mit Bitterkeit hören können. Diesmal ließ ich es gelten.

 

Am Simonjudentag 1887.

Das Gericht hat gesprochen. Der Rossknecht Peter Ascher wurde wegen Totschlags zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt, verschärft mit Fasten und Dunkelhaft am Tag der bösen Tat. Zuerst hatte er sich hoch und teuer verschworen, dass er schuldlos sei, im Verlauf der Untersuchung aber, als die Sache sich zu seinen Gunsten wendete, bekannte er plötzlich zur Überraschung der Richter und Geschworenen, dass er und kein anderer den vernichtenden Hieb mit dem eisenbeschlagenen Stock geführt habe.

Die anderen Burschen gingen frei aus. Sie wurden mit Ross und Wagen aus der Stadt abgeholt, und daheim empfing sie ein schallendes, überschwellendes Fest, wie es Dürrnstauden noch nie gesehen hatte. Es fehlte nur, dass man ihnen reisigbekränzte Ehrentore gebaut und Böller abgeschossen hätte und mit fliegenden Fahnen entgegengekommen wäre. Die Knappenmusik spielte die ganze Nacht. Das Wirtshaus zum Abendstern wurde bis zur Neige leer getrunken.

Ich lehnte daheim am Fenster und hörte sie singen und jauchzen und musste an den unschuldigen Menschen denken, der jetzt hinter vergittertem Fenster dumpf und für sein ganzes Leben entehrt sich auf dem harten Lager wälzte. Und wenn die leichtfertige Musik drüben eine Weile schwieg, sauste der finstere Monstranzenbaum drohend auf, und der Brunnen redete todtraurig darein.

Am anderen Tag kam der kahle Katzenjammer.

Der fürstliche Verwalter von Schwarzenerd fuhr durchs Dorf und ließ verlauten, dass der Zisterer und der Zaunrieder ihre Anteile an dem Bauernwerk dem Fürsten zum Kauf angeboten hätten und der Handel nun beim Notar abgeschlossen worden sei.

Wie ein Rennfeuer schoss die ungeheuerliche Nachricht durch den Ort.

Unter dem Monstranzenbaum rotteten sich die großen Bauern zusammen und verlangten Rechenschaft. Der Zisterer leugnete alles, aber der Zaunrieder gestand es ein.

Ungestüm brausten die Dürrnstaudner auf sie los, die sich tückisch und heimlich von ihrer Gemeinschaft getrennt hatten, die Weiber taten wie besessen, zeterten und zückten die Krallen und verwünschten die Treulosen.

Der Zaunrieder stand stumm und mit bleichgrünem Gesicht vor den hintergangenen Nachbarn. Doch der Zisterer riss sich in die Höhe, lachte höhnisch auf und schrie: »Wollt ihr mich zerreißen, ihr Spanbrenner? Ihr seid mir ein Geltsgott schuldig, weil ich euch mit gutem Beispiel vorangeleuchtet hab. Die Erde unter uns ist leer. Wir verbluten uns, wenn wir weiter ins Blaue darauf loszahlen. Tut, was ihr wollt! Mir ist das Geld auf der Hand lieber als die ungewisse Grube. Bares Geld lacht.«

Jetzt hob sich auch dem Zaunrieder das Herz. »Nix für ungut, Freundschaft«, rief er. »Ein halbes Jahr schon finden unsere Bergleute nix. Da hab ich mich von dem Zisterer überreden lassen und hab meinen Bergteil verkauft. Das geht schließlich niemand nix an. Ich hab es getan. Mag es den einen und den andern auch verdrießen. Jeder hat zu wissen, was er tut.«

Der Hohenrieder starrte die zwei an wie ein Schlangenkünstler seine Nattern. »Verraten habt ihr uns!« brach er los. »Hinterrucks habt ihr euern spitzbübischen Handel getrieben. Jetzt sind wir dem Fürsten ausgeliefert!«

»Hohenrieder«, spottete der Zisterer, »du hast die längste Zipfelhaube im Dorf. Zieh dir sie nur fest über die Augen herunter!«

Der Höpfler mischte sich darein. »Eigentlich haben es die zwei nit gar so dumm angestellt. Vielleicht machen wir es ihnen bald nach. Man darf die richtige Zeit nit versäumen.«

Daraufhin wurden die Dürrnstaudner ein wenig stiller und fingen an, bedenkliche Gesichter zu schneiden und ihre Weiber zu beruhigen.

Doch der Hohenrieder sagte in wildem Ernst: »Da sieht man wieder, dass ein Narr sieben andere sät! Höpfler, wenn das geschehen sollt, was du da prophezeist, so bin ich der erste, der sich selber umbringt, und du bist der zweite, du hängst einmal auf dem Heuboden!«

Sie gaben sich noch viele stechenden Worte, redeten für und wider und kamen zu keinem Ausgleich. Verfeindet und aufgeregt gingen sie auseinander.

 

Zu Mariä Empfängnis 1887.

Wenn sich zwei auf der Straße begegnen, so erzählen sie es einander; in den Wirtshäusern, Mühlen und Schmiedstätten redet man davon; die Raben krähen es im Wald aus, und der Wind geigt es hoch droben im Monstranzenbaum: dass das Bauernwerk jetzt mit Haut und Haar dem Fürsten gehört.

Der Zaunrieder wurde zuerst ausgezahlt. Er rannte wie verrückt durch das Dorf. »So viel Geld auf einmal! Soviel Geld auf einmal!« schrie er immer wieder. Hernach kam der Zisterer daran. Den machte die schwere Summe, die ihm eingehändigt worden war, ganz krank. Vor lauter Aufregung musste er sich ins Bett legen. Zuvor aber versteckte er das Geld unter sich im Strohsack. Er fürchtete darum.

Der sichtbare, klingende Reichtum in den Händen der zwei Nachbarn und dann die Angst, dass der schwarze Bergschatz innerhalb der Gemarkung des Dorfes erschöpft sei und sie die verschuldete Zeche auflassen müssten und das Nachsehen hätten, das alles machte die Dürrnstaudner mürb, und sie machten sich in Gedanken und heimlichen Aussprachen damit vertraut, dass sie nimmer die großspurigen Bergherren sein sollten, dafür aber das lichte, bewegliche Geld in Hülle und Fülle haben würden, und das besiegte auch den anfangs kräftigen Widerspruch einiger klügerer, weiterdenkender Bäuerinnen. Und so bot einer um den andern seinen Bergteil dem Fürsten an und zuletzt auch, von dem hastigen Beispiel der Nachbarn ganz irr gemacht, der Hohenrieder.

Es war gerade am Tag der heiligen Barbara, des himmlischen Schutzfräuleins aller Bergleute und unterirdischen Gewerke, und der Spätherbst war kahl und grau, als die Dürrnstaudner nach dem Abschluss des Kaufvertrages aus Krummau heimkehrten. Der Schnee lag spärlich, der Schlitten ging noch nicht. Die Kotrunsen auf den Straßen waren hart gefroren. Traurig murmelte die Mühle, eine Maultrommel wimmerte und klagte im Nebel, schwermütig scholl der sonst so muntere Schlag der Dreschflegel.

In seinen schweren, biberbesetzten Pelz gehüllt, fuhr der Hohenrieder daher, die Rösser ließen die Ohren hängen und er auch. Er rief mir zu »Abgehaust hab ich, Herr Reif! Der Berg ist hin.« Ich wollte ihn trösten, er sah so krank und sterbensalt aus. »Dafür ist das Geld da, Bauer«, sagte ich. »Und das Geld ist heutzutag die Hauptsache. Geld führt den Krieg, nicht der Kaiser.« Aber der Hohenrieder antwortete: »Ich hab keinen Rossmagen, ich vertrag das nit!« Nach diesen etwas verschleierten Worten peitschte er jäh auf die Tiere ein, dass sie in wilden Sprüngen davonjagten.

In dieser Stunde war die Welt sehr traurig. Das helle Klipp klapp der Drescher verstummte. Die Leute gingen gedrückt und ziellos herum. Aus einem Haus drang verzweifeltes Weinen. Die Kinder, die sonst den Anger bevölkerten, waren verschwunden. Alles war so unheimlich, als fahre der gefährliche Pulverwagen durch den Ort. Und zu guter Letzt begann in dem bereiften Monstranzenbaum das Glöckel zu schwingen und tat kleinlaut und trübselig, als läute es die Bauernherrlichkeit zu Grabe.

Das Geläut galt der Hohenriederin. Sie war gestorben. Seit sie von ihrem Kind den Hieb erhalten hatte, kränkelte sie. Von dem Verkauf des Werkes drang nichts mehr in ihr verdämmertes Gehirn. Sie lag bewusstlos, als sie starb, und Tränen rannen nieder. »Ihr ist das Herz gebrochen, weil sie etwas hat sagen wollen und nit hat dürfen«, erzählte hernach die Stubendirn, die ihr die Augen zugedrückt hatte. Von ihren Leuten war niemand daheim in ihrer Sterbestunde, der Bauer war verreist, der Albert auf der Kegelbahn und der Franz auf der Jagd.

Als dann der Hohenrieder seine Bäuerin tot auf dem Schragen sah, da nickte er, als habe er das schon längst erwartet und sei ganz damit einverstanden. »Ein Begräbnis soll sie haben, als ob sie dem Fürsten sein Weib gewesen wär!« sagte er rau, und er ging selber nach, ihr die Truhe zu bestellen; er unterhandelte mit dem Pfarrer und dem Totengräber und verrichtete alles, was bei derlei traurigen Vorfällen bräuchlich und notwendig ist. Spät nachts kam er ins Wirtshaus, ging an dem Herrentisch vorüber, wo die Nachbarn grämlich hockten, setzte sich in einen Winkel zu den Schwarzgehern, stierte vor sich hin und trank.

In der kalten Frühe, die Sterne glühten noch am finsteren Himmel, ging die Sternwirtin zum Dorfbrunn, Wasser für das Vieh zu holen. Als sie den Eimer eintauchte, sah sie es weiß vor sich schwimmen; sie meinte, es sei eine. Eisscholle, und stieß sie mit dem Eimer weg. Und die Eisscholle versank und drehte sich um, und als sie wieder auftauchte, da war es das grausenvolle Gesicht eines Toten. Dem Weib war, ein eiskalter Kamm streiche ihr durchs Haar. Mit gellenden Schreien rannte sie davon.

Wir zogen hernach den Hohenrieder aus dem Brunnen. Die Wirtin hatte sein silbernes Haar für einen Eisbrocken gehalten.

Derweil der Spindelhirn eintönig den Armenseelenrosenkranz krächzte, gesellte sich der Hohenrieder Franz zu uns. Er beugte sich über seinen Vater. »Mit dem ist es aus«, sagte er. Und er griff dem triefenden Leichnam in die Hosen und suchte die Taschen aus. Aus der Saublatter nahm er die zerweichten Guldenzettel.

Hernach kam der andere, der Albert. Er staunte eine Weile mit offenem Mund den Toten an, dann traf sein hassender Blick den Bruder. Das Doppelbegräbnis spielte sich nicht so leicht wie sonstwo ab. Der Totengräber ließ sich aus Abscheu vor dem Selbstmord durchaus nicht herbei, dem Hohenrieder die Grube aufzuwerfen. »Ohne Beicht, ohne Wegspeis ist er dahin! Wie ein Vieh!« murrte er störrisch. In letzter Stunde musste der Spindelhirn die leidige Maulwurfsarbeit verrichten. Das Grab der Bäuerin hingegen war zu schmal geraten und musste während der Bestattung noch schnell verbreitert werden. Die Söhne standen schreilos, tränenlos und starr wie zwei Böcke und glotzten einander über die Gräber hinüber mit argen Augen an.

Die Leute hätten noch lange über dieses merkwürdige Leichenbegängnis geredet, wenn nicht noch am selben Tag eine neue, wichtige Nachricht dies alles sofort in den Schatten gestellt hätte: im Bauernwerk sei man auf eine ungeheure Schichte Tahel gestoßen.

 

Am Sonntag nach Jakobi 1888.

Ein Taumel ist über Dürrnstauden gestürzt. Das Bergwerk ist abgelöst. Alles hat bares Geld, schweres Geld, Tausender, dass einem die Finger zu wenig würden, wenn man sie zählen wollte. In Trunk und Tanz und Gasterei und Putz, in Jagden, Ausfahrten, Scheibenschießen und Kegelspiel wird die Zeit maustot geschlagen. So hoch und herrlich haben unsere Bauern noch nie gehaust, Ärger und Sorge sind vorüber. Jetzt können sie erst für sich selber leben. Jetzt sehen sie erst, wie schön das Leben ist. Juchhe!

An den Sonntagen kutschieren sie mit ihren seidestarrenden Weibern nach Schönweid ins Hochamt. Die vordersten Kirchbänke gehören ihnen, wo die Sitze mit Türlein versperrt werden. Sie lassen es sich etwas kosten, dass sie in nächster Nähe des Herrgotts sitzen dürfen. Die Bäuerinnen rauschen mit hoffärtig erhobenem Kinn durch die Kirche vornhin. Herrgott im Altar, wir sind jetzt da, die Dürrnstaudner! Jetzt kann der Pfarrer anheben und der Schulmeister auf der Orgelbank auch! Juchhe!

Tandkrämer, Weinreisende, Händler aller Art spüren durchs Dorf. Und es ist, das Geld brenne den Dürrnstaudnern in den Händen, sie können es nicht schnell genug ausgeben. Und der Jikef lebt auch noch, und er bringt Tuche und Schürzen und Unterröcke, Samt und Seide, und Sacktücher, am Feiertag in der Messe aufs Betbuch zu legen, und glitzernden Schmuck und Ringe für die rosigen Ohrläpplein und für die allzu feinen Finger und goldene Uhren und gleich auch die Ketten dazu, offen und ersichtlich für alle Welt zu tragen. Alles wird gekauft. Geld ist ja da. Juchhe! Der Jikef schmunzelt. Und heimst.

Sie leben in den Wind hinein. Wie mit Blindheit geschlagen rennen sie in den Abgrund. Tief unter dem Haufen Geld liegt ihre Vernunft verschüttet. Das Rechnen haben sie verlernt. Würden sie jetzt nur einmal die Einkünfte gegen die Ausgaben halten, sie würden zu Tod erschrocken aus ihrem Rausch auffahren.

Den Höpfler wollte ich warnen. Ich sagte ihm, er solle an seine hübschen, gescheiten Kinder denken und das Geld nicht mit besessenen Händen von sich schleudern. Da geriet ich an den Unrechten. Der trunkene Mann schrie mich an: »Du willst mir zeigen, wie ich wirtschaften soll? Du davongejagter Student?!«

Diesen Schimpf muss ich immer wieder erdulden. Sie haben es leicht, über mich zu spotten. Ach, für wen habe ich gekämpft, im Jahre achtundvierzig?! Für wen ist mein Leben zerbrochen? Die Bauern sind frei geworden. Ohne dass sie selber sonderlich viel dazu getan hätten. O Dank der Welt! Aber ich zürne ihnen nicht. Sie wissen ja nicht, was sie tun.

 

Zu Maria Schnee 1888.

Der Hohenriederhof liegt jetzt still wie ein Friedhof. Der jüngere Bruder, der Franz, ist mit seinem Erbteil davon, weiß Gott wohin. Er wird es bald vertan haben. Arbeiten mag er ja nicht. Wenn ich mich recht erinnere, hat ihn das Gericht als Verschollenen in der Zeitung ausgeschrieben. Man hört nichts mehr von ihm. Er ist wie verdunstet.

Der Albert trinkt Rum. Er kommt nimmer aus dem Rausch heraus. Bis spät in den Tag hinein liegt er in den Federn. Hernach taumelt er über die blutbefleckten Stiegen herunter in die Stube und lümmelt sich wieder zur Flasche hin. Seltsame Geschichten erzählt man sich von ihm. Er soll allweil zwei Buben auf dem Weg erhalten, den einen, der um den Rum rennt, der andere, der ihm inzwischen den Rum bringt. Sein Durst setze nicht aus. Einmal soll der genossene Spiritus in ihm brennend worden sein, und wenn ihm sein Rossknecht nicht sofort Jauche eingegossen hätte, so wäre er ausgebrannt und lebendig umgekommen. Der Rossknecht ist ein verrufener Kerl, er bestiehlt seinen Herrn und bereichert sich, wie und wo er nur kann, er verkauft heimlich Milch und Korn. Schlechte Leute gibt es genug, die es ihm abnehmen und ihn in seinem schlimmen Gehaben unterstützen.

Der neue Bauer merkt nichts davon. Er hebt das Rumglas. Er kann es ja tun. Ihm grünt der schöne, dicke, hochstämmige Wald auf dem Hohenriederberg. Und wenn kein Geld mehr im Sack klingelt, so verkauft man das Holz auf den Wurzeln. Das ist ein Leben! Juchhe!

 

Zu Mariä Geburt 1888.

Mein Gott im Himmel, die uralte Kreszenz Schmalreiter lebt auch noch!

Ich habe sie wieder einmal heimgesucht. Ihr Stüblein ist verdumpft und erstickt und voll Milgeruch, niemals atmet es mit offenem Fenster in die freie Luft hinaus, die draußen in unermesslicher Fülle jedes Geschöpf erquickt. Einer der dümmsten Bauernbräuche, diese Furcht vor der Luft!

Betend, auf den Stock gestützt, geht die Alte um den Tisch herum. Auf diese Weise tut sie ihre Wallfahrt, weil sie in der Müdheit ihrer Glieder nimmer anders wandern kann. Ihre Finger sind so gelb und dürr und knöchern wie die Knöchlein des Rosenkranzes, den sie um die Hand gewickelt hat. Sie bleibt schließlich vor einem Bild stehen, darauf die Muttergottes auf Glas gemalt ist, ein rotfleischiges, durchmessertes, mit einem Flämmlein gekröntes Herz vor der Brust.

Zwei Brillen übereinander trägt das greise Weib auf der Nase, sie meint, sie muss es erzwingen. Steif und kerzengerade schaut sie mich an und sieht mich dennoch nicht. Wunderliche, verschollene Dinge bringt sie herfür, sie erzählt von dem Trojaser Brünnlein, darüber sich die Wallfahrer beugen, und wenn sie dann im Spiegel drin ihre kranken Augen erblicken, so werden sie gesund. Sie klagt: »Ich hab auch andächtig in das Brünnel geschaut und hab daraus getrunken. Es hat mir nit geholfen. Und einen Brunn weiß ich im Gebirg, der heißt der Hirschenbrunn, weil ihn ein Hirsch mit den Hörnern aufgewühlt hat. Von dort hat ein Kind Wasser heimtragen wollen für seinen blinden Vater, und weil es kein Häflein und kein Krügel nit bei sich gehabt hat, hat es das heilsam Wasser in einem hohlen Schlüssel geschöpft und getragen. Der Vater hat sich die Augen drin gebadet und ist wieder sehend worden. Jetzt ist dort eine Kapelle gebaut, und das Auge Gottes ist darauf gemalt. Ach, hätt ich doch auch ein gutes Kind, das mir das heilsam Wasser bringen tät!«

Bei dem Bauer in der Stube drunten ist ein Festmahl, die Nachbarn sind eingeladen, und es geht lärmend zu. »Hören Sie es, Herr Reif?« sagt die alte Frau. »Wenn ich auch stockblind bin, ich merk doch alles. Es wird übel ausgehen. Auf mich hören sie nit. Alte Leut und Schuhnägel wirft man in einen Tiegel.«

Der Schmalreiter, ihr Sohn, lugt flüchtig in das Stüblein herein und lacht: »Ui, da sitzt die alte Zeit beieinander! Ja, ja, Herr Reif, die Frau Mutter schrumpft schon ganz ein. Mein Gott, einmal wird halt ein jeder zeitig. Ich auch!« Er poltert davon.

Tränen gleiten ihr aus den erstorbenen Augen, die linke Hand krampft sich um den Stecken, die rechte ist auf der Lauer, immer bereit, sich schützend vorzustrecken und zu tasten. »Ich geh ihm davon!« trotzt sie.

»Er meint es nicht so!« sage ich. »Er denkt sich nichts bei seiner Rede.«

Sie rüttelt eigensinnig den Kopf. »Im Weg bin ich mit ihm! Gott bescher ihm ein linderes Alter, als das meine ist! O ich bin der ärmste und verlassenste Mensch auf Gottes Erdboden!« Plötzlich wird ihr verkniffener Altweibermund listig und voll Spott. »Ich spiel ihm aber einen Possen, meinem Buben!« flüstert sie. »Sechshundert Gulden hab ich vor ihm versteckt. Die kriegt er nit. Für meinen Grabstein hab ich sie hergerichtet.«

 

Zu Kathrein 1888.

Der Zisterer ist der einzige, der mit dem Geld, das über das Dorf hereingebrochen ist, als wollte es alles wegschwemmen, ehrfürchtig und behutsam umgeht. Er lässt die Silbergulden sehen, gibt aber keinen aus den Fängen. Sein Geiz ist mit dem Reichtum gestiegen, der nutzlos in den Truhen aufgeschüttet liegt. »Das Geld muss man halten!« jammert er. »Alles wird sündteuer.«

Während die andern Bauern die Bettelleute, die in das Dorf einkehren, oft unsinnig reich bedenken, versperrt sich der Zisterer in seinem Haus, wenn er einen Armen aus der Ferne kommen sieht. Stundenlang hält er sich versteckt, dass er kein Almosen spenden muss. Und wenn der Fechtbruder zäh bleibt und nicht von der Schwelle weicht, so kriecht schließlich der Zisterer mit säuerlicher Miene herfür, lässt sich vorerst fünf Vaterunser für seine arme Seele herbeten, feilscht dann mit dem Bettelmann und gibt dem Scheltenden statt eines Kreuzers nur einen halben.

Von seiner Mutter heißt es, dass sie auch so steinhart gewesen sei, und dass sie das Geld, das sie hätte der Armut geben sollen, immer in eine Truhe geworfen habe. Und einmal habe sie gemeint, die Truhe müsse schon halb voll sein, und wie sie den Deckel auftut, sind lauter Nattern drin. Das sei den Bettelleuten ihr Geltsgott gewesen.

Neulich hat der Zisterer sich vom Tischler ein Brett müssen hobeln lassen, da hat er hernach die Hobelspäne zurückbegehrt. Sein Geiz wird schon langsam zur Narrheit.

Der Spindelhirn ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Er erzählt gern eine Legende, die er sich wohl selber ersonnen hat. »Der Teufel hat einmal Pfui! gesagt, und so hat er die geizigen Leut erschaffen.« Wenn der Spindelhirn den Zisterer von weitem sieht, so grüßt er ihn nicht mit einem Grüßgott, sondern schreit ihm lachend zu: »Spar nit so arg, Narr! Du sparst für einen andern.«

 

Zu Walpurgis 1888.

Am Neujahrstag sind die Bauern nüchtern worden. An diesem Tag war immer die große Abrechnung gewesen, wo der Ertrag des vergangenen Jahres ausgeschüttet wurde. Heuer entfiel diese silberklirrende Stunde, heuer gingen die Bauern zum ersten Mal leer aus. Mit ratlosen, dummen Augen schlichen sie herum. Der Amisch prügelte sein Weib. Über den Werkmeister Schöllhammer gingen böse Reden.

Die Grube, die sie in Unwissenheit und törichter Angst verschleudert haben, gibt jetzt immer mehr der glänzenden, kostbaren Erde her; es ist, sie habe sich erst recht geöffnet. Das einstige Bauernwerk ist unter all den Gruben rings die ergiebigste worden. Ein Block Tahel wurde jüngst darin gehoben im Gewicht von dreihundert Pfund, eine Seltenheit von größtem Wert, die jetzt in London ausgestellt und bewundert wird. Und der Dürrnstaudner Tahel soll von einer Güte sein, wie er selbst in den ceylonischen Bergen nicht gefunden wird. Das fürstliche Bergamt zu Schwarzenerd stellt immer mehr Beamte und Knappen ein, um der sich stetig steigernden Nachfrage zu entsprechen und den Erdreichtum zu bewältigen. Die Bahn schneidet mitten durchs Graphitland, das Bauernwerk ist mit einem eigenen Geleise daran geschlossen. Und mit einem Schlag hat alles Fuhrwerk aufgehört. Die Straße durch Dürrnstauden ist jäh verödet; Rädergerassel, Peitschenknall, Rossgewieher und Fuhrmannsfluch sind verstummt. Unser Ort ist abseits gerückt worden. Der Wirt zum Abendstern zieht gegen den neuen Geist und gegen die teuflische Entdeckung der Dampfkraft mit den schärfsten Worten los, weissagt den nahen Weltuntergang und kreidet die Zechen der Dürrnstaudner Bauern doppelt und dreifach an, um auf seine Rechnung zu kommen.

 

Zu Peter und Pauli 1890.

Die Zeit rennt wie ein wildes Ross, das seinen Reiter abgeworfen hat. Immer schneller, immer schneller! Wie weit liegt das Jahr 1848 hinter mir! Ein graues, unübersehbares Meer scheint sich zwischen mir und jener traumhaften Zeit zu dehnen, wo das deutsche Banner am Stefansturm geweht hat. Jetzt kriecht mir das Alter wie Eis von den kalten Füßen her in die Richtung des Herzens. Eine Unke ruft unendlich traurig aus dem Dorfteich.

Der Peter Ascher kam wieder ins Dorf zurück, der vor drei Jahren den Totschlag an dem Mägdefenster auf sich genommen hatte. Er hatte seine Strafe abgesessen. Den Kopf trug er glatt geschoren, scheu und gealtert war er. Er begehrte von den Bauern, was sie ihm versprochen hatten: Arbeit oder einen kleinen Pachtfleck für zwei Rindlein Vieh. Er begehrte es in fließender, wohlgesetzter Rede: er hatte es sich gewiss vieltausendmal vorgesagt in den Jahren schrecklicher Abgeschlossenheit.

Die Burschen, die damals bei der fürchterlichen Tat dabei gewesen waren, ließen sich nicht blicken, und als der Peter Ascher ihnen nachfragte, bedeutete man ihm, sie seien nicht daheim, sondern zu den Waffenübungen eingerückt.

Zuerst suchte der Knecht den Zisterer auf, an dessen Hof kam er zuerst vorbei. Der Zisterer fertigte ihn kurz ab: »Mich geht der ganze Handel nix an. Und übrigens: Das Bergwerk ist hin, und das Geld ist bei uns dünn geworden. Es geht ärschlings mit uns Dürrnstaudnern.« Er wies auf die Hungerblümlein, die zwischen dem Pflaster seines Hofes gilbten. »Magere Zeiten, magere Kräutlein«, lachte er, zuckte die Achseln und ließ den Knecht stehen.

Als der Hanichler den Knecht kommen sah, lief er aus dem Haus heraus und verstellte ihm den Weg, dass er nicht in die Stube träte. »Wo führt dich der Geier her?« rief der Bauer. »Und das muss ich dir gleich aufrichtig sagen, einen entlassenen Sträfling kann ich nit brauchen. Es bliebe mir ja kein Knecht und keine Dirn, keines äße mit dir aus derselben Schüssel.« Der Knecht seufzte hart auf und ging.

Ein anderer Bauer, ich will ihn nicht nennen, der sagte ihm unbarmherzig ins Gesicht: »Ich kann es meinen Kindern nit antun, dass sie mit einem Zuchthäusler die Füße unter einen Tisch strecken!« Da fuhr der Peter Ascher gepeinigt auf: »Dein Bub ist ja dabei gewesen! Am ärgsten hat er dreingeschlagen!« »Du, gib acht auf dein Maul!« drohte der Bauer.

Beim Zaunrieder fand der Knecht das Tor verschlossen. Er klopfte ein paarmal verzagt an. Niemand tat ihm auf. »Goldene Berge haben sie mir versprochen!« stammelte er.

Der Bürgermeister war der einzige, der dem von langer Wanderung müden Menschen einen Stuhl bot. Der Zuschröter tat recht väterlich, aber sein ganzes Um und Auf war doch nur: »Geh in ein anderes Land, wo niemand von deiner Tat weiß!« »Ich hab es nit getan!« murmelte der Peter. Der Zuschröter erwiderte: »Aber du hast es eingestanden. Bei Gericht steht es geschrieben.« »Wohin soll ich gehen?« sagte der Knecht verzweifelt. »Überall wird man erfahren, woher ich komme. Ich werde nirgends Arbeit finden.« »Wer will, findet überall Arbeit«, salbaderte der Bürgermeister. »Geh nur, geh! Bei uns kannst du nit bleiben, wo alle mit den Fingern auf dich zeigen.«

Im Hohenriederhof sprach der Knecht nimmer vor. Denn er sah den Albert aus der Krämerei taumeln, eine Flasche und ein Gläslein in den zitternden Händen. Der Albert trat hart an den Peter heran, der Fusel stank ihm aus dem verwilderten Bart. »Bist du wieder daheim, Kamerad?« lallte er. »He, trink mit mir! Und sag mir, wozu der Mensch da auf der Welt ist!« Und heulend beantwortete er sich selber seine Frage: »Zum Leben ist er da und zum Sterben und zu sonst nix!« Hernach schnalzte er mit der Zunge, besah sich den Schnaps durch das Glas, goss ihn hastig in den Schlund und schenkte sich wieder ein.

Der Peter Ascher ging einmal wie suchend um den Dorfbrunnen herum. Wie ein herrenloses, heimatloses Tier. Dann ging er mit gesenktem Kopf aus Dürrnstauden fort. Jetzt mochte ihm wohl zumut sein, als wäre wirklich er der Mörder gewesen.

 

Am Schutzengelfest 1892.

Der Wind hat umgeschlagen. Aber noch lassen die großen Dürrnstaudner es sich nicht merken, dass es mit ihnen bergab geht. Noch setzen sie den Hut stolz auf die Seite und werfen mit den Hunderten herum, als zinse ihnen noch immer die unterirdische Welt. Der Dünkel hat sie nicht verlassen. Mitten drin im Wirbel verhausen und verbrausen sie großsprecherisch, was sie besitzen. Sie hängen aber mit ihren Schulden fast in jedem Wirtshaus, bei allen Krämern, Fleischhackern und Bäckern. Man leiht ihnen nimmer gern. Dünnstauden kommt in Verruf.

Jeder von den Bauern versucht es mit einer andern Lebenskunst. Bei dem einen heißt es: »Geht es jetzt, wie es will! Ich lass das Rössel laufen.« Er lebt mit den Seinen hellauf und schlemmt darauf los nach dem alten Reim: »Je größer die Not, je weißer das Brot!« Tag und Nacht steht bei ihm der Wein auf dem Tisch, und an Schinken, Rahmstrudel und Krapfen fehlt es nicht. Und er steckt doch bis an den Bart in Schulden, und ein Grundstück ums andere geht in fremde Hände über, um die Gläubiger zu beruhigen.

Der Nachbar hält sich wieder nach dem Satz: »In den Magen hinein schaut einem keiner, aber das Gewand sieht man.« Und so blinkt sein Haus stattlich ins Land hinein, und Bauer und Bäuerin, Buben und Töchter tragen sich noch immer nach dem feinsten Dorfgeschmack. Daheim aber gibt es immer schmälere Bissen und trockenes Brot, und das von früher her verwöhnte Gesinde läuft davon.

Und so merkt man äußerlich nicht, dass sich vieles geändert hat im Dorf. Sie können das Großtun und das Nichtstun nicht lassen, das alle Arbeit dem Dienstboten überlässt, und die Verachtung aller anderen Leute und die alte Einsichtslosigkeit und Rechthaberei blühen rüstig weiter. Wer wird unsern Bauern einmal helfen, wenn das Wasser über sie hinausschlägt? Freunde in der Not gehen hundert auf ein Quintel. Und die Dürrnstaudner haben keine Freunde, haben niemals darnach verlangt. Sie werden wegen ihrer großen Gebärden und wegen ihres grob zur Schau getragenen Hochmutes nirgends geliebt. Nicht einmal von den Bettelleuten, die sie doch heute noch fast verschwenderisch beschenken. Du liebe Güte, wohin soll das alles führen?!

Zu all dem fügt sich noch mancherlei Unglück auf den Fluren. Im Vorjahr fielen Hagelsteine; wie Daumenglieder groß, und schadeten der Saat sehr. Mäuse fraßen hernach das bisslein Korn ab. Viehfall und Misswachs suchten die Gemeinde heim, der Flachs geriet zu kurz.

Heuer frisst uns wieder der Wurm alles Kraut am Feld kahl bis an die Rippen. Es ist wie eine ägyptische Plage; weinen könnte man vor Jammer. Die Luft ist von dem Ungeziefer verstänkert. Überall kriechen die Krautwürmer herum, die Hauswände sind ganz grün davon. Den Leuten kriechen sie in die Taschen hinein. Sogar die Eisenbahn halten sie auf, die Schienen sind glitschig vor lauter zerquetschten Raupen, und die Räder können nicht angreifen. Was werden heuer im Winter die Leute bei uns essen, wenn das Kraut nicht gedeiht?

 

Am Nepomukstag 1893.

Dem Höpfler sein Haus ist hoch versichert. Darum hat es zu brennen angefangen. Der Bauer glaubte, er könne sich nimmer anders helfen.

Ein Loch brannte durchs Dach, so klein, man hätte es mit einer Schürze zudecken können. Der Spindelhirn mit seinen eiligen Augen merkte es zuerst und schlug einen derartig höllischen Lärm, dass sogleich ganz Dürrnstauden auf den Beinen war. Da zeigte es sich, wie nützlich und nötig der Dorfbrunn war: wie viel man auch daraus schöpfte, er füllte sich geduldig wieder mit seinem vollen Schwall.

Der Höpfler warf sich den Leuten entgegen, die löschen wollten. »Ich bitt euch, liebe Nachbarn, um aller Heiligen willen bitt ich euch. Lasst es gehen!« schrie er. »Es hilft nix mehr! Lasst es gehen. Der Dachstuhl stürzt ein. Es könnt ein Unglück geschehen! Soll ich mir ein Menschenleben aufs Gewissen nehmen!« Aber die Dürrnstaudner ließen sich in ihr Rettungsfieber nichts dareinreden, sie bildeten Ketten und gossen mit den Eimern Wasser in Flamme und Glut, und besonders der Spindelhirn schoss, von schier teuflischem Eifer besessen, immer wieder an dem stöhnenden Höpfler vorüber, bis dieser aufbegehrte und grob wurde und fluchte: »Du Lump, was schert dich mein Brand?! Und ihr Dürrnstaudner, schaut zu, wie ihr mit euern Häusern fertig werdet!« Je mehr er tobte und sich gegen die Hilfe verwahrte, desto boshafter retteten sie sein Haus.

In einer Viertelstunde war das Feuer ertränkt. Am Dachboden sah man angebrannte Zündhölzlein zerstreut liegen. Die Hühner fand man mit gebundenen Flügeln, also dass sie hätten leicht weggeschafft werden können. Alles deutete darauf hin, dass das Feuer wohlweislich gelegt worden war.

 

Zu Martini 1894.

Dem Zisterer ist das größte Unglück zugestoßen, das ihn hat treffen können. Er ist ausgeraubt worden. Alles Geld, das er sein Lebtag wie ein Rabe zusammengetragen hat, und dazu die ansehnliche Summe, die ihm der Fürst für den Bergteil zahlt hat, alles ist ihm gestohlen worden, papierenes, silbernes, goldenes Geld, alles, alles. Nicht einen Knopf hat ihm der Dieb gelassen. Wie eine Bärin, der die Säuglinge geraubt worden sind, hat der Geizhals aufgebrüllt, als er des Schadens inne geworden.

Jetzt verdächtigt er alle, die ihm in den Wurf kommen. Sein Weib schaut er scheel an wie ein wütender Hund und murrt: »Die schlimmsten Diebe sind die, die man im Haus hat!« Es gibt niemand im Ort, den er nicht des Diebstahls fähig hielte. Den Kindern auf der Straße schreit er nach: »Diebsgesindel!« Auch mich lauert er an und sucht in meinem Gesicht die Spur seines verschwundenen Geldes.

Der Spindelhirn grüßt ihn jetzt immer andächtig und redet ihm ganz lind zu Gehör: »Du hast recht, Zisterer. Es sind mehr Diebe als Galgen auf der Welt.«

Es mühlrädert ganz gewaltig in dem Zisterer seinem Hirn. Der Diebstahl hat ihm neben dem Herzen noch den klaren Verstand gebrochen. Da findet er neulich in alten Betbüchern eine Menge Banknoten, die einer alten Währung angehören und längst nimmer im Umlauf sind. Der Zisterer aber weist sie herum und ereifert sich, wenn einer die Gültigkeit der halb vermoderten Papierfetzen bezweifelt, und keucht einem seinen unguten Hauch ins Gesicht: »Meine Bankozettel gelten. Sie müssen gelten heut und ewig. Der Kaiser hat seinen Namen drauf geschrieben.«

Dieser Wahn hilft ihm wohl über manche entsetzliche Stunde hinweg. In seinem Garten steht ein krummer Apfelbaum, in dessen Asten hängt seit jenem Diebstahl eine hänfene Schlinge, und es ist, als wolle einer dort seinen Hals darein tun und fände noch immer das Herz nicht dazu.

Es pfeifen noch andere seltsame Vögel in Dürrnstauden. Da ist der Zaunrieder. Der schiebt alle Schuld, dass sein Anwesen auf den Hund kommt, dem allzu reichen Kindersegen zu, der ihm beschert ist. Jedes Jahr zu Allerheiligen rückt ein neuer Sprössling an. Der Zaunrieder scheint ihrer schon vierzehn zu haben, genau weiß das niemand im Dorf, er selber nicht. Die Bäuerin ist sehr faul und tröstet sich und die andern darüber jahrein, jahraus mit der Ausrede, dass sie ein kleines Kind habe. Auch die Arbeit mit den älteren Kindern weiß sie sich zu erleichtern. Ihre Tochter Mariandel hatte sich zwei reicher, strammer Zöpfe rühmen können; einen davon hat die Mutter dem Mädchen, als es schlief; mit der Schere abgeschnitten, dass sie sich weniger mit dem Kämmen des Kindes zu plagen habe.

»O du mein!« klagt der Zaunrieder, »ein Bauer, wenn er noch so reich ist, und wenn er viele Kinder hat, so ist er verloren.« Mit dieser zweifelhaften und saueren Weisheit ergibt er sich in sein niedersteigendes Schicksal, statt dass er wacker zugriffe und sein schläfriges Weib zu einem frischeren Leben antriebe.

Der Wind weht anders in Dürrnstauden. Die Fluren, die Jahrhunderte in einer Hand gewesen, wechseln den Herrn, und der Grundbuchsführer in der Bezirksstadt hat nie so viel zu schreiben gehabt als jetzt. »Ja ja«, seufzt der Spindelhirn und kratzt sich scheinheilig hinterm Ohr, »die Zeiten verschlechtern sich, und das Geld ist heutigentags so dünn, man kann es gar nimmer halten.«

 

Am Weißen Sonntag 1894.

Mit dem Albert will niemand mehr Kegel scheiben. Nur zweideutiges Gelichter gibt sich noch dazu her. Bares Geld hat er nimmer, drum zahlt er mit Bäumen aus seinem Wald, wenn er verliert. Und weil ihm die Hand und die Augen unsicher geworden sind, so kegelt er oft daneben, und der Wald lichtet sich reißend schnell, und die schönen, alten Bäume fallen einer nach dem andern. Wenn der alte Hohenrieder den Jammer wüsste, er stiege mit geballten Fäusten aus dem Grab.

Für jeden Handgriff, für jedes Stück Ware gibt der Albert eine Tanne her. Am liebsten aber für eine Flasche Rum.

Jetzt geht ihm aber allmählich der Atem aus. Der Hohenriederberg steht kahl wie ein ausgehaarter Schädel, er trägt nur noch ein paar erbärmliche Stangen und verkrüppeltes Gewächs, das keiner mag und nimmt. Und der Albert findet keinen Spießgesellen mehr und muss, seine Leidenschaft zu stillen, allein für sich selber scheiben und sich auch selber die Kegel aufsetzen, weil ihm kein Kegelbub mehr vertraut und an die Hand geht.

Oft fängt er in seinem Rausch spätnachts zu scheiben an und lärmt dabei, dass das Dorf aufwacht und die Hunde wild werden. Der Wirt lässt ihn gewähren, denn er fürchtet, der wirrblickende, aufgeregte Mensch könne ihm Fenster und Türen einschlagen oder eine arge Gewalttat verüben, wenn er gereizt werde.

Einen Schub tut der Albert immer für sich und den andern für den Teufel, denn diesen hat er zu seinem Spielgenossen erklärt, seit die Freundlein ihn verlassen haben. Des Teufels Schübe scheinen immer besser zu klingen, denn der tolle Kegler schreit immer wieder: »Mordjo, Bruder, wie soll ich dich bezahlen?«

 

Am Allerwetterherrentag 1894.

In der Walpurgisnacht kegelte der Albert wieder mit seinem unsichtbaren Gesellen und Duzbruder. Da sah er auf einmal mitten unter den Kegeln an Stelle des Königs einen riesigen weißen Hasen sitzen. Daraufhin wurde dem Albert ganz zweierlei ums Herz. Aber er wagte es, biss die Zähne ineinander und schob. Die Kegel stoben auseinander. Doch der große weiße Hase saß unberührt dort und glühte mit den gespenstischen Lichtern den Kegler an. Der schlich schlotternd heim.

So erzählen die alten Weiber. Die Wahrheit ist, dass der Albert seit einigen Wochen keine Kugel mehr angreift. Was nützt es ihm jetzt? Er hätte den Hasen schon um einige Jahre früher sehen sollen!

Sein Hof ist ausgetrommelt worden.

Die stolzen Hohenrieder haben abgehaust.

 

In der Herbstnachtgleiche 1895.

Ein reicher Baumeister aus Linz hat das Hohenrieder Gut erstanden. Er will das Haus wie ein Schloss einrichten und es jeden Sommer bewohnen. Es ist zwar bäuerlich erbaut, aber würdig und voll großer Räume, vornehm abseits gelegen und mit wundervoller Aussicht begabt. Die dazugehörigen Gründe will der neue Besitzer einem Pächter überlassen, den er sich selber aus Österreich mitbringt.

Der Albert bekam einen lächerlich geringen Betrag, denn die Schulden, die er auf das Anwesen gehäuft hatte, verschlangen das meiste.

Als er sich abgefertigt und bezahlt wusste, trottete er noch einmal durch die öden Stuben und Kammern, durch die leeren Ställe und Scheuern und schaute alles wie mit ungläubigen Augen an. Der letzten Kuh im Stall gab er mit der Faust einen wilden Schlag. Weiß Gott, was da in ihm vorging!

Hernach warf er dem Knecht, der bei ihm ausgehalten und ihn betrogen hatte bis zu diesem Tag, die letzten Groschen hin und lachte schlimm: »Ua, lauf zum Seiler und bring mir einen festen Strick! Doch überlegte er es sich, es seinem Vater nachzutun. Bei Nacht und Nebel wich er aus dem Dorf.

 

Zu Allerseelen 1895.

Meine Seele ist sehr kraftlos geworden: ich träume fast nimmer. Der kurze Schlaf liegt wie ein finsteres Kellergewölbe über mir, kein Strahl, kein buntes Bild dringt spielerisch darein. Mein Schlaf gleicht einem erstorbenen Raum.

Doch in der verflossenen Nacht stand ich, der ungestüme Student, wieder auf der Barrikade, auf einem Wust von aufgerissenem Pflaster, Wagen, Tischen, Kasten und Balken, wie sie in aller Eile daher geschleppt und übereinander getürmt worden waren, die Gasse zu sperren. Die große Stefansglocke schlug an zum Sturm, Trommeln läuteten, ferne Schüsse knatterten, und ich schwang die schwarzrotgoldene Fahne und gab Befehle und hetzte die Streiter mit grellen Worten auf. Plötzlich fühlte ich einen kalten Hauch im Nacken, und als ich mich hastig umdrehte, stand niemand hinter mir. Die Brüder hatten mich verlassen. Ich weilte ganz allein in einer schluchttiefen, düsteren Gasse. Und der rasselte heran, die Soldateska, eine riesige Kanone richtete ihr schwarzes Maul gegen mich, und ich war wie gebannt und konnte nicht fliehen. Ein schrecklicher Schuss lärmte. Ich fühlte einen Stich in der Brust und erwachte.

In dem öden Haus aber rollte der Schuss weiter, und es polterte und rollte in dem Zimmer nebenan und war dann totenstill. Um Christi willen, was war das gewesen? Wer hatte da donnernd gehaust?

Ich ergriff die Pistole, die seit dem Achtundvierziger Aufruhr nimmer losgedrückt worden war, zündete die Kerze an und sperrte nicht ohne Scheu und Angst die Tür zu dem Nebenraum auf.

Es war, als habe der Leibhaftige darin getost. Staub empfing mich stinkend und verschleierte das Speisezimmer.: überall Schutt, und der Hausrat davon bedeckt und darunter zerbrochen, zersplittert der taufunkelnde Kronleuchter, zerscherbt die großen, silbernen Spiegel, die Zierkrüge, die Prunkteller an den Borden. Eine grauenvolle Verwüstung erschütterte mich.

Über mir strebte das Ziegeldach des Hauses finster und wie ins Grenzenlose auf. Die Zimmerdecke war eingestürzt.

Mein armer, morscher Leib schlotterte. Ich wich zurück, die sinnlose Zerstörung so vieler schöner Dinge nimmer zu schauen. Ich warf mich ins Bett, staunte zur Stubendecke hinauf und erwartete, dass sie niederprassle und mich begrabe.

 

Zu den Eismännern 1896.

Ein Haus, das nicht bewohnt wird, zerfällt vor Traurigkeit von sich selber. So erkläre ich mir den Einsturz des Speisezimmers.

Der Fürst ließ das Herrenhaus von oben bis unten gründlich untersuchen. Die Baumeister fanden es tadellos gebaut und sagten, es stehe fest und halte für die Ewigkeit. Die Menschen übertreiben gern.

An dem zerstörten Raum besserte man nichts, es wurde weder die zertrümmerte Gerätschaft noch der Schutt weggeräumt, noch die Decke neu hergestellt.

In der Nacht schaudert es mich oft, dass ich neben dem Leichnam des einst so köstlichen Raumes schlafen muss. Mir ist, ein uraltes Gespenst müsse darin auf den Trümmern kauern, die Hände ringen und wimmern.

Ich sollte mir das alles nicht so heftig ins Herz drücken: Meine Tage sind ja gezählt. Und um den Wust und spukvollen Wirrwarr haben sich andere zu kümmern.

Aber den Verwesern des Fürsten scheint blutwenig an dem Herrenhaus zu liegen. Es trägt nichts ein, kostet nur Geld. Und beherbergt schließlich nur einen unnützen Greis, der langsam lästig wird.

 

Zu Medardi 1896.

Die Häuser der Bauern verwahrlosen ebenso wie das Herrenhaus. Den Dürrnstaudnern langt das Geld nimmer zu bessern und zu ersetzen, was an den Gebäuden schadhaft worden ist. Sie schauen fast gleichgültig zu, wie alles um sie herum allmählich verdirbt und verfällt. Die Mauern, die einst schneeweiß und rein geleuchtet haben, zeigen jetzt die Spuren des Wetters und sind schmutzig, und der Kalk bröckelt ab. Die Zäune vermorschen, und, wer immer will, Tier und Mensch, kann durchschlüpfen und eindringen in das mangelhaft behütete Eigen des andern. Brennnesseln suchen die Lücken zu füllen. Die Miststätten werden nicht mehr in der früheren Sauberkeit gehalten, die Jauche rinnt über die Wege, so dass es die Fremden ekelt, die durch den Ort müssen. Und einst ist doch bei uns alles wie in einer Schmuckschachtel rein und zierlich gewesen, und niemand hätte solchen Unfug geduldet!

Auf den Scheunenböden und Söllern verfaulen die Bretter. Der Zimmermann wechselt sie nicht aus. Verfaulte Stiegen brechen unter dem Tritt.

So viel Unglück wie heutzutage ist in Dürrnstauden wohl nie geschehen, seit es besteht.

Die Kreszenz Schmalreiter musste auch daran glauben. In ihrer Umnachtung tappte sie über den Söller, da fehlten ein paar Bretter, und die Blinde trat ins Bodenlose.

Ich suchte sie auf ihrem Sterbebette auf. Gottverlassen lag sie, und Fliegen belästigten den uralten, welken Kopf. Man kümmerte sich wenig um sie, man nahm ihren Heimgang nicht wichtig. »Die Fliegen haben mich«, murmelte die wehrlose Kranke. »Und bald haben mich die Würmer.« Hernach hub sie zu klagen an: »Dem Herrgott sein Buchhalter soll es meinem Sohn nit anschreiben, dass er so grob gegen mich ist! Aber, meiner Seel, wenn ich noch einmal auf die Welt kommen und Bäuerin werden sollt, ich übergeb den Hof nit, solange ein Tropfen Blut in mir rinnt. Vor einer umgefallenen Martersäule und vor einem Bauer, der übergeben hat, rückt keiner mehr den Hut.« Ich wollte ihren Sohn ein wenig in Schutz nehmen. Aber das uralte Bauernweistum sagte bitter: »Nein, nein, es ist und bleibt wahr, wenn die Jungen Hochzeit halten, soll man die Alten dazu schlachten.«

Die Schwarzwäldlerin an der Wand tickte nicht. Und dass doch einiges Leben in der Kammer sich rühre und die Kranke nicht so einsam liege, zog ich die Uhr auf. »Aber nur auf drei Stunden!« rief mir die Schmalreiterin zu. »Warum denn?« fragte ich verwundert. Sie lächelte müd: »Länger brauch ich sie nimmer.«

Drei Tage darnach begruben wir sie. Eintönig und unbeteiligt schlugen die Glocken zusammen, der Pfarrer im schwarzen Rauchmantel sprengte den Weihbrunn über ihre Truhe. Als sie versenkt wurde, fing der Schmalreiter, ihr Sohn, zu schreien und zu weinen an. Es ist so der Brauch hier und hat mit wirklichem Schmerz nichts gemein. Der Spindelhirn betete vor: »Herr, verleih ihrer armen Seele im Fegfeuer Ruhe und Seligkeit!«

Auf der Kirchhofmauer blühten lange, schwanke, sinnende Blumen mit weißen Haarkräglein, und sie steckten die Köpfe zusammen und wispelten: »Wo meine Frau Mutter schlief, stand eine Weide mit süßem, aufgelöstem Haar, und zu Häupten des Hügels war ein schmiedeisernes Wunder mit zierlichen, leicht und lieblich geführten Ranken errichtet.«

Die Begräbnisgäste waren weggegangen, ich aber rastete noch eine Weile unter dem schattigen Bäumlein. Der Friedhof glühte mild und ruhesam von tausend klaren Blumen, und es war, der Tod sei selber gestorben und schlafe glücklich da unter dem stillen, warmen Gras.

 

Zu Galli 1896.

Der Spindelhirn, der lustige Rat weiland der Bergherren, ist abgedankt worden. Sie haben ihm die kleine Pachtwiese entzogen und das Stüblein gekündigt und es ihm grob zu wissen gegeben, dass sie ihn nimmer ernähren wollen, er solle sich trollen.

Heute lud er Sack und Pack auf und fuhrwerkte aus Dürrnstauden hinaus. Das dürrste Ross und den schäbigsten Karren von Schwarzenerd hatte er sich zu seiner Elendsfuhre ausgeliehen. Arschlings saß er auf dem Bock, und sich selber zum Spott trug er einen eingetrümmerten, durchlöcherten, steifen Rundhut, darauf ein riesiger Hahnenschweif wedelte. Der Wagen schleifte hinter sich eine dürre Staude her. Und der Narr schwenkte Hut und Federbusch und grüßte freundlich jedem zu und rief: »Wenn der Stadel leer ist, rennen die Mäuse davon.«

Er bleibt bei seinem Lachen.

Der schönen Hanichlerin ist es längst schon ausgegangen. Die Kleiderstangen im Obergeschoß sind leer, leer sind die Truhen, die einst von der Überfülle der Stoffe und Bänder, Tücher und Schmucksachen fast gesprengt worden wären. Jetzt würgt die Not die Hanichlerleute. Keine Schindel mehr am Dach gehört ihnen. Die Schätze, die Kammern und Kasten einst geborgen, sind um einen Spott wieder an die Händler zurückgefallen. Nur das herrliche, braune Haar ist der Bäuerin geblieben, das ihr bis zu den Fersen hinunterfällt, wenn sie es löst.

Aber auch dieses letzte, schönste Kleinod hat sie jetzt verloren. Nach langem Widerstreben hat sie es einem fremden Händler verkauft, der ihr nimmer vom Leib gewichen, als er den Haarwuchs an ihr entdeckt hatte, der der Frau Eva im Paradies Ehre gemacht hätte. Schließlich sagte sie weinend: »Nimm dir es, eh es grau wird!« Als dann die Schere in die weiche Flut griff, schrie das Weib auf, als kralle ihr der Habicht eine Henne. Hernach ist sie bewusstlos umgefallen.

Solch lange Haare sollen teuer bezahlt werden, sagt der Volksmund; Stricke sollen daraus gedreht werden, die durch das Wasser laufen, denn das Haar faule nicht und halte lange her.

Die Hanichlerin zeigt sich jetzt nimmer auf der Gasse. Sie schämt sich, dass es so weit mit ihr gekommen ist. Im ganzen Land ist kein Weib geschoren.

Zweiundfünfzig Sonntagskleider hat sie einmal besessen.

 

In der Marterwoche 1897.

Der Zuschröter hatte an das Fürstliche Werk einen breiten Streifen Land verkauft, der mitten durch sein bestes Feld, eben Lombardenacker, schnitt. Im Herbst wurde eine Straße auf dem verkauften Grund angelegt. Da erkannte der jähzornige Mann plötzlich, wie sehr er sein Feld verstümmelt hatte, es reute ihn fürchterlich, und in der blinden Wut ging er hin und ackerte in der Nacht die Straße um. Jetzt muss er sich wegen dieses tollen Eingriffes in fremdes Eigentum beim Gericht herumschlagen, und die Kosten und Aufregungen nehmen bei ihm kein Ende.

Die Dürrnstaudner Grafen sind tief gesunken im Ansehen. Sogar der Schinder, den sie vor Zeiten in ihrer Überhebung aus dem Ort verscheucht haben, zeigt ihnen, wie sehr er sie verachtet.

Der Höpfler ging jüngst an der Abdeckerei vorüber. Im Garten war ein hagerer Hund angekettet, das Tier feimte und schien nicht recht bei Trost zu sein. Ein abgehackter Schimmelkopl hing unheimlich an einem Baum, und faulendes Gedärm stank. Der Höpfler kehrte das Gesicht ab, verhielt sich die Nase und beschleunigte den Schritt. Aber der Schinder stand am Zaun, die Hosen rot von Rossblut, und er merkte, wie dem Bauer grauste, und das verdross ihn sehr. »Tu nit gar so hochgeistig!« schrie er ihm nach. »Du wirst deine heikle Nase nit lang mehr verzärteln. Du wirst bald schwarz gehen!« Der Höpfler rief empört zurück:. »So weit kommt es nit! In den Schacht steig ich nit, und wenn ich betteln gehen müsst!« »Gelt, lieber tanzt du den Hundertguldentanz?« höhnte der Schinder. »Was sind mir hundert Gulden?!« prahlte der Bauer. »Gerad so viel, als wenn sich deinesgleichen einen Knopf abreißt!« Der Schinder lachte: »Jetzt nimmer, Bauer! Jetzt nimmer!«

Der Höpfler tat es dem Hohenrieder bald nach. Die feisten Rösser waren aus seinem Stall verschwunden, die letzten Kühe nagten hungrig an den Barren. Jetzt hieß es: »Zahl, Bauer! Zahl, oder ich lass dich schinden!« Und zahlen konnte er nicht.

Als der Richter mit seinem Schreiber kam, Haus und Zubehör des Hofes, der vergantet werden sollte, aufzuschreiben, stand der Höpfler in der Tür, das Gesicht fahlgelb wie nackte Erde, die Beine gespreizt, die Arme gereckt, wie ein schmiedeeisernes Gitter wehrte er den Eingang. Der Richter, ein kitzlicher Herr, fackelte nicht und ließ gleich die Gendarmen holen. Da wich der Bauer. Der Höpflerin aber schoss die Galle über, sie fluchte und elementete. »Ich schütt euch mit heißem Wasser ab!« drohte sie die Eindringlinge an. »Ich hab eins auf der Platte stehen!« Dann wälzte sie sich heulend auf dem Boden.

Die Höpflerleute mussten ins Elend beißen. Weinend gingen sie aus dem Haus, verarmt bis aufs Letzte. In einer rußigen Haarstube verbrachte der Höpfler mit den Seinen die erste Nacht, so ein großer Bauer einst und ein Bergherr!

Gern hätte ich ihm geholfen und ihn und seine Leute in einem der unbehausten Zimmer neben mir beherbergt. Es ist mir aber nicht erlaubt. Jetzt wies ihm sein Verwandter, der Schmalreiter, das Stüblein an, darin die alte Kreszenz gestorben ist.

Unsere Bauern hausen ab. Aber der Bergsegen blüht fast unheimlich auf in Dürrnstauden. Die rabenschwarze, fette Erde quillt aus der unerschöpflichen Tiefe; immer mehr Hände werden notwendig, ihre Fülle zu heben. Weit hinein schon sind die Stollen getrieben worden. Man gräbt jetzt unterm Dorf. Der Bergmann Nusko hat bei der Frühschicht über sich des Zaunrieders Hahn krähen hören.

 

Zu Fronleichnam 1897

Der einzige im Dorf, der in die Höhe kommt, das ist der Sonntaghansel. Jetzt heißt er eigentlich Johann Kerschagl. Ein Mann ist er worden wie aus Kernholz geschnitzt, frisch wie ein junger Hirsch und mit einem zähen Fleiß begabt, der nur des Sonntags achtet. Das Glück ist ihm zugetan. Wirft er einen Groschen in die Luft, so fällt ein Taler zurück herunter.

Außerhalb des Ortes an der Lehne des Hohenriederberges hat er sich ein billiges Stück Land gekauft, und dort graben er und seine Mutter in den Feierabendstunden bis tief in die Nacht hinein den Grund zu einem eigenen Häuslein.

Jetzt will er heiraten. Die Braut ist arm. Es wird ein kleiner Anfang werden, und der Hansel lacht: »Sie bringt mir nur drei irdene Häfen und ein weißblechernes Reibeisen zu.« Aber ihm ist nicht bange. Er weiß, dass ihr Heiratsgut in ihren kräftigen, willigen Armen, und ihrem fröhlichen Gesicht und in ihrem tapferen Herzen liegt.

Sie geht schon mit einer älteren, ehrbaren Frau über Land um die Brautgabe bitten. Eine starke, braune Jungfer ist sie, lieb und schlicht wie eine Feldblume. Ich verstehe, dass sie einer ohne jeden Kreuzer Geld nimmt.

Sie kam zu mir und sagte die alte Formel: »Eine arme Braut tät auch bitten um eine kleine Aussteuer.« Ich gab ihr einen Zwiegulden und dazu das hübsche grüne Vogelhaus, darin einst mein Zigeunerlein der Burgherr gewesen war. »Tut euch eine singende Freude drein!«

Der Johann Kerschagl wird mit ihr gut fahren. Die zwei werden einmal ein schönes Beispiel geben. Und das tut not. Denn in Dürrnstauden hassen jetzt die Weiber ihre Männer und werfen ihnen den Unsinn vor, den sie begangen, indem sie den überreichen Boden so gedankenlos und läppisch vergeudet haben, und die Bauern fangen an, was sich früher keiner erlaubt hätte, ihre Weiber zu beschimpfen und die Fäuste gegen sie zu heben. Die Zuschröterin, die wohl da am ärmsten daran ist, zeigte mir ihre Beulen und Flecken und weinte: »Hauen muss ja der Mann sein Weib. Aber der meine schlägt gar zu arg zu.«

Auch die erwachseneren Kinder werden ungebärdig und fahren die Eltern wild an: »Ihr habt das Geld vertan, und wir müssen jetzt davonlaufen!«

Das Elend bessert niemand, und die Not ist ein Grabscheit.

 

Zu Sankt Wendelin 1897.

Als der Herbst begann, wanderte ich oft über die einsamen Wiesen, durch, die müder werdenden Wälder und über die Hänge, die unbeschreiblich schön unter der rötlich glühenden Heide begraben waren. Und die fremdländisch großen Haselnüsse im Garten reiften, und ich ließ sie heuer von niemanden pflücken, denn ich hatte das Gefühl, es müsse diesmal jemand aus weiter Ferne kommen, der ein größeres Recht darauf habe als die Menschen, die in gemeiner Nähe wohnen.

Und nach der Ausglut des späten Gartens lebten nur noch die kühlen, strohenen, duft- und leidenschaftlosen Blumen neben den aufgescharrten und beraubten Beeten. Golden sank es von den Birken.

Dann wurde es grau. Dicke Herbstnebel stockten, und die Sonne war wie für immer verschollen. Der Wind raschelte, traurig rauspelte der Wind. Auf den Wiesen verging die letzte Blume, daraus keine Biene mehr trank und die kein bunter Flügel mehr heimsuchte. Pflügende Knechte fluchten irgendwo mit den Gäulen. Der Schrei eines Rindes erhob sich, das seine Herde verloren hatte. In den Brechhäusern klapperte Holz auf Holz, und der Nebel trug den Schall weithin.

Hernach lag ich einige Tage krank, und es war sehr einsam um mich. Das Haus wurde mir unheimlich, und Grauen wehte von der Stube nebenan auf mich ein, in deren Wüstenei die Gespenster gewesenen Hausrates verfielen. Die unbestimmten Geräusche, die nachts in der völligen Stille von den toten Dingen ausgehen, erschreckten mich aufs äußerste: das Knacken der Kasten, der regelmäßige, klingende Fall eines Tropfens, der sich weiß Gott wo löste und von meinem irren Ohr zu fabelhaftem, unerträglichem Lärm gesteigert wurde. Der Wind wimmerte im Rauchfang wie eine erlösungsbange, verwunschene Seele. Und auf einmal regten sich die Füße der Geräte und wurden zu lüsternen Pranken; das Dämmer schnitt böse Fratzen und bedrohte mich, und ich hing in dem grässlichen Zustand, wo man die eigenen Glieder für fremde hält. Wie kommt dieses seltsame Bein zu mir ins Bett? Schwer wie Blei ist es und lastend, es ist hart wie Stein. Es ist – o es ist das Bein eines Toten! Fort mit dir von meinem Lager, du Spuk, du quälendes Schreckensding! Um Himmels willen, das fremde Bein ist ja an mich angewachsen! Es wächst aus mir heraus! Und diese zwei fremden Arme? Wie lang sie sind! Wenn sie mir gehörten, ich könnte meilenweit in den finstern Wald hinausgreifen! Ach, es sind ja meine Arme! Aber sie sind tot! Tot!! Fürchterlich, zu leben mit toten Armen! – – Ich drücke mich an die kalte Mauer und werde klarer, ich klaube mich zusammen und besinne mich. Das Dorfglöckel höre ich im Wind so armesünderhaft gehen, als müsse es sich selber zum Galgen läuten. Oder läutet es gar schon voreilig meinen Tod aus? Halt ein, Glocke! Halt ein! Du irrst! Und ich verliere mich wieder in Fieber und Durst. – – –

Als ich das Bett verlassen durfte und zum ersten mal wieder an das Fenster trat, das Spiel der eben entweichenden Nebel zu betrachten, war es mir, als lägen die Züge der sich entwickelnden Landschaft geändert vor mir: inhaltsloser und kahler. Es war nimmer das altvertraute Bild, es war etwas Fremdes darin, es fehlte etwas.

Und wie ein Blitz stieß es in mich, der Monstranzenbaum stand nicht mehr! Dort, wo er gründunkel und feierlich geragt hatte wie ein heimatlicher Kirchturm, dort war es leer.

Verstört schwankte ich auf den Dorfplatz hinab. Der Raben scharfer Schrei fiel aus der Luft.

Schmählich gefällt lag der grüne Freund, der hochwürdige Baum, daran ich als Kind zum ersten Mal ermessen hatte, wie hoch der Himmel war. Der Stamm war gesund bis in den innersten Kern hinein. Die gewaltige Krone trug nicht einen dürren Ast. Hundert und hundert Jahre hätte die Tanne noch leben können.

Der Schmied von Föhretschlag hatte den Baum der verelendeten Gemeinde abgekauft die ihres rauschenden Wahrzeichens nimmer achtete. Mit seinen Gesellen hatte er ihn umgehackt. Nun waren sie daran, den mächtigen Strunk und die starken, treuen Wurzeln aus der Erde zu reißen. Das riesige Holz sollte zu Kohle gebrannt werden.

Eine Krähe kreiste in den Höhen. Sie mochte wohl den alten Wipfel suchen. Voll Trübsal krächzte sie: »Verraten und verkauft!«

 

Zu den Hundstagen 1904.

Sieben Jahre sind verronnen, seit ich diese Blätter zum letzten Mal berührt habe. Inzwischen haben viele aus dem Ort hier das Zeitliche verlassen. Was hilft es, wenn ich ihre Namen niederschreibe? Wer darnach neugierig ist, der suche den Friedhof zu Schönweid auf, dort findet er alle treulich verzeichnet. Sie sind nicht freudig gestorben. Einer von ihnen, ich nenne ihn nicht, der Reichsten einer einst, der ist so arm geworden, dass ihm beim Sterben nicht einmal ein Lichtlein zu Häupten gebrannt hat.

Vieles, vieles hat sich verändert. Du aber, Herr Engelbert Reif, du scheinst dir ewig gleich zubleiben. Aus dem Spiegel dämmert dir dasselbe müde, sanfte Gesicht entgegen, darein doch in wilden, krummen Furchen der Zorn gegen ein misslungenes Leben sollte eingerissen sein, und derselbe graue Bart, derselbe graue altväterische Rock spiegelt heraus wie seit je und immer. Wie lange mag es her sein, fünfzig, hundert Jahre, dass ich diese verfallenden Mauern um mich hüte in mönchischer Weltabsagnis? Mein Gedächtnis trübt sich leise. Wie lange ist es her? Ach, was liegt daran!

Die Brauen hangen mir tief, als wollte ich darunter die verblassender! Augen verstecken vor dem Schein der Welt. Die Bresten des höchsten Alters suchen mich heim, meine Rippen sind mürb, meine Adern verkalken. Meine einstmals zierliche Handschrift wandert ganz zitterig über diese Bogen. Bald tupft mich der knöcherne Gevatter auf die Achsel und stellt sich höflich vor: »Doktor Mors!«

Warum schreibe ich noch an diesem Buch? Will ich ein warnendes Märlein vollenden, einen Bauernspiegel, damit sich jene, die mit Ross und Pflug über den Acker schreiten, ihres eigenen Treibens besinnen und des Weges, dahin es führt? Und habe ich ein Recht zu solch erzieherischer Absicht, der ich mit meiner scheuen, kraftlosen Seele, mit meiner verfehlten Straße selber ein übles Vorbild abgebe?

Ich habe noch manches an seltsamen Ereignissen nachzuholen.

Ein ganzes Jahr hatte ich seit dem Tod des Monstranzenbaumes meinen Garten nicht besucht, so sehnsuchtslos und freudlos war mir das Herz geworden. Mir schien sein Blühen und sein Welken von Jahrzeit zu Jahrzeit ein törichtes Spiel, ein nutzloses Unterfangen, womit ich nichts mehr wollte zu schaffen haben, und ich überließ ihn sich selber und der Gunst und Ungunst des Wetters. Mochte daraus werden, was immer! Kümmerte sich doch nicht einmal der Eigentümer darum und hatte ihn nie betreten!

Aber einmal, vor Allerseelen war es, da wähnte ich, es hänge noch eine letzte einsame Rose drunten und fröre am Strauch, und mir war, ich müsse sie abschneiden und sie auf das Grab meiner Mutter legen. Es drängte mich geheimnisvoll hinab in den Garten, und ich fand ihn verwildert, und die letzten Blumen waren verbrannt und erfroren und traurig. Und wie ich so müßig die lange nimmer betretenen und dennoch gewohnten vergrasten Wege ging, da ward mir ganz wunderlich, und ich wusste nicht, taugten meine alten Augen nimmer oder trogen mich meine Füße. Der Garten, der früher so eben gewesen war wie eine ruhende Wasserfläche, wahrhaftig, jetzt war er gegen das Tal geneigt!

Der Zuschröter schaute über die Mauer herüber, nickte mir zu und bestätigte, was mir kaum glaublich schien. »Die Erde lässt nach!« sagte er und sonst weiter nichts und schlich davon.

Der Garten hatte sich gesenkt!

Ich musste an das Speisezimmer droben denken, das eingestürzt war, und pfiff vor mich hin, wie einer, dem plötzlich ein Licht aufgegangen ist, und malte mir allerlei entsetzliche Zukunftsbilder aus.

In Dürrnstauden kann keine rechte Fröhlichkeit mehr aufkommen. Nicht einmal im Einkehrhaus. Denn der Wirt hat es bei uns nimmer ausgehalten: tagelang oft sprach niemand bei ihm zu, und der Durst schien ausgestorben zu sein. Da hat er den goldenen Abendstern eingezogen und ist mit Kind und Kegel nach Schwarzenerd hinüber gesiedelt, wo der Beamten und Bergarbeiter immer mehr werden, und wo das Geld Flügel hat. Dort wird er wieder lachen und das Käpplein rücken. Unsere Bauern juckt der Durst nimmer.

Auch der Egartner, der neue Bauer, der das Gehöft des Höpfler erstanden hatte, hat Dürrnstauden wieder den Rücken gekehrt. Er fürchtete, dass er genau wie sein Vorgänger hier abhause, trotzdem dass er mit wildem Fleiß, wie man ihn bei unseren Bauern nie gesehen, gegen die Erde losging und sein Weib jeden Heller ein paarmal umdrehte, ehe sie ihn ausgab. Ihm glückte nichts. Alles bäuerliche Unheil, Hagel und Dürre und Viehfall, suchte ihn heim. Die Erde schenkte ihm wenig Frucht, sie schien unwillig zu sein, dass sie in ihren Tiefen keine Rast und Ruhe hatte vor den unersättlich scharrenden Menschenmaulwürfen.

Mit vier Fuhren Hausrat war der Egartner ins Dorf eingezogen, mit zweien nahm er Abschied. Er beeilte sich. Es solle nicht so weit kommen, meinte er, dass er sein Gut mit einem Schubkarren davon schaffen könne. Seine Rösser zogen an und nickten traurig mit den schwarzen Köpfen und schritten langsam wie bei einem Begräbnis.

Ich sah dem Egartner lange nach. Mir war, alles werde nun diesen Ort verlassen, und ich allein müsse verwunschen und vergessen zurückbleiben.

Doch nein! Es gibt noch Zuwachs, es leben noch Menschen, die Dürrnstauden aufsuchen.

In einer bösen, regnerischen Nacht rüttelte es stürmisch an das Tor des Herrenhauses. Ich kroch aus dem Bett und schloff in die Hosen. Und drunten donnerte es und verlangte es mit einer Eile Einlass, dass ich mich besann, ob nicht doch etwa noch des Kaisers Häscher hinter mir her wären, mich zu fassen, bevor ich für immer der gerechten Strafe entschlüpft sei. Ich riegelte das Tor auf. Wer in aller Welt begehrte noch zu mir Verschollenem?

Ein unheimlicher Blick glänzte mich an. Regennass, zerrissen, barfuß schob sich ein verwilderter, bärtiger Mensch herein. »Mich friert!« knurrte er. »Mich hungert!« Es war der Hohenrieder Albert.

In der ersten Überraschung fragte ich ihn: »Albert, du bettelst?« »Soll ich stehlen?« höhnte er zurück.

Ich nahm ihn zu mir in die Stube. Sein Bart war tief über den Hals hinab gewachsen und verfilzt, als habe der Teufel damit getändelt und einen Weichselkopf darein geknüpft. Sein Janker war zerfetzt, sein Halstuch schäbig und zerschlissen, und er tat die Weste auseinander, da war kein Hemd darunter, nur bloße Haut. Er redete fast gar nicht, stierte nur vor sich hin, und nur einmal stieß er ein paar biblische Worte aus: »Jeder Fuchs hat seine Grube, jeder Vogel sein Nest. Ich hab nix. Ein gottverlassener Hund bin ich!« Mit ekelhafter Eile verschlang er, was ich ihm zu essen bot, Er schien zu fürchten, es würde ihm wieder genommen. Als ich wissen wollte, wo er wohne, brummte er: »Im Wald!«

Hernach schlief er auf dem Sessel ein. Ich konnte mir ihn jetzt genau betrachten. Wie edel waren Schläfe und Stirn gebaut, wie kühn und schmal die Nase, wie fein geschwungen die Brauen! Unter dem wüsten, ungepflegten Bart lagen die Lippen zart und rot und kindhaft, als hätten sie ihr Lebtag nur liebe und unschuldige Worte gewusst. Mir war sehr leid um den Schlafenden da. »Auch ein Missratener!« dachte ich traurig. Und jäh flackerte es aus dem Dämmer meiner erloschen geglaubten Seele mit herbster Gewalt: »O wenn das mein Sohn wäre –!«

Der Albert schnarchte hart auf, sah sich mit verstörtem Blick um und stürzte ohne Gruß, ohne Vergeltsgott davon.

Es geht um viel Abenteuerliches über ihn von Mund zu Mund. Er ist ein Waldmensch geworden, der unter Bäumen und Gestrüpp haust wie ein scheuer, gejagter Hirsch. Im frostigen Herbst hat man ihn aufgestöbert, da ist er, sich zu wärmen, in einem langen, laubgefüllten Sack verkrochen gelegen, den er sich um den Hals zugeschnürt hatte. Oft tritt er plötzlich wie ein Räuberhauptmann aus einem Busch oder einer verödeten Haarstube und erschreckt die Menschen mit seinem schillernden Blick, mit seinem schwarzen, fürchterlichen Bart und seiner Zerlumptheit. Doch tut er niemand ein Leides. Er schaut einen finster an und verschwindet wieder in der Wildnis. Nur der harte Hunger treibt ihn zuweilen ins Dorf; da steht er nachts vor einem Fenster, klopft an und bettelt heiser um ein Stück Brot. Zu mir ist er nimmer gekommen.

Es gibt wenig junge Leute in Dürrnstauden. Viele sind in Unfrieden aus der Heimat fort.

Wenn die Eltern sie haben zurückhalten wollen, da haben sie gemurrt: »Ihr habt leicht den Bauern spielen können, ihr seid im Speck gesessen und habt Geld genug gehabt und Knechte und Dirnen zahlen können. Bei uns aber wird es heißen: ewig ackern, ewig jäten, ewig rackern! Wir wollen nit. Der Mensch ist nit da, dass er sich zu Tod schindet. Ihr habt es selber so gehalten. In der Stadt plagen wir uns nit so. Und lustiger ist es dort auch.« Sie wollen die überschuldeten Höfe nicht übernehmen.

Viele Bauernsöhne haben sich als Arbeiter in die Steiermark verdingt; wo sie den eisernen Berg abgraben helfen: Daheim in die Grube zu steigen, dazu schämen sie sich. Andere wieder sind bei den Soldaten geblieben und drillen die Rekruten. Das ist erfreulicher, als daheim dem Jammer und dem Verfall zuzuschauen. Die Mädchen dienen in fernen Städten. Manchmal kommt eine heim und zeigt sich und ihren neumodischen Hut, prahlt am Sonntag ein wenig in der Kirche und verschwindet wieder. Hin und wieder taucht auch eine auf, dass Gott erbarm! herabgekommen, mit schamlos gewordenen Augen, schlampig und, frech, krank, verdorben für immer. Wenn man ein armes Mädchen in die Fremde schickt, wahrhaftig, so ist die schlimmste Mitgift, die man ihr geben kann, ein hübsches Gesicht.

Auf dem Anger, wo voreinst der Monstranzenbaum gekühlt und geschattet hatte, ist jetzt ein runder Fleck mit schönem, grünem Gras; aber darauf spielen keine Kinder mehr. Das Dorf ist unfruchtbar geworden. Es stirbt aus.

Drüben der Ort Schwarzenerd wächst an. Er hat das Bauernwerk ganz in seinen Bann gezogen. Und dort gellen jetzt die Dampfpfeifen und heulen teuflisch und frohlocken. Neue Arbeitsweisen und Erfindungen werden dort eingeführt, neue Maschinen, neue Trockenböden für den feuchten Tabel. Künstliche, große Lichter leuchten weithin in der Nacht.

 

Zu Mariä Geburt 1904.

Allerlei Narrheit nistet sich in dem verarmten Dorf ein.

Der Hanichler hat in der Zeitung gelesen, dass ein Bauer in Spanien eine ganze Furche Silbergeld aufgepflügt habe. Seither ist der Hanichler ein Schatzgräber geworden. Sein Hof ist der älteste in der Gemeinde, ein Graf hat ihn errichtet, als ringsum noch die feuchte, moorige Wildnis gedampft hat. Heute ist noch auf dem Grund des Hanichler uraltes Gemäuer zu sehen. Und dieses Mauerwerk trägt der arme Narr nun ab und wühlt dort, eine Backschüssel Gold zu finden, damit er sich aus den Schulden helfe, die ihm schon bis über die Ohren hinaus steigen. Er schlägt vergilbte Schatzgräberbücher nach, will deren Rätseln auf den Grund kommen und versäumt dabei die Wirtschaft und vernachlässigt, was noch zu retten und zu halten wäre. Ihm ist nicht zu raten. Als ich ihm seine Torheit vorhielt, schnitt er ein Gesicht, als nage der Wurm in seinem Zahn und erwiderte mit seiner grämlichen Stimme: »Was geht es Euch an, wenn ich eine Dummheit treibe?! Ihr seid auch einmal auf der Mauer gestanden und habt hingezeigt, wohin die Studenten schießen sollen!«

Weil er daheim nichts findet, will er nach Spanien gehen, Schätze graben.

Dem Zisterer sind alle Kinder entlaufen. Sie schreiben niemals heim. Sein Weib ist hager wie der wandelnde Tod; sie klagt, sie traue sich gar nimmer zu essen.

Der alte Geizhals ist auch übergeschnappt. Jeden Monat einmal begibt er sich in die Stadt zum Steuereinnehmer und begehrt schreiend und fluchend, man solle ihm seine verjährten Bankozettel gegen hartes Geld auswechseln. Sie haben ihn schon öfters aus der Amtsstube hinausgeworfen, er kommt aber hartnäckig immer wieder.

Manchmal geht er nach Schwarzenerd ins Bergamt und hebt die blaue Schürze, man möge ihm wie voreinst Silber darein schütten. Auch lebt er in der glücklichen Einbildung, das Herrenhaus gehöre ihm, und jeder im Dorf schulde ihm Geld. Seine Stube ist die halbe Nacht beleuchtet, und drin sitzt er beim Kerzenstumpf und rechnet und zählt ungeheuerliche Zahlenreihen zusammen auf gelblichem, grobem, verknittertem Papier, einstigen Tabakhüllen, die er sich aus besseren Zeiten aufgehoben, wo er sich noch eine Pfeife zu rauchen vergönnt hat. Und um Mitternacht gewöhnlich weckt er die Nachbarn auf, sie sollen ihn schleunig bezahlen, und tagsüber trägt er ihnen die gelben Rechnungen ins Haus und verlangt da fünftausend, dort zehntausend Gulden und mehr und droht mit Pfändung, Gericht, Totschlag, jüngstem Tag und Hölle. Mir überreichte er auf der Gasse einen Zettel, worauf er mich mit zehn Kreuzern schuldig erkannte. Ich zahlte ihm die Schuld bar aus und musste lächeln, weil ich in dieser Summe den geringen Wert gespiegelt sah, den man mir auf Erden beimisst.

Der Zisterer hat niemals ein anmutendes, gutes Gesicht getragen, darein man gern blickt. Jetzt aber schaut er gar erschreckend aus. Der dürre, lange Mann schleicht krumm daher, sein ganzer Schädel scheint vom Geiz geformt zu sein, seine Augen bohren und stechen, seine Finger zittern, und weil er sehr kurzatmig, worden ist und es ihm große Beschwerden macht, Luft zu bekommen, muss er den hässlichen, zahnlosen Mund immer weit offen halten. Die Leute reden von Gottes Strafgericht und erinnern daran, dass der Zisterer einst den Gänsen, die in seiner Wiese gegrast hatten, die Schnäbel mit Hölzlein aufgespreilt hatte.

 

Zu Pfingsten 1905.

Das Höpflerhaus steht leer, seit es der Egartner im Stich gelassen. Zwar hat es ein begüterter Viehhändler aus der Salnauer Gegend für seinen ältesten Sohn gekauft, aber ihm ist der Bub beim Baden in der Wulda ertrunken. Jetzt sind die Fensterladen zu, das Tor ist verschlossen, und niemand wohnt in dem Haus, das in seiner Verödung den Leuten unheimlich wird. Man erzählt schon, der verfluchte Geist des Bauernschinders Kaspar Ruchler poltere darin.

Durchziehende Scherenschleifer krochen einmal von der Hofseite hinein, um zu übernachten, denn es herrschte ein scharfes Wetter, regnerisch und voller Sturm, der durch Fleisch und Bein ins Mark hineinfrostete. Die Schleifer konnten aber nicht schlafen, die ganze Nacht knisterte und bröckelte es in dem Gebäude oder krachte es bedenklich; der Wind schnurrte wunderlich im Rauchfang; geisterhafte Seufzer schienen zuweilen das sich selbst überlassene Haus zu beleben, und es war, als sei ein Kobold irgendwo in die Wände eingemauert. Von Angst aufgerüttelt, flohen die Schleifer, ehe es noch Tag wurde. Sie blieben lieber auf dem feuchtkalten Erdboden unter den wilden Wolken.

Der diesen Hof einst mit Stolz sein eigen genannt hat, der geht jetzt mit berußtem Gesicht daran vorüber. Der Höpfler ist Bergmann worden. Er hat den Beruf ergriffen, den er früher nicht genug hat verachten können. Die Zähne hat er aufeinander gepresst und überwunden, was sich noch in ihm als Bauernhochfahrt gebäumt hat, und dann hat er sich beim Bergamt gemeldet. Die Herren konnten die Augen nicht weit genug aufreißen, als der einstige Bergherr ruhig und anständig bat, man möge ihm unter der Erde sein täglich Brot verdienen lassen; über der Erde sei es ihm nimmer möglich. Die anderen Schwarzgeher hänselten ihn anfangs sehr und freuten sich nicht wenig, dass der großmächtige Höpfler jetzt den schwarzen Kittel anziehen und zur Spitzhaue greifen müsse; er litt es geduldig und schweigsam, arbeitete und ertrug sein Los mit einer Würde, wie keiner je es ihm zugetraut hätte.

Heute achten ihn seine Kameraden, und mir selber wird ganz ehrfürchtig im Sinn, wenn der Höpfler, der mit grauem Haar ein neues, besseres Leben begonnen hat, mit müdem Feierabendschritt und doch voll innerer Fröhlichkeit bei Sternschein aus der Schicht heimgeht zu den aufhoffenden Seinen.

Noch einen anderen glücklichen Mann weiß ich in Dürrnstauden.

Dem Johann Kerschagl sein Haus ist fertig; es ist ganz hölzern, aber lieb und wetterhart gebaut. Er hat die Stämme dazu selber gefällt, den Zimmerleuten dann geholfen, die Balken zuzuhauen, die Wände aufzurichten und den Dachstuhl zu heben. Das Dach hat er sich selber beschindelt. Und vorn an den Giebel hat er sich ein Dreieck hingemalt und darunter geschrieben: »Oben spitzig, unten breit, bitt für uns, heilige Dreifaltigkeit!«

Nun baut er sich, von der rüstigen Mutter und dem kraftvollen Eheweib unterstützt, Stall und Scheuer dazu und verzäunt sich das bescheidene Gärtlein, darin viel Frommes, Schönes und Nützliches sprießt. Allen Hausrat, soweit er aus Holz ist, hat er sich selber gezimmert, und alle hölzernen Teile seines Pfluges, seiner Egge, seines Wagens. Sein Hausbestand mehrt sich. Er ist der Sonntaghansel geblieben.

Es gibt noch Glück auf der Welt. Aber man muss hart danach greifen.

 

Im Herbst 1905.

Mein Garten ist ganz verwildert. Ich kann seiner nimmer Herr werden, kann nimmer schaufeln, nimmer sägen und hacken. Mir wird es fast schon zur Mühsal, eine Rose abzuschneiden. Unkraut wuchert, die Mauern sind eingestürzt, Disteln und Dörner haben gesiegt. Mich freut der Garten nimmer. Er senkt sich immer mehr gegen das Tal und ist schon ganz abschüssig. Die fremdnamigen Bäume, die einst kerzensteil zum Himmel geragt, stehen schief, als wollten sie sich auf die Erde hinlegen. Alles schaut fremd aus.

Das öde Höpflerhaus trägt jetzt einen weiten Riss außen in der Mauer, man kann mit der Hand durchfahren. Wie eine Sorgenfalte nimmt sich dieser Riss aus. Beim Zuschröter wieder ist das Kellergewölbe gesprungen.

Etwas Seltsames, Ungeheuerliches liegt in der Luft.

Man sollte verbieten, dass unter dem Dorf gegraben werde. Aber es ist vielleicht schon zu spät.

 

Im Sommer 1906.

Das Fürstliche Bergamt hat das Höpflerhaus gekauft. Es ist voller Sprünge und wird wohl bald zusammenbrechen. Niemand untersucht es, niemand bessert es aus. Mag es stürzen!

Der Zuschröter hat dem Bergamt mit der Klage gedroht. Da hat man ihm das Kellergewölbe wieder geflickt. Der Zuschröter gibt aber nicht viel darauf, er meint, der Keller werde bald ganz und gar einfallen. Der Fürst müsse auch ihm das verdorbene, gefährdete Haus ablösen, und dann wolle er davonziehen in die Welt, wo sie am weitesten wäre, und wo man den Namen Dürrnstauden noch nie gehört habe. Überall sei es bequemer und behaglicher zu leben als daheim.

Auch an anderen Häusern zeigen sich lange Risse, und sie schauen wie mit bekümmerten Gesichtern darein. Sie lassen sich nicht losschlagen, denn wer wollte sich dort ankaufen, wo er das böse Gefühl haben muss, dass der Boden unter den Füßen nicht verlässlich ist?! Unser Dorf kann nicht leben und nicht sterben.

Die schlimmen Anzeichen mehren sich. Als dem Schmalreiter sein Knecht jüngst auf dem Tobelacker pflügte, senkte sich der Grund unter dem Gespann.

Die Erde gibt nach. Die misshandelte, ausgebeutete, die ungeliebte Erde rächt sich.

 

Im Herbst 1906.

Die Türen des Herrenhauses knarren mürrisch. Sie sind es längst müde worden, sich in den Angeln zu drehen und ewig denselben Menschen ein- und ausgehen zu lassen. Die Spiegel, die einst so silberblank geglüht, scheinen zu ermatten und zu gilben. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Immer und immer dasselbe alte Bild zu fassen, nichts Neues, Junges, Lachendes, Sprühendes, Glühendes! Ich ja nur noch ein grauer Hauch.

Diese Wände tragen stumpf ihren sinnlos gewordenen Schmuck. In diesen Räumen schwebt an den strahlendsten Tagen beklommene Düsternis. Ich bin nur ungern hier. Aber was soll ich tun? Ich kann mich nicht entfernen.

Oft zieht es mich zu der Hütte des Sonntaghansel, die mit frohen Fenstern vom Berghang auf das Dorf hernieder lacht. Eine kleine Windmühle, auf einer Stange angebracht, treibt ihr lustiges Klapperwerk, dessen Lärm den Stoßvogel zu verschüchtern und von den Hühnern fernzuhalten hat. Die rührige Frau schafft im Stall, und der Mann bessert draußen ein Feldgerät. Die Großmutter aber sitzt mit dem Enkelbuben im Flur auf der untersten Staffel der Stiege, wo man in den halbdunkeln Boden emporschauen kann, in gelinder, wohliger Angst, es könne etwas Jenseitiges; herunter spähen, wenn die alte Frau raunend erzählt: »Wehe der Seele des Menschen, der einen Grenzstein ausgräbt und verrückt!«

Ich höre ihr zu und bin selber ein schauderndes Kind, wenn sie anhebt, von den sagenhaft schönen Frauen zu berichten, die mit langen, knisternden Seidenschleppen durch das Herrenhaus gerauscht vor langer Zeit, hundert Jahre kleckere kaum, und die mit gelben, geknickten Schirmen durch das Dorf gewandelt, und eine darunter habe nur gekochtes Wasser getrunken, und darum sei sie die Allerschönste gewesen, die man sich nur denken kann. Aber die Herrenleute müssten einen geheimen Frevel verübt haben, denn sie sind in die fremde Welt hinaus verspreut worden, und das Haus stehe nun wie ein finsterer Mensch da, leer und atemlos und in sich selber verstürzend.

Hernach redet die Großmutter von Gehöften, die ob einer menschlichen Sünde von Gott verflucht und vernichtet worden sind und sich nimmer erhoben haben. Und ganz leise erzählt sie von dem Dorf drunten: »Auch von Dürrnstauden heißt es, dass es einmal in lauter grauen Trümmern liegen wird wie das alte Schloss der Wuldagrafen. Dörner werden aus den Fenstern herauswachsen, auf dem Geröll werden Hollerstauden blühen, Krähen und Füchse werden da unterschlupfen. Schließlich wird kein Stein von dem Dorf und kein Bifang von den Feldern bleiben, alles wird glatte, grüne Wiese sein, die Geißen werden weiden darauf, und kein Mensch weiß, was einmal da gewesen. Nur der alte Birnbaum, der drunten an dem Kaspar Ruchlerhäusel wächst, der bleibt übrig.«

Der kleine Lauscher seufzt tief auf. Mir selber ist bang und gläubig ums Herz geworden. Aber der Sonntagmann tritt mit hellem Lachen in den Schatten herein und reckt die krachenden Arme und sagt: »Unser Häusel verfällt nit. Ich hab auf einem Felsen gebaut!«

 

Am Freitag vor Himmelfahrt 1907.

Heute früh hat die Hanichlerin das Vieh tränken wollen. Wie sie den Pumpenschwengel rührt, kommt ihr die Arbeit gar so gering vor. Sie pumpt und pumpt. Doch das Wasser bleibt aus. Der Brunnen ist leer.

 

Tags darauf.

Die Bauern müssen das Wasser vom Dorfbrunn holen. Die Hausbrunnen sind allsamt versiegt Die alten, treuen Brunnen, die seit undenklichen Zeiten nie versagt haben! Es herrscht ein großes Elend im Dorf. Das hat noch gefehlt. Die Baurinnen schreien und weinen. Die Männer sind ratlos. Eine Aufregung ist überall wie vor dem Weltuntergang.

Das Wasser muss einen unterirdischen Abfluss gefunden haben.

»Das verfluchte Bergwerk«, ächzt der Zuschröter.

 

Am Freitag nach Himmelfahrt.

Unstern über Unstern steigt über Dürrnstauden auf.

Gestern ist auch der Dorfbrunn ausgeblieben. Das ist ein Geheul der Verzweiflung! »Jetzt ist es aus mit uns!« schreit alles.

Auch der Teich ist leer. Und der Bach im Tal ist nimmer. Geröll und Schlamm zeichnen den Weg, den er einst geronnen. Verwesende Fische stinken. Die Mühle geht still. Das Mühlrad hängt in der Luft. Der Müller flucht, jetzt müsse ihm der Fürst eine neue Mühle schenken, oder er hänge sich auf.

Heute früh kommt der Bürgermeister zu mir, der Zuschröter. Er müsse sofort in die Bezirksstadt zu den Behörden gehen, damit diese auf der Stelle den Bergbau unter dem Dorf verbieten. Sonst werde das Unheil noch ärger. Ich schaue den Bauer verwundert an und weiß nicht, was ich fünftes Rädlein am Wagen damit zu schaffen habe. Da drückt er sich den Hut tiefer ins Gesicht und bittet mich, ich möge ihm für diesen Gang ein Paar Stiefel borgen. Er hebt den Fuß und zeigt mir die löcherige Sohle. »Ich geh schon auf dem deutschen Erdboden«, sagt er. Da habe ich ihm gleich den Wunsch erfüllt.

Zu dir also kommt man schon, alter Herr Reif! Bin ich denn schon der Reichste, der Beneidenswerteste unter ihnen? Hat Dürrnstauden wieder nur ein einziges Paar Stiefel wie vor Zeiten?!

 

Eine Woche später.

Was fruchten alle Amtshandlungen, Redereien und Schreibereien, was nützt Klage und Verfluchung? Das lebendige Wasser zaubern sie nimmer her. Die Erde hier ist quellenlos worden und zerstört.

Man schwätzt von einer Röhrenleitung, die die Brunnen des Hohenriederberges ins Dorf führen soll. Aber die Brunnen sind droben spärlich worden und unverlässlich, seit der Wald so vernunftlos dort abgetrieben worden ist. Und wer bringt in Dürrnstauden noch das Geld für ein solch kostspieliges Unternehmen auf? Und der Fürst dürfte es schwerlich auf eigene Faust tun. Man müsste einen langwierigen Prozess gegen ihn anstrengen. Aber auch dazu langt es nimmer.

Eine Abordnung sachverständiger Männer hält sich eben im Dorf auf. Die Amtsherren sehen verwundert die zerrissenen Mauern, die absinkenden Gärten hinter den Häusern, die geborstenen Zäune, die klaffenden Äcker. Die Bauern fuchteln mit den Händen herum; die Bäuerinnen weinen in die Schürzen; die Amtsgesichter werden immer wichtiger und bedenklicher; die Brillen funkeln.

Auch der Spindelhirn ist wieder einmal nachschauen kommen. Die argen Gerüchte haben ihn angelockt. Er kriecht in das trockene Brunnenkar hinein und schreit: »Jetzt seid ihr windig dran, ihr Bauern! Jetzt könnt ihr nit einmal einen Frosch erhalten. Ja, ja, Dürrnstauden ist eine Hochschule für Bettelleut worden!«

Der Vertreter des Fürsten wehrt sich gegen die scheltenden Bauern. »Euer Wasser rinnt uns in das Bergwerk«, sagt er und meint es wohl nicht ernst. »Wir sollten eigentlich von euch Schadenersatz verlangen!« Zank und Zorn erheben sich. Zum Schluss einigen sie sich, dass »allenfallsig«– so steht es in dem Befund – die fürstliche Verwaltung sich herbeilassen werde; einen noch zu bestimmenden Beitrag zum Bau einer Wasserleitung auszuwerfen.

Der Spindelhirn hat sich kopfschüttelnd wieder getrollt, nachdem ihm von den Leuten eine gehörige Tracht Prügel angetragen worden war. »Es ist keine Kleinigkeit, wenn das Ross in der Wiege liegt!« hat er zum Abschied gesagt.

 

Tags darauf.

Die Änderung des Ortsnamens ist bewilligt worden. Jetzt, wo andere, schwerste Sorgen zu tragen sind und wo es gar nicht mehr passt, jetzt fliegt der Erlass ins Dorf. Das Gesuch ist wahrscheinlich irgendwo, in einer Kanzlei verworfen, und neuerdings gefunden und dann – in Hinblick auf die löbliche Geduld der Anwärter – schleunigst erledigt worden. Dürrnstauden führt jetzt amtlich den Namen Reichenerd. Es ist wie ein bis aufs Spitzigste ausgeklügelter Spott.

 

Die Nacht darauf.

Erst habe ich das Träumen verlernt und nun das Schlafen. Der liebe, befreundete Baum draußen rauscht nimmer, die Stimme des vertrauten Brunnens hat aufgehört. Ich werde immer einsamer. Die letzten Freunde sind dahin.

Nur das Käuzlein flattert zuweilen ans erleuchtete Fenster. Es ist neugierig, wie weit es mit mir schon ist. Ach, bald taumelt die letzte müde Flamme nieder und kehrt heim in die Asche.

Was lebe ich noch dieses Leben? Die alte, edle Zeit ist vorüber. Die Freiheit, oder was man also nennt, ist ja gekommen. Aber unter ihrem ausgesteckten Banner ist die Welt nicht besser worden: sie ist fast nur mehr wandernde Ware und gleitendes Geld.

 

Ein Maientag 1907.

Ich sitze wieder auf dem Achtundvierziger Stein. Meine Chronik von Dürrnstauden habe ich mir mitgenommen, ich blättre darin und denke zurück und füge noch ein paar Zeilen hinzu. Ich muss über meinen eigenen Ernst lächeln, der sich heute da gebärdet, als kritzelte ich meinen letzten Willen nieder.

Heute hat es mir nicht geringe Mühe bereitet, den Berg zu ersteigen. Ich bereue es aber nicht. Das geliebte Tannengebirge schaue ich rings in seiner schlichten Größe. Wolkenbrücken wölben sich weiß und feierlich. Klarheit bricht aus der Höhe. Das Licht weht freundlich auf mich hernieder, wärmt mich und macht mich froh. Vögel nähern sich und entfliegen; das Gras steht still und jung; die frischbelaubten Bäume schimmern. Ein Reh wandelt vorbei.

Vogel, Reh, Gras und Baum! Tier und Blume und Fels und Ferne, alles ein sanfter Einklang, alles selig und unlösbar ineinander gebunden in rätselhaftem Schicksal! Die Nähe Gottes und seiner Geschöpfe, wie tut sie wohl! Meine Seele tritt wieder über die Ufer, ergriffen wie in jungen Jahren einst.

Wahrhaftig! Die Welt ist schön und würdig aller Liebe und wert, dass gute Menschen darauf wandern. Wie heilig der Spätglanz der sinkenden Sonne sie verklärt!

Mein Leben! Trägt es einen Sinn in sich? – Gott weiß es. Du kleiner Mensch, versöhne dich mit der ewigen Weisheit, die auch dich gebraucht hat zu ihrem großen, verschleierten Zweck!

Wie abendklar ist alles um mich, wie friedeschwer! Wohlig Müde schmiegen sich meine Glieder an den moosigen Fels. Mir ist, hier müsste ich ruhen in freudiger Rast, wie ich einst als Verfolgter hier traurig gelegen bin, und müsste noch einmal die lebendigen Sterne erwarten und steigen sehen und unter dem erhabenen Himmel hier mit Gott sprechen und dann schlafen.

O Welt, du blühest, du währest, du verwehest! Dein Schicksal umhegt getreulich auch den Weg eines irren, unwissenden Menschen.

*

 

Nachwort

Der einstige Rebell Engelbert Reif wurde von einem Wildschützen auf einem Felsen in der Nähe des Ortes Dürrnstauden tot aufgefunden.

Die Blätter, darauf mit den zarten, schmalen Zügen seiner Hand einige Jahrzehnte aus dem Leben seines unglücklichen Dorfes festgehalten sind, wurden neben dem Verblichenen im Grase gefunden und werden hier veröffentlicht.

Das Andenken des alten Mannes ist nur bei ganz wenigen Menschen noch wach. Seine Umwelt hat mit dem wunderlichen, stillen, grauen Menschen nichts anzufangen gewusst. Er ist schon bei Lebzeiten eine Zwielichtsage gewesen.

Sein unbetreutes Grab liegt vergrast wie der versinkende, verlassene Herrengarten zu Dürrnstauden. Ein armes, morsches Kreuzholz neigt sich über den Hügel. Es ist, als gäbe es auf der ganzen Welt kein so vergessenes Grab mehr.

Seine Seele ist aufgenommen in die Verschwiegenheit Gottes.


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