Jakob Wassermann
Die Schwestern
Jakob Wassermann

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Clarissa Mirabel

In der kleinen Stadt Rhodez, die im Westen der Sevennen liegt und vom Flusse Aveyron bespült wird, wohnte der Advokat Fualdes, ein unbedeutender Mann, weder gut noch böse. Trotz seinem vorgerückten Alter hatte er sich erst unlängst von den Geschäften zurückgezogen, und seine Vermögensumstände waren so zerrüttet, daß er im Anfang des Jahres achtzehnhundertsiebzehn seine Domäne La Morne veräußern mußte. Mit dem Erlös wollte er sich an einem stillen Fleck des Landes zur Ruhe setzen und von seiner Rente leben. Eines Abends, es war der neunzehnte März, erhielt er vom Käufer des Gutes, dem Präsidenten Seguret, den Rest der Kaufgelder in Papieren und Wechseln ausbezahlt und nachdem er die Dokumente in seinem Schreibtisch verschlossen hatte, verließ er das Haus und sagte der Wirtschafterin, er müsse noch einmal nach La Morne hinüber, um mit dem Pächter einige notwendige Abmachungen zu treffen.

Er kam weder nach La Morne, noch kehrte er in seine Wohnung zurück. Am andern Morgen sah die Frau eines Schneiders aus dem Dorfe Aveyron seine Leiche in einer untiefen Stelle des Flusses liegen, rannte nach Rhodez und holte Leute herbei.

Die felsige Böschung der Ufer war an jener Stelle senkrecht und über zwölf Meter hoch. Von dem schmalen Fußpfad, der aus Rhodez gegen die Weinberge führte, war ein großes Stück losgebröckelt; kein Zweifel, daß der unglückliche Mann dadurch in die Tiefe gestürzt war. Es hatte am Tage zuvor heftig geregnet, und das Erdreich oben war, nach dem Zeugnis einiger Winzer, schon längst locker gewesen. Auffallend erschien eine tief einschneidende Rißwunde am Hals des Toten; da aber aus dem Gestein des Abhangs überall scharfe schiefrige Platten hervorragten, erklärte sich eine solche Verletzung von selbst. Bei der Untersuchung der steilen Wand wurden keine Blutspuren an Stein und Erde gefunden; der Regen hatte alles abgewaschen.

Die Kunde des Ereignisses verbreitete sich rasch, und den ganzen Tag über standen fortwährend zwei bis dreihundert Rhodezer, Männer, Weiber und Kinder, an beiden Ufern und starrten mit einem Ausdruck der Lüsternheit und des selbstgeschaffenen Gruselns in die Tiefe der Schlucht. Es wurde erwogen, ob nicht etwa ein Irrlicht den alten Mann verführt habe. Eine Frau wollte mit einem Hirten gesprochen und dieser Hirt wollte einen Hilferuf vernommen haben; allerdings war das schon gegen Mitternacht gewesen und Fualdes hatte um acht Uhr das Haus verlassen. Ein dicker Töpfer bestritt, daß die Finsternis so dicht gewesen sei wie alle glaubten; er selbst sei um neun Uhr von La Valette her über die Felder gegangen und da habe der Mond geschienen. Ihn wies der Zollaufseher unwillig zurecht und bedeutete ihm, daß gerade gestern Neumond gewesen sei, man brauche ja nur den Kalender aufzuschlagen. Jener zuckte die Achseln, als wolle er sagen, in solchen Zeitläuften sei sogar dem Kalender nicht zu trauen.

Um die Dämmerungsstunde wanderten die Leute heimwärts, paarweise und in Gruppen, bald plaudernd, bald schweigend, bald streitend, bald geheimnistuerisch flüsternd. So wie argwöhnisch gemachte Hunde immer um dieselbe Stelle im Kreis herumrennen, schnappte ihre hungrige Begier nach neuer Erregung. Sie spähten mit aufmerksamen Augen vor sich hin, sie vernahmen mit wacheren Ohren jedes gesprochene Wort. Manche blickten einander mißtrauisch von der Seite an; wer Geld liegen hatte, versperrte seine Tür und überzählte es. Abends in den Weinkneipen wurde von den ungeheuern Reichtümer erzählt, die der geizige Fualdes im Lauf der Jahre aufgestapelt; das Gut La Morne habe er nur deswegen verkauft, weil er Scheu getragen, den Pächter Grammont, der sein Neffe war, mit den Rechtsmitteln zur Bezahlung der seit zwei Jahren fälligen Pachtsumme zu zwingen.

Das geredete Wort blieb lauernd auf der Lippe stehen und riß ein noch halbgedachtes mit. Unter den Bürgern galt es als eine ausgemachte Sache, daß Fualdes, der liberale Protestant, der ehemalige Beamte des Kaiserreichs, mit Drohungen gegen sein Leben verfolgt worden sei. Die verdüsterten Gedanken spannen emsig an dem Gespinst der Furcht. Die noch an einen Unfall glaubten, verschwiegen ihre Gründe, sie mußten sich hüten, daß nicht Verdacht auf sie falle. Schon wurde eine Reihe von Verbündeten bezeichnet, der feindlichen, drohenden, übermütig gewordenen Partei der Legitimisten entstammend. Der dunkle Haß deutete auf die Jesuiten und ihre Millionen als Urheber der ungewissen Tat. Wie oft hatte die Gerechtigkeit gezaudert, wenn die Macht der Mächtigen den Verbrecher beschirmte!

Die Frühlingssonne des nächsten Tages leuchtete in gespannte, aufgewühlte, suchende, zu langsamer Wildheit sich entflammende Gesichter. Die Royalisten fingen an, um Hab und Gut besorgt zu werden; um sich zu schützen, auch angesteckt vom allgemeinen Schauder, den das Unbekannte ausströmte, gaben sie zu, daß ein Frevel geschehen sei. Aber wie? und wo? und durch wen?

Ein Schuster hat gewöhnlich ein besseres Gedächtnis und einen geschäftigeren Geist als andere Leute. Der Schuster Escarboeuf pflegte bisweilen in der Versperstunde seine Nachbarn und Getreuen um sich zu versammeln. Er erinnerte sich genau dessen, was der Doktor beim Leichenbefund gesagt hatte; er war daneben gestanden und hatte es Silbe für Silbe gehört. »Das sieht ja beinahe aus, als ob der Mann geschlachtet worden wäre«; dies waren die verwunderten Worte des Doktors gewesen, während er die Verletzung am Hals untersucht hatte. »Geschlachtet? was sprichst du da, Mann?« fiel einer ein. »Ja, geschlachtet!« rief der Schuster triumphierend. – »Aber es soll doch Sand an der Wunde geklebt haben«, bemerkte ein junger Mensch schüchtern. – »Ach was, Sand, Sand!« eiferte der Schuster, »was beweist denn Sand!« – »Nein, Sand beweist gar nichts«, gaben alle zu. Und schon am Mittag hieß es in allen Häusern des Viertels: Fualdes ist geschlachtet worden, sie haben ihn abgeschlachtet. Das Wort gab den entzündeten Gehirnen ein Bild, den raunenden Zungen einen Hinweis.

Nun hatte ein unheimlicher Zufall es gefügt, daß der Nachtwächter an dem verhängnisvollen Abend vor dem Bancalschen Haus, das durch die finstre Quergasse de l'Ambrague vom Haus des Advokaten Fualdes getrennt lag, einen Stock mit Elfenbeingriff und vergoldetem Ring gefunden und in der Wachtstube abgegeben hatte. Fualdes' Wirtschafterin, ein altes taubes Weib, bezeichnete den Stock mit Sicherheit als Eigentum ihres Herrn; ihre Behauptung schien unwidersprechlich. Viel später stellte es sich heraus, daß der Stock einem durchreisenden Kaufmann gehörte, der mit einigen Dirnen die Nacht verlumpt hatte; aber jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit auf einmal und mit vorbereiteter Glut auf das übelberufene Bancalsche Haus, ein verfallenes, dumpfes Gebäude mit feuchten schmutzigen Winkeln. Früher hatte es ein Schlächter besessen, und auf dem Hof wurden noch Schweine gehalten. Es war ein Gelegenheitshaus und wurde allnächtlich von Soldaten, Schmugglern und verdächtigen Mädchen besucht; auch dichtverschleierte Damen und vornehme Herren huschten bisweilen dort ein und aus. Im Erdgeschoß wohnten außer dem Ehepaar Bancal der ehemalige Soldat Colard mit seiner Geliebten, die Dirne Bedos und der bucklige Missonier, oben hauste ein alter Spanier namens Saavedra mit seiner Frau, ein politischer Flüchtling, der in Frankreich Schutz gesucht.

 

Am Nachmittag des einundzwanzigsten März stand der Soldat Colard am Eck der Rue de l'Ambrague und blies auf der Flöte eine eintönige Melodie, die er von den Schafhirten der Pyrenäen gelernt hatte. Da kam der Krämer Galtier des Weges, blieb stehen, stellte sich als ob er zuhöre, unterbrach aber schließlich den Musikanten und sagte streng: »Was treibst du dich herum und gibst dich unwissend, Colard? Weißt du denn nicht, daß in euerm Haus der Mord geschehen sein soll?«

Colard schob den struppigen Schnurrbart von den Lippen und erwiderte, er und Missonier seien an dem Abend in der Weinwirtschaft bei Rose Feral gewesen, neben dem Bancalschen Haus. »Hätt' ich Lärm gehört,« sagte er prahlerisch, »so wär ich gekommen und hätte gerettet, denn ich habe zwei Gewehre, Herr.«

»Wer war denn sonst noch bei Rose Feral?« forschte der Krämer. Colard dachte nach und nannte Bach und Bousquier, zwei berüchtigte Schmuggler. »Die Strolche, sie mögen sich hüten,« sagte der Krämer, »und du, Colard, komm' mit, der arme Fualdes wird begraben, da ist es nicht in der Ordnung, Flöte zu blasen.«

Kaum waren sie auf die Hauptstraße gelangt, wo sich eine zahlreiche Menschenmenge angesammelt hatte» so gesellte sich plötzlich Bousquier zu ihnen, der ein seltsames Betragen zeigte, bald lachte, bald den Kopf schüttelte, bald blöde vor sich hinglotzte. Colard sah ihn scheu von der Seite an, und der Krämer, der an nichts andres dachte als an den Mord und in alledem die Kapriolen des bösen Gewissens zu sehen vermeinte, beobachtete den Mann scharf. Auch die Umstehenden wurden aufmerksam und jedem leuchtete es sogleich ein, daß, wenn irgendwer von dem in Bancals Haus geschehenen Verbrechen wissen könne, dies Bousquier sei. Der aufgeregte Galtier fragte ihn geradezu und mit lauter Stimme. Bousquier war angetrunken, der ungewohnte Menschentumult berauschte ihn noch mehr, er schien verlegen, empfand sich aber zugleich als wichtige Person. Erst tat er so, als wollte er nur ungern herausrücken, dann erzählte er mit feierlicher Umständlichkeit, daß er in der Mordnacht von einem Tabakhändler in blauem Rock gerufen worden sei; dreimal habe der Unbekannte nach ihm geschickt, dann sei er gekommen, habe einen schweren Ballen tragen müssen und sei mit einem Goldstück bezahlt worden.

Schon während des Redens rann der Schrecken über das Gesicht des schwatzhaften Menschen; er wurde sich der Bedeutung seiner Worte langsam bewußt. Die Zuhörer hatten einen dichten Kreis um ihn gebildet, und eine schmetterndschrille Stimme erschallte aus dem Haufen: »Sicherlich hat die Leiche in dem Ballen gesteckt!«

Bousquier schaute beklommen drein. Er mußte immer wieder von neuem anfangen, und die gespannt auf ihn gehefteten Blicke zwangen ihn zur Erfindung neuer kleiner Einzelheiten, wie daß der Tabakshändler plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden sei und daß er eine schwarze Maske vor dem Gesicht gehabt habe. »Wohin hast du denn die Leiche tragen müssen?« fragte Galtier mit aufeinandergepreßten Zähnen. Bousquier schwieg entsetzt, dann, durch die vielen drohenden Augen eingeschüchtert, erwiderte er leise: »Gegen den Fluß hinaus.«

Zwei Stunden später war er verhaftet und hinter Schloß und Riegel gesetzt. Noch am selben Abend wurde er vor den Untersuchungsrichter, Monsieur Jausion, geführt, und wie nun der Unselige gewahrte, daß es Ernst wurde, daß sein Geschwätz zum Zeugnis werden sollte, daß jedes seiner Worte aufgeschrieben ward und daß er dafür einstehen müsse mit der Freiheit, ja vielleicht mit dem Leben, da packte ihn die Angst. Er leugnete die Geschichte mit dem Tabakshändler und dem schweren Ballen, und als der Richter zornig wurde, verstummte er ganz. In die Kerkerzelle zurückgebracht, verfiel er in dumpfes Brüten. »Nur frisch darauf los, Bousquier,« redete ihm der Wärter zu, »man darf die Herren nicht langweilen; wenn du störrisch bist, wirst du böse Nächte zu überstehen haben.«

Bousquier schüttelte den Kopf. Der Wärter holte einen dicken Folianten herbei, und da er selbst des Lesens unkundig war, rief er einen andern Gefangenen, und dieser mußte die Gesetzesstelle vorlesen, wonach derjenige, der einem Verbrechen gezwungenermaßen beigewohnt und es freiwillig bekenne, mit einem Jahr Gefängnis davonkomme. Der Wärter hielt die Laterne neben das ledergelbe Gesicht des Vorlesers und nickte Bousquier ermunternd zu. Bousquier leierte ein Vaterunser vor sich hin. In großer Unruhe und nach einem Ausweg aus der Bedrängnis irrend, sagte er endlich, es sei alles so gewesen, wie er zuerst erzählt, aber der Tabakshändler habe ihm nicht ein Goldstück gegeben, sondern nur ein paar Silbermünzen. Er wiederholte das Geständnis vor dem Richter, der ungeachtet der späten Stunde gerufen wurde.

Am nächsten Morgen wußte ganz Rhodez, Bousquier habe gestanden, daß Fualdes im Bancalschen Haus abgeschlachtet und daß die Leiche in der Nacht zum Fluß getragen worden sei. Auf einmal öffneten sich Lippen, denen bisher die Furcht ein Siegel auferlegt hatte. Jemand, dessen Name nicht zu erfahren war, wollte vor dem Haus des Kaufmanns Constans schleichende Schatten gesehen haben; auch hatte er beobachtet, daß sie wenige Schritte weiter Halt gemacht und zur Beratung zusammengetreten waren, worauf er selbst, das Gräßliche ahnend, entfloh. Es wurde vergeblich nach diesem Zeugen geforscht, dessen Stimme hinter andern Stimmen so schnell verklang und der doch, wie mit unsichtbarer Hand, die erste Skizze zu dem Bild des nächtlichen Todeszuges entworfen hatte. Jede Phantasie malte im stillen daran weiter; man sah die Leiche selbst auf der Tragbahre; die Bahre ward mit einer Deutlichkeit beschrieben, als stellte sie das Merkmal der geheimnisvollen Tat vor; ein Tischler zeichnete sie sogar mit großen Kreidestrichen auf die Mauer des Rathauses. Eine an Schlaflosigkeit leidende Dame gab an, sie sei in jener Nacht am Fenster gesessen und habe trotz der Dunkelheit Bancal sowie den Soldaten Colard erkannt, welche die Bahre an den zwei vorderen Stangen trugen. Ferner habe sie den Arbeitsmann Missonier, der den Zug beschloß, fluchen gehört. Vor dem Richter vernommen, geriet sie in ein widerspruchsvolles Wesen, was mit ihrer begreiflichen Erregung entschuldigt wurde. Die Worte waren einmal da; welches Gewicht sie tragen mußten, lag in der Gewalt und Sonderbarkeit der Umstände; das Leichtgesprochene wog im Ohr des zufälligen Hörers schon schwer wie eigene Schuld, so daß er sich der Last zu entledigen trachtete und es weitergab, als brenne es ihm die Zunge wund, falls er im geringsten zögerte. Vielleicht war es diese Schlaflose, vielleicht der namenlose Mund der Fama selbst, welche das Gemälde der Mordkarawane um die Gestalt eines großen, breitschultrigen Mannes bereicherte, der mit einer Doppelflinte versehen war und dem Zug als Anführer vorausschritt. Nun hatte das graue Gewebe einen Mittelpunkt und erhielt eine Art Beleuchtung und Belebung durch die wahrscheinliche und ergründbare Ruchlosigkeit eines einzelnen. Noch zwölf Stunden, und jedes Kind wußte um die genaue Anordnung des nächtlichen Zuges: erst der große starke Mann mit der Doppelflinte, dann Bancal und Colard und Bach und Bousquier, die Bahre tragend, dann der bucklige Missonier als Aufpasser und Nachhut. Bei den letzten Häusern der Stadt wurde der Weg zum Flusse schmal und abschüssig; es war nicht Raum genug für zwei Leute nebeneinander, Bousquier und Colard mußten den Leichnam allein tragen, und Bousquier war es, nicht Missonier, der bei diesem Anlaß fluchte, so laut fluchte, daß der Lizentiat Coulon davon aus dem Schlaf erwachte und nach seinem Diener rief. An der steilen Stelle vor den Weinbergen wurde der Körper des Toten losgewickelt, ins Wasser geworfen und als dies geschehen war, legte der große starke Mann den Teilnehmern mit vorgehaltenem Gewehr ewiges Stillschweigen auf.

Durch diese Handlung trat der Unbekannte mit der Doppelflinte völlig aus dem Nebel des Sagenhaften und des bloßen malerischen Dabeiseins; aus seiner drohenden Gebärde quoll Licht über das Vergangene. Was nach dem Mord geschehen war, hatte nun Umriß und Bewegung. Aber hatte kein Auge den armen Fualdes auf seinem letzten Gang begleitet, hatte niemand gesehen, wie er ahnungslos sein Haus verlassen und, vielleicht munter vor sich hinpfeifend, durch die finstre Rue de l'Ambrague gegangen war, in welcher die Mordgehilfen sicherlich auf der Lauer standen? Doch. Derselbe Lizentiat, den Bousquiers Fluch aus dem Schlummer geschreckt, hatte den Greis um acht Uhr abends in das Gäßchen einbiegen sehen und kurz darauf war ihm jemand mit Eile gefolgt, ob ein Mann oder eine Frau, dessen konnte sich Herr Coulon nicht entsinnen. Ferner meldete sich ein Schlossergeselle, der vor dem Haus des Bürgermeisters Leute gewahrt hatte, die einander Zeichen gaben. Das Haus des Bürgermeisters lag zwar in dem entgegengesetzten Teil der Stadt, das aber kam bei einer so weit versponnenen Verschwörung wenig in Betracht, hatte man doch das Zeugnis eines Kutschers, der um elf Uhr in der Rue des Hebdomadiers zwei Leute unbeweglich stehen sah. Jetzt erinnerten sich viele Bewohner dieser Straße, daß sie beständig flüstern, räuspern und rufen gehört hatten, natürlich ohne in ihrer damals arglosen Stimmung sonderlich darauf zu achten. Es war eine ausgemachte Sache, daß an allen Ecken Wächter postiert waren, ja man hatte sogar eine weibliche Schildwache im Torweg des Zunfthauses bemerkt. Der Schneider Brost behauptete, das Flüstern oder Seufzen deutlicher als alle anderen gehört zu haben; er hatte dann das Fenster geöffnet und sah fünf oder sechs Leute ins Bancalsche Haus gehen, darunter auch den großen starken Mann. Geraume Weile später hatte sein Nachbar beobachtet, wie man einen Menschen über das Pflaster schleppte; er hatte geglaubt, es sei eine Dirne, die man betrunken gemacht, und hatte weiter keinen Sinn dahinter gesucht. Viel bedeutungsvoller als so verworrene Gerüchte schien es, daß noch zwischen neun und zehn Uhr ein Leiermann auf der Rue des Hebdomadiers seine Orgel gedreht hatte. Die Absicht war klar: das Todesgeschrei des Opfers sollte übertönt werden. Es stellte sich bald heraus, daß es zwei Leiermänner gewesen sein mußten, von denen einer, ein Krüppel, am Prellstein vor der Rue de l'Ambrague gehockt war. Freilich war an jenem Tage Jahrmarkt in Rhodez gewesen und die Anwesenheit von Leiermännern hätte deshalb nichts Rätselhaftes gehabt, wenn die späte Stunde sie nicht dem Argwohn preisgegeben hätte. Einige nannten sogar die Mitternacht als Zeit ihres Spiels. Es wurde nach den Musikanten gefahndet und die Dörfer der Nachbarschaft wurden nach ihnen abgesucht, doch sie waren ebenso spurlos verschwunden wie der verdächtige Tabakhändler.

An demselben Vormittag, an dem das Bancalsche Haus durchsucht wurde und ein Polizist im Hof ein weißes Tuch mit dunklen Flecken fand, wurden das Bancalsche Ehepaar, der Soldat Colard, Bach und der Arbeitsmann Missonier festgenommen und mit Ketten beschwert ins Gefängnis gebracht. Stumpf hinstierend saßen die fünf Menschen auf dem Leiterwagen, der sie durch die Straßen fuhr, und den die Volksmenge schwatzend, fluchend und fäusteballend umgab. Im Nu hatte sich die Nachricht von dem gefundenen Tuch verbreitet; daß die Flecken darauf Blutflecken waren, unterstand keinem Zweifel; daß es dazu gedient hatte, Fualdes zu knebeln, war selbstverständlich.

Indes hatte Bousquier, in seiner armseligen Lage allen Halt verlierend, von Verhör zu Verhör gejagt, durch Drohungen geängstigt, durch Hunger gefoltert, durch Freiheitshoffnungen und trügerische Versprechungen verführt, täglich mehr und mehr gestanden. Ihn trieb der Wärter, ihn trieb der Richter, denn dieser handelte unter der Ungeduld und Wut des Volkes und unter dem Gefabel der Zeitungen wie unter einer Peitsche. Bousquier schien verstockt; der Vorhalt seiner früheren Erzählungen, die nun seine Gläubiger waren und ihm immer höhere Wucherzinsen der Lüge erpreßten, genügte schon, ihn kirre zu machen. Er schien müde, er schien unfähig, dem, was er wahrgenommen, Worte zu verleihen, was er gehört, zu beschreiben, – Monsieur Jausion unterstützte ihn durch Fragen, in denen die geforderte Antwort enthalten war.

So gab er zu, daß er ins Bancalsche Haus gekommen sei und daß die Eheleute Bancal, der Tabakshändler, der Soldat Colard, der Schmuggler Bach, zwei junge Frauenzimmer und eine verschleierte Dame im Zimmer gewesen seien. Je mehr Personen er nannte, einen je versöhnlicheren Ausdruck zeigte das Gesicht des Richters, und wie vor den Rachen eines hungrigen Tieres warf er gleichmütig Brocken um Brocken hin. Er mochte sich wohl aus andern Nächten der bunten Gesellschaft in Bancals Stube entsinnen, und so erschien ihm die Person der verschleierten Dame als eine Zutat, die seinen Kredit steigern konnte. Aber Monsieur Jausion fand, daß eine wichtige Figur fehle, und er fragte mit Strenge, ob Bousquier nicht jemand vergessen habe. Bousquier erschrak und überlegte. »Besinne dich gut, Bousquier,« drängte der Richter, »was du verschweigst, kann zum Strick für deinen Hals werden. Also sprich: war nicht auch ein großer starker Mann zugegen?« Bousquier sah ein, daß diese neue Person dazu gehöre. Schattengestalt auf Schattengestalt, zuchtlos und abenteuerlich, tauchte in seinem zerrütteten Kopf empor, und er mußte die Puppen spielen lassen, um seine Peiniger zu befriedigen. Auf die Frage, wie der große starke Mann ausgesehen und wie er gekleidet gewesen, antwortete er: »wie ein Herr.«

Und nun hieß es erzählen, den Schauplatz beleben. Auf dem großen Tisch in Bancals Zimmer lag nicht etwa der Ballen Tabak, um dessentwillen er gerufen worden, sondern eine Leiche. Er wollte fliehen, da eilte ihm der große starke Mann nach und bedrohte ihn mit der Pistole.

Der Richter schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Mit der Pistole?« fragte er. »Denke nach, Bousquier, war es nicht vielleicht ein Gewehr? war es nicht eine Doppelflinte?« Gut denn, dachte Bousquier wütend, wenn man auf eine Flinte versessen ist, kann es auch eine Flinte gewesen sein; er nickte, als fühle er sich beschämt, und fuhr fort, daß er, solchermaßen am Leben bedroht, in Bancals Stube bleiben und den Helfershelfer machen mußte. Der Tote wurde in ein leinenes Tuch gewickelt, mit Stricken umwunden und auf die Tragbahre gelegt. Diese Tragbahre war mit Hilfe des Gefängniswärters in Bousquiers Phantasie bis zur Vollkommenheit vorbereitet. Doch als er nun den Leichenzug beschreiben sollte, verlor der gemarterte Mensch die Besinnung, und wie er am späten Abend noch einmal zum Verhör geführt wurde – selten versagte die Nacht und das Kerzenlicht im öden Saal seine gespenstigen Wirkungen – da leugnete er wider Erwarten alles ab, weinte, schrie, betete und benahm sich völlig sinnlos. Um ihn zu ermutigen und zu beruhigen, griff Monsieur Jausion zu einem ebenso einfachen als kühnen Mittel; er sagte nämlich, Bach und Colard hätten heute gleichfalls ein Geständnis abgelegt, und es sei erfreulich, daß ihre Angaben mit denen Bousquiers übereinstimmten; wenn er sich nun vernünftig benehme, so sollte er bald das Gefängnis verlassen dürfen.

Bousquier stutzte. Je länger er überlegte, einen je tieferen Eindruck machte ihm das Vernommene. Sein Gesicht wurde bleich und am ganzen Leibe wurde ihm kalt. Es war wie wenn ein wüster Traum plötzlich unleugbares Wachen wird oder wie wenn jemand, der in halber Trunkenheit die erlogene Geschichte eines Unglücks erzählt und mit jeder neuen Einzelheit gewaltiger ins Lügen verwoben wird, plötzlich erfährt, daß sich alles in Wirklichkeit so zugetragen. Eine wunderliche Schwermut nahm von ihm Besitz, ihm graute vor dem Alleinsein in seiner Zelle und er spürte Angst vor dem Schlaf.

In fieberhafter Gier hatte ganz Rhodez den Angaben Bousquiers gelauscht. Endlich erhielt die Gestalt des Unbekannten mit der Doppelflinte Nähe und Greifbarkeit. Daß er ausgesehen wie ein Herr, stachelte die Wut des Volkes, und die legitimistische Partei, die sich zumeist aus den Reichen und Vornehmen zusammensetzte, begann zu zittern. Wahrscheinlich wurde in ihrer Mitte zum ersten Mal der Name genannt, der erst vorsichtig, dann ungescheut, dann anklagend von Mund zu Mund lief und über dem die Wetterwolke, die sich aus einem Nebelstreif gebildet hatte, blitzezuckend stille stand. Es war bekannt, daß Bastide Grammont, der Pächter von La Morne, trotz seiner Verwandtschaft mit dem Advokaten Fualdes in Feindseligkeit oder doch in der drückenden Abhängigkeit eines Schuldners zu dem Alten lebte. Jedermann wußte oder glaubte doch zu wissen, daß es oft stürmische Auftritte zwischen Oheim und Neffen gegeben hatte. War das nicht genug? Dazu das herrische Temperament und herbe Wesen Bastides, der rasche Verkauf von La Morne und eine wohlgegliederte Kette kleiner Verdachtsmerkmale, wer durfte noch zweifeln?

Der unermüdliche Schmied, der da irgendwo in den Lüften oder unter der Erde am Werk war, sorgte dafür, daß der Ring des Verderbens sich schloß und warb mit tückischer Laune seine Gesellen auf allen Gassen, bei hoch und niedrig. Am Vormittag des neunzehnten März waren Fualdes und Grammont auf der Promenade von Rhodez auf- und abgegangen. Eine Trödlerin hatte gehört, wie der Junge zum Alten sagte: »Also heute abend um acht Uhr.« Ein Maurer, der an einem Neubau Sand schaufelte, hatte vernommen, wie Monsieur Fualdes ausrief: »So hältst du mir Wort?« Worauf Bastide Grammont erwiderte: »Beruhigen Sie sich, heute abend werde ich Ihnen die Rechnung machen.« Der Musiklehrer Lacombe erinnerte sich deutlich, wie Bastide dem Alten mit zornfinsterem Gesicht zugerufen: »Sie treiben mich zum Äußersten.« Das zufällige Geschwätz eines Schwätzers gewann im geschäftigen Hörensagen dieselbe Wichtigkeit, wie die ehrlich bewiesene Wahrnehmung, und was etwa vorher oder nachher geredet worden, vermischte und verknüpfte sich zu frecher Willkür. So wollte Professor Vignet, eines der Häupter der Royalisten, gegen sieben Uhr abends, kurz vor dem Mord, in einen Obstladen gekommen sein und dort einen Kollegen getroffen haben. Er erzählte, daß er Bastide Grammont gesehen habe, der in ziemlicher Eile an ihm vorübergegangen war. Er behauptete, ausgerufen zu haben: »Finden Sie nicht, daß Grammont ein unheimliches Gesicht hat?« Worauf der andere bejahte und erwiderte, man müsse sich vor dem Manne hüten. Es meldeten sich Zeugen, die dieses Gespräch bestätigten. Es meldeten sich Zeugen, die Bastide vor dem Bancalschen Hause gesehen haben wollten; er habe mehrmals einen scharfen Pfiff ausgestoßen und sich dann in den Schatten geduckt.

Seit fünf Jahren hauste Bastide Grammont auf La Morne. Er war vielleicht der einzige Mann im ganzen Bezirk, der sich niemals um Politik bekümmerte und allem Parteitreiben fernblieb, und diese stolze Unabhängigkeit gab ihn dem Übelwollen, ja dem Haß seiner Mitbürger preis. Als einmal in Rhodez eine Kundgebung für die Bourbonen stattfinden sollte und die Straßen von einer aufgeregten Menge erfüllt waren, ritt er auf seinem Apfelschimmel gravitätischkühl durch die erhitzten Gruppen und lächelte den beleidigten wilden Blicken, die ihn trafen, mit Geringschätzung entgegen.

Man erzählte, daß er seine Jugend und ein beträchtliches Vermögen in Paris vergeudet habe und daß er von dort menschensatt in die Heimat zurückgekehrt sei. Seine Gepflogenheiten deuteten auf einen das Absonderliche liebenden Geist. In früheren Jahren war ein gelehrter Pater der benachbarten Benediktinerabtei oftmals bei ihm zu Gast gewesen; es hatte geschienen, als ob der stille Mann und Menschenkenner an dem ungebundenen Wesen und der heidnisch-brünstigen Naturvergötterung des Einsiedlers Bastide seine heimliche Freude habe; aber als Bastide eine Näherin aus Alby, die hübsche Charlotte Arlabosse, gewaltsam entführt hatte und in wilder Ehe mit ihr lebte, mußte der Benediktiner, dem Befehl seiner Oberen gehorchend, den Verkehr abbrechen.

Von da an verzichtete Bastide überhaupt auf jeden vertraulichen Umgang. Er hatte keinen Freund, wünschte keinen Freund. Hochmütig schloß er sich ab; der Anblick eines neuen Gesichts machte seine Züge fremd und kalt; den Leuten aus der Gesellschaft begegnete er mit verletzender Gleichgültigkeit. Vielleicht war es nur die Furcht vor Enttäuschung, wenn er sich auch dem herzlichsten Werben schroff versagte, denn es lag bisweilen in der Tiefe seines Auges die Sehnsucht selbstungewisser Liebe. Hart werden, weil unerfüllte Ansprüche die Seele beschweren und verdunkeln, einsam bleiben, weil überhebender Stolz sich scheut, das erglühte Herz frei darzubringen und ohne Gerechtigkeit sein, aus Scham und mißverstehendem Trotz, das war vielleicht sein Los und sicher seine Schuld.

Tagelang trieb er sich mit seinen Hunden in den Tälern der Sevennen herum. Er sammelte Steine, Pilze, Blumen, fing Vögel und Schlangen, jagte, sang und fischte. Ging ihm etwas in die Quere und war sein Blut in Wallung, so nahm er das feurigste Pferd aus dem Stall und ritt etwa über die gefährlichen Felsenpfade nach Rieux. Im Winter, in kalter Morgenstunde, sah man ihn im Wasser des Flusses baden, in schwülen Sommernächten lag er nackt und fiebernd unter freiem Himmel. Er behauptete dann, er sähe die Sterne tanzen und fühle die Erde zittern. Um die Zeit der Weinlese war er, ohne je zu trinken, wie im Rausch; er veranstaltete Feste mit Musik und Fackelzügen und machte den Schutzpatron aller Liebesverhältnisse unter dem Winzervolk. Bei langdauerndem schlechten Wetter wurde er blaß, schlaff und überempfindlich, verlor Schlaf und Appetit und geriet in plötzliche Wutanfälle, die der Schrecken seiner Leute waren; bei einer solchen Gelegenheit fällte er einmal mit der Axt ein halb Dutzend der herrlichsten Bäume im Garten, die er, wie alle wußten, so leidenschaftlich liebte, als ob sie seine Brüder wären.

Daß bei seiner ungeordneten Verwaltung der Ertrag des Gutes von Jahr zu Jahr geringer wurde, war keinem erstaunlich als ihm allein. Er geriet in Schulden, aber davon zu sprechen oder daran zu denken, bereitete ihm den größten Widerwillen und was er dagegen unternahm, war eine regelmäßige Beteiligung an verschiedenen Lotterien, deren Ziehungstermine er stets mit kindlicher Ungeduld erwartete.

 

Als das Gericht, der unüberhörbaren Meinung und Anklage des Volkes gehorchend, die Verhaftung Bastides anordnete, wußte dieser schon, was gegen ihn im Werke war. Er saß, mit einer Holzschnitzerei beschäftigt, unter einer mächtigen Platane, als die Huissiers auf dem Hof erschienen. Charlotte Arlabosse stürzte zu ihm und packte seinen Arm, doch er machte sich los und sagte: »Laß sie nur gewähren, die Eiterbeule ist schon lange reif.« Mit ironischer Grandezza trat er den Bewaffneten entgegen und rief: »Euer Diener, meine Herren.«

Die Bewohner von La Morne wurden einem strengen Verhör unterworfen. Nach Bastides eigener Angabe war er am Nachmittag des neunzehnten März nach Rhodez geritten; um sieben Uhr abends sei er schon bei seiner Schwester im Dorfe Gros gewesen, dort habe er übernachtet, sei am Morgen nach La Morne zurückgekehrt, dann auf die Nachricht vom Tode des Oheims wieder nach Rhodez geritten und habe sich ungefähr eine halbe Stunde lang in Fualdes Haus aufgehalten. Seine Schwester bestätigte, daß er die Nacht in ihrem Hause verweilt habe, und fügte hinzu, er sei im Gespräch besonders heiter und liebenswürdig gewesen. Auch die Magd, die ihm aufgewartet und das Bett bereitet hatte, sagte aus, daß er sich um zehn Uhr schlafen gelegt habe.

Diesen Zeugen wurde nicht geglaubt, ja sie wurden bald darauf als verdächtig in Haft genommen. Von den Leuten auf La Morne schwatzte der eine dies, der andere das. Um nur irgend etwas zu sagen und nicht als Dummköpfe oder Mitschuldige dazustehen, verwickelten sie sich in Reden von bedeutungsvoller Dunkelheit, und so äußerte ein Diener, daß die graue Stute des Herrn, wenn sie zu sprechen vermöchte, von sauren Ritten in jener Nacht erzählen könnte. Die Mägde faselten oder vergossen Tränen, Charlotte Arlabosse entfloh sogar, wurde in den Weingärten ergriffen und ins Stadtgefängnis gebracht.

Bousquier und seinen Gefährten blieben diese Ereignisse keineswegs verborgen, ja es wurden ihnen geringfügige Umstände mit wichtiger Betonung mitgeteilt, um sie sicher zu machen und ihrem Gedächtnis nachzuhelfen. Hauptsächlich auf den Schmuggler Bach hatte es nun der Untersuchungsrichter abgesehen, den man zuerst wie auch das Ehepaar Bancal zu keiner Angabe hatte bewegen können. Er hatte Richter und Wärter mit heftigen Wutausbrüchen erschreckt und war zur Strafe und Bändigung in Ketten gelegt worden. Ohne es eigentlich zu wissen, litt dieser Mensch an ungeheurer Sehnsucht nach seiner Freiheit, denn er war das Muster eines schweifenden Vagabunden und Strolches. In einer Nacht, als er versucht hatte, sich durch Zusammenpressen der Kehle zu töten, machte ihn Monsieur Jausion mit den Geständnissen seines Kameraden Bousquier bekannt und ermahnte ihn, auch seinerseits der fruchtlosen Verstocktheit zu entsagen. Da verwandelte sich plötzlich das Benehmen des Menschen; er schien heiter, wurde mitteilsam und sagte boshaft grinsend: »Nun gut, wenn Bousquier viel weiß, so weiß ich noch mehr«. Und in der Tat, er wußte mehr. Er war ein Stotterer und nutzte dieses Übel aus, um Zeit zur Überlegung zu gewinnen, wenn die Einbildungskraft erlahmen wollte, und so oft er sich ins Gebiet des Märchenhaften verirrte, führte ihn der scharfsinnige Monsieur Jausion sanft auf die Straße der Wirklichkeit zurück.

Er erzählte also: Als er mit Bousquier ins Zimmer trat, saß der Advokat Fualdes auf einem Stuhl beim Tisch und mußte Wechsel unterschreiben. Der große starke Mann, Bastide Grammont nämlich, – kein Zweifel, es war Grammont; Bach vertraute darin den Mitteilungen des Richters und der beredsamen Fama – steckte die unterschriebenen Papiere in seine Brieftasche. Währenddessen kochte Frau Bancal einen Imbiß, Hühner mit Gemüse und Kalbfleisch mit Reis; eine wichtige Schattierung, durch welche die Kaltblütigkeit der Mörder bezeichnet wurde. Kurz vor acht Uhr kamen zwei Tamboure herein, aber das Gesicht des Wirts oder des fremden Herrn mißfiel ihnen, sie glaubten zu stören und gingen wieder, worauf das Haustor versperrt wurde. Doch wurde dann noch mehrmals gepocht; das verabredete Zeichen waren drei kurze Schläge mit der Faust und nach und nach kamen der Soldat Colard mit seiner Geliebten, der bucklige Missonier, eine vornehme verschleierte Dame mit grünen Federn auf dem Hut und ein Tabakshändler im blauen Rock. Der Hut mit grünen Federn war ein besonderer Beweis von Bachs Erfindungsgabe und stach malerisch glaubhaft ab von dem blauröckigen Tabaksmann.

Um halb neun Uhr brachte Frau Bancal ihre Tochter Magdalene in die Dachkammer zum Schlafen, und nun erklärte Bastide Grammont dem alten Mann, daß er sterben müsse. Das beschwörende Flehen des Opfers hatte keinen andern Erfolg, als daß ihn der starke Bastide ergriff und trotz seines heftigen Sträubens auf den Tisch legte, von welchem Bancal rasch zwei Brote wegnahm, die irgend jemand mitgebracht hatte. Fualdes schrie jämmerlich, man möge ihm einen Augenblick Zeit lassen, damit er sich mit dem Himmel versöhnen könne, doch Bastide Grammont entgegnete barsch: »Versöhne dich mit dem Teufel!«

Hier unterbrach Monsieur Jausion die Erzählung und fragte mit treuherziger Neugier, ob nicht vielleicht in diesem Moment eine Drehorgel vor dem Haus zu spielen angefangen hätte. Bach bestätigte es eifrig und fuhr in seinem Bericht fort, der nun ihm selber Spannung und Grauen verursachte: Colard und Bancal hielten dem Alten die Beine, während der Tabakshändler und Colards Geliebte Arme und Kopf packten. Ein Herr mit einem Stelzfuß und einem dreispitzähnlichen Hut hielt die Kerze hoch. Das Auftauchen dieser neuen Figur hatte etwas Unheimliches und wenn sie nichts darstellen sollte als einen die Schauer der Mordnacht vervollständigenden Schnörkel, so erfüllte sie ihren Zweck trefflich. Der kerzenhaltende Stelzfuß glich einem verruchten Schatten aus der Unterwelt, und es war nicht vonnöten, das schmale Kinn, das feixende Maul, das geisterhafte Auge besonders zu schildern.

Mit einem breiten Messer versetzte Bastide Grammont dem Alten einen Stich; durch eine übermenschliche Anstrengung gelang es Fualdes, sich loszureißen, er sprang auf, schon zu Tod verwundet, mit heiserem Gurgeln durch das Zimmer; Bastide Grammont ihm nach, umklammerte ihn, warf ihn abermals auf den Tisch, der Tisch wankte, ein Bein brach; nun trug man den Sterbenden auf zwei rasch zusammengerückte Bänke und Bastide Grammont stieß das Messer tief in seinen Hals. Mit dem letzten Seufzer des Greises kamen Bancal und seine Frau und fingen das herunterfließende Blut in einem irdenen Tiegel auf; was über die Dielen rann, scheuerten die Weiber ab. In den Taschen des Ermordeten fand sich ein Fünffrankenstück und mehrere Soustücke. Bastide Grammont warf das Geld in die Schürze der Bancal und sagte: »Nehmt! wir töten ihn nicht um dieses Geldes willen«. Es wurde auch ein Schlüssel gefunden, den steckte Bastide zu sich. Frau Bancal hatte Lust zu dem feinen Hemde des Toten und bemerkte lüstern, es sähe wie ein Chorhemde aus, doch lenkte man sie von ihrer Begierde ab, indem man ihr einen Amethystring von Fualdes Finger schenkte. Dieser Ring wurde am andern Tag von einem unbekannten Herrn gegen eine Entschädigung von zehn Franken wiedergeholt.

Als Bachs Erzählung mit ihrer ganzen Umständlichkeit und ihrer heuchlerischen Fülle seltsamer und einleuchtender Einzelheiten bekannt wurde, fehlte nicht viel und man hätte den phantasievollen Schurken wie einen Erlöser gefeiert. Die Entrüstung nährte den Glauben und Kritik erschien als Verrat. Das Publikum, die Zeugen, die Richter, die Behörden, alle glaubten an die Tat und alle begannen mitzudichten. Bach und Bousquier, die einander gegenübergestellt wurden, stritten sich und einer schimpfte den andern Lügner; der eine wollte vor, der andere nach dem Mord ins Bancalsche Haus gekommen sein, der eine behauptete, zugegriffen zu haben, der andere wollte bloß die in ein Bettuch und mit Stricken umschnürte Leiche aufgeladen haben. Der blödsinnige Missonier bezeichnete noch eine Reihe anderer Personen, die er im Bancalschen Hause gesehen hatte, zwei Notare aus Alby und einen Koch. In der Kneipe der Rose Feral, wo allerlei schlechte Individuen verkehrten und alte Kriegstaten und Diebstähle zur Sprache kamen, wurde am Mordabend die Plünderung eines Hauses besprochen, das einem Liberalen gehörte. Dieses Gerücht war darauf berechnet, den Schrecken der ruhigen Bürger zu vergrößern, und daß sich nachher alle Verschwörer, auch wohlhabende Leute, in Bancals Wohnung einfanden, mochte weiter nicht auffallen. Alles stimmte in dem verworrenen und höllischen Gewebe, in den Kleidern des toten Fualdes war kein Geld, an seinen Fingern kein Ring gefunden worden; Grammont hatte noch am siebzehnten März den Gerichtsvollzieher im Hause gehabt und dieser Umstand, rechtzeitig emporgetrieben aus dem Lügensumpf, gab Sicherheit. Bastide war unrettbar verstrickt. Die Gefangenen untereinander gerieten in Bedrängnis durch die fühlbare Unruhe des Volkes; jeder erschien dem andern als schuldig, jeder gab, was man nur wissen wollte, vom andern zu, um sich selber zu entlasten; sie kannten ihr Schicksal nicht, sie verloren den Sinn für die Bedeutung der Worte, sie spürten nicht mehr sich selbst, ihren Leib, ihre Seele, sie fanden sich umspannt von einer unsichtbaren Klammer und jeder suchte sich auf eigene Rechnung zu lösen, ohne zu wissen, was er denn eigentlich getan oder unterlassen habe. Täglich fanden neue Verhaftungen statt, kein durchreisender Fremdling war seiner Freiheit sicher und nach einigen Wochen war halb Frankreich von dem Rausch der Wut, des Racheverlangens und der Furcht ergriffen. Aus den Gestalten des lächerlich-grauenvollen Mordgetümmels tauchte bald diese, bald jene deutlicher und wesenhafter empor, und am wichtigsten erschien schließlich, weil immer von neuem genannt, die verschleierte Dame mit den grünen Federn auf dem Hut; ja sie wurde allmählich zum Mittelpunkt und zur treibenden Gewalt der blutigen Handlung, vielleicht nur, weil ihre Herkunft und Existenz ein Geheimnis blieb. Von vielen Stimmen wurde Charlotte Arlabosse verdächtigt, aber sie konnte ihre Unschuld durch kaum angreifbare Zeugnisse erhärten, auch erschien sie als zu harmlos und zu sehr als das Opfer von Bastides tyrannischer Grausamkeit, um dem dämonischen Bilde der mysteriösen Unbekannten zu entsprechen.

Während Bach und Bousquier in einem Wetteifer, durch den sie ihr eigenes Verderben beflügelten, mit immer neuen Erfindungen die Behörde zur Milde bestachen und durch Bezichtigungen, zu welchen sie das unterirdisch ihnen zusickernde Gerede ermunterte, den trüben Quellen frische Nahrung zuführten; während der Soldat Colard und das Ehepaar Bancal infolge der harten Gefangenschaft, der unnachsichtigen Behandlung der Wärter und der folternden Verhöre in Delirien des Wahnsinns gestürzt wurden, so daß sie Dinge berichteten, welche selbst der an ein Übermaß schon gewöhnte Monsieur Jausion als Traumgeburten bezeichnen mußte; während die übrigen Häftlinge, haltlos zwischen eigenen Erlebnissen und krankhaften Visionen steuernd, immer einer den andern verdächtigte und heute widerriefen, was sie gestern beschworen, bald um Gnade winselten, bald sich trotzig verschlossen; während die Bewohner der Stadt, der Dörfer, der ganzen Provinz mit einem Fanatismus, dessen Feuer von dunklen Hütern bewacht und gespeist wurde, die Beendigung des langwierigen Verfahrens und die Bestrafung der Missetäter forderten; während endlich das Gericht in der unbeherrschbar anwachsenden Flut der Beschuldigungen und Verleumdungen Weg und Richtung verlor und im Begriffe war, ein Werkzeug in den Händen des Pöbels zu werden; – währenddessen war es den uferlosen Kräften gelungen, das Gemüt eines Kindes zu vergiften, welches als Zeuge auftrat gegen Vater und Mutter und das betörte Volk glauben machte, Gott selbst habe durch ein Wunder die Zunge einer Unmündigen gelöst.

Schon am Anfang war die elfjährige Magdalena Bancal vom Untersuchungsrichter befragt worden; sie hatte nichts gewußt. Darnach kam das Kind ins Hospiz, und auf einmal meldeten sich Personen, die von andern und diese, die wieder von dritten und vierten Personen gehört hatten, das Mädchen habe gesehen, wie man den alten Mann auf den Tisch gelegt und wie man ihrer Mutter Geld gegeben habe. Freilich ermittelte der Gerichtsrat Pinaud, der einzige Mann, der in dem wüsten Wirrsal Klarheit und Urteil behielt, daß Magdalena von dem Ökonomen des Hospizes, sowie von andern Leuten Geschenke erhielt; aber da war es schon zu spät, um die Wurzel der Lüge zu entdecken und zu töten. Immer fester wurde dem Kind seine erste Aussage eingeredet und die Erzählung erweiterte sich, je mehr man ihm Aufmerksamkeit schenkte und seiner Eitelkeit schmeichelte, so daß es in Wahrheit alles erlebt zu haben glaubte und sich in der Teilnahme und dem Bedauern der Erwachsenen wohl fühlte. Ihre Mutter hatte sie auf den Dachboden geführt, so berichtete Magdalena, aber dann war sie aus Furcht vor Kälte heimlich wieder heruntergeschlichen und hatte sich im Bett des Alkovens versteckt. Durch ein Loch im Vorhang konnte sie alles gewahren und belauschen. Als der Alte erstochen werden sollte, lief die Dame mit den grünen Federn entsetzt in die Kammer und suchte durchs Fenster zu fliehen. Bastide Grammont zog sie hervor und wollte sie umbringen. Bancal und Colard baten um Schonung für sie und sie mußten einen furchtbaren Eid schwören, der sie zum Schweigen verband. Ein wenig später sah Grammont, dessen Argwohn nicht stille wurde, auch im Bett nach. Magdalena stellte sich schlafend. Er betastete sie zweimal und sagte dann zur Mutter, sie möge sehen, sich des Kindes zu entledigen, was Frau Bancal um vierhundert Franken zu tun versprach. Am andern Morgen wurde das Kind von der Mutter aufs Feld geschickt, wo der Vater gerade ein tiefes Loch gegraben hatte. Sie glaubte, der Vater werde sie hineinwerfen, aber er umarmte sie weinend und ermahnte sie zur Frömmigkeit.

Wäre man auch jedes andere Zeugnis zu bezweifeln bereit gewesen, der Bericht des Kindes galt als unwiderleglich, und niemand fragte darnach, wie er zustande gekommen, wie man das unwillende Geschöpf umworben, bestochen und durch Beifall und Zärtlichkeit oder gar durch Furcht trunken gemacht hatte. Man zog aus seinen Schreckträumen Nutzen, indem man es nachts aus dem Schlaf zerrte; jeder neue Einfall war willkommen, das Mädchen glaubte etwas Vortreffliches zu leisten und gab sich immer bereitwilliger an seine Rolle. Solcherart formte sie Dinge aus dem Nichts heraus, die geeignet waren, auf das Fieberbild der Mordnacht ein wunderliches Wirklichkeitslicht zu werfen, zum Beispiel, wie die Mutter am Morgen mit demselben Messer Brot geschnitten hatte, mit dem der alte Herr erstochen worden war, und wie Magdalena das Brot zurückgewiesen hatte, weil ihr davor geschaudert; oder wie das im Tiegel aufgefangene Blut einem der Schweine zu trinken gegeben und wie das Tier darnach wild geworden und schreiend durch den Hof gerast sei.

Bastide Grammont ließ mit kalter Gelassenheit Verhör um Verhör über sich ergehen. Seine trocken-hochmütige Würde, sein spöttisches Lächeln, sein stummes Achselzucken setzten Monsieur Jausion nicht selten in Verlegenheit. Doch kam es wohl vor, daß er, von Ungeduld hingerissen, dem Richter kurzweg das Wort entriß und kühn und beredt an dem gebrechlichen und dennoch unzerstörbaren Bau der Indizien rüttelte.

»Falls es in meinem Plan und Interesse gelegen war, den Oheim ums Leben zu bringen, bedurfte es dann einer Verschwörung von so vielen Personen?« so fragte er etwa und die Verachtung machte seine Züge flammen. »Soll ich so dummschlau sein und mich mit Bordellwirten, Dirnen, Schmugglern, alten Weibern und abgestraften Verbrechern verbünden, Leuten, die zeitlebens meine Meister und Mahner geblieben wären, selbst wenn Stillschweigen zu ihren Tugenden gehörte? Läßt sich etwas Sinnloseres ausdenken, als einen Mann auf offener Straße zu ergreifen und ihn in ein ohnehin verdächtiges Haus zu schleppen? Wozu das alles? Gab es für mich keine bessere Gelegenheit? Konnte ich den Alten nicht auf das Gut locken, ihn im Wald erschießen und verscharren? Ich hätte ihn zum Unterschreiben von Wechseln gezwungen, – wo sind sie, die Wechsel? Sie müßten doch zum Vorschein kommen und mich bloßstellen. Sie sagen selbst, das Bancalsche Haus sei so verwahrlost, daß man von der Wohnung der Spanier durch die morschen Bretter in Bancals Stube blicken kann; warum hat dann Monsieur Saavedra nichts gehört? Aha, er hat geschlafen. Guter Schlaf das. Oder ist er auch im Komplott, wie meine Mutter, meine Schwester, meine Geliebte, meine treuen Diener? Und alles zugegeben, genügten nicht die Bancalschen Eheleute zur Hilfe, einen schwachen Greis zu töten und beiseite zu schaffen, mußte ich dazu ein halb Dutzend verdächtige Kerle aus den Kneipen holen? Warum hat mein Oheim nicht geschrieen? Er war geknebelt, schön; aber der Knebel ist auf dem Hofe gefunden worden. So hat er doch geschrieen, als der Knebel entfernt war, und ich habe die Leiermänner spielen lassen. Sehr geistreich, das mit den Leiermännern, aber solche Drehorgeln machen doch Lärm und locken Leute an die Fenster und auf die Straße. Und warum das Opfer schlachten, da so viele starke Männer es leicht hätten erwürgen können? Zeigen Sie mir den ärztlichen Befund, Monsieur, ob darin von einem Stich und nicht vielmehr von einem Riß die Rede ist. Und welches Geschwätz, das mit dem Leichenzug, welche verräterischen Anstalten in einem Land, wo jeder Grenzpfahl Augen hat! Man beschuldigt mich, am andern Morgen in meines Oheims Haus gestürmt zu sein und Papiere geraubt zu haben. Wo sind diese Papiere? Mein Oheim starb fast arm. Seine Forderung an mich ist an den Präsidenten Seguret übergegangen. Wozu also die Tat? Was will man von mir? Wer, der Augen hat, sieht meine Hände befleckt?«

Diese Sprache war herausfordernd. Sie erweckte den Unwillen des Gerichts und den gesteigerten Haß der Menge, die davon entstellte Kunde erhielt. Aus Angst vor dem Volk wagte kein Advokat die Verteidigung Bastide Grammonts zu übernehmen. Monsieur Pinaud, der allein den Mut hatte, auf die Unwahrscheinlichkeit und die abenteuerliche Herkunft der meisten Zeugenaussagen zu verweisen, hätte seinen Eifer für die Wahrheit fast mit dem Leben bezahlen müssen. Eines Nachts zog ein Pöbelhaufen, darunter auch Bauern, vor sein Haus, zertrümmerte die Fensterscheiben, demolierte das Tor und legte Feuer auf der Treppe an. Nur mit Mühe konnte sich der erschrockene Mann ins Freie retten, und er floh nach Toulouse.

Wohl erkannte Bastide Grammont, daß es für ihn zunächst keinen Widerstand gab; er entschloß sich, alle Tapferkeit in Geduld zu verwandeln und seine Lippen so zu verschließen, als ob sie die Türen wären, durch welche die Hoffnung entfliehen könnte. Er, der freieste der Menschen, mußte die strahlenden Tage des Frühlings, die duftigen Abende des Sommers in einem feuchten Loch zubringen, das den eigenen Atem ekel machte; er, zu dem die Tiere redeten, den die Blumen mit Augen anblickten, für den die Erde zu gewissen Zeiten etwas wie einen Glanz von Verliebtheit hatte, der zu gehen, zu schreiten, zu wandern, zu reiten wußte so wie Künstler entzückende Werke schaffen, er mußte, durch ein widersinniges Spiel unbegreiflicher Umstände bezwungen, den Vorgeschmack des Grabes kosten und entbehren, was ihm das innerste und eigenste des Lebens war. Häufig wurden die Nächte des Trotzes, wo der Blick überfloß und stumpf wurde im Gedanken der Schmach; häufiger die Tage nicht zu beherrschender Sehnsucht, wo jedes von der nassen Mauer bröckelnde Sandkorn an das wunderbare Wirken und Weben der Erde, der Wiese, des Waldes gemahnte. Von den Ereignissen, die sein Schicksal verdunkelt hatten, wandte er alles Nachdenken angewidert ab, und er hörte es kaum, als eines Morgens der Wärter erschien und ihm frohlockend mitteilte, daß die geheimnisvolle Unbekannte, welcher es bestimmt war, Haupt- und Kronzeugin zu werden, die Dame mit den grünen Federn endlich gefunden sei; sie habe sich selbst gemeldet und es sei die Tochter des Präsidenten Seguret, Madame Clarissa Mirabel.

Bastide Grammont blickte finster vor sich hin. Aber von Stund an umflatterte dieser Name sein Ohr wie der Flügelschlag des unabwendbaren Fatums.

 

So war es: Madame Mirabel hatte bekannt, daß sie während der Mordnacht im Bancalschen Haus gewesen sei. Doch geschah dies Geständnis im Drang eines sonderbaren Augenblicks, und es verfloß nicht so viel Zeit, wie das flinke Gerücht brauchte, um offenbar zu werden, da nahm sie alles wieder zurück. Aber das Wort war gefallen und zeugte Tat auf Tat.

Clarissa Mirabel war das einzige Kind des Präsidenten Seguret. Sie war auf dem Land erzogen worden, in dem alten Schloß Perrié, das ihr Vater beim Anbruch der Revolution gekauft hatte. Die politischen Stürme und die Unsicherheit der Zustände waren schuld, daß sie in ihrer Kindheit keines regelmäßigen Unterrichts genoß. Die tiefe Abgeschiedenheit, in der sie aufwuchs, begünstigte ihre Anlage zur Schwärmerei. Sie vergötterte ihre Eltern und in den bewegten Zeiten der Anarchie zeigte die erst vierzehnjährige Jungfrau an der Seite ihres Vaters einen solchen Opfermut und solche Hingabe, daß sie dadurch die Aufmerksamkeit des Oberst Mirabel erregte, der dann fünf Jahre später kam und um sie warb. Sie liebte ihn nicht, – kurz vorher hatte sie ein seltsam-romantisches Verhältnis mit einem Hirten der Gegend angeknüpft, – doch heiratete sie, weil ihr Vater es befahl. Die Ehe war nicht glücklich; nach drei Monaten trennte sie sich von ihrem Mann; der Oberst ging mit dem Heer nach Spanien. Als der Krieg zu Ende war, kam er zurück und ließ Clarissa sein Verlangen andeuten, daß sie bei ihm wohnen solle, doch weigerte sie sich, erklärte auch schriftlich ihre Weigerung, zornig darüber, daß er fremde Leute schickte, um mit ihr zu unterhandeln. Doch erfuhr sie, Mirabel sei verwundet, und dies änderte ihren Sinn. In der Nacht, auf verborgenen Wegen, unter umständlichen Förmlichkeiten wurde der Oberst ins Schloß getragen, und in einem abgelegenen Zimmer pflegte ihn Clarissa mit treuer Sorgfalt. Solange es geheim blieb, fesselte sie die neuartige Beziehung zu dem Mann als Liebhaber, doch die Mutter entdeckte alles und glaubte, der völligen Aussöhnung zwischen den Gatten stehe nichts im Wege. Clarissa wußte ihren Mann zu entfernen; in einem Gehölz beim Dorf hatte sie abendliche Zusammenkünfte mit ihm. Oberst Mirabel wurde aber des wunderlichen Treibens überdrüssig; er erhielt eine Anstellung in Lyon, starb aber kurz darauf an den Folgen seiner Ausschweifungen.

Jahre gingen hin; auch die Mutter starb und die Trauer Clarissas war so groß, daß sie tagelang nicht vom Grabe wich und nur durch den Einfluß des leichter getrösteten Vaters zu bewegen war, sich wieder in das einsam-leere Dasein zu fügen. Völlig sich selbst überlassen, ergab sie sich dem Genuß ungewählter Lektüre und ihre Wünsche richteten sich mit verborgener Glut auf große Erlebnisse. Sie brachte sich durch auffällige Neigungen und Gewohnheiten in das kleinstädtische Gerede; sie ließ Kinder und halbwüchsige Knaben und Mädchen ins Schloß kommen, deklamierte ihnen Verse und richtete sie zum Theaterspielen ab. Ihr zwangloser Charakter erweckte Feinde; sie sagte, was sie dachte, verletzte ohne böse Absicht, stiftete Verwirrung und Klatsch in aller Unschuld, übertrieb das Geringfügige und übersah das Große, gefiel sich zuweilen in Maskeraden, Verkleidungen und erdichteten Rollen und bezauberte doch wieder den Empfänglichen durch die Anmut ihrer Rede, die heitere Beweglichkeit ihres Geistes, das gewinnend Herzliche ihrer Manieren.

Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt; aber nicht nur, weil sie außerordentlich schlank, klein und zart war, sah sie aus wie ein achtzehnjähriges Mädchen, sondern es war auch in ihrem Wesen eine tiefe und ungewöhnliche Jugend, und wenn ihr Auge voll und nachdenklich auf einem Gegenstand ruhte, hatte es die Klarheit und träumerische Süße des Kinderblicks. Sie war gleichsam ein Erzeugnis der Grenze: südliche Lebhaftigkeit und nordische Schwere waren zu ruheloser Mischung gediehen; sie grübelte gern und wie ein Tierlein spielend, vermochte sie in Männern aller Art ein mit Scheu gemengtes Begehren zu erregen.

Von der Flut der Gerüchte über den Tod des Advokaten Fualdes blieb sie zunächst unberührt, obwohl ihr Vater durch den Kauf der Domäne La Morne mittelbar an den Ereignissen beteiligt schien und täglich neue Nachrichten ins Schloß getragen wurden. Der Vorfall war ihr zu verwickelt und alles was damit zusammenhing, roch so sehr nach Schmutz. Erst als der Name Bastide Grammonts genannt wurde, horchte sie auf, verfolgte die Dinge und ließ sich den geglaubten Hergang vom Vater oder von den Dienerinnen berichten, wobei sie mehr Teilnahme als Verwunderung bezeigte.

Sie wußte nichts von Bastide Grammont. Des ungeachtet fiel sein Name, kaum daß sie ihn gehört, wie ein Gewicht in ihr lauschendes Innere. Sie fing an, sich nach ihm zu erkundigen, unternahm heimliche Ritte nach La Morne und brachte den einen oder andern seiner Leute über ihn zum Reden, ja einmal gelang es ihr sogar, mit Charlotte Arlabosse zu sprechen, die um jene Zeit schon wieder in Freiheit war. Was sie vernahm, erzeugte in ihr ein eigentümliches, schmerzhaftes Staunen; ihr war zumut, als hätte sie eine wichtige Begegnung versäumt.

Dazu kam, daß sie sich plötzlich erinnerte, ihn gesehen zu haben. Er mußte es gewesen sein, wenn sie die verworrenen Schilderungen seiner Person nur halbwegs recht verstand. Es war ein Jahr zuvor gewesen, an einem frühen Morgen im ersten Frühjahr. Von der allgemeinen Unruhe gepackt, durch die der erwachende Lenz das Blut aufwühlt und den Schlaf schneller als sonst beendigt, hatte sie das Schloß verlassen und war zu Fuß über die Weinbergwege in das bewaldete Tal von Rolx gewandert. Und während sie durch die sonnebeglänzten, feuchten Gebüsche schritt, über sich das Jubeln der Singvögel und das glühende Blau der Himmelskugel, unter sich die wie ein Leib atmende Erde, hatte sie einen Mann von mächtigem Gliederbau gewahrt, der aufrecht dastand, barhäuptig, die Nase in der Luft und mit einer überirdischen Begierde, mit aufgerissenen Augen genoß, was eben zu genießen war: die Düfte, die Sonne, die berauschende Feuchtigkeit, den Glanz des Äthers. Er schien dies alles zu riechen, er schnupperte wie ein Hund oder wie ein Hirsch und indes sein nach oben gekehrtes Gesicht eine entfesselte, lachende Befriedigung zeigte, zitterten die herabhängenden Arme wie in Krämpfen.

Damals hatte sich Clarissa gefürchtet; sie war entflohen, ohne daß jener sie bemerkte, ohne daß er das Rascheln der Zweige und den Schall ihrer Tritte vernahm. Jetzt gewann das Bild eine andere Bedeutung. Oft wenn sie allein war, gab sie sich der Ausmalung jener Stunde hin: wie sie dem Sonderling entgegentrat, ihm durch ein tiefberechnetes Spiel von Fragen Antwort um Antwort von den trotzigen Lippen raubte und wie er dann, unfähig sich länger zu verstellen, aus eigenem Trieb sein Herz aufschloß. Und eines Nachts kam er auf wildem Pferd, drang ins Schloß, nahm sie und ritt mit ihr davon, so schnell, daß es schien, als sei der Sturm sein Diener und als sei das Roß vom Sturm beflügelt. Wenn die Rede bei Tisch oder in Gesellschaft auf Bastide Grammont kam und seine von allen unbezweifelte Mordschuld, beschäftigte sich Clarissa niemals mit dem Entsetzlichen der Tat, die einen solchen Mann auf ewig von der Gemeinschaft der Guten trennen mußte, sondern, umhüllt von wollüstigem Dunst, empfand sie die Wirkung seiner Kraft, das Heroische einer Gebärde, die Wahrheit einer Existenz und die Gewißheit von der erreichbaren Nähe jener Gestalt, die aus ihren bangen Träumereien nicht mehr weichen wollte. Sie erschrak über sich selbst, sie staunte in die gefürchteten Abgründe der eigenen Brust hinab und oft war ihr, als läge sie, sie selbst im Kerker und als ginge er, Bastide, draußen auf und ab und sinne auf Mittel, die Türe zu sprengen, während sein beflügeltes Pferd triumphierend wieherte.

Nun war sie versponnen in all das Reden., Raunen und Fabulieren und der ganze Knäuel von Scheußlichkeiten, in welchem Plan und Willkür unlösbar verwühlt waren, rollte stetig anwachsend auch vor ihren Weg. Es ergriff sie immer sonderbarer, und sie glaubte in vergifteter Luft zu atmen; sie ging durch eine Straße in Rhodez und wähnte aller Augen Rechenschaft fordernd auf sich gerichtet, so daß sie ihren Schritt beschleunigte, bleich und verwirrt nach Hause eilte und mit stockenden Pulsen vor einem Spiegel stille stand.

Vor nicht langer Zeit war sie auf dem Gut einer Familie zu Gast gewesen, die ihrem Vater befreundet war. Eines Tages geriet der Herr des Hauses, ein Gelehrter, über den Verlust einer wertvollen Handschrift in Unruhe und Sorge. Die Dienstleute wurden aufgeboten, jeden Raum zu durchstöbern, doch eines Diebstahls wurde niemand verdächtigt. Clarissa geriet nach und nach in einen qualvollen Zustand; sie bildete sich ein, man beargwöhne sie; in jedem Wort spürte sie den Stachel, in jedem Blick eine Frage, mit Angst und Eifer nahm sie am Suchen teil, schon hatte sie Fiebergesichte von Kerker und Schande, wollte zum Vater eilen, ihre Unschuld beteuern, – da fand sich plötzlich die Handschrift unter alten Büchern, Clarissa atmete auf wie von Todesgefahr errettet und nie zuvor war sie so witzig, gesprächig und hinreißend liebenswürdig gewesen wie in den darauffolgenden Stunden.

Als in der Phantasie der Menge mit den übrigen bei der bestialischen Abschlachtung des armen Fualdes Beteiligten die Dame mit den grünen Federn zu immer deutlicherer Gestaltung erwuchs, wurde Clarissa von einer Bestürzung erfaßt, mit der sie anfangs nur spielte, wie um sich auf einem Ungefähr zu erproben oder auf einer Möglichkeit zu schaukeln, gleich einem Knaben, der mit angenehmem Gruseln die gefrorene Decke eines Flusses auf ihre Festigkeit prüft. Sie verschlang die Berichte der Zeitungen. Das zaghafte Tändeln ward zu einer plagenden Vorstellung, hauptsächlich durch den Umstand, daß sie einen Hut mit grünen Federn wirklich besaß. Daran konnte nichts Auffälliges gefunden werden. Die Mode erlaubte es, grüne, gelbe oder rote Federn zu tragen; trotzdem wurde der Besitz des Hutes für Clarissa zur Qual. Sie wagte nicht mehr, ihn zu berühren, ihr schien, als seien die Federn mit einem blutigen Schimmer umhüllt und schließlich versteckte sie ihn in einer Rumpelkammer unter dem Dach.

Sie beschäftigte sich mit Reiseplänen, wollte nach Paris, aber der Entschluß wurde täglich wieder wankend. Indessen kam der Juni. Eine wandernde Theatergesellschaft kündete in Rhodez Vorstellungen an, und ein Offizier namens Clemendot, der Clarissa seit langem mit Liebesanträgen verfolgte, von ihr aber seiner Gewöhnlichkeit und offenbaren Roheit halber stets kühl, ja bisweilen schimpflich zurückgewiesen worden war, brachte ihr ein Billet und lud sie ein, mit ihm gemeinschaftlich das Theater zu besuchen. Sie lehnte ab, doch in letzter Stunde hatte sie Lust hinzugehen und mußte es dulden, daß sich Kapitän Clemendot nach dem Aufgehen des Vorhangs auf den leeren Platz zu ihrer Rechten setzte.


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