Jakob Wassermann
Erzählungen
Jakob Wassermann

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Golowin

Der halbe Mai war mit der Reise von Tula in den Kaukasus vergangen. Am siebzehnten kam Maria von Krüdener in Kislawodsk an, wo sie Nachrichten von ihrem Gatten zu finden hoffte. Er war bei Ausbruch der Revolution an die englisch-russische Front nach Persien geflüchtet. Seit fünf Monaten hatte sie kein Lebenszeichen von ihm.

Unfern von Kislawodsk war die Besitzung seines Bruders, des Marschalls. Ihm hatte Alexander Botschaft senden gewollt, wenn die andern Wege der Mitteilung versperrt waren.

Mit ihren vier Kindern und drei Dienerinnen bezog sie Wohnung im Palasthotel. Das jüngste Kind lag noch an der Brust; sie nährte es selbst. Es war drei Monate nach der Trennung von Alexander geboren; hätte sie vorher nicht begriffen, was ein Pfand bedeutet, jetzt wußte sie es.

Beklemmend stand das ungeheure Gebirge da. Sie konnte nicht schwelgen in seinem Anblick, es war zu sehr Mauer, und Mauer hinter Mauer bis zum ewigen Schnee hinauf. Wie sollte man da entrinnen? Schlimm, was gewesen war; das Blut hatte sich noch nicht beruhigt. In der ersten Nacht träumte sie, Fäuste, ein Gewirr von Fäusten strecke sich ihr entgegen, und jede Faust hatte Mörderaugen. Die Schnittwunde am Arm ließ die Szene im Eisenbahnwagen nicht vergessen, als tierisch betrunkene Soldaten das Coupéfenster zerschmetterten; acht Menschen waren in dem Abteil eingepfercht und Berge von Gepäckstücken, alles Hab und Gut, das man aus Tula hatte fortschaffen können. Die Kinder schrien auf, als zwei Kerle schnaubend an der Tür rissen und andere johlend nachdrängten; Dymow war in einen Waggon nebenan gegangen, um ein Fleckchen zu finden, wo er endlich eine Stunde schlafen konnte. Maria hatte den ersten Hieb aufgefangen und war blutend unter die Leute getreten. Sie wichen zurück, zu ihrer eigenen Überraschung, und senkten scheu die Augen, als ströme eine Magie von ihr aus. Es war ihr selbst so zumute; sie glaubte an eine in ihr verborgene Magie.

Dennoch wäre sie ohne Dymow verloren gewesen. Iwan Dymow hatte als Schreiber bei Gericht gedient; einfacher Mensch aus dem Volk, hatte ihn die Revolution hinaufgehoben, er hatte Macht erlangt, die er aber nicht mißbrauchte. Als Gutsherrin hatte ihm Maria, schon Jahre vorher, menschliches Wohlwollen bezeigt und während einer Krankheit seinem Weibe Hilfe geleistet. Sie dachte nicht mehr an ihn, aber in der Stunde der Gefahr kam er von selbst. Er besorgte Pässe, bestach den Soldatenrat, wußte den Argwohn der Bauern abzulenken, denen die Herrin eine wichtige Geisel war, räumte alle Schwierigkeiten für die Reise hinweg, machte den Spion, den Aufpasser, den Lastenschlepper, den Bürgen, mit immer gleicher schweigender Ehrerbietung gegen Maria. Als er sich in Kislawodsk von ihr verabschiedete, fragte sie bewegt, arm an Worten sogar sie, womit sie ihm danken könne, sie fühle sich tief in seiner Schuld. Er antwortete: »Ich werde mich glücklich schätzen, Maria Jakowlewna, wenn Sie mir manchmal schreiben, wie es Ihnen und den Kinderchen weiter ergangen ist.«

War dies nicht auch Teil und Frucht jener Magie?

Als Dame der ersten Gesellschaft, Frau eines Offiziers, Trägerin eines großen Namens, wurde sie von den Gästen des Hotels mit Freuden begrüßt und mit Auszeichnung behandelt, obwohl man wußte, daß sie von deutscher Herkunft war und Russin erst seit ihrer Heirat.

Nun war sie wieder, nach langer Enthaltung, unter den Menschen ihrer Sphäre, in der Region von Heiterkeit und umgrenzter Übereinkunft, die ihr früher so gemäß und erwünscht gewesen war. Aber sie merkte bald, daß nur noch eine äußerliche Zugehörigkeit bestand und daß die Jahre, die sie auf dem Gut verbracht, erst mit Alexander und dann allein, und wenn auch allein, so doch noch unter seinem Gesetz und seiner Führung, sie an ein anderes Maß und eine andere Benützung der Zeit gewöhnt hatten. Auch konnte hier niemand in seinem Bereich verbleiben; die Elemente waren bedenklich gemischt, und dies zu verhindern war unmöglich, weil gemeinsames Schicksal alle zueinander trieb. Das Haus, der ganze Ort, ehemals ein Treffpunkt der Aristokratie und Schauplatz des erlesensten Luxus, glich einer Insel der Schiffbrüchigen und beherbergte lauter Flüchtlinge mit ihrer letzten Habe und letzten Hoffnung, Großfürsten und Kammerherren neben Spekulanten und Journalisten, Frauen der exklusivsten Moskauer und Petersburger Kreise neben Koketten und Kleinbürgerinnen, die im Krieg zu Reichtum gelangt waren. Sie waren der Hölle entronnen, aber sie wußten, daß ihnen bloß eine Galgenfrist geschenkt war. Sie zitterten vor der Zukunft, aber sie praßten und feierten Feste. Sie hörten von Hinrichtungen ihrer Väter, ihrer Brüder, ihrer Freunde, aber sie betäubten sich im Hasard und tanzten Tango und Onestep.

Einen verläßlichen Mann zu finden, den sie mit einem Brief auf das Gut des Marschalls schicken konnte, war Marias Bemühung sogleich. Zu ihrer Freude erfuhr sie, daß Josef Menasse in Kislawodsk sei, er hatte von ihr ebenfalls gehört und kam, sich zu ihrer Verfügung zu stellen. Er war Prokurist eines großen Odessaer Bankhauses, mit welchem Alexander von Krüdener geschäftliche Verbindung gehabt hatte. Da sie sich erinnerte, aus Alexanders Mund hie und da das Lob von Menasses Redlichkeit vernommen zu haben, war ihr Vertrauen sogleich unbedingt und auch in der Folge nicht zu erschüttern. In lebhaften Ausbrüchen klagte er ihr sein Unglück; einer wichtigen Transaktion halber war er vor mehreren Wochen hergekommen; am Tage, wo er hätte abreisen sollen, fuhren keine Züge mehr, und jeder Versuch, den Ort zu verlassen, hieß das Leben gefährden. Maria hörte ihm teilnehmend zu, und erst als er sich erschöpft hatte, sprach sie von ihrer Angelegenheit. Er überlegte, sagte, er werde Umschau halten, und drei Stunden später erschien er mit einer Tscherkessin, die er trocken und kategorisch als die zu dem Zweck taugliche Person empfahl.

Der Marschall hatte seinerzeit die Heirat des jüngeren Bruders mißbilligt. Es war zum Bruch zwischen den Brüdern gekommen, der Marschall zeigte sich unversöhnlich und hatte sich starr geweigert, Maria zu sehen. Man meldete ihm die Geburt der Kinder, er nahm keine Notiz davon. Alexander hatte es ertragen, ohne zu murren, und ließ auch in Maria keinen Unmut Wurzel fassen, denn er beugte sich vor dem Bruder als einem überlegenen Charakter, dessen Handlungen und Entschlüsse er von seiner Kritik ausschaltete. Er beugte sich, damit war alles gesagt und auch in Maria jeder Widerspruch erstickt. Bei Ausbruch des Krieges hatte der Marschall in einem Privatschreiben an den Zaren seine Ämter tind Würden niedergelegt, da nach seiner Überzeugung der Krieg gegen Deutschland zum Verhängnis für Rußland werden mußte. Er hatte im japanischen Krieg glänzende Leistungen vollbracht, und schon deshalb war dieser Schritt keiner üblen Deutung ausgesetzt. Nun lebte er in äußerster Zurückgezogenheit und beschäftigte sich, leidenschaftlicher Hegelianer, mit profunden philosophischen Studien.

Wie sich Menschen gegen sie verhielten, war Maria gleichgültig, wenn sie ihrerseits an ihnen Freude haben oder sie ehren konnte. Würde stand ihr über den täuschenden Einflüsterungen der Sympathie. Dazu hatte Alexander sie erzogen. In vielen Gesprächen vieler Nächte hatte er ihr bewiesen, daß das Prinzip der Vergeltung die Quelle alles Bösen sei. In der Befolgung seiner Lehre war sie zu der ihr eigentümlichen geistigen Konstanz gelangt. Der Brief an den Marschall war ein Meisterstück unbefangener Werbung.

So wartete sie, wartete auf Alexanders Wort und Weisung von dorther und ahnte doch die Vergeblichkeit schon. Um sich zu zerstreuen, begann sie, den ältesten Sohn, den siebenjährigen Mitja, zu unterrichten, fand sich aber unzureichend, das Bedürfnis des Knaben heftiger als sie vermutet und suchte einen Lehrer für ihn. Ein Moskauer Bekannter nannte ihr einen Studenten, Jefim Leontowitsch Tatjanow, der in einem geringen Wirtshaus vor der Stadt wohnte. Sie ließ ihn kommen und engagierte ihn. Er war im Gefolge eines Industriellen als Sekretär oder dergleichen gereist; unterwegs waren der Mann und die meisten seiner Leute von einer herumziehenden Bande von Soldaten ermordet worden; nun saß Jefim Leontowitsch völlig mittellos in diesem Ort des Überflusses. Maria behandelte ihn mit Rücksicht und mit Achtung; dies schien ihm neu zu sein, und seine Dankbarkeit hatte etwas Kindliches. Er kam nicht nur zu den ausbedungenen Stunden, sondern widmete seinem Schüler alle freie Zeit; auch die beiden Kleinen, Fedja und Aljoscha, zog er durch seine einfache Güte an sich.

Eines Morgens war Aljoscha, der Mutter im Korridor vorauseilend, in der Hast in ein falsches Zimmer gerannt. Maria folgte ihm lachend; er stand bei einer majestätisch gewachsenen Dame, die ihr entgegentrat und ihr die Hand reichte. Es war die Fürstin Nelidow. Maria geriet in Verlegenheit, ihres Lachens halber, denn die Fürstin war in tiefer Trauer, und die Ursache war Maria bereits bekannt. Ihr Sohn, der dreiundzwanzigjährige Fürst Grigorji, Offizier in der kaiserlichen Marine, hatte sich vor wenigen Tagen bei einem Ausflug im Gebirge erschossen.

Die Fürstin, eine Frau Mitte der Vierzig, war noch sehr schön. Sie gab sich Maria gegenüber herzlich. Sie kannte Alexander von Krüdener von der Zeit her, wo er im Ministerium gewesen war, und sprach mit Wärme von ihm. »Ihre Gegenwart tut mir wohl«, sagte die Fürstin, »ich hoffe, wir werden uns häufig sehen.« Sie schlang ihren Arm um Aljoscha und streichelte ihm das Haar. »Heute abend feiern wir das Totenmahl für Grigorji«, fuhr sie fort; »kommen Sie doch; kommen Sie zu mir.«

Maria empfand Mitleid; nicht nur mit der Fürstin und ihrem besonderen Schicksal; das Mitleid mit allen diesen Menschen überflutete ihr Herz. Namentlich den Frauen galt ihr bedauerndes Gefühl; die sorglosen und glänzenden Wesen, bestimmt, sich zu schmücken, sich zu freuen, schienen ihr verloren.

Sie wollte gehen, aber die Fürstin hielt sie noch zurück. So schickte sie Aljoscha hinaus. Die Fürstin erzählte: »Hören Sie, was sich begeben hat. Es ist eine Person hier, sie wohnt im Hause, eine gewisse Lisaweta Petrowna. Sie behauptet, mit Grigorji verheiratet gewesen zu sein. Kurz vor seiner Abreise aus Sebastopol, behauptet sie, sei sie ihm angetraut worden. Sie hat keinerlei Dokumente, keine Bestätigungen, keinen Brief; die Papiere habe man ihr gestohlen, redet sie sich aus. Sie hat sich mir zu Füßen geworfen, hat mir die Hände geküßt und mich Mutter genannt. Den ganzen Tag sitzt sie oben in ihrem Zimmer und weint und schluchzt. Dann schickt sie wieder den Kellner mit Zettelchen: Erbarmen Sie sich, Fürstin, erbarmen Sie sich Ihrer Lisaweta Petrowna, erbarmen Sie sich. Ich kenne sie nicht. Ich weiß nichts von ihr. Grigorji hat nie mit einer Silbe ihrer erwähnt. Wir haben sie vorher nie gesehen. Ihre Angaben zu prüfen ist unmöglich. Was soll man da tun? Erbarmen, wie denn erbarmen? Wahrscheinlich hat sie kein Geld; nun, man wird ihre Rechnung bezahlen. Gestern spielte sich eine abscheuliche Szene ab. Sie kommt herein, setzt sich zu den andern und fängt an zu weinen. Meine Nichte Jelena steht auf und nennt sie eine Lügnerin. Lisaweta Petrowna ballt die Fäuste, wirft sich auf den Boden und verfällt in einen Schreikrampf. Man mußte sie mit Gewalt aus dem Zimmer schaffen. Heute früh hat man sie ohnmächtig auf Grigorjis Grab gefunden. Sie hat einen Selbstmordversuch gemacht, so heißt es. Jelena meint, es sei simuliert. Jelena ist außer sich, das arme Kind. Was soll man da sagen, was soll man tun?«

Maria beschloß sogleich, diese Lisaweta Petrowna zu besuchen, aber sie äußerte nichts von ihrem Vorsatz, sondern lenkte das Gespräch auf den jungen Fürsten und fragte nach Einzelheiten seines Lebens, ohne Neugier, mit einem zarten Durchblickenlassen des gemeinsamen Gefühls der Mütter. Die Fürstin willfahrte dankbar; es bedeutete Linderung für sie, indes Maria aus wenigen mitgeteilten Zügen ein Bild gewann. Sie saß still und aufmerksam vor der Fürstin, rauchte eine Zigarette und sah und sah. Die Gabe des inneren Gesichts wurde manchmal Last, und doch schien es ihr wunderbar, viel zu wissen von den Menschen. Als sie sich verabschiedete, sagte die Fürstin: »Mir ist, als seien wir seit Jahren befreundet.« Maria lächelte.

Im Verlauf des Tages erlangten die beunruhigenden Gerüchte Gestalt, und zwar drohendste. Kislawodsk war von den Revolutionstruppen umzingelt. Mitja sagte mit dem stolzen Trotz, der an seinen Vater erinnerte: »Nicht wahr, Mama, wir werden unser Leben so teuer wie möglich verkaufen?« Sie erwiderte: »Ja, mein tapferer Liebling.« – »Schade, daß Iwan Dymow nicht mehr bei uns ist«, seufzte er. Aber sie tröstete ihn. »Erstens bist du ja selbst ein Held, und dann vergißt du, daß wir Jefim Leontowitsch haben.« Mitja schaute den Studenten prüfend an, dieser errötete und sagte mit einem Blick scheuer Ergebenheit auf Maria: »Sie haben nur zu befehlen. Befehlen Sie, und ich gehorche.« Es lag ein Ernst und eine Festigkeit in den Worten, die Maria veranlaßten, ihm die Hand hinzustrecken, die er demütig mit den Lippen berührte.

Was sollte mir zustoßen können, dachte sie, da gute Menschen um mich sind?

Als sie sich am Abend den Nelidowschen Gemächern näherte, drang ihr Gelächter, Johlen, Pfropfenknallen, Gläserklirren entgegen. Eine Streichmusik spielte eine brutal-wilde russische Melodie. Sie öffnete die Tür zum Salon; zehn oder zwölf junge Männer, Anverwandte der Familie, saßen um eine Tafel, zechten, sangen, rauchten; bisweilen erhob sich der eine oder andere und warf den Musikanten Rubelscheine zu. Maria ging in das nächste Zimmer; hier befanden sich einige ältere Herren und Damen, aber auch ein junges, etwa achtzehnjähriges Mädchen von blendender Schönheit. Sie hatte kurzes gelocktes Haar, eine Haut von opalisierender Blässe und gelbliche, große, unsehende, strenge Augen. Fasziniert blieb Maria stehen. Da wurde sie von der Fürstin Nelidow gerufen, die in ihrem Schlafzimmer allein saß. »Ich habe auf Sie gewartet«, sagte sie, als Maria eintrat; »setzen Sie sich zu mir, sprechen Sie; ich höre Ihre Stimme gern.«

Vom Salon herüber, wo so expressiv das Totenmahl gehalten wurde, tönte ein klagender Chorgesang.

In ihrem Bestreben, den abgeirrten, in Trauer verirrten Sinn der Fürstin zu erwecken, kam sich Maria wie jemand vor, der sich in einem fremden, finstern Raum zurechtzufinden sucht. Die Fürstin schaute sie beständig an, aber nur nach und nach belebte Verstehen den Blick. Maria erzählte von der Einsamkeit der letzten Monate auf dem Gut, von Wanjas Geburt und wie sich während der Schmerzensnacht die Sehnsucht nach Alexander zur Gestalt verdichtet habe, so täuschend, daß sie jeden Schrei erstickt habe, um ihm nicht zu mißfallen. Bei allem, was sie getan und gedacht, sei er unsichtbar richtend gegenwärtig gewesen. Sie erzählte von ihrem Verkehr mit den Bauern; von dem Geist der Widersetzlichkeit und der Feindschaft, der plötzlich in alle gefahren sei; auch die Sanftesten und Verständigsten hätten versagt. Eines Tages hatten sie ihr Besitzrecht an dem Wald verkündet; der Wald sollte abgeforstet und verkauft werden. Sie habe unterhandelt; vergebens; ihnen ins Gewissen geredet; vergebens; da sei sie allein mit den ältesten in den Wald gegangen, wo die schlimmsten Aufrührer schon begonnen hatten, die Stämme zu fällen. Einem von diesen habe sie das Beil entrissen und ihm zugerufen: Keinen Schlag mehr! Sie habe ihnen vorgestellt, was für eine Sünde sie begingen; wie sie sich an Heiligem vergriffen, an Lebendigem, und wie sie das Gedächtnis ihres Herrn schändeten, der gerecht und gütig gegen sie gewesen sei. Viele hätten gemurrt, viele hätten aber geschwiegen und zur Erde geblickt. Sie habe ihnen gesagt, ein Baum sei eine Kreatur Gottes wie jeder von ihnen, und dieses seien junge Bäume, in Liebe gepflanzt und gehegt, zur Nutznießung bestimmt für ihre Kinder und Kindeskinder und noch nicht reif für die Axt. Ob sie Gottes Kreaturen verschachern wollten um elendes Geld? Dann sollten sie doch auch sie selber verschachern, dann wollte sie ihre Herrin nicht mehr sein, und sie werde nicht vom Platze weichen, ehe sie ihr nicht in die Hand gelobt, daß sie den Wald würden unversehrt lassen, oder sie müßten sie selber niederschlagen. Darnach hätten sie sich beraten, und die ältesten seien zu ihr gekommen und hätten ihr in die Hand gelobt, dem Wald sollte kein Fäserchen gekrümmt werden und sie bäten sie um Vergebung ihrer Sünde. So habe sie damals den Wald gerettet; ob er jedoch heute noch stehe, das getraue sie sich nicht zu sagen.

Die Fürstin nahm Marias Hand und drückte sie. »In diesem Land leben heißt jede Stunde dem tückischsten Ungefähr ausgeliefert sein«, sagte sie; »oder ist das überhaupt die Eigenschaft des Lebens, und wir wußten es nur bisher nicht, wir Begünstigten? Mir ist jetzt manchmal so bang. Ich persönlich habe ja nicht mehr viel zu verlieren, aber mir ist so bang um alle, die ich sehe, bang um das Volk, um die ganze Menschheit, wenn auch die Mehrzahl nichts als Böses schafft.«

»Es kommt wahrscheinlich auf die Mehrzahl nicht an«, erwiderte Maria; »es kommt immer bloß auf den einzelnen an, glaube ich. Der einzelne ist oft wie der wundertätige Tropfen Medizin, der einen vergifteten Organismus heilt. Immer geht von einem das Licht aus. In Tula mußte ich mit meinen Kindern Quartier im Hotel nehmen; der Zug nach dem Süden fuhr nur zweimal in der Woche. Gleich in der ersten Nacht war Alarm. Das Hotel war von Soldaten besetzt worden, und alsbald wurde der Befehl ausgegeben, alles Bargeld sei unverzüglich abzuliefern, niemand dürfe das Zimmer verlassen, um acht Uhr morgens werde eine scharfe Nachsuchung sein und jeder, bei dem dann noch irgendeine Summe sich finde, werde standrechtlich erschossen. Bedenken Sie meine Lage; ich hatte achtzigtausend Rubel am Leibe vorborgen, alles was ich hatte flüssig machen können; wenn man es mir nahm, war ich samt den Kindern so gut wie verloren. Meine Dienerinnen und den treuen Begleiter hatte man von mir entfernt, vor dem Zimmer stand eine Wache, das Geld im Zimmer zu verstecken war aussichtslos, ich wußte ja, wie gründlich diese Leute zu verfahren pflegten, es blieb also nichts übrig, als abzuwarten, was mit mir geschehen würde, denn das Geld freiwillig herzugeben, daran dachte ich keinen Augenblick. Von drei Uhr nachts bis halb zehn Uhr morgens ging ich unaufhörlich im Zimmer auf und ab; Furcht empfand ich keine; in meiner Absicht wankend wurde ich nicht; eine klare Vorstellung von dem, was meiner harrte, war ebenfalls nicht in mir; fest stand einzig und allein, daß ich mich und meine vier Knaben aus dieser Gefahr zu retten habe, daß das meine Pflicht sei und daß es auch gelingen werde. Um neun Uhr betraten drei Soldaten, ein Unteroffizier und ein Weib das Zimmer der Kinder nebenan. Die Knaben wurden aus dem Schlaf gezerrt, die Möbel, die Betten, die Dielen, die Wände, die Vorhänge, die Koffer aufs genaueste durchsucht. Ich ging hinein. Ich sah mir die Leute an. Finstere Gesichter, unmenschliche Stirnen, da schien keine Hoffnung. Einer wies mich barsch hinaus; einer folgte mir ein paar Schritte, um die Tür zu schließen. Wie ich den Kopf zurückwende, ist es mir, als sei in den Augen dieses Menschen ein Etwas, ein gewisser Schimmer, etwas unnennbar Fernes von Weicherem als bei den andern. Er hatte rote, kurze, borstige Haare, die Haut besät mit Sommersprossen, und hinter seinen wulstigen Lippen waren Zahnlücken und schwarze Zähne. Aber mich durchbebt es; in der Eingebung eines Moments winke ich ihm. Stumm tritt er näher. Ich reiße die Knöpfe des Kleides auf, nehme das Paket mit den achtzig Scheinen heraus und gebe es ihm in die Hand. ›Fünf Menschenleben sind in deiner Hand‹, sagte ich zu ihm, ›jetzt mache, was du willst.‹ Ohne mit der Wimper zu zucken, steckt er das Paket in die Rocktasche und verschwindet. Die andern kommen gleich darauf in mein Zimmer. Wie drüben wird alles um und um gewühlt, Wäsche, Kleider, Schuhe, jede Ritze, jede Schublade untersucht. Dann bleibt das Weib allein bei mir, ich muß mich entkleiden. Auch das ging vorüber, und sie entfernt sich. Eine Viertelstunde danach, das Herz hatte mir die ganze Zeit bis in die Fingerspitzen geschlagen, erscheint der rothaarige Soldat im Zimmer, horcht eine Sekunde, zieht das unversehrte Rubelpaket aus der Tasche und überreicht es mir schweigend. Ich stammle ein paar Worte, fassungslose, dankverwirrte; ich frage, was ich für ihn tun könne; ihm Geld anzubieten hatte etwas Unsinniges, da er mir ja achtzigtausend Rubel schenkte. Er schüttelt den Kopf und sagt: ›Machen Sie sich keine Gedanken darüber, Mütterchen. Es ist leider so, daß wir in Blut und Sünde stecken bis an den Hals. Vielleicht läßt mir Gott jetzt ein wenigs nach. Vielleicht legt er das auf die andere Schale.‹ Damit geht er. Und ich, es ist ein Zustand von Scham, in dem ich mich befinde, als hätte ich mich an dem Menschen vergangen durch die Angst und die Zweifel vorher.«

Während der letzten Worte noch war die schöne junge Person eingetreten. Sie ging auf die Fürstin zu und sagte mit einer Stimme wie aus Glas und zitternd vor Zorn: »Stepan Fedorowitsch erzählt eben, daß er diese Lisaweta Petrowna von Petersburg her kenne. Sie sei in einem Kabarett als Coupletsängerin gewesen und im übrigen, nun, das kann man sich ja denken. Sie sehen also, Tante, daß Sie einer Betrügerin zum Opfer gefallen sind und daß es nur lächerlich wäre, sich weiter um sie zu kümmern.«

»Meine Nichte Jelena«, stellte die Fürstin vor und nannte auch Marias Namen. Diese lächelte in schweigendem Wohlgefallen an der Erscheinung der jungen Fürstin.

»Sie ist ohne Kopeke, das elende Frauenzimmer«, fuhr Jelena erbittert fort; »der Hoteldirektor hat bereits gestern gedroht, sie auszulogieren. Und was die Komödie an Grigorjis Grab betrifft, die darauf berechnet war, Sie, Tante, hinters Licht zu führen, so hat die Kugel nur die Haut gestreift, am linken Arm; sehr vorsichtig. Pfui, was für eine unappetitliche Geschichte!«

»Aber wenn nur ein Fünkchen Wahrheit darin ist, müssen Sie Nachsicht haben, Jelena Nikolajewna«, sagte Maria.

Jelena erbleichte. »Wie kann sie es wagen«, rief sie und schüttelte sich vor Widerwillen; »abgesehen davon, daß sie für ihre verleumderische Erfindung auch nicht den Schatten von Beweis aufbringen kann, bestehen auch innere Gründe, ja innere Gründe ...«, sie preßte die Lippen zusammen und stand noch schlanker, in noch angespannterer Haltung da als bisher; »darf man es geschehen lassen, daß sie Grigorjis Bild besudelt? Was verlangen Sie? Warum ergreifen Sie Partei?«

»Ich ergreife nicht Partei«, entgegnete Maria, die plötzlich den unbestimmten Eindruck hatte, als sei Schuld und Verstellung in dem jungen Mädchen, »ich wollte nur verhüten, daß Sie vorschnell urteilen. Seien Sie mir nicht böse.« Sie erhob sich und ging.

Vor ihrem Zimmer schritt Menasse auf und ab. »Das Hotel ist umstellt und bewacht«, redete er sie sogleich an, »vor den Ausgängen stehen lauter bis an die Zähne bewaffnete Kerle. Es ist bei Todesstrafe verboten, nach Anbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen. Auf wessen Befehl, weiß vorläufig niemand. Ob man uns schützen will, oder die Mausefalle nur zuklappt, damit keiner entrinnt, weiß niemand. Die Sache wird ernst, es geht an den Kragen.«

Er öffnete eigenmächtig die Tür ihres Zimmers, und zögernd wurde er durch eine Erinnerung an gute Manieren bewogen, ihr den Vortritt zu geben. »Passen Sie auf«, begann er wieder mit seiner komischen Vertraulichkeit, »zu warten, bis man uns an die Mauer stellt und die Hirnschale kaputt schießt, ist Blödsinn. Wer sich nicht aus dem Staub macht, hat sich selber zuzuschreiben die Folgen. Ich habe einen Plan. Sie gefallen mir, die Kinderchen dauern mich, Ihren Mann verehre ich, das ist ein Gentleman durch und durch, und wenn ich mich seiner Familie nicht annähme in der Not, wäre es eine Gemeinheit von mir. Ich habe einen Plan, wie gesagt. Die Vorbereitungen sind bereits getroffen. Allerdings wird die Geschichte viel Geld kosten, aber wo's ums Leben geht, hört sich die Billigkeit auf.«

Er schaute sich unruhig um, hastete zur Tür, lugte durch einen Spalt hinaus, kam wieder auf Maria zu und fuhr mit heiser gedämpfter Stimme fort, es werde so gottlos viel Geld kosten, daß nur eine ganze Kompanie dafür aufkommen könne. Er habe bereits einige Leute ins Auge gefaßt, an denen ihm gleichfalls gelegen sei, Leute, um die es gleichfalls schade wäre; er habe ihnen von seiner Absicht gesprochen, und sie hätten ihm Blankovollmacht erteilt. Ob Maria sich anschließen wolle? Ob sie bereit sei, sich seinen Anordnungen blindlings zu fügen? Nur bei strammer Disziplin sei Gelingen möglich. Er habe alles genau überlegt; das Wagnis sei groß, aber alles sei besser, als sich hier abschlachten zu lassen, und in Gottes Hand stehe man schließlich überall.

Er war klein, beweglich wie ein Gliedermann, ein bißchen schief gewachsen, mit Augen, die fast ohne Wimpern und Brauen waren, stutzerhaft gekleidet, als käme er frisch aus dem Modemagazin, und von dem Gefühl seiner zentralen Wichtigkeit durchdrungen.

»Gut, Herr Menasse«, sagte Maria nach kurzern Besinnen, »ich will mich Ihnen anvertrauen. Wir sind acht Menschen, wie Sie wissen; auch meine drei Dienerinnen müssen mit. Das ist die Bedingung, die ich meinerseits zu stellen habe.«

Menasse zuckte die Achseln. Das erhöhe für sie nur die Spesen, bemerkte er geschäftlich. Mehr als sechzig nehme er nicht an. Jetzt seien es siebenundvierzig Personen. Erforderlich an Kapital sei ungefähr eine halbe Million Rubel, es könnten aber Umstände eintreten, durch welche die Summe bedeutend vergrößert würde. »Vor allem ist notwendig, zu schweigen«, schloß er; »es werden sich in den nächsten Stunden ereignen schlimme Dinge, aber verhalten Sie sich still und rühren Sie sich nicht, bis ich Ihnen wissen lasse, was Sie zu tun haben. Von heute an bin ich Ihr General; da heißt es Subordination, und zwar auf den Wink. Gute Nacht.«

Maria sah ihm verwundert nach, wie er aus dem Zimmer schoß, säbelbeinig, kurzhalsig, stiernackig, geladen mit Energien. Sie trat aufatmend ans offene Fenster. Der beinah volle Mond schwamm in einem Meer von Frieden. Schwarze Körper wölbten sich die Hügel und Berge hinan zu den feierlichen Riesen, deren Konturen im bläulichen Äther zitterten. Tauige Feuchtigkeit lag in der Atmosphäre, alles Dunkel strebte nach dem Silberlicht, die Brust der Erde, mit stummen Seufzern, hob sich gegen die unerreichbaren Regionen. Maria hätte beten mögen, freudige Inbrunst war in ihr, aber das Haus mit all den angstvoll pochenden Herzen, mit all der menschlichen Verworrenheit und Finsternis streckte Arme nach ihr, und ihr war, als sinke sie zurück. Eine Uhr schlug zwölf, da klopfte es leise an die Tür; ohne zu erschrecken rief Maria; die Fürstin Nelidow trat ein. Sie trug einen Schleier über den Haaren; so leise, wie sie geklopft, ging sie auf Maria zu, mit bittender Gebärde, fast wie eine Untergebene. Ob sie störe? Wolle sich Maria Jakowlewna zur Ruhe begeben, so werde sie gleich wieder gehen. Für sie selbst sei in diesen Tagen an Schlaf kaum zu denken. Sie legte beide gefalteten Hände zart auf Marias Schultern.

Nein, sie störe durchaus nicht, antwortete Maria, auch ihr sei Schlaf ein lästiges Vorhaben, ihr Inneres sei lauter Aufruhr und Widerklang von vielen Stimmen. Sie setzten sich. Die elektrische Lampe auf einem Ecktisch ließ den Raum im Dämmer.

Es sei eine Art Neugier, von der sie herübergetrieben worden, sagte die Fürstin; sie habe über alles nachgedacht, was Maria gesprochen, sie habe sich gar nicht davon loszureißen vermocht. »Was ist das für eine Kraft in Ihnen, und woher kommt sie? Wie ist es möglich, daß Sie, eine Fremde in unserm Land, alle Verhältnisse überschauen, unseren Menschen gegenübertreten, als seien Sie eingeflochten in generationenalte Beziehungen? Sie haben Blick und Schritt einer Wurzelnden, und es ist nicht einmal Ihre Erde. Es ist Ihnen gegeben, die Sprache der Bauern zu reden, Sie greifen in das dumpfe Gemüt eines vertierten Soldaten, und Sie haben mit keinem von ihnen wirklich gelebt. Ich erzähle Ihnen von Grigorji wie einer leiblichen Schwester, und ich bin Ihnen vorher vielleicht zweimal flüchtig begegnet. Was sind Sie eigentlich für eine Frau? Was ist denn das Sonderbare an Ihnen? Können Sie es erklären? Oder bin ich zudringlich, wenn ich darum bitte?«

»Nein, nein«, wehrte Maria lächelnd ab, »Sie überraschen mich nur ...«

»Überraschen? Weshalb? Finden Sie denn, daß ich verpflichtet bin, in meinen Schmerz eingehüllt zu bleiben? Sie haben ihn mir noch tiefer ins Bewußtsein gedrückt, aber zugleich haben Sie das Selbstsüchtige daran gelockert. Wir schulden uns selbst nicht so viele Tränen, wie uns die Umgebung dadurch abpreßt, daß sie sich zur Teilnahme berechtigt glaubt. Das Teuerste wird einem genommen, aber es zieht einen nach sich; Trauer ist oft nur eine feinste Form von Heuchelei, und nie hungert die Seele so nach Aufschwung wie mitten im Gram um einen unwiederbringlichen Verlust. Ich sehe Ihnen an, daß Sie mich verstehen.«

»Ich bewundere Ihren Mut, Fürstin. Das ist es eben, was mich überrascht hat.«

»Mut ist das letzte. Das letzte vor dem Ende, Maria Jakowlewna. Und wir sind ja am Ende. Aber wollen Sie nicht meine Fragen beantworten? Können Sie es? Sie lächeln; dieses Lächeln läßt mich hoffen.«

Maria, die verschränkten Hände im Schoß, beugte sich vor. »Sie haben erwähnt, daß Sie sich an Alexander von Krüdener gut erinnerten«, sagte sie. »Die Zeit, von der Sie sprachen, liegt ja ziemlich lange zurück. Was für einen Eindruck haben Sie von ihm behalten? Ich meine in tieferm Sinn, nicht gesellschaftlich.«

Die Fürstin überlegte. »Es ist schwer«, gestand sie zögernd, »ich weiß zuviel von ihm. Wir Angehörige der obersten Schicht wissen zuviel voneinander, um das reine Bild einer Persönlichkeit bewahren zu können. Er kam mir sehr geschlossen vor. Unbeugsam, unbiegsam. Er ist Balte, nicht wahr? Alle Balten sind starr. Er hatte vollendete Formen, jene Tadellosigkeit bis ins Mark, die wie Wohlgeruch wirkt. Viele junge Mädchen waren damals verliebt in ihn, aber auf neutral Gestimmte wirkte er ein wenig erkältend, wie jemand, der lange einsam gewesen ist, äußerlich oder innerlich, und über die Wege zu den Menschen nicht mehr orientiert ist. Stimmt das?«

Maria nickte. »Es stimmt wie eine Silhouette an der Wand. Es stimmt und ist doch nichts. Unbeugsam, unbiegsam; darin liegt etwas vom Wesen. Er hat mich gebogen; nicht gebeugt: gebogen. Ich hätte brechen können, dann war ich eben nicht die, die er brauchte. Ich kam aus einer Welt ohne feste Umrisse; man gehörte nicht zum Adel, man gehörte nicht zum Bürgertum, man hing gesetzlos dazwischen. Ich war in Deutschland geboren, aber in Österreich erzogen; die eigentümliche staatliche und soziale Luft dort bedingt ein gewisses Schwanken von selbst. Ich forderte durch mein Tun und Lassen zum Widerspruch heraus; ich war immer anders als andere, immer auf dem Kriegsfuß mit allen. Um mich zu finden oder etwas außer mir, das ich packen konnte, ging ich auf allen Seiten in die Irre, schlug allem Herkommen ins Gesicht, wurde ganz wild, ganz entfesselt, überwarf mich mit meiner Familie und den meisten Freunden, war von Freiheitsideen besessen und in Gefahr, mich in Schwarmgeisterei und Libertinage zu verlieren. Da traf ich Alexander. Es war der kritische Moment. Ich war häßlich verstrickt mit meinen neunzehn Jahren, das Sinnliche ist ja immer der Anzeiger vom Grad der Zerfallenheit; entfesselt und verstrickt, wie sonderbar, daß man es in einem sein kann. Aber es war ja die Zeit, wo man alles halb war, mit keiner Sache Aug in Aug stand, und beharrte man auf einem Weg, so war man fast verfemt. Wir sprachen uns nie, Alexander und ich. Er war mit einer offiziellen Mission beauftragt und erschien bisweilen, sehr unterschieden von Männern, die ich kannte, in der Gesellschaft. Daß ich seine Aufmerksamkeit erregte, daß er mich beobachtete, spürte ich natürlich; war ich auch meines Magnetismus sicher, der seine war noch stärker und hatte doch nicht die Kraft, mich gleich aus meinen Ketten zu reißen. Der Entschluß, mich in sein Leben hinüberzunehmen, traf ihn selber unerwartet. Ich werde mich hüten, Sie mit den Einzelheiten einer Liebesgeschichte zu langweilen; wichtig ist nur, daß wir uns heirateten und daß jeder von uns beiden wußte, sein ganzes Schicksal kam dabei in Frage. Was für Monate, Fürstin, was für Jahre! Wir traten uns gegenüber wie zwei Duellanten, wie zwei Ringkämpfer. Er verriet es mir einmal: Hätte ihm nicht eine unvergeßbare Erleuchtung den Kern in mir offenbart, er hätte mich am Anfang schon wieder nach Hause geschickt; denn ich war zuchtlos, haltlos, voller falscher Begriffe, voller Vorurteile in Bezug auf Liebe und Ehe und Mann und Weib und Gott und Mensch. Du hast das ganze Europa in dir, sagte er immer, und ich verstand lange nicht, was er meinte. Ich leistete Widerstand auch hier, ich setzte ihm das entgegen, was ich meine Persönlichkeit hieß, dieses Treibhauspflänzchen, das er Blatt für Blatt und Faser für Faser zerrupfte, daß nichts mehr davon übrigblieb als Beschämung und Trotz, immer noch Trotz. Und er suchte den Kern; unermüdlich, unablässig, Tag und Nacht, mit einer leidenschaftlichen Geduld, mit einem tiefen Wissen. Er grub mich aus mir heraus; er riß mich auseinander, um mich neu zu machen. Es tat weh; ich versichere Ihnen, Fürstin, es gab Tage, Wochen, wo ich zwischen Liebe und Haß erstickt und zertreten niederbrach. Und er, hinter mir her wie mit einer Geisterpeitsche: Du mußt durch, mußt es durchleiden, und wenn's dich verbrennt; besser, wir gehn ehrlich mit- und aneinander zugrunde als ein Sterben an dreißig Jahren Mißverständnis und heimlichen Wunden. Und endlich wuchs ich ihm zu, aus meinen Trümmern; endlich fand er mich, gewann er mich. Es war um die Zeit, wo ich zum erstenmal schwanger war, nach fünf Jahren; daß auch er nicht unverwandelt blieb, ist selbstverständlich; hätte ich ihm nichts zu geben vermocht, so hätte ich ihm ja nichts sein können, und kluge Verträge gehören zum Sieg. Doch war ich sein Geschöpf und fühlte mich so. Er zog sich damals vom öffentlichen Leben zurück, wir gingen auf das Gut und begannen zu arbeiten. Jedes Ziel war gemeinsam. In Meinungen und Handlungen trafen wir uns immer an demselben Endpunkt. Wir lasen die gleichen Bücher, dachten die gleichen Gedanken, fällten die gleichen Urteile. Er verzieh sich keine Nachlässigkeit, seine Strenge gegen sich hatte etwas Mönchisches. Unmöglich, ihn um eines Vorteils willen zu bewegen, das kleinste Recht auf seine Seite zu bringen, wenn es auf der andern war; eher hätte man Granit schmelzen können. Was er für seine Pflicht, für seine Lebensaufgabe hielt, war nichts Begrenztes, sondern ein ununterbrochen anschwellender Strom, und seine Hingabe war die äußerste, er verlangte von sich das Äußerste und verlangte es von mir. Ich habe von Natur aus einen Hang zur Trägheit und Beschaulichkeit; den trieb er mir gründlich aus; manchmal weinte ich vor Zorn und Mitleid mit mir selbst, wenn er mir zuviel zumutete; aber es war dann doch das Richtige, und hatte ich mich bezwungen, so konnte er durch ein gütiges Wort allen Groll vergessen machen. Nur nicht sich verwöhnen, nur nicht sich verzärteln, nur nicht Gefühle hinverschwenden, wo man sich entscheiden muß, sagte er; und so verhielt er sich gegen die Welt, gegen seine Kinder, gegen die Untergebenen. Er entkräftete jeden Einwand durch Beispiel. In ihm lebte eine große Idee seines Volkes, eine große Idee von Herrschaft, die durch Dienst entsteht, durch Gehorsam und Ehrung des Brauches. Für ihn war der Zar eine göttliche Person wie für den einfachsten Bauern. Dieses Rußland, dieses russische Volk war ihm der heilige Nährboden der Menschheit, der Schoß der Zukunft, die Vorratskammer der Welt. Ich spreche von ihm, ich spreche von mir. Es gab da kein Anderssein mehr. Er und ich, wir verschmolzen gemeinsam in dieses Mystische, von dem Kraft ausging. Wir haben es gelebt. Ich wußte, wenn er eine Handvoll Ackererde aufhob, daß er damit das Ganze wog und prüfte, sein Land, mit dem Himmel darüber und den Menschen darauf. Ich wußte, wenn er unter seine Bauern trat, um Recht zu sprechen, daß er es im Gefühl der höchsten Verantwortung tat, als meißle er den Spruch in die Ewigkeit. Riefen sie ihn zu Hilfe, so kam er, ob es sich auch ums Geringste handelte; Schlittenfahrten durch die brennendkalte Winternacht waren nichts Seltenes. Sie durften ihn fordern. Dabei war er der Herr; er verstand es, Herr zu sein. Ich war die Herrin; er machte mich zur Herrin. Ich begriff es nach und nach. Herrin und Mutter, das galt ihm fast eins, Mutter von vielen, und so sagen sie auch Mütterchen zur Herrin. Das ist schön und schreibt einem den Weg vor. Wenn Sie das bedenken, Fürstin, erscheint Ihnen dann nicht alles ganz einfach?«

»Ich verstehe, ich verstehe«, murmelte die Fürstin; »einfach, ja. Das Wunderbare ist schließlich immer einfach. Ich verstehe die Entwicklung, verstehe Ihr Herz, aber, après tout, sind Sie denn nicht vollkommen enttäuscht? War es denn nicht vergeblich, jetzt, wo es so steht? Wo wir ohne den Herrn sind, schauerlich verlassen?«

»Ich bin nicht enttäuscht«, antwortete Maria; »der Weg geht weiter. Ich bin auch nicht ohne den Herrn, welche Bedeutung immer Sie dem Wort geben.«

Die Fürstin fragte: »Seit wann ist Ihr Gatte von Ihnen fort?«

»Ziemlich genau ein Jahr. Zu Weihnachten hatte ich den letzten Brief.«

»Und wie ertragen Sie seine Abwesenheit? Es ist ja ein beklommener Zustand, in jedem Fall, nun erst in einem solchen Verhältnis.«

»Es gehört zum Weg«, sagte Maria. »Ich weiß, daß er mit mir im Raum ist, kommt es da auf die Ferne an? Schließ ich die Augen nur eine kurze Zeit, so seh ich ihn, hör ich ihn, muß lächeln über gewisse Eigenheiten beim Sprechen, die ich an ihm kenne, frage ihn, antworte ihm, berate mich mit ihm; und so ist es sicher auch bei ihm.«

Die Fürstin entgegnete: »Sie haben Phantasie, Maria Jakowlewna. Ich will Ihr Gefühl nicht verkleinern; alles, was Sie sagen, flößt mir Hochachtung ein und bestätigt meine Ahnung von Ihnen. Sie sind so klar wie das Wasser; Sie sind ohne Heimlichkeiten. Wie beruhigend, mit Ihnen zu plaudern, ja bloß dazusitzen und Sie anzuschauen. Aber sagen Sie mir eines. Ich glaube an Ihre Zuversicht; ich glaube daran, daß sie Ihnen die Sehnsucht, die Ungeduld, die Bangigkeit um das Schicksal eines so geliebten Menschen überwinden hilft; aber fühlen Sie sich nicht auch befreit? Erwidern Sie noch nichts, einen Augenblick noch; es ist so heikel; die Worte sind schwer zu finden; ich möchte nicht in den Verdacht kommen, daß ich Sie antasten, Verschwiegenes hervorzerren will ...«

»Sie können alles sagen, ich werde es bestimmt nicht mißverstehen«, warf Maria freundlich ein.

Die Fürstin fuhr fort: »In Ihnen ist viel Leidenschaft. Sie sind sicher die leidenschaftlichste Frau, der ich je begegnet bin. Dabei aber auch die unnahbarste. Ich meine das in einem gewissen Sinn. Wie kann man dazu gelangen, allen Vorrat von Leidenschaft in ein Gefäß zu schließen und sich den Schritt ins Unbekannte für immer zu verbieten? Wie erreicht man diese Unerschütterlichkeit? Frauen sind entsetzlich preisgegebene Wesen. Man gibt sich entweder hin, oder man hält sich zurück; im einen wie im andern Fall strauchelt man und wird um seinen Traum betrogen. Und da ist nun eine, die sich ein so festes Haus gezimmert hat, daß der Teufel keinen Platz darin findet. Man rüttelt an Tür und Mauern, um die Stelle zu entdecken, wo es brüchig ist. Weil man doch selber in einer Ruine wohnt und der Neid einen quält. Sagen Sie mir also: War es nicht ein unerträglicher Despotismus? Zuweilen nur, zuweilen ... ? Sind Sie nicht jetzt in Ihrem verborgensten Innern irgendwie erlöst oder bloß erleichtert? Ist nicht eine Last von Ihnen genommen, trotz aller Liebe? War Ihnen denn nicht die freie Wahl geraubt durch all die Jahre, und haben Sie nicht heute die Empfindung, das Leben steht möglicherweise mit einem kostbaren Geschenk an der Pforte, und Sie dürfen es ohne große Skrupel nehmen? Oder auch mit Skrupeln, nur nehmen, das Geschenk nehmen. Ich meine: Ist Ihr Gemüt und Geist so bis zum Rand ausgefüllt von diesem einen Menschen und seinem Wollen und Ihrer Existenz an seiner Seite, daß es darüber hinaus keine Regung mehr für Sie gibt, keine Verlockung, keine Versuchung? Sie sind ja Weib durch und durch; an Ihnen blüht und leuchtet ja alles. Wär ich ein Mann, was würde ich nicht aufs Spiel setzen, um Sie zu gewinnen. Sie erröten; wie schön, wie rührend! Wie ein junges Mädchen. Aber antworten Sie, antworten Sie mir.«

Maria spürte leisen Schrecken. Fast mechanisch erwiderte sie: »Vier Kinder, Fürstin. Neben all dem – wie nannten Sie es? –, dem Unerschütterlichen, vier Kinder. Haben Sie meine Kinder gesehen?«

Die Fürstin schwieg. Sie hatte beide nackten Arme, die dem schwarzen Kleid weiß entflossen, auf den Tisch gelegt, und Maria, zu spät beschämt von ihrer mütterlichen Prahlerei, las auf ihrer verdunkelten Stirn den Gedanken: auch ich war Mutter. Sie stützte den Kopf in die Hand, und nach einer Weile begann sie: »Das war ein egoistisches Wort, Fürstin. Ich bin von einem Glücksgeleise aufs andere ausgewichen. Vielleicht aus Feigheit. Ihre Frage war wie ein plötzliches Feuer. Sie hat mich geblendet. Die Wahrheit? Wüßt ich sie nur. Mich dünkt, sie liegt in der Furcht. Dort, wo der Abgrund ist, liegt die Wahrheit. Die freie Wahl war mir allerdings geraubt, aber ich hatte nicht das kleinste Bedürfnis und den kleinsten Anlaß, noch einmal zu wählen. Meine Wahl war ja unwiderruflich gewesen. Sie sagten, daß der Teufel in meinem Haus keinen Platz hat. Das ist ungeheuer richtig, und nun muß ich sehr kühn sein, sträflich kühn vielleicht: Ich habe ja mein göttliches Teil gewählt. Ich leugne nicht, daß Versuchung für mich entstehen kann; wer ist gegen Versuchung gefeit? Das Blut ist eine furchtbare Macht. Aber wenn ich noch einmal wählen müßte, dann müßte ich den ganzen Kreis bis zum ändern Pol gegangen sein. Das Göttliche kann man nicht zweimal wählen, und in seiner Nähe herumpfuschen und -experimentieren kann man auch nicht. Dazu hat es zuviel Unerbittlichkeit. Müßte ich noch einmal wählen, dann müßte es geradezu der Teufel sein. In Versuchung führen könnte mich nur der Teufel. Aber so weit kommt es hoffentlich nicht.« Sie lachte.

Die Fürstin erhob sich und umarmte sie schweigend. War es, daß sie keine Einwände mehr hatte, oder daß sie sich geschlagen fand durch die unerwartete Wildheit von Marias Argument, sie ließ sich keine Zweifel anmerken. Ehe sie ging, sagte sie: »Freilich, freilich«; und wieder bekümmerten Tones: »Freilich. All das Beinahe und Ungefähr, das Geschehenlassen anstatt des Sichentscheidens verwässert unser Schicksal; es macht uns müde vor der Zeit. Wir ziehen immer Resultate, aber am Wichtigsten, am Augenblick lügen wir uns vorbei.« Dann, mit Herzlichkeit: »Ich möchte Ihr Bild besitzen, Maria Jakowlewna. Schicken Sie mir Ihr Bild so bald wie möglich, es wird mir als Amulett dienen. Wer weiß, ob uns nicht die nächste Stunde voneinander trennt. Hab ich Ihr Bild, so hab ich etwas, das mich schützt.«

Maria versprach es.

Den Rest der Nacht verbrachte sie schlaflos. Das Haus, vom Dach bis in den Keller, glich einem Akkumulator, in dem sich Angst aufsammelt. Über die Korridore hasteten Schritte. Maria wußte von Liebesbeziehungen, die sich von Zimmer zu Zimmer spannen und oft nicht länger dauerten als der Rausch der ersten Stunden. Da eilen sie hin und naschen in Verzweiflung Verbotenes, um nicht fühlen zu müssen, dachte Maria, halb geringschätzig, halb mitleidig. Aber auch andere Schritte waren, Botenschritte, Verräterschritte, Spionenschritte, Wächterschritte. Durch die geöffneten Fenster drangen Luftwellen, bald kühl, bald warm; gegen Morgen wurde es kalt, und Maria schlief endlich ein und schlief bis Mittag. Das Schreien des kleinen Wanja weckte sie erst. Jewgenia, die Pflegerin, trug ihn auf ihren Armen herein, vorwurfsvoll, die linnenweiß Gekleidete, weil die Herrin sich so lange der Pflicht entzogen hatte. Wanja ließ nicht mit sich spaßen; er krallte die dicken Fäustchen in seiner Mutter Fleisch und schnappte zu wie ein böser kleiner Fisch.

Aus der Umgegend schallte Gewehrfeuer, das bis zum Abend an Heftigkeit zunahm und sich beständig näherte. Jefim Leontowitsch kam mit Zeichen von Bestürzung und bat Maria, daß sie ihm erlaube, die Nacht im Zimmer der Knaben zu verbringen, er habe keine Ruhe sonst. Maria rechnete auf Nachricht von Menasse. Um bereit zu sein, wies sie Litwina und Arina, die beiden jungen Dienerinnen, an, die Koffer zu packen, worüber die Knaben jubelten. Es schien Maria, als habe sie etwas Wichtiges vergessen, das sie sich vorgenommen. Das Grübeln darüber machte sie zerstreut. Sie zog ihr Abendkleid an und ging hinunter. Dann kehrte sie zurück, durchwühlte eine Schachtel nach einer Photographie, schrieb ihren Namen darauf, steckte sie in ein Kuvert und schickte Arina damit zur Fürstin Nelidow. Aber das war nicht das Wichtige, das sie vergessen hatte.

In den Gesellschaftsräumen herrschte das gewöhnliche lärmende Treiben. Alle diese der Heimat und nun auch der Freiheit beraubten Männer und Frauen trugen eine herausfordernde Sorglosigkeit zur Schau. Nur wenige Gesichter zeigten das Bewußtsein der Gefahr. In einer Gruppe wurde lachend erzählt, daß man bereits in den Straßen der Stadt kämpfe, daß in einem der Höfe des Hotels Tote und Verwundete lägen. Sie hatten Blut genug gesehen, waren an das Entsetzen gewöhnt; es handelte sich nur noch um ihren eigenen Untergang, den sie mit frivoler Neugier fast erwarteten. In einen Wiener Walzer hinein knatterte beizend das Tacktack eines Maschinengewehrs von draußen. Man sah Soldaten an den Fenstern vorbeirennen. Maria fielen finster blickende Gestalten auf, erst drei oder vier, dann fünfzehn oder zwanzig, die sich in der Halle und den Speisesälen herumtrieben. Man gab sich Mühe, nicht auf sie zu achten; man scherzte, schwatzte und tat, als seien sie nicht vorhanden. In abgerissenen oder doch alltäglichen Gewändern stachen sie drohend von der Toilettenpracht, den Fräcken und strahlenden Hemdbrüsten ab; sie stellten sich den Kellnern in den Weg, die mit Sektkübeln liefen, postierten sich unverschämt neben Klubsessel, in denen vornehme Kavaliere ruhten, und schlenderten mitten durch Gruppen von Plaudernden durch. Maria dachte: es ist Zeit, daß Menasse sich meldet. Ein gellender Pfiff wurde hörbar, gleich darauf, da die Kapelle im Speisesaal Pause hatte, eine fremdartige Musik aus einem entfernten Raum. Zu Maria trat ein junger Mann, ein Moskauer Schriftsteller, und sagte, im großen Saal finde eine armenische Hochzeit statt, sie möge doch hingehen, es sei äußerst interessant. Er bot ihr seine Begleitung an; Maria war immer fünfzehn Jahre alt, wenn es Neues zu sehen gab, und sie ging sogleich mit. Die Stimmung bei einem Teil der Gesellschaft hatte sich auf einmal verändert. Ein alter Herr redete mit gerungenen Händen auf mehrere Damen ein. Maria vernahm, wie eine flüsterte: »Und mein Schmuck, meine Perlen?« Der alte Herr sagte: »Es handelt sich ums nackte Leben.« Vor dem Billardzimmer standen ein paar junge Mädchen, blaß, verzagt, die Augen aufgerissen. Der Schriftsteller sagte unterdessen zu Maria: »Unbeschreiblich, welchen Prunk die Armenier bei solchen Anlässen zu entfalten wissen, Sie werden sich selbst überzeugen; ganz märchenhaft.«

Es hatten sich schon andere Zuschauer eingefunden. Namentlich machte sich Stepan Nelidow bemerkbar, der in unangenehmer Weise, als wäre er in einem Zirkus, seine Begeisterung kundgab. Dort, wo Maria stand, vor der Tür des großen Saals, war die Basis eines zylinderförmigen Schachtes, der bis zum Dach des siebenstöckigen Gebäudes reichte. In jedem Stockwerk trat eine kreisrunde Galerie heraus, die gegen den Schacht hin durch ein geschmiedetes Gitter begrenzt war. In den drei ersten Etagen sah man auch die gerade ansteigende Treppe zur nächsthöheren Etage. Während Maria hinaufblickte, spürte sie, daß sich irgendwo dort oben etwas ereignete, was auch sie anging. Sie hörte, von ganz oben, lautes Reden und dann gelächterähnliche Schreie, dann war es wieder eine Weile still, aber kaum hatte sie ihre Aufmerksamkeit den Armeniern im Saal zugewandt, so begann es von neuem.

Die fremdartige Musik, mehrere Blasinstrumente und zwei dumpfe Trommeln, war aus einem getragenen Tempo in ein munteres übergegangen. Ein Jüngling und ein Mädchen traten zum Tanz an; ihre Bewegungen und Drehungen, anfangs gemessen, schäferhaft lieblich, steigerten sich, von der Musik rhythmisch unterstützt, zur Ausgelassenheit. Der hohe, weite, lichtgebadete Raum war durchlodert von den intensiven Farben gold- und silbergestrickter Gewänder, Blau, Gelb, Grün, Rot in stärksten Tönungen; aus heißem Dunst leuchteten unvergleichlich schöne Frauengesichter und solche von bleichen, schwarzbärtigen Männern, die majestätisch saßen und blickten. Nun sah man auch drüben einen zarten Reigen von spitzenbekleideten, ganz jugendlichen Wesen,'die sich bogen und dehnten, und als die betäubende Musik aufhörte, stimmten sie einen feierlichen Gesang an. Freudig erregt von den Bildern und Klängen einer abgerückten Welt, stand Maria lächelnd auf der Schwelle, bedrückt nur von dem Gefühl ihrer eigenen Fremdheit und ungewünschten Gegenwart, da vernahm sie abermals die häßlichen Schreie von oben, die sich nun jedoch rasch näherten; sie trat zurück in die Mitte des Schachtes und sah empor. Über die dritte Treppe lief mit erschreckender Geschwindigkeit, so daß es aussah, als müsse sie jede Sekunde in die Tiefe stürzen, ein Frauenzimmer herab. Die Haare flatterten aufgelöst um den Kopf, das Gesicht zeigte trotz der Entfernung ein verzerrtes Entsetzen. Sie kam zur Galerie, hielt sich einen Moment lang am Geländer fest und rannte weiter zur zweiten Stiege. Maria wußte sofort, daß dies Lisaweta Petrowna war, zu der sie hatte gehen gewollt, und nun wußte sie auch, was für ein Vergessen sie gepeinigt hatte. Rasch entschlossen ging sie zur Treppe; die mit wilden Seufzern Herabeilende war nun auf der ersten Galerie und hielt sich wiederum kurze Zeit fest. Sie schaute sich um, stürmisch atmend; hinter ihr kam ein junges Mädchen herab, in dem Maria die Fürstin Jelena erkannte. Aber deren Gangart und Aussehen rechtfertigte keineswegs die wahnwitzige Hast und Furcht der andern; sie ging eher bedächtig, Stufe um Stufe, und ihre Züge, obwohl verfinstert und anscheinend zu einem bestimmten Vorhaben gesammelt, hatten zugleich einen Ausdruck von Widerwillen und Mattigkeit. Maria war ein paar Stufen hinaufgeschritten, die Flüchtende flog ihr entgegen, hielt inne, glaubte sich vor einer neuen Feindin, stieß einen der Schreie aus, die so gelächterähnlich geklungen hatten, taumelte und wäre gefallen, wenn Maria nicht auf sie zugesprungen und sie aufgefangen hätte. Das Mädchen griff nach ihr, umklammerte sie, glitt mit den Armen herab, kniete vor ihr. Mittlerweile hatte auch die Fürstin Jelena die Stelle erreicht, wo dies vor sich ging. Sie blieb einige Stufen oberhalb stehen, der Ausdruck von Widerwillen verstärkte sich in ihrem wunderbar feinen und klaren Gesicht, und sie stieß hervor: »Anrühren solchen Unflat? Anrühren?« Ein Schauder überrann ihre Glieder.

Das Mädchen drückte das Gesicht wimmernd in Marias Kleid. »Sie will mich umbringen«, heulte sie dumpf in den Stoff, in Marias Körper. Die Zuschauer vor der Tür hatten sich verwundert zur Treppe gedrängt. Stepan Nelidow stand mit verschränkten Armen und spöttischem Lächeln an die Mauer gelehnt.

»Wozu, Jelena Nikolajewna«, sagte Maria, zur jungen Fürstin emporgewandt, »wozu dies?« Der einfache gütige Ton brachte eine sichtliche Wirkung auf die Fürstin hervor. Sie senkte den Kopf, ihre kurzen, gelockten Haare fielen weich über die Wangen, und so verharrte sie regungslos.

»Kommen Sie mit mir, Lisaweta«, redete Maria der noch immer Knienden zu; »niemand wird Ihnen etwas zuleide tun.« Sie richtete die Willenlose auf, lieh ihr den Arm zur Stütze und führte sie durch ein Spalier von Gaffern in den Korridor und dann weiter zum Lift, in den sie sie sanft hineinschob. Oben angelangt, mußte sie die verfallen vor sich hin Brütende mit Gewalt von ihrem Sitz ziehen. Mitja und Aljoscha flogen ihr jauchzend mit der Kunde entgegen, die Koffer seien geholt worden. Jefim sagte, es seien drei Männer gekommen und hätten, ohne ein Wort zu äußern, die zwei großen und fünf kleineren Gepäckstücke nach und nach fortgetragen. Die Dienerinnen hatten nicht gewagt, sie daran zu hindern oder sie auszuforschen, wer sie geschickt habe. Handtaschen, Necessaires, Körbe lagen noch in den Zimmern herum. Indes Maria mit Jewgenia beriet, erschien ein Bursche mit einem Zettel und verschwand wieder. Auf dem Zettel stand:

»Unverzüglich zu befolgen: Verlassen Sie nach Empfang dieses mit Ihren Leuten das Haus durch die Tür neben den Küchenlokalitäten. Dort wird jemand stehen und Sie an einen bestimmten Ort führen, wo Sie eine, möglicherweise zwei Nächte zuzubringen haben werden. Der Betreffende ist zuverlässig. Säumen Sie nicht länger als eine halbe Stunde, sonst stehe ich für nichts. Die Koffer sind untergebracht, Ihre Rechnung ist bezahlt. Menasse.«

Trotz der kritischen Situation war Maria still amüsiert. Mein General ist streng, dachte sie und half die Knaben fertig ankleiden. Eine Menge Gegenstände waren einzupacken. Arina und Litwina rannten durch die Zimmer. Wanja schrie; Jewgenia wiegte ihn auf den Armen. Maria hätte sich gerne noch von der Fürstin Nelidow verabschiedet; es war keine Zeit mehr. Lisaweta Petrowna hatte sich in die Sofaecke gekauert und beobachtete mit den Augen eines scheuen Tieres, was um sie vorging. Plötzlich sprang sie auf und faltete die Hände gegen Maria. »Nehmen Sie mich mit«, flehte sie verstört. Maria antwortete: »Wir haben nur noch Minuten vor uns; wie geht das denn, so wie Sie sind?« Sie trug einen Kimono und an den Füßen blauseidene Pantöffelchen. »Um keinen Preis mehr will ich in mein Zimmer gehn«, sagte sie hilflos. Die Knaben, voll Ungeduld, drängten Maria stumm. Arina belud Jefim Leontowitsch mit den Handtaschen. Mitja, der ungeachtet seiner Haltung eines jungen Prinzen immer viel Gefühl für fremde Leiden bezeigte, sagte zu seiner Mutter: »Die Frau kann ja einen von deinen Mänteln anziehen; wir haben ja hundert Mäntel.« Auf einen Wink Marias brachte Litwina einen Mantel; und Lisaweta hüllte sich darein. »Wollen Sie denn Ihre Habe im Stich lassen?« fragte Maria, und jene erwiderte: »Nur fort, nur fort.«

Jefim, die Knaben, Jewgenia mit dem entschlummerten Wanja, Arina, Litwina und Lisaweta traten auf den Korridor. Maria folgte als letzte. Auf einmal stand Jelena Nelidow vor ihr. »Sie gehen«, murmelte sie finster verwundert, »gehen? Und diese dort, diesen Abschaum machen Sie zu Ihrer Schutzbefohlenen? Ihr gewähren Sie Freundschaft, der Schamlosen?«

»Ich sehe nur eine Unglückliche, Jelena Nikolajewna«, sagte Maria. »Ich weiß nichts von ihr als das. Kann ich eine Unglückliche, die zu mir flieht, wegstoßen, ich, die selber flieht?«

Wieder wirkten Marias Wort und Stimme unmittelbar beschwichtigend auf die junge Fürstin. Ihr Gesicht zog sich zusammen wie im Krampf. Plötzlich riß sie mit zitternden Fingern eine Diamantagraffe von ihrem Kleid und drückte sie in Marias Hand. »Ich will nicht schuldiger werden, als ich schon bin«, sprach sie wie geblendet, wie gegen eine Wand; »geben Sie ihr das; machen Sie es zu Geld für sie, sie ist arm; ich habe keins, aber verraten Sie mich nicht.«

Maria konnte nur in einen Blick legen, was hier zum Dank zwang. Der Boden brannte. Fedja war umgekehrt, um zu spähen, wo sie blieb. Jelena ging ein paar Schritte an ihrer Seite; nahe der Treppe packte sie Marias Arm und hauchte mit wehem Kinderlaut: »Ich habe Angst, ich habe solche Angst«; ihre seltsam gelben Augen öffneten sich überweit; »ich habe grenzenlose Angst«, wiederholte sie, »und vielleicht aus Angst bin ich schlecht.«

»Liebe, Sie Liebe«, sagte Maria leise und zärtlich. Die junge Fürstin bedeckte das Gesicht mit den Händen und ging langsam zurück, während Maria schweren Herzens die Treppe hinunterstieg.

An der von Menasse bezeichneten Tür stand ein Soldat mit Sturmhaube und aufgepflanztem Bajonett. Er begab sich schweigend an die Spitze der Karawane. Es ging durch einen schmalen Hof, dann die Straße entlang, über die ein Feuerschein bebte. Zur Linken, in der Höhe des Tals, brannten Häuser; die Funken, so fern, daß sie goldner Stickerei glichen, stoben gegen den Mond. Gestreckten Galopps jagten Reiter vorbei; Fedja und Aljoscha blieben bewundernd stehen, Mitja trieb sie weiter wie ein sorglicher Hirt. Jefim keuchte unter seiner Last, und Maria nahm ihm trotz seines Sträubens eine der Ledertaschen ab. Der Soldat bog in eine Seitengasse bergan. Die Häuser wurden armseliger. Er zögerte, sah sich um, schien sich orientieren zu wollen. Die Gassen waren unbeleuchtet. Ein andrer Soldat trat aus einem Torweg auf ihn zu, und sie sprachen leise miteinander. Das Krachen eines großen Geschützes erschütterte die Nacht. Aljoscha begann plötzlich zu weinen. Maria ergriff ihn bei der Hand. Sie gelangten zu den letzten Häusern der Stadt, in die Nähe des Bahnhofs. Der Soldat kehrte wieder um und ging ein Stück zurück. Lisaweta, die in ihren Pantöffelchen Mühe zu gehen hatte, lehnte sich an eine Hausmauer. Vom untern Ende der Gasse her schallte der Schritt einer Patrouille. Der Soldat pfiff; Jefim eilte hin und rief Maria und die übrigen. Sie traten in ein baufälliges Haus, das nur aus einem Erdgeschoß bestand und völlig unbewohnt schien. Mit dem Gewehrkolben stieß der Soldat eine Tür auf, dann setzte er ein Streichholz in Brand. Man sah eine Kammer, etwa vier Meter im Geviert, so niedrig, daß man mit den Köpfen an die Decke stieß, mit feuchten, verschimmelten, grünlichen Wänden und ohne alles Mobiliar. Das Streichholz verlosch wieder. Hier müßten sie bleiben, sagte der Soldat, dürften sich nicht rühren, die geschlossenen Fensterläden nicht öffnen, wenn ihnen das Leben lieb sei. Maria fragte, im Finstern, ob er wisse, wo Herr Menasse sei. Nein, er wisse es nicht, er kenne nicht einmal den Namen; er wisse bloß, daß eine Anzahl Menschen heute nacht in Häusern rings um den Bahnhof versteckt worden seien, damit sie fortgeschafft werden könnten, wenn sich die Gelegenheit bot. Das sei alles, was er wisse. Ob man eine Kerze anzünden dürfte, wenigstens solange, bis die Kinder gebettet seien, fragte Maria. Er widerrate es. Wie lang man hier werde bleiben müssen, zehn Personen in einem so dumpfen Loch? Das könne er nicht sagen. Noch einmal empfahl er, daß sie durch kein Zeichen ihre Anwesenheit verraten sollten, dann entfernte er sich.

Eine Weile waren alle still und verfielen in trübe Betrachtungen. Aljoscha hatte nach der Hand seiner Mutter getastet und schmiegte sein Gesicht hinein. Sie spürte, daß es vor Beängstigung zuckte. »Wir müssen Licht haben«, sagte Maria. Jefim Leontowitsch erbot sich, hinauszuschleichen und den Aufpasser zu machen. Bei verdächtiger Wahrnehmung wollte er dreimal an den Holzladen pochen, dann mußte das Licht ausgeblasen werden. Es dauerte einige Zeit, bis Arina eine Kerze gefunden hatte. Als sie brannte, wurden rasch Decken und Mäntel auf den von Schmutz starrenden Bretterboden gebreitet; in stummer Hast richtete jeder eine Ruhestatt für sich; die Knaben, kaum hingelegt, in ihren Kleidern, schliefen schon.

Lisaweta lag neben Maria an der Mauer. Von ihrem zwischen die Arme gewühlten Kopf sah man nur die in Eile aufgesteckten wirren, braunen Haare. Über ihre starken Hüften lief bisweilen ein Beben. Während sie Wanja stillte, ließ Maria den Blick sinnend auf ihr ruhen. Dann, als Jewgenia ihr den satten Wanja abgenommen und die Kerze verlöscht hatte, bat sie Litwina, daß sie Jefim Leontowitsch hereinhole, damit auch er ruhen könne. Aber Jefim ließ sagen, er finde es notwendig, daß einer Wache halte, er werde sich vor der Tür auf seinen Mantel legen.

In Marias Augen kam kein Schlaf. Sie hörte die kräftigen Atemzüge der drei Knaben; jeden erkannte sie an Laut und Tempo des Atems; sogar das dünne, sprudelnde Atmen Wanjas war deutlich vernehmbar. Auch die Dienerinnen schliefen. Sie wachte, sann, lauschte. Zu ihrer Rechten ertönte ein schwerer Seufzer. »Können Sie nicht schlafen, Lisaweta Petrowna?« fragte sie flüsternd.

Die Angeredete bewegte sich und rückte näher. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie ebenfalls flüsternd. »Sie haben mich aufgelesen, mitgenommen ... aus welchem Grund? Wer sind Sie?«

»Bedeutet Ihnen der Name etwas, so mögen Sie ihn wissen«, anwortete Maria und sagte, wie sie hieß. Dann war wieder eine Weile Schweigen, dann wieder ein Seufzer wie unter drückender Bürde.

»Was ist Ihnen?« flüsterte Maria. »Erleichtern Sie Ihr Herz, sprechen Sie!«

»O großer Gott!« murmelte die andere.

»Wir sind in der Finsternis und können einander nicht sehen«, fuhr Maria zu flüstern fort; »alle schlafen, wir sind so gut wie allein. Sprechen Sie.«

»Jelena Nikolajewna möchte mich am liebsten mit dem Stiefelabsatz zertreten«, sagte die Stimme bitter; »dabei weiß sie alles. Niemand außer ihr weiß es. Grigorji hat sich ihr anvertraut. Kalten Bluts könnte sie mich morden und weiß doch alles. O mein Gott!«

»Ist es denn wahr, daß Fürst Grigorji die Ehe mit Ihnen geschlossen hat?« fragte Maria.

»Fragen Sie doch nicht«, kam es gequält zurück. »Ja, ja, der Pope hat uns zusammengetan, damals in Sebastopol, als ich das Schiff verließ. Als schon alles zu Ende war, hat uns der Pope getraut. Ich weiß nicht, ob es anfechtbar ist, geschehen ist es jedenfalls, obschon die Umstände schrecklich waren. Keine menschliche Phantasie kann sich nur annähernd etwas Ähnliches ausdenken. Ja, als ich das Schiff verließ, wurden wir getraut.«

»Welches Schiff, Lisaweta Petrowna?«

Lisaweta antwortete nicht. »Ich kann hier nicht bleiben«, sagte sie nach einer Weile klagend; »ich muß wieder fort. Ich will zurück und meine Sachen holen. Was soll ich denn tun ohne Kleider und Schuhe? Freilich, wo soll ich dann hingehn? Zu wem denn?«

»Daß ich nicht vergesse, man hat mir ein Schmuckstück aus Diamanten für Sie gegeben«, sagte Maria, und indem sie es sagte, bereute sie es, als füge sie der unsichtbaren andern eine Beleidigung zu; »vielleicht wünschte man, daß Sie es als Andenken behalten. Vielleicht wollte man dadurch etwas Begangenes gutmachen.«

Lisaweta verstand. »Vor die Füße werf ich ihr's«, brach sie aus, ohne die Stimme merklich zu erheben; »und das ist noch Ehre zuviel. Will sie mich durch ein Almosen dafür entschädigen, daß sie mir glühende Nadeln ins Fleisch gebohrt hat wie ein Folterknecht? Jammer und Schande. Wenn Sie keine Gelegenheit mehr haben, es ihr zurückzugeben, so schenken Sie es einem Bettelweib. An Demütigungen ist's jetzt genug.«

Mehr als eine halbe Stunde verging im Schweigen. Die Atemzüge der Schläfer wurden tiefer. Plötzlich flüsterte Lisaweta: »Hören Sie? Können Sie mich hören?«

»Ich höre Sie gut«, erwiderte Maria.

»Ich will Ihnen vom Schiff erzählen. Rücken Sie näher, damit uns niemand belauscht.«

Maria rückte näher.

»Als ich Grigorji kennenlernte, war ich in einem Petersburger Vorstadtkabarett. Es war die niedrigste Klasse von Lokal, ich verdiente auch nur gerade soviel, um nicht zu verhungern. Die Sache war nämlich die, daß ich ein anständiges Mädchen war. Es ist möglich, daß Sie jetzt skeptisch lächeln, aber trotz meiner fünfundzwanzig Jahre hatte ich noch keinen Liebhaber gehabt. Abends auf dem Podium sang ich halbnackt dumme und lüsterne Couplets, verstand sie nicht einmal ganz, und tagsüber hauste ich in einer Dachkammer und hatte oft kein Mittagessen. Grigorji war auf Urlaub; in Gesellschaft von Kameraden kam er hin; wir sahen uns und liebten uns. Wir liebten uns so – wie soll ich es nur beschreiben? Es war ein unaufhörliches Gewitter im Blut. Den Tag, wo der Urlaub zu Ende war, erwarteten wir wie ein Hinrichtungsurteil. Worte wurden nicht gewechselt; wir empfanden wie ein einziger Leib. Er hing einem Plan nach, den ihm die Verzweiflung eingegeben hatte, und eines Abends teilte er ihn mir mit. Ich glaubte erst, er rede irr. Es war so furchtbar, daß meine Zunge wie gelähmt war. Aber sein Wille mußte auch meiner werden. Trennung war das ärgste. Auf die Rückkehr warten und sich das Herz absorgen, ob er noch lebte oder nicht, ärger war auch das nicht, was er tun wollte. Wenigstens schien es mir so, und ich sagte ja. Hören Sie mich?«

»Ich höre Sie gut«, flüsterte Maria.

»Er wollte mich heimlich an Bord des Kriegsschiffs schmuggeln. Mich in seiner Kabine verbergen, den Dienst verrichten wie alle andern und die übrige Zeit bei mir sein. Was das hieß, wußte ich ungefähr. Daß auf die Entdeckung der sofortige Tod stand, für ihn und für mich, wußte ich. Eine Frau darf ja ein Kriegsschiff nicht einmal betreten. Wozu so viele Worte, ich war bereit, trotz allem. Die Hauptschwierigkeit war, daß der Bursche ins Geheimnis gezogen werden mußte. Ohne einen Dritten, der Vorschub und Hilfe leistete, ging es nicht. Grigorji dachte, er könne es mit Pjotr riskieren. Er bestach ihn mit Geld, mit vielem Geld, und immer von neuem, und doch mußte man immerfort zittern, daß er sich nicht verschnappte oder bösartig wurde. Auf solchen Schiffen werden ja die Leute alle bösartig. Es geschah, wie wir es ausgedacht hatten. In Grigorjis Reisesack, mit Wäsche und Kleidern zum Ersticken umhüllt, trug mich Pjotr vom Boot in die Kabine. In dieser Kabine, in der nicht soviel Raum war, daß ich dreimal ausschreiten konnte, blieb ich vierzehn Monate.«

Maria schlug unwillkürlich die Hände zusammen, Lisaweta Petrowna aber fuhr fort: »Vierzehn Monate eingesperrt, entweder angstvoll allein oder Leib an Leib auf einem engen Lager mit Grigorji. Vierzehn Monate in Todesgefahr und Todesangst auf dem Meer, in einer winzigen, dumpfen Zelle. Vierzehn Monate fast zur Lautlosigkeit und Bewegungslosigkeit verurteilt, zur ununterbrochenen, fürchterlichen Angst, er und ich.«

Maria lauschte mit weiten Augen stumm.

»Es durfte nicht auffallen, daß die Kabine stets abgesperrt war; schon dafür zu sorgen war nervenzerrüttend. Die vielen Schritte, Schritte der Wachen, Offiziere; die Alarmpfeifen; das Sausen der Maschinen im Ohr, das eiserne Klirren beständig in dem schwimmenden Ungetüm, das Gerassel oben, das Anschlagen des Wassers draußen; die Nächte, o die Nächte voller Angst! Küsse und Umarmungen und Angst! Lust und zärtliche Worte und Angst! Hinauf gehoben und schwindelnd hinuntergeschleudert immer wieder. Einmal bei einer Inspektion mußte ich in den Wandschrank schlüpfen, der so schmal war, daß ich wochenlang nachher an Bruststechen litt. Am Osterfeiertag erkrankte Grigorji. Da waren wir nahe am Wahnsinn. Er mußte auf Deck; er mußte Dienst tun, was sonst? Er mußte sich schleppen, das Fieber aus sich herauspressen mit Gewalt, oder wir hatten keine Wahl, als uns miteinander in die See zu stürzen. In den dienstfreien Stunden tags oder nachts lag er dann in meinen Armen und horchte und horchte, auch ich horchte und horchte; wir mußten einander umarmen, sonst hatten wir kaum Platz, und oft, wenn er müde war, trat er mir ein Kissen und eine Decke ab, und ich richtete mir das Lager auf dem Boden oder ich saß an der Luke und starrte aufs finstre Meer. Ihn quälte der Gedanke, was geschehen sollte, wenn das Schiff ins Feuer kam und er verwundet wurde oder fiel. Ich beruhigte ihn nach Kräften, aber in einem so verdunkelten Gemüt ist keine große Kraft. Er klagte mich an, daß ich ihn nicht mehr liebte. Was fruchtete anderes dagegen als verzweifelte Küsse? Wir verfluchten die Sekunde, die uns das Bewußtsein wiedergab. Kalter Schweiß bedeckte manchmal seine Stirn, wenn er sich zu mir legte. Ob wir sprachen, ob wir schwiegen, es schauderte uns täglich mehr. Er gestand mir, daß er alles rot sähe, auf Deck und im Raum. Er glaubte, bei seinen Vorgesetzten Argwohn zu spüren. Von seiner früheren Heiterkeit war nichts mehr übrig. Ich fragte ihn, ob er bereue, was er getan? Er klammerte sich an mich wie ein Kind, das man schlägt, aber deutlich erkannte ich, daß in seinen Augen neben der Liebe auch Haß war. Bei jedem Knacken in der Wand erschrak er, jedes ungewohnte Geräusch machte ihn zittern. Einmal fuhr er gräßlich schreiend aus dem Schlaf. Ich umschlang ihn und sagte vor mich hin, es müsse ein Ende werden. Was für ein Ende, fragte er, und in krankhafter Erregung drängte er mich so lange, bis ich ihm heilig schwor, nichts ohne sein Wissen zu tun. Du bist mein Weib, sagte er, und ich will dich vor Gott und den Menschen zu meinem Weib machen, auch wenn wir uns dann nicht wiedersehen sollten. Und so kam es, genauso. Ich aber dachte: Nur heraus aus dieser Hölle, und wenn ich allein war, lag ich da und biß die Zähne in die Finger. Die Zeit war wie hinweggewischt; ich hörte sie sausen wie ein Rad; manchmal wieder schien sie mir schlaff, widerlich und schlaff wie eine zerrissene schwarze Fahne. Das ärgste war, daß Pjotr frech wurde. Er fühlte sich in der Macht. Es war ein aufreibender Kampf mit dem Menschen. Das Essen, das er jeden Tag heimlich für mich brachte, konnte ich nicht mehr genießen. Er stand dabei und stierte mich an. Er bettelte, schließlich drohte er. Ich glaubte, es Grigorji verschweigen zu müssen, indessen erfuhr ich bald, daß Pjotr auch gegen ihn unverschämt wurde. Eines Abends stürzte Grigorji schreckensbleich zu mir und stammelte, es sei kein Zweifel, daß alles verraten worden sei, der und der habe seinen Gruß nicht erwidert, in der Messe habe man getuschelt, er spüre es, wir seien verloren. Ich bewahrte meine Ruhe und fragte ihn aus und überzeugte mich, daß es Wahnvorstellungen waren; aber die hafteten nun in seinem Geist, und er war von da an im wilden Fieber. Drei Tage noch, die schrecklichsten, vergingen, da lief das Schiff in den Hafen; was in den letzten Stunden geschah, wie ich wieder an Land kam und aus tiefer Betäubung erwachte, daran habe ich keine Erinnerung. Auch daran eine ferne nur, daß mich Pjotr in eine elende Herberge schleppte und nicht dorthin, wo ihm Grigorji angegeben hatte, daß er mich führen sollte; und daß er am Abend betrunken in mein Zimmer taumelte und ein wehrloses Opfer zu finden hoffte; und daß ich mich mit aller mir verbliebenen Kraft gegen ihn verteidigte, mit Worten und Gründen erst, mit Bitten und Tränen, mit Hilferufen, das keiner hörte, als sei das Haus ausgestorben, und daß mir dann die Welt schwarz wurde im Ekel vor dem Menschen und in seinem Fuseldunst und seiner Tollwut, und daß dann Grigorji hereinstürzte, der alle Gasthäuser am Hafen nach mir durchsucht hatte, bis er endlich meine Spur fand, und daß er das betrunkene Schwein niederschlug und daß er vor mir kniete, schluchzend, unaufhaltsam schluchzend, Verzeihung erbettelte, ja, wofür Verzeihung? Und daß am andern Morgen der Pope kam, ich habe es ja schon erzählt, und die Nottraung vornahm, denn ich lag wie ein Brett, steif und still, und daß mir dann Grigorji Leb wohl sagte; alles dies ist mir nicht mehr faßlich und ist ausgeronnen, als hätte es eine andere gelebt. Ich bin ja auch nicht mehr dieselbe geworden wie vorher. Es wundert mich nur, daß ich's berichten kann; Sie saugen die Dinge förmlich aus einem heraus, wie geht das denn zu? Nun muß ich aber fort, es ist Zeit.«

Auffallend war es Maria, daß die Erzählung Lisaweta Petrownas immer langsamer geworden war, zuletzt entstand fast nach jedem dritten Wort eine Pause; auch war die Stimme allmählich so leise geworden, daß Maria nur mit Anstrengung verstehen konnte. »Sie wollen fort«, fragte sie, »wohin aber? Sie sagen ja selbst, Sie wüßten nicht wohin.«

»Nein, ich weiß nicht wohin; gleichviel, ich muß fort.«

»Wie sind Sie denn überhaupt nach Kislawodsk gekommen? Sind Sie mit ihm gekommen, mit Fürst Grigorji?«

»O nein. Es war ja eine stillschweigende Verabredung, daß wir uns nicht mehr sehen würden. Hab ich das nicht erzählt? Als er von mir wegging, wußte ich, daß er nicht aufs Schiff zurückkehrte, wußte, daß er in den Kaukasus fuhr. Er seinerseits wußte, daß ich nach Kiew reisen wollte, wo meine Schwester an einen Beamten verheiratet ist. Er ließ mir Geld, aber das hab ich meinem Schwager gegeben. Ich lebte wie taub und blind. Ich wußte, welchen Weg Grigorji ging. Eines Tages erhielt ich ein Telegramm, ich solle sofort kommen. Nicht von ihm, sondern von Jelena Nikolajewna. Möglich, daß sie glaubte, ich könne ihn retten. Wie mußte es um ihn stehen, daß Jelena Nikolajewna mich rief, mich! Es war auch zu spät. Ich hätte ihn gewiß nicht retten können, wir waren viel weiter voneinander geschieden, als wenn wir uns nie gekannt hätten; freilich, daß er so ins Nichts geschwunden war, ohne Gruß und Zeichen, das war hart. Jetzt will ich aber gehen, es ist Zeit.«

Das erste Tageslicht drang durch die Ritzen der Fensterläden. Lisaweta erhob sich. Maria sagte, sie möge doch den Mantel behalten, der Morgen sei kalt und vielleicht finde sie im Hotel nicht Einlaß. Doch sie lehnte es stumm ab; plötzlich schien sie von finsterm Trotz erfüllt; ihre Gebärden waren von krankhafter Ungeduld, und als Maria sich gleichfalls erhob, erschüttert und von schwesterlicher Hinneigung durchglüht zu ihr hintrat, um ihr in das dämmernd fahle Gesicht zu schauen, da wandte sie sich hinweg und war aus der Tür, ehe Maria den Arm nach ihr ausstrecken konnte. Sie stand regungslos, kalt und heiß im Innern; ihr war, als sei ein Berg vor ihr in die Erde gesunken und als siede die Luft noch über Schlünden. Sie seufzte, beinahe wie jene geseufzt hatte, bang und gedemütigt, dann fiel ihr Blick auf die schlafenden Kinder, und es überströmte sie ein Gefühl unermeßlichen Reichtums. Jedes war Abbild eines Teuersten, jedes lebendiges, geprägtes Gut; sie seufzte wieder, aber dieser Seufzer hatte andern Klang.

Sie legte sich zum Schlaf hin, kaum hatte sie jedoch die Augen zugemacht, als es heftig an die Tür klopfte und auf der Schwelle Jefim Leontowitsch und der Soldat erschienen. Dieser sagte, alle müßten sogleich zum Bahnhof, der Waggon stehe auf einem Geleise parat. Die Kinder wurden aufgeweckt, rasch waren die Großen und Kleinen marschfertig, zehn Minuten später war man unter Führung des Soldaten auf der menschenleeren Straße. Es ging an der Station vorüber, ziemlich weit hinaus. Die Luft war neblig und kühl. Maria forderte Jefim durch einen Blick auf, neben ihr zu gehen, und sie sagte zu ihm, sie danke ihm für seine selbstlosen Dienste, und es tue ihr leid, sich von ihm trennen zu müssen; aber sie hoffe, das Leben werde sie später einmal wieder zusammenbringen, und sie freue sich darauf, ihm dann ihren Dank besser zeigen zu können.

»Warum danken Sie mir, Maria Jakowlewna«, antwortete er, »und warum wollen Sie, daß ich mich von Ihnen trenne? Alles, was ich brauche, habe ich in dem Bündel da«, er wies auf einen Linnensack, den er mit dem andern Gepäck trug; »warum sollt ich hier bleiben, da ich doch ebensogut irgendwo sonst sein kann? Sie fliehen von hier, also lassen Sie mich auch fliehen. Belästigt Sie meine Gegenwart, so geh ich Ihnen aus den Augen; im schlimmsten Fall denken Sie sich, ich sei ein Fremder; es werden ja viele Fremde in Ihrer Nähe sein. Darf ich mir auch nicht anmaßen, daß ich ein nennenswerter Schutz für Sie bin, so hätte ich doch keine Rast mehr im Leben, wenn ich Sie unter diesen Umständen verlassen müßte. Dulden Sie mich also und seien Sie versichert, daß ich Ihnen nicht beschwerlich fallen werde.«

Dagegen gab es keinen Widerspruch. »Nicht einmal eine Hand hab ich frei, um Ihre zu drücken«, sagte sie mit ihrem gewinnenden Lachen. »Sie sind wirklich ein seltsamer Mensch, Jefim Leontowitsch; wodurch hab ich soviel Anhänglichkeit verdient? Sie kennen mich ja kaum.«

»Ich kenne Sie beser, als Sie glauben«, entgegnete er und wurde rot. »Ich denke viel über Sie nach.«

Ein Herr mit einem Strohhut winkte aufgeregt vom Bahngleise herüber. »Das ist Menasse«, sagte Maria, »schön, daß er da ist.«

Das Winken Menasses bedeutete, daß man sich sputen möge. »Guten Morgen, Herr General«, begrüßte ihn Maria. Er fragte unwirsch, warum sie so spät käme, alle andern seien schon einwaggoniert, fange man mit Unpünktlichkeit an, so werde man mit Katastrophen enden. Er hüpfte gestikulierend vor dem Trittbrett eines Salonwagens herum, der zwischen die Wagen eines Güterzugs gekoppelt war. Die Fensterscheiben waren dicht verhängt; drinnen war ein Gewimmel von Menschen; jeder war bemüht, sich einen Platz zu erobern. Menasse keifte mit einem alten Herrn, der seine Koffer um sich herumgestellt hatte; blies eine Dame an, die eine Auskunft von ihm begehrte; raste von Abteil zu Abteil und vermehrte die Verwirrung; warf eine Schachtel in den Korridor, riß im Eifer seinen flachen Strohhut vom Kopf und fuchtelte damit durch die Luft; betonte zehnmal in höchster Fistel, daß er unbedingten Gehorsam erwarte und daß er einfach die Hände in den Schoß legen und alle ihrem Schicksal überlassen werde, wenn man nicht Disziplin halte. »Wer ist der hier?« fuhr er Maria grob an und deutete mit dem Ellbogen auf Jefim Leontowitsch. Maria sagte gelassen und mit einem treuherzigen Ausdruck ihrer kurzsichtigen Augen: »Herr Menasse, ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie nicht so schreien würden. Sie erreichen, bei mir wenigstens, Ihre Absicht viel besser durch Artigkeit. Einigen wir uns auf dieser Grundlage, nicht wahr? Der junge Mann gehört zu meiner Gesellschaft, ich bürge für sein Wohlverhalten und für Ihre Auslagen; im übrigen: seien wir Freunde, Herr Menasse.« Sie reichte ihm lächelnd die Hand, in die er, einigermaßen verdutzt, die seine flüchtig legte; dann schoß er davon.

Um fünf Uhr morgens war man eingestiegen, um zehn Uhr setzte sich der Zug in Bewegung; nach Westen, durch das Gebirge, gegen das Meer. Die Fahrt war nicht schneller als mit einer Kutsche. Das Durcheinander ordnete sich allmählich. Menasse wurde nicht müde, Ruhe zu gebieten. Ein Dorn im Auge waren ihm die auf und ab rennenden Kinder. Wenn der Zug hielt, stürzte er erregt ans Fenster, lugte durch einen Spalt hinaus, alle schwiegen gespannt, dennoch streckte er den Arm steif zurück wie ein Dirigent, der eine Fermate verlangt. Maria kannte nur wenige der Reisegenossen, einen Moskauer Fabrikanten, eine Gutsbesitzersfamilie aus Tula, einen ungarischen Baron, den Grafen und die Gräfin Duchorski aus Petersburg, einen Bankdirektor aus Kiew, zwei ältere Damen, die im Palasthotel gewohnt hatten. Es wurde heiß. Wenn die Kinder zu essen verlangten, ging es erst an ein langwieriges Suchen unter den Gepäckstücken. Wenn Wanja die Brust bekam, bildeten Litwina und Arina eine Mauer. Um vier Uhr nachmittags hielt der Zug auf offener Strecke. Eine Zeitlang war Stille, dann hörte man Menasses Fistel erbittert. Mitja kam und berichtete: »Es sind Männer draußen, die befehlen, daß alle aussteigen müssen.« Die Worte verbreiteten Schrecken. Es verhielt sich so. Der Zug war von einer streifenden Bande, dreißig bis vierzig Leute, zum Stehen gebracht worden. Der Anführer forderte Menasses Papiere. Menasse weigerte sich tollkühn. Drohung mit Gewalt machte ihn nicht gefügiger. Erst als jene Hand an ihn legten, besann er sich. Er hatte sämtliche Pässe bei sich. Indem er dies zugab, fing er an, mit dem Führer zu unterhandeln. Einige Leute waren in den Wagen gestiegen und trieben die Passagiere heraus. Wie sich alsbald zeigte, wollten sie die bequeme Fahrgelegenheit für sich haben. Die Überfallenen fügten sich widerspruchslos, nur einige Frauen jammerten. Die Gräfin Duchorski stand mit einem Gesicht voll eisiger Verachtung mitten in dem Haufen von Gepäck, der den blühenden Wiesenhang bedeckte. Menasse redete leidenschaftlich auf den finster blickenden Anführer der Bande ein. Der Mensch schüttelte zu allem den Kopf. Den Salonwagen dürfe niemand mehr betreten; auch keinen der andern Wagen im Zug. Um Gottes willen, so solle man hier zurückbleiben, im Gebirge, ohne Unterkunft, ohne Weg und Steg? Ja, das solle man; solle froh sein, wenn es damit sein Bewenden habe. Die Summen, die Menasse bot, fanden Unempfindlichkeit. Menasse, in einer Haltung wie Jago gegen Othello, schmeichelte; umsonst; pochte, in einer Haltung wie Marquis Posa gegen Philipp, doch immer krähend, auf menschliche Gefühle. Umsonst. Da trat Maria hinzu. Sie sprach ruhig und mit kunstloser Würde. Ihre Argumente waren um nichts zwingender als diejenigen Menasses, aber schon nach den ersten Worten hörte ihr der Mann, dem Anschein nach ein Bauer, der im Krieg gewesen war, anders zu, obgleich er die Stirn nicht entrunzelte. Da wirkte eine gewisse Freiheit, verbunden mit Kenntnis des Volkscharakters, eine gewisse Pfiffigkeit in den Wendungen, als ob sie sagte: Du weißt doch; erinnere dich doch; so und so, es wird doch darüber kein Mißverständnis zwischen uns geben; ganz trocken alles, wie wenn sie über Mais oder Kartoffeln redete, dabei aber als Herrin, die gewohnt ist, daß man tut, was sie gebietet. Der Mann hatte Respekt. Sie erlangte, zusammen mit dem Geldangebot Menasses, die Erlaubnis, daß sich die Flüchtlingsgesellschaft in zwei leeren Viehwagen einquartieren durfte. Menasse sagte: »Sie sind eine tüchtige Frau; à la bonne heure, das haben Sie gut gemacht. Immerhin, bei dieser Art von Transport werden wir nichts zu lachen haben.« Und er fing bereits wieder an zu kommandieren. Nach einer Stunde waren alle untergebracht, das Gepäck verstaut, die Türen der Viehwagen verschlossen und von außen abgesperrt sowie zur Sicherheit plombiert; der Zug rollte weiter.

Diese Fahrt im Viehwagen dauerte drei Tage und vier Nächte. Mit Maria eingepfercht waren siebenundzwanzig Menschen, darunter zwölf Kinder; eingepfercht in einen finstern Raum, in welchem es übel roch; hingekauert auf mangelhafte Lagerstätten, Kranke und Alte; fast ohne Schlaf die Nächte, ohne genügende Nahrung die Tage; belästigt von widrigen Verrichtungen, die jeden sich selbst und den andern zur Pein machten. Das Rattern der Räder wurde mörderischer Lärm; das stundenlange Halten in Stationen mörderische Stille; die auf das Dach des Kerkers niederbrennende Sonne vermehrte die Pestilenz; einige, die im Fieber lagen, stöhnten, und ein ungewohnter Laut rief entsetzte Schreie hervor. Dicht an Maria gepreßt lagen die drei Knaben; sie strich dem einen oder dem andern bisweilen über das Gesicht, prüfend, ob sie schlummerten, ob die Haut nicht heiß sei, dankbar für ihre Geduld und Ruhe, zugleich in Sorge darüber. Oft sprach sie zu ihnen; oft auch wandte sie sich an Jefim Leontowitsch; Wanja hielt sie meist an der Brust, wusch das Gesichtchen und die Hände mit Kölnischem Wasser, tröstete Litwina, die an Erbrechen litt, schalt mit Arina, die hysterische Anfälle hatte, rief hie und da ein Wort, eine Frage über die Köpfe der Leidensgefährten und stritt mit dem rechthaberischen Menasse über die Nähe des Ziels, der kleinen Hafenstadt am Schwarzen Meer.

Endlich eines frühen Morgens, in einer Haltestation, öffnete die mitleidige Hand eines Zugbediensteten die Tür. Der hereinquellende Lufthauch war wie Neugeburt, das Schauspiel, das sich bot, unerhört. Tief unten dehnte sich die See, blau, als könne man tausend Jahre blauen Himmel aus ihr erzeugen. Rings die letzten, üppig bewachsenen Kuppen des Gebirges, Gärten, Weingelände, Pinien, Bäume voll Orangen. Niemand redete; kein Laut. Manche sahen wie Leichen aus, ihre Augen wie verdorrt; das blühende Land, das Gestade, das schöne Meer ließ sie schaudern. Die Tür blieb offen, vielleicht in der Annahme, daß die Zone der Gefahr überschritten war; aber einige Stationen vor der Stadt wurde Menasse berichtet, daß diese seit zwei Tagen in den Händen der Matrosen sei, und ihr Oberhaupt Igor Golowin wurde von Flüchtlingen als gefürchteter Name genannt.

Menasse hatte in der Stadt seine Helfer, die er zu benachrichtigen vermochte. Wieder außerhalb des Bahnhofs verließen alle den Wagen und wurden nach Anbruch der Dunkelheit möglichst heimlich in einen Gasthof am Rande der Stadt geführt. Den Kranken konnte kein Beistand geleistet werden; sie mußten zu Fuß gehen. In den Straßen herrschte Tumult; vom Meer her tönten Schüsse.

Der rechteckige Raum, in den sämtliche Zimmer des Gasthofs mündeten, glich bald einem Koffermagazin. Träger polterten die Treppe herauf und warfen immer neue Gepäckstücke in den Wirrwarr. Arme griffen durcheinander; jeder suchte sein Eigentum. Mehrere Knaben waren auf eine Kiste geklettert und rauften um den Platz. Ein Hündchen trippelte winselnd um Menschenfüße, die es beschnupperte. Der Bankdirektor, an die Mauer gelehnt, rauchte eine Zigarette; Graf Duchorski unterhandelte mit einem schmutzig aussehenden Kellner. Menasse hatte seinen Kneifer verloren, und man sah seinen verzweifelt verrenkten Körper wie zwischen Felsen auftauchen und verschwinden. Unten gellte ein Trompetensignal; die Träger verlangten den Lohn, sie schienen in Eile, fortzukommen. Jemand sagte, der Hafen sei gesperrt, ein anderer hatte erfahren, ein deutsches Schiff kreuze auf dem Meer draußen. Der Streit um die Zimmer, deren nur elf zur Verfügung standen, wurde lärmend. Jefim Leontowitschs Stimme rief von einer Schwelle her: »Maria Jakowlewna, kommen Sie schnell; ich habe ein Zimmer für Sie besetzt.« Da Maria keinen Durchgang fand, kletterte sie über die Koffer. Menasse hatte sich vor Jefim aufgepflanzt und fauchte: »Was fällt Ihnen ein, zu schreien, Herr? Wenn Sie nicht schweigen, werde ich Ihnen stopfen den Mund. Wir sind gerannt dem Tiger direkt in die Zähne, verstehen Sie, was ich meine? Gott soll helfen, und da schreit er!« Maria sagte ruhig zu Jefim:

»Man müßte versuchen, unsere dreißig Kolli aus dem Haufen herauszufischen!«

Er nickte und sah besorgt umher. »Wo sind die Kinder?« fragte er.

Da kamen drei Matrosen die Treppe herauf, einer mit hastigerem Schritt vor den beiden andern, von denen er sich auch in Kleidung und Gehaben unterschied. Er trug blendendweiße Leinenhosen und eine Jacke von elegantem Schnitt. Er hatte keine Charge, trotzdem war seine Haltung gebieterisch, und zwar in einer brutalen und lässigen Art. Ihm zur Seite watschelte beflissen der Wirt, ein feister Tatar mit einem Gesicht wie aus Butter. Der Matrose stutzte beim Anblick des Gewühls und der Menge von Koffern; es war in der spärlichen Beleuchtung zweier Petroleumlampen, die an der Wand hingen, ein tristes Bild. »Was sind das für Leute«, wandte er sich fragend an den Wirt, »was geht hier vor?« Der Wirt suchte mit furchtsamen Augen Menasse. Dieser zwängte sich heran und gab sich eine Miene der Autorität. »Woher? Wohin?« fragte der Matrose barsch und verächtlich. Menasse stotterte. Der Matrose unterbrach ihn: »Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß ihr eure Reise fortsetzt. Das Gepäck ist beschlagnahmt. Das Weitere wird morgen verfügt.« Ohne die mehr mimischen als artikulierten Einwände Menasses zu beachten, wandte er sich wieder an den Wirt. »Ein Zimmer für mich«; und als der Wirt ratlos den fetten Körper verdrehte, sagte der zweite Matrose ungeduldig: »Ein Zimmer für Golowin; hast du nicht gehört, du Schwein?« Vor Furcht seiner Stimme kaum mächtig, erwiderte der Wirt, alle Zimmer seien vergeben; Väterchen könne sich ja selbst überzeugen; die vielen Menschen da; er habe nur noch eine Kammer unterm Dach frei; doch die Fenster seien zerbrochen, die Bretterwand halb eingestürzt; das Loch wage er Väterchen Igor Semjonowitsch nicht anzubieten; nebenan bei Alexei Davidowitsch sei noch ein Staatszimmer zu haben, prächtig mit Teppichen, auf Ehre, mit schönen Teppichen und Bilderchen an der Wand. Offenbar hatte er Angst, diesen Gast zu beherbergen, und wäre froh gewesen, ihn loszuwerden. Aber Golowin antwortete barsch: »Kein langes Geschwätz, du schmutziger Narr; ist kein Platz, so wird Platz gemacht. Habe nicht Lust, nach einem Bett zu hausieren. Hier neben der Treppe das Zimmer ist für mich. Punktum.« Und er deutete gegen die Tür, auf deren Schwelle Maria stand. »Verzeihung«, redete Maria ihn an, »es ist das letzte für mich und meine Kinder übriggebliebene Zimmer. Wir sind sieben Menschen, Sie einer. Wir sind am Ende unserer Kraft, eine furchtbare Reise liegt hinter uns. Wäre es nicht billig und großmütig, wenn Sie für diese Nacht mit der Dachkammer vorliebnähmen, da Sie sich schon nicht anderweitig umsehen wollen? Ich weiß nicht genau, zu wem ich spreche; aber jedenfalls doch zu einem Mann.«

Golowin schien überrascht. Er hob unmutig die Brauen. »Die Suada ist von euresgleichen unzertrennlich«, murmelte er. »Honig, um meinesgleichen die Kehle einzuschmieren, habt ihr immer noch auf Vorrat. Der verachtete Kuli braucht nur einmal die Fäuste zu zeigen, so wird an seine Großmut appelliert. Es ist eine neue Weltordnung, Madame. Wer sind Sie? Worauf berufen Sie sich?«

Diese für einen Matrosen sehr ungewöhnliche Ausdrucksweise überraschte nun wieder Maria. Sie bedurfte, um sich einzustellen, ihrer ganzen Geistesgegenwart. »Ich bin Maria Jakowlewna von Krüdener«, entgegnete sie mit klarer Stimme und legte die Hand auf Mitjas Haupt, der sich schützend neben sie gestellt hatte; »mein Mann, Gutsbesitzer im Tulaschen Kreis und kaiserlicher Offizier, ist ins Ausland geflohen, und ich bin im Begriff, dasselbe zu tun. Ich kann also Ihnen gegenüber keine Erwartungen, sondern nur Befürchtungen hegen. Sie haben recht, die Not macht uns charakterlos. Die neue Weltordnung muß zunächst an Frauen und Kindern ausprobiert werden. Litwina, Arina! Wir ziehen in die Dachkammer.«

Golowin schnitt eine ärgerliche Grimasse. »Sie täuschen sich, Madame«, sagte er und steckte beide Hände in die Hosentaschen, »Sie täuschen sich. Ich bin unempfindlich gegen die Künste des höheren Tons. Ob Dachkammer, ob Beletage, das spielt hier keine Rolle. Man wird Sie und Ihre ganze Gesellschaft morgen vor dem Standgericht aburteilen, und da Sie so unvorsichtig waren, Ihre Fluchtabsicht offen zuzugeben, können Sie sich ja ungefähr denken, was Ihr Schicksal sein wird. Wir pflegen darin kurzen Prozeß zu machen; aus Zeitmangel, Madame, aus Zeitmangel. Bleiben Sie also immerhin in der Beletage, wenn Sie Wert darauf legen; auch die andern Herrschaften will ich nicht weiter stören. Niemand wird natürlich das Haus verlassen; im übrigen ist Ihnen jede Freiheit unverwehrt bis morgen.« Dies sprach er ironisch gegen den Kreis erschrockener Neugieriger, der sich um ihn gesammelt hatte. Menasse machte Schwimmbewegungen mit den Armen, um sich die Herzudrängenden vom Leibe zu halten und sich in seiner Bedeutsamkeit gewissermaßen zu isolieren; er blinzelte an Golowin hinauf, als wolle er ihm zu verstehen geben, daß das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch zwischen ihnen beiden gewechselt werden müsse und er zuversichtlich auf eine Einigung rechne. Aber Golowin beachtete ihn gar nicht. Indem er sich abkehrte, fiel sein Blick auf Mitja, und er sagte: »Hübscher Junge; schade um ihn; er wird Mühe haben, sich mit alldem zu befreunden. Du sollst später einer der Unsern werden, mein Junge, was?« Zum erstenmal überlief Maria ein Zittern, und sie erbleichte, als Mitja mit der stolzen Entrüstung des Achtjährigen, den Heldengefühle beseelen, erwiderte: »Niemals, ich werde immer auf Papas Seite sein.« Golowin lachte. »Gute Zucht, Madame«, sagte er und sah Maria an. »Gute Zucht und gutes Blut«, antwortete sie. Er verbeugte sich spöttisch, ohne den Blick von ihr zu lassen, einen scharfen, grausamen, unaufhaltsamen Blick, der kalt prüfte und mehr und mehr einen bestimmten Vorsatz verriet. Maria hielt den Blick eine Weile aus, und erst als sie der Verwunderung der Zuschauer inne wurde, glitt ihr Auge zu Boden. Golowin wurde von seinen Begleitern angerufen und wandte sich zu ihnen. Auf der Treppe waren noch zwei Matrosen aufgetaucht, die einen sich sträubenden Menschen zwischen sich schleppten, den Koch des Hauses, welcher als Spion denunziert worden war; man wollte bemerkt haben, daß er von einem Fenster der Küche aus Signale gegeben hatte. Er beteuerte seine Unschuld und schlug mit den Armen um sich. Golowin rief seinen Leuten einen kurzen Befehl zu, und sie fesselten ihn. Der tatarische Wirt, zu dem der Koch in seiner Angst flüchten gewollt und den er mit Gebärden anflehte, erhob jammernden Einspruch, der ungehört verhallte. Menasse hatte indessen mit dem Grafen Duchorski und dem Ungarn leise gesprochen und näherte sich nun Golowin. Er zupfte ihn am Ärmel und nahm eine vertraulich- zwickernde Miene an, ohne sich durch die finstere Geringschätzung des ändern irremachen zu lassen. Er wisperte. Das Schweigen Golowins, statt ihn bedenklich zu stimmen, erhöhte seinen Mut. Das ihm geläufige Schema auch hier als praktisch betrachtend, nannte er die Summe, die als Ausgangspunkt für Verhandlungen dienen könne. Da legte ihm Golowin die Hand auf die Schulter und sagte zu dem ihm zunächst stehenden Matrosen: »Was meinst du, Maxim Maximowitsch, was das komische Insekt da will? Er will mich kaufen! Möchtest du ihm nicht mitteilen, was ich wert bin? Vielleicht gefriert ihm die geschwätzige Zunge, wenn er meinen Preis erfährt.« Menasse gab Zeichen äußerster Bestürzung von sich. Das war neu; ein Faktum, das ihn unvorbereitet traf. Die Matrosen gingen lachend die Treppe hinab. Golowin schickte sich an, ihnen zu folgen, blieb aber vor der Treppe unschlüssig stehen.

All dies hatte sich ziemlich schnell abgespielt. Die letzten Vorgänge hatte Maria nur wie etwas Fernes wahrgenommen. Sie trat ins Zimmer, wo Jewgenia und Arina die Lagerstätten für die Kinder bereiteten. Litwina trug das Handgepäck herein. Maria setzte sich in eine Ecke und nahm den ungebärdig schreienden Wanja an die Brust. Mitja stand vor ihr, der Anerkennung bedürftig, denn es waren Zweifel in ihm, ob er sich gut benommen habe. »Du warst lieb und tapfer, mein Sohn«, sagte sie, worauf er sogleich das Gespräch ablenkte und sich erkundigte, wo Jefim die Nacht verbringen solle. Jefim schnitt für Fedja und Aljoscha Brot ab und winkte Mitja, daß er schweige. Maria antwortete nicht. Sie war zerstreut. Ihre Gedanken waren von der Erscheinung Golowins in Anspruch genommen. Seine Manier, seine Geste, seine stechenden, bald farblosen, bald metallisch glitzernden Augen, die hagere, rasche Gestalt, der dünne, rasche Mund mit kleinen, dichten, weißen Zähnen, die rasche Rede, die Stimme, die mit befremdlicher Virtuosität durch alle Register lief, es wollte ihr nicht aus dem Sinn, das Einzelne nicht und das Ganze nicht. Plötzlich ging die Tür auf, und er trat ein.

Kälte entstand in ihr wie ins Herz gehaucht. Wanja hörte auf zu trinken, als sei die Milch versiegt, und zappelte erbost. Sie schob das Tuch, sich vor Blicken zu schützen, bis an den Hals und sah Golowin fragend an. »Ich wünsche mit Ihnen, Maria Jakowlewna«, sagte er förmlich, »einige Worte unter vier Augen zu sprechen.«

Sie wunderte sich. Sie schaute sich achselzuckend um. Da er schwieg und wartete, drehte sie den Kopf mit stummem Geheiß zu Jewgenia, die Arina und Litwina zunickte. Auch Jefim hatte begriffen; er rief die drei Knaben zu sich. Alle verließen das Zimmer. Marias Blick behielt den fragenden Ausdruck.

Golowin sagte: »Ihr jüdischer Mittelsmann hat mich für eine Art Straßenräuber gehalten, dem man Lösegeld anbietet. Ich vermute, Sie wissen davon. Wäre er weniger lächerlich, so hätte ich ihn heute noch ans Wirtshausschild hängen lassen.«

»Er ist nicht mein Mittelsmann, und ich weiß nicht, was er unternommen hat«, erwiderte Maria kühl.

»Ganz egal, Madame, Ihre Mitschuld ist unbestreitbar. Die Gefahrenaktien sind eben verteilt. Naiv ist es freilich, den ahnungslosen Hebräer ins Treffen zu schicken. Sie hätten es verhindern müssen. Haben Sie mich so schlecht angesehen, mit diesen Augen im Kopf? Warum haben Sie selber denn die Gelegenheit versäumt, das Terrain zu sondieren? Ich hatte es erwartet. Daß ich statt dessen zu Ihnen kommen muß, gibt kein Plus in Ihrer Rechnung.«

Maria überlegte erregt: Wohin zielt das alles?

Er ging ein paarmal auf und ab, Hände in den Hosentaschen. Seine Stimme wurde glatter und heller, als er fortfuhr: »Bin vor der Treppe gestanden und habe gegrübelt: Was ist das für ein Gesicht? Was ist das für eine Sorte Frau? Kennst du das Gesicht? Wie geht es zu, daß du es nicht kennst? Na, da beschloß ich, Avancen zu machen. Es freut Sie nicht, wie? Ich bin mir natürlich bewußt, daß meine Person eben das repräsentiert, was Sie mit gutem Grund verabscheuen. Trotzdem stehe ich da. Komme trotzdem mit einem Vorschlag zu Ihnen, der nach Waffenstillstand aussieht.«

»Was ist es für ein Vorschlag?« fragte Maria unbefangen.

Sein rotes, muskulöses, von Wettern gegerbtes Gesicht zeigte Verkniffenheit. Da jeder Nerv in ihm auf beschleunigtes Tempo gestimmt war, entfachte die langsame Entwicklung offenbar seine Ungeduld. Er stieß die Worte hervor, die einen Klang von Brutalität hatten: »Ich habe mich Ihnen zu Gefallen mit der Dachkammer begnügt; ich denke, Sie werden mich dafür entschädigen.«

»Entschädigen? In welcher Weise? Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, daß Sie mich da oben besuchen sollen.«

»Wie, besuchen? Ich verstehe Sie nicht ganz.«

Er verzog ärgerlich das Gesicht. »Ich meine, daß Sie mir heute nacht die Ehre Ihres Besuches erweisen«, wiederholte er in bösem Ton.

Maria lächelte belustigt.

»Es liegt mir daran«, fuhr er fort und streckte das Kinn vor; »es liegt mir viel daran, ich werde Ihnen schon erklären, warum. Ich habe mir's in den Kopf gesetzt, und mich von einer Sache abbringen, die ich mir in den Kopf gesetzt habe, ist nutzlos. Versuchen Sie das gar nicht erst.«

Maria lächelte. In dieses Lächeln gehüllt, war sie von oben bis unten Dame. »Sie überschätzen mein Interesse an fremden Zwangsideen«, sagte sie leicht; »ich will es durchaus nicht versuchen.«

Er machte zu ihr hin eine Bewegung wie eine Katze.

»Bleibt es bei der Antwort?« fragte er mit unerwartetem Ausdruck von Neugier.

Sie nickte. Wanja begann zu weinen. »Geben Sie doch den Balg weg«, herrschte er sie an, »er stört mich.« Maria klopfte Wanja den Rücken, und er wurde still. Golowin sah auf ihre Hand. Sie verbarg sie hastig unter Wanjas Kissen.

Nach einer Pause fing er an: »Gut, stellen wir uns auf den Boden der gesellschaftlichen Form. Was haben Sie zu fürchten?«

»Nur meine Meinung von mir selbst.«

»Sonst nichts?«

»Doch. Ich kann mich nicht in eine Situation begeben, deren ich mich später vielleicht zu schämen hätte. Wie sie auch verläuft, ich müßte sie vor einem rechtfertigen, der Rechenschaft von mir verlangen darf.«

»Unsinn«, murrte Golowin; »das klingt ja so, als wollte ich die Geschichte von boule de suif mit Ihnen aufführen. Knallerbsen werf ich nicht. Bin nicht lustig genug dazu.« Er bemerkte ihr aufblitzendes Erstaunen über das literarische Zitat, ging aber mit einer Grimasse darüber hinweg. »Ihre Bedenken sind schwächlich«, sagte er; »außerdem nicht sehr klug. Ich biete Ihnen einen Vorwand, der Ihnen Schlupflöcher nach allen Seiten läßt. Ich verhandle mit Ihnen über Ihr Schicksal und das Ihrer Kinder und Ihrer Reisegenossen. Weisen Sie mich zurück, so ist es von vornherein besiegelt. Demnach riskieren Sie nur, was ein vernünftig erwägender Mensch riskieren muß.«

»Weshalb denn eine nächtliche Verhandlung in der Dachkammer?« fragte Maria kopfschüttelnd. »Nennen Sie Ihre Bedingungen, ich werde Ihnen sagen, ob sie annehmbar sind.«

Er lachte. »Nein, ich bedaure, das liegt nicht in meinem Plan«, erwiderte er spöttisch. »Da hätte ich mich ja ebensogut mit dem eifrigen Israeliten aufs Feilschen einlassen können. Aber das liegt nicht im Plan. Der Preis, von dem hier die Rede ist, kann nicht mit Münze bezahlt werden. Chance ist Chance, Madame. Es wäre ja geschmacklos, wollte ich vor Ihnen den Attila mimen; aber ich bin nun einmal der Diktator der Stadt, und alle die Seelen sind in meiner Gewalt wie Fische in einem Behälter. So stehen die Dinge. Andrerseits weiß ich, daß eine solche Affäre wie die zwischen uns beiden zart anzufassen ist, und wenn Sie die Pression, die ich auf Sie ausübe, unanständig finden, bin ich bereit, ein Versprechen zu leisten. Ich verspreche feierlich, Ihnen nicht um Breite eines Haares näherzutreten, als Sie es zu Ihrer Sicherheit für wünschbar halten. An dieses Wort will ich mich binden, dürfen Sie mich binden. Weigern Sie sich noch immer, so haben Sie die Folgen selbst zu tragen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür. »Ich warte, Maria Jakowlewna«, sagte er; »von jetzt an in einer Stunde werde ich auf Sie warten. Zögern Sie nicht zu lange; die Nacht ist kurz.«

Maria sah sorgenvoll vor sich hin. Als er schon die Klinke in der Hand hielt, wandte er noch einmal das Gesicht zurück und sagte, wieder mit gestrecktem Kinn: »Ich bin ein waghalsiger Spieler, aber auch ein ehrlicher. Meine Herrschaft dahier steht, bei Licht besehen, auf ziemlich schwachen Füßen. Es ist möglich, daß ich morgen in aller Frühe mit meinen Leuten werde abziehen müssen. Deutsche Truppen sind gemeldet. Vielleicht haben wir dann gar nicht mehr die Zeit, euch den Prozeß zu machen, und Sie kommen mit dem Schrecken davon. Denken Sie einmal nach, was für ein Einsatz auf der Karte steht, die ich jetzt so unvorsichtig aufgedeckt habe. Denken Sie mal nach, es lohnt sich.«

Er verschwand.

Die Kinder und die Dienerinnen kamen wieder herein. Alle legten sich gleich hin und verzehrten nur ein paar Bissen zum Nachtessen, halb schlafend schon. Jefim hatte eine Liegestätte unter der Treppe gefunden. Auch Maria warf sich aufs Bett; sie behielt die Kleider an. Es klopfte. Menasse bat noch um eine Unterredung. Er ließ sich nicht abweisen. Er wollte erfahren, was sie mit Golowin gesprochen habe. Auch die andern draußen seien aufs äußerste gespannt; ein Stein sei ihnen vom Herzen gefallen, als sie den schrecklichen Menschen zu ihr hatten gehen sehen. Maria fühlte sich erschöpft; sie vertröstete ihn auf den nächsten Morgen. Er sagte, nur sie könne das Unheil abwenden; Graf Duchorski lasse ihr seine unbegrenzte Verehrung wissen; die Herren samt und sonders erwarteten geradezu das Wunder von ihr. Jewgenia drängte den Schwatzhaften endlich über die Schwelle.

Maria schlief ein. Als sie wieder die Augen aufschlug, geschah es wie auf Befehl. Ihre Gedanken waren im Nu gesammelt und klar. Der Raum war voll Mondlicht. Sie sah auf die Uhr; es war halb zwölf, sie hatte also drei Stunden geschlafen. Sie erhob sich leise, richtete ihr Haar, brachte das Kleid in Ordnung, zog aus der Handtasche ein Spitzentuch und nahm es um die Schultern, dann verließ sie auf Zehen das Zimmer. Sie stieg die enge Holztreppe empor; der Treppe gegenüber war eine Tür. Während sie überlegte, öffnete sich die Tür, und Golowin stand vor ihr.

Er forderte sie schweigend auf, einzutreten. Da kein Licht drinnen war, verharrte sie betroffen. Doch lag die Kammer auf der Mondseite, und der Mond erzeugte solche Helligkeit, daß jede Bodenritze und jedes Spinngewebe erkennbar war. Es war ein Bretterverschlag, nicht viel breiter als die Fensteröffnung, nicht viel länger als die eiserne Bettstelle. Außer dieser waren nur noch ein Tisch und ein Stuhl vorhanden. Die Wandbretter hatten zum Teil ihre Befestigung verloren und hingen schief und morsch. In den Fensterrahmen fehlte das Glas. Man sah über niedrige, mondglänzende Dächer bis zum Hafen hinaus, dessen Fläche ebenfalls im Mond schimmerte.

»Wenn Sie Wert darauf legen, will ich die Kerze anzünden, obwohl nur noch ein Stümpchen da ist«, sagte Golowin; »ich meinerseits ziehe die natürliche Beleuchtung vor. Die ganze Zeit, während ich hier geduldig auf Sie gewartet habe, hat es mich beschäftigt, mir Ihr Gesicht im Mondlicht zu denken. Eine romantische Veranlagung, nicht wahr? Ich bin sicher ein heimlicher Romantiker; außen ein wenig ruppig, aber innen Romantiker, ganz sicher.« Er lachte.

Maria stand eine Weile, dann griff sie nach der Stuhllehne. Er sagte: »Der Stuhl hat nur drei Beine, er ist höchstens für mich zum Balancieren praktikabel. Ich muß Ihnen das Bett zum Sitzen anbieten; I know, that's a funny misfortune, aber alles ist nun einmal aufs Heikle zugespitzt, wir wollen uns bei der mangelhaften Inszenierung nicht aufhalten. Bitte nehmen Sie Platz.«

Die Bettstelle war niedrig; Maria setzte sich, spürte, daß sie errötete, fröstelte unter einem kühlen Luftzug vom Fenster her, zog das Spitzentuch fester, schaute Golowin schweigend an. Ihre großen, dunklen Augen, denen die Kurzsichtigkeit einen lange verweilenden Blick verlieh, glänzten feucht. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie in ihrer mutigen und offenen Art. »Ich werde das Gefühl nicht los, als ob Sie in einer Verkleidung steckten. Sind Sie wirklich Matrose von Beruf? Wer sind Sie?«

Er hatte sich nachlässig auf die Tischkante gesetzt und die Arme verschränkt. »Also curriculum vitae?« antwortete er lachend. »Verkleidung? Nein. Ein bißchen buntscheckig, ja. Oder zwiebelähnlich, mit vielen Schalen.« Er räusperte sich und heftete den Blick ins Freie. »Ich sehe ein, daß es unartig wäre, Ihre Wißbegier nicht zu befriedigen«, begann er; »ich will knapp sein wie ein Lexikon. Geboren in Warschau. Vater: Pole, mit deutschem Einschlag im Blut; Mutter: Engländerin, Pastorentochter. Alter: sechsunddreißig. Erzogen in der Kadettenschule. Dumme Streiche gemacht, davongejagt worden. Müßig herumgetrieben, mit der Hefe gelebt, nach dem Tod der Eltern völlig mittellos. Eines Tages die Kräfte zusammengerafft; Elektrotechnik studiert; gehungert; nach Schweden gegangen, nach Norwegen. Mich anheuern lassen auf einem Walfischfänger; zwei Winter im grönländischen Eis verbracht. Nach Edinburgh gegangen. Monteur geworden. Nach Island gegangen und in Reykjavik ein Elektrizitätswerk gebaut. Geheiratet; Tochter eines Reeders; mit ihr nach London gereist; höllisch betrogen worden von ihr; kurzen Prozeß gemacht: eine Kugel durch ihren Kopf, bei Nacht und Nebel davon. Nach Amerika. In einer Dampfwäscherei gearbeitet; auf einem Kohlendock in Montreal; in einer Wurstfabrik in Chikago; bei der Illinois Railway Company; als Zeichner und Ingenieur in San Franzisko. Große Affäre: die beiden Töchter eines Holzmagnaten verführt; von gedungenen Strolchen beinah erschlagen worden; sechs Monate Spital. Nach Paris gegangen; Reporter für Newyork Herald geworden; im Jahre 12 nach Petersburg geschickt; den geheimen Organisationen beigetreten; im Jahre 14 Einberufung zur Marine; Vertrauensmann der Besatzung geworden; den Umsturz mit herbeigeführt, und nun«, er verbeugte sich bizarr, »der Auszeichnung gewürdigt, meinem verehrten Gast diesen Steckbrief überliefern zu dürfen.«

»Viel in wenig Worten«, sagte Maria lächelnd.

»Braucht es mehr? Die Ereignisse geben ja doch nicht den Inhalt. Fast jedes Leben, meines auch, ist eine unordentlich gepackte Kiste, und wenn man sie ausräumt, haben die meisten Dinge längst nicht mehr den Wert, den sie beim Einpacken hatten. Ich bin kein Freund von Ausräumen. Lieber noch ein paar Nägel in den Deckel.«

»Sie laufen sich selber voraus, Sie laufen mit sich selber um die Wette«, bemerkte Maria.

»Ja, das sagen Sie so, ob Sie aber das richtige Bild davon haben, möchte ich bezweifeln«, antwortete er. »Eigentlich war kein Tag der Rast. So eine Stunde wie die jetzige, wo man spricht und sich zurückbesinnt, hat es eigentlich nie gegeben, denken Sie! Man war wie auf einem Schiff, das mit vollen Segeln vorm Sturm rennt. Bö auf Bö; da ein Leck, dort ein Leck; alle Mann an die Pumpen; zuletzt immer ein verzweifelter Sprung von der Takelage ins Rettungsboot. In so einem nüchternen Taumel; in so einer betrunkenen Entschlossenheit; mit dem Zittern bis in die Rippen; und niedergetrampelt wurde jeder, der im Weg stand. Ja, so war es.«

»Immerhin haben Sie ein Stück der Welt mit Appetit verspeist«, sagte Maria und zeigte ihre herrlichen Zähne.

»Das ist wahr«, erwiderte er und nickte. »Sie ist mir nichts schuldig geblieben, die Welt, ich ihr auch nichts. Ich habe sie kennengelernt von unten bis oben, die brüchigen Fundamente, die verfaulten Schanzwerke, die verrostete Maschinerie, die rissige Verschalung, die schadhaften Ankertaue, wie gesagt: vom Kiel bis in die Rahen. Und was die Bemannung betrifft: kranke Gehirne, ein tollwütiges Fieberwesen, eine bestialische Raserei der Untiefe zu. Es war ein Riesenspaß, Maria Jakowlewna, eine Labung fürs Gemüt. Es gab Zeiten, wo ich quietschvergnügt gewissermaßen neben dem hochgespannten Dampfkessel hockte und mir an den Fingern ausrechnen konnte, wie lang es noch dauern würde, bis der ganze pomphafte Plunder mit ungeheuerm Krach in die Luft flog. Eigentlich waren das die schönsten Momente. Ich habe etwas von einem Propheten in mir oder wenigstens von einem Diagnostiker. Das kam mir auch beim Dienst auf dem Kriegsschiff zustatten. Einen schöneren Explosionsherd konnte man sich im verwegensten Traum nicht ausmalen; ein Faß Dynamit mit der Lunte am Spund ist ein Spielzeug dagegen. Lehrreich, zu beobachten, wie unwiderstehlich es die Mäuse zum Speck in der Falle zieht. Ich hielt mich kunstvoll am Rande, immer zwischen Beförderung und Disziplinarverfahren; sie konnten mir nicht beikommen, auch nicht mit dem Köder der Rangerhöhung; warum hätte ich den schnappen sollen? Ich fühlte mich auf der Pulvertonne am richtigen Platz. Ich vermochte meinen Leuten den Tag vorauszusagen, an dem die Mine springen würde; und an genau dem Tag haben wir den Kapitän, die Offiziere, die Maats und was immer Epauletten und Sterne trug in die Feuerungslöcher befördert; eine zu schnell funktionierende Hölle, leider, wenn man bedenkt, was für eine lange Hölle sie andern bereitet hatten.«

Er sprach völlig ruhig, beinahe heiter, in einem flüssigen Plauderton, wie von einer Sportleistung, auch mit der dazugehörigen halbironischen Prahlerei. Er zündete eine Zigarette an, und beim Aufflammen des Streichholzes erschien Maria sein Gesicht kindlich harmlos. Mit ruhenden Händen im Schoß saß sie da und fand keine Worte.

»Famos, wie Ihre Hände sich im Mondlicht ausnehmen«, sagte Golowin; »wie weißer Bernstein.«

Sie fuhr zusammen. »Sie haben meine Gegenwart gewünscht, um mit mir zu verhandeln«, sagte sie mit verzogener Stirn; »das war die Abmachung. Ich habe mich Ihrer Laune gefügt, weil ich schließlich von Ihrer Laune abhänge, und nicht nur ich allein. Kommen wir also zur Sache.«

»Es wundert mich, daß Sie damit solche Eile haben«, antwortete er mit einem kichernden Ton. »Seien Sie doch froh, wenn ich meine Zunge spazierenführe. Am Zweck, den ich verfolge, sollte Ihnen wenig gelegen sein. Oder sind Sie so naiv, daß Sie glauben, es gehe um die Schale und nicht um die Nuß? Sind Sie wirklich da heraufgekommen in der Meinung, wir würden eine unverfängliche diplomatische Schachpartie spielen?«

Maria, beunruhigt, stand auf. »Ich dachte, um Knallerbsen zu werfen, seien Sie nicht lustig genug.«

»Es muß ja nicht boule de suif sein«, entgegnete er zynisch, »es kann ja, beispielsweise, auch Maß für Maß sein. Das ist dann schon minder lustig. Es hängt meistens von der Frau ab, ob es lustig ist oder nicht.«

Maria sagte verletzt, und ihre dunkelsonore Stimme bebte: »Es besteht keine Gemeinschaft zwischen uns. Sie sind ein Liebhaber von Späßen, ich bin zu spaßen nicht aufgelegt. Sie tanzen um einen Weltbrand einen Freudentanz; so suchen Sie sich wenigstens nicht einen Partner aus, dessen Lebensglück in den Trümmern liegt. Was ist Ihre Absicht?«

Er näherte sich rasch, die flachen Hände aufgehoben. »Vor allem: nehmen Sie wieder Platz. Nicht diese Miene! Zucken Sie nicht zurück, ich rühre Sie nicht an. Bei Gott, ich rühre Sie nicht an. Ist Ihnen kalt? Wollen Sie meinen Mantel haben? Nein, nein, bleiben Sie sitzen, ich lasse ihn am Nagel; kann mir denken, daß Ihnen vor solchem Mantel widert. Das bißchen Zimperlichkeit halt ich zugut. Und nun merken Sie auf.«

Er zog den dreibeinigen Stuhl heran, flink und plump in den Bewegungen, und setzte sich auf den äußersten Rand, um des Gleichgewichts sicher zu sein. Er legte die Hände um seine Knie, beugte sich vor, streckte das Kinn. Alles hatte eine gewisse Anmut, eine plumpe Geschmeidigkeit, kraftvolle Zierlichkeit. »Seit zweieinhalb Jahren habe ich nicht in das Gesicht einer Frau gesehen«, begann er und lächelte knabenhaft; »habe ich nicht die Luft geatmet, die um eine Frau ist, nicht die Bezauberung verspürt, die davon ausgeht, wie eine Frau die Hände regt, die Lider hebt und senkt, die Lippen öffnet und schließt. Ich habe Kohlenrauch gerochen, Kohlenstaub in die Lungen gepumpt und mit Salzluft mühsam wieder ausgespült, die gräuliche Atmosphäre in Schlafsälen, den heißen Ölgestank im Maschinenraum geschmeckt; ich habe Zähne fletschen sehen, Flüche murmeln hören, allen Unrat der Menschennatur sich über mich ausgießen lassen, die eingequetschte, wimmernde, wütende, brüllende Qual eines riesigen Kerkers miterlebt, und ich bin hungrig. Nicht in der Weise hungrig, wie Sie zu fürchten scheinen. Man hat seine Erziehung, man hat seine Erfahrung, man ist kein Geier. Nicht hungrig wie einer, der aus Mangel an Nahrung krepiert, an Nahrung überhaupt. Wenn's weiter nichts wäre! Der Tisch für die andern ist reichlich gedeckt. Ich bin hungrig wie ein Mann, den eine Fiebererscheinung in Trance versetzt hat. Wir hatten mal in Boston eine spiritistische Sitzung. Es kam, im blauen Licht, ein weibliches Gespenst herein. Sah ungefähr aus wie Sie, Maria Jakowlewna; wunderbar sehen Sie aus, wie Sie da sitzen und mir zuhören. Na, ich ging entschlossen auf das Gespenst los, ohne mich um die hysterischen Entsetzenskrämpfe der verzückten Gesellschaft zu kümmern, griff mit Armen danach, und siehe da, es war ein warmer, weicher Menschenleib. Ich entsinne mich, es war ein unvergeßliches Wohlsein in mir, als ich den warmen, weichen Weiberleib hatte. Der Gespensterunfug nahm gar nichts weg von dem Wohlsein, im Gegenteil, es war so diabolisch verboten, daß es mir göttlich behagte. Man muß nur mit Armen zugreifen, wenn es um einen gespenstert. Und es gespenstert schon lange um mich.«

Er lächelte abermals; strich mit der Hand über die dünnen, schlichtliegenden Haare; sah alt aus, verbraucht, zerwühlt, plötzlich wieder straff, elastisch, jugendlich und fuhr nach einigem Besinnen fort: »Sprechen wir ein wenig von der Fieber-Erscheinung und davon, wie sie entstanden ist. Denken Sie sich also Hunderte von Männern, primitiven Männern, denken Sie sie monatelang an einem und demselben Ort; Hunderte, doch in ihrer Gesamtheit absolut einsam auf dem Ozean; durch die militärische Knute in Atem gehalten, durch harten Dienst niedergezwungen; in ihren Trieben und Instinkten vollständig geknebelt. Überlegen Sie sich einen Augenblick, was daraus erwächst. Ich bin ein Mensch, der das Grauen nicht kennt und auch den Ekel nicht. Ich nehme alles von der einfachsten Seite; es ist da, also hat es da zu sein. Aber wenn man so buchstäblich in den Miasmen watet, die aus den Seelen dunsten, das reißt an den Nerven. Es gibt bei Männern einen Zustand der Entbehrung, der stillen, stumpfen, folternden Begierde, der macht alles zu Gift und Brand in ihnen. Gefehlt, wollte man meinen, daß die aufreibende Arbeit, die körperliche Erschöpfung dem entgegenwirkt; die vergiften und verbrennen nur noch mehr, bis das ganze Individuum ein von tobsüchtigen Bordellbildern geschütteltes Ding ist mit zwei Existenzen, jede tierisch genug: die wirkliche, graue, trostlose und die in der Bruthitze der Erinnerungen und der Wünsche. Ich habe nie an die friedlichen Robinsons geglaubt; ist so ein Bursche gesund und ein ehrliches Mannsbild mit seinem Geschlecht im Leibe, so muß er ja komplett verrückt werden. Oder es stirbt ein Stück Leben in ihm ab. Ich trete zum Beispiel in einen Schlafraum und sehe mir die Schläfer einzeln an. Da ist einer, liegt in Schweiß gebadet, mit dicht aneinander gerückten Falten auf der Stirn. Jede von den Falten ist eine mit Ausschweifungen gefüllte Grube. Er hält sich schadlos, der Kerl; er dichtet; er lebt sich aus in seinem lasterhaften Schlaf; kein Hirn eines abgefeimten Erotikers ist je auf solche Möglichkeiten verfallen. Ein anderer windet sich wie in Krämpfen der Pubertät; er ist leichenblaß und trinkt seine eigenen Lippen. Ein anderer sieht aus, als klettre er an einer Felswand hinauf, angespannt wie ein Seil, lüstern wie ein Affe. Sie keuchen, schlagen mit gekrallten Fingern um sich, grinsen gierig, flüstern einen Namen, umklammern etwas in der Luft, sind vollständig aufgerissen, in einem Chaos glühender Visionen. Noch ein Beispiel. Ich sitze unter ihnen; dienstfreier Abend; man redet; sie werfen sich ihre Schlagworte zu; Anspielung auf Anspielung; grobes Geschütz, daß einem die Ohren sausen; eh man's recht weiß, ist der Siedepunkt erreicht: die Augen kochen, die Zungen wirbeln, das kaum Ausdenkbare wird gesagt, geschrien, schamlos hingemalt, sie wälzen sich in einer heißen Pfütze, übersteigern sich, neiden einander das frechste Bild, den unflätigsten Ausdruck, und man sieht dabei, wie es sie über alle Begriffe martert. Und man beobachtet zwei, die sich einander mit verdeckten Blicken messen, Mann gegen Mann, als wär's Mann gegen Weib; stumm und irr faseln sie vom Fleisch und von Lust; sie verstehen sich vortrefflich, die zwei in ihrer Entzündung, und sie sind nicht die einzigen. Jag ich Ihnen Schauder ein? Das ist nicht der Zweck. Ich tünche bloß den schwarzen Untergrund für mein Lichtgewebe. Hat man sich vollgesogen mit dem Irdischen der untersten Abgründe, so werden die Himmelsgestalten so weiß und so zart wie nur Lilien in Pestsümpfen. Man muß aber zu den Seraphim entschlossen sein. Es muß einem gelingen, die Poren gegen die Ansteckung zu verstopfen. Zu früh nachgeben, das heiß ich ein Kalb im Mutterleib schlachten. Ein Mönch ist unter Umständen ein geriebener Genüßling, wenn er zum Feinschmecker von Illusionen wird. Vielleicht war der heilige Antonius der größte Liebeskünstler der Welt. Ein brennenderes Aphrodisiakum kann ich mir nicht vorstellen als die Qualen von freiwillig Enthaltsamen. Das geht über ein Fest auf dem Blocksberg. Aber ich bin kein Voyeur, durchaus nicht. Ich bin nur für kluge Steigerung, überhaupt für Steigerung. Dort in dem Satanskessel, auf dem Schiff, hab ich mein Verlangen gezüchtet; habe es sorgsam gepflegt, wie man ein Tier mästet, das eine delikate Mahlzeit zu werden verspricht. Und wonach hat mich eigentlich verlangt? Schwer zu sagen. Nach einer bestimmten Glätte der Haut; nach einer bestimmten Rundung der Fessel; einer bestimmten Modellierung des Handgelenks; einer bestimmten Transparenz der Äderung an den Schläfen; einem bestimmten Gang und Schritt und Blick. Ist das etwas? Umschreibt das etwas? Es ist eine Angelegenheit des Geruchs, des Spürsinns, der Epidermis, der Nerven-Elektrizität. Deutlicher: ich will eine Ebenbürtige haben, eine sinnlich Ebenbürtige. Kurz und gut, Maria Jakowlewna, Sie sind es, die ich haben will.«

Marias Auge fiel auf einen Skorpion, der, von Fingerslänge, an einem Brett ihr gegenüber unbeweglich hing, zierlich in der Gliederung, zart umgrenzt, ohne Schatten, wie eine japanische Zeichnung. Indem sie das Tier anschaute, ward ihr leichter zumut; in einem losgelösten Teil ihrer Seele freute sie sich am Zarten und Zierlichen und vergaß das Giftige und Gefährliche; dieses wußte sie ja nur, sie hatte es nie erfahren. Sie heftete den Blick in Golowins Gesicht und sagte in zutraulichem Ton: »Ist es nicht sonderbar? Seit Sie das Wort ausgesprochen haben, bin ich vollkommen ruhig. Es ist nun nichts Unbekanntes mehr zwischen uns. Ich habe sogar ein Gefühl von Sympathie für Sie. Das eine Wort, dieses vernunftlose, rohe, gewalttätige Wort hat es bewirkt. Plötzlich bin ich die unvergleichlich Stärkere von uns beiden.«

»Verstehe nicht«, murmelte Golowin ziemlich außer Fassung. »Sie sagen, Sie wollen mich haben«, fuhr Maria in demselben zutraulichen Ton fort; »ich antworte Ihnen: Schön, hier bin ich; bitte.«

Golowin starrte sie sprachlos an.

Sie sagte heiter: »Kann man denn einen Menschen so ohne weiters haben? So nach Gelüst und Gelegenheit? Wie man einen Apfel vom Baum holt, auch aus einem fremden Garten? Nimmt man eine Frau so einfach, weil man Appetit hat und weil der Raub sich lohnt? Ist sie sonst nichts als der Bissen, als die Beute, als das Vergnügen einer Stunde? Wenn Sie dieser Ansicht sind – bitte.«

Golowin erhob sich, ging zum Fenster und blieb mit abgewendetem Gesicht dort stehen. Der Mond beleuchtete nur noch ein kleines Stück der Wand.

»Meinen Sie im Ernst, Sie hätten mich dann gewonnen?« fuhr Maria fort. »Vielleicht hätten Sie mich zerstört, sicher beschimpft, unerhört erniedrigt, aber gewonnen? Setzen wir den Fall, Sie erreichen Ihren Zweck mit Gewalt; bin dann das ich, Maria Krüdener, und nicht vielmehr eine seelenlose Hülse von mir? Ob man lebendige Menschen in Feuerlöcher wirft oder sie zu Opfern einer Zufallsbegegnung macht, läuft auf dasselbe hinaus. Haben, was für ein gemeines Wort! Was heißt denn haben, wenn nicht gegeben wird? Etwas, das halb Verbrechen ist, halb Einbildung, jedenfalls aber eine Armseligkeit.«

Golowin schwieg noch immer.

»Die Rechnung ist für mich nicht sehr kompliziert«, sagte Maria; »ich soll das Zahlungsmittel abgeben für die Freiheit, wahrscheinlich auch für das Leben von etlichen fünfzig Menschen, darunter meine Kinder und ich selbst. Wenn Sie also auf Ihrem Vorsatz beharren, bleibt mir offenbar nichts anders übrig, als in den elenden Kaufvertrag zu willigen. Schön. Es ist nichts Besonderes, nichts Erschütterndes im Vergleich mit den großen Ereignissen. Es ist ein Schicksal, mit dem man sich abzufinden hat. Die Zeit wird es verschlingen, das ist ihr Amt. Aber soll sich darin die neue Weltordnung manifestieren, von der Sie gesprochen haben, wenn ich nicht irre? Sie tun mir leid. Es ist eine uralte und furchtbar gewöhnliche Weltordnung, das.«

Ohne sich vom Fenster zu rühren, antwortete Golo- win mit dumpfer Stimme: »Sie mißverstehen mich mit Wissen. Das ist Advokatenkunst. Sie müssen als Weib unrüttelbar fixiert sein, daß Sie Selbstverständlichkeiten mit einem solchen Aufwand von Beredsamkeit verfechten. Ich habe meine Augen im Kopf und meine Witterung in der Nase. Kann sein, daß die Bussole da drin ein bißchen an Richtung verloren hat; die Nadel schießt verzweifelt nach links und rechts, als stünde sie überm magnetischen Pol. Daß Sie um und um und bis in die letzte Faser fixiert sind, habe ich trotzdem gespürt, und das war ja der Reiz. Ich habe einem was abzuringen, der mir entgegensteht. Ich habe einen unsichtbaren Widersacher vor mir. Dieses Gespenst wird sich mir nicht so leicht blutwarm stellen. Aber ich rieche ihn. Ich schmecke ihn. Ich sehe ihn.«

Durch Marias Körper lief ein Schrecken wie nie zuvor.

Er kehrte ihr das Gesicht zu und sprach weiter: »Sie reden von ihm mit jedem Blick. Sie gehen, stehen, sitzen, wie er es gutheißt und befiehlt. Aber Sie würden jetzt nicht gezittert haben, wenn es mir nicht schon gelungen wäre, sein Bild in Ihnen zu verdunkeln. Sie haben Kraft, aber mich können Sie nicht wegdrängen, und er kann Ihnen bald nicht mehr helfen, seine Arme werden lahm.«

»Das sind Mittelchen, Igor Semjonowitsch«, sagte Maria.

»Haben Sie mich für einen bübischen Schänder genommen, für einen Dutzendhalunken? Ich kenne die Wege, die zu den verborgenen Flammen führen. Wer sagt Ihnen, daß ich auf dieses Blatt-um-Blatt-Entfalten verzichten will, auf die Entzückungen der Allmählichkeit, auf die Überraschungen und kleinen, süßen, bittern Süßigkeiten, die einen Leib mit einem Leib befreunden? Aber vielleicht bin ich imstande, vielleicht maß ich mir an, die listige Zauberstufenfolge in zwei oder drei Stunden zu pressen, die von der Faulheit und dem Mangel an Schwung in so öde Länge gezogen wird, daß die Ermattung und die Erfüllung nicht mehr Ähnlichkeit miteinander haben wie ein Schiff, das vom Stapel läuft, mit einem Wrack auf einer Sandbank.«

»Es ist möglich, daß Sie dazu imstande sind«, sagte Maria, »aber Sie können nicht einen Stoff in einen andern Stoff verwandeln, Sie können nicht das Gesetz eines Lebens umstoßen.«

Golowin lachte spöttisch. »Käme auf den Versuch an. Es ist eine Frage der Magie.«

Maria stutzte und sah erblassend in die Richtung, wo er stand.

»Sie sprechen von Zufallsbegegnung«, fuhr er fort. »Ich meinerseits glaube nicht an solchen Zufall. Sind Sie so fest davon überzeugt, daß Sie bloß eine Verkettung unbestimmbarer Umstände in diese Stadt, in dieses Haus gebracht hat und nicht mein Wille, mein Fluidum, mein Beschluß? Aber gesetzt, es sei der Zufall gewesen. Wir hätten auch zufällig auf eine entlegene Insel verschlagen werden können, um wieder von Robinsonaden zu reden. Wieviel Tage hätten Sie sich Frist gegeben bis zur Hochzeit? Oder wenn Ihnen das zu schroff klingt: Wie lang hätte, einem normalgewachsenen, normalbeschaffenen Mann gegenüber, Ihr Blut geschwiegen, falls ich sogar aus Schlauheit oder Berechnung unterlassen hätte, es zu schüren? Würden Sie einen Triumph darin erblicken, eines Schemens von Treue wegen an meiner Seite die Heilige zu bleiben? Treue; was ist Treue? Eine Übereinkunft, durch die man Entbehrungen legitimiert, die Machtprobe eines Besitzenden, das Gitter gegen den Einbruch der Ausgestoßenen, ein zugeschlossenes Ohr, eine zugekrampfte Hand.«

»Ich weiß mit derartigen Rabulistereien nichts anzufangen«, antwortete Maria; »es hängt doch alles davon ab, ob der Funke, den man schlägt, Feuer gibt oder nicht.«

»Gewiß«, pflichtete Golowin bei und näherte sich wieder; er trat in den dunkelgewordenen Teil des Raums und lehnte sich an die Bretterwand; »gewiß. Wir in unserer versteinten Welt haben nur die Methoden verlernt. Ich habe viel Umgang mit Chinesen gehabt, drüben in Übersee. Das sind Leute, die sich auf die Methoden verstehen. Es ist eine ererbte Kunst, von Jahrtausenden her. Sie lächeln über unsere Finten und Schliche, sie machen sich lustig über unsere Vierschrötigkeit und Dickhäutigkeit, sie zucken die Achseln über das, was wir unglückliche Liebe nennen. So wie man dort im Osten ein ausgebildetes System hat, das den Schwächsten befähigt, einen Athleten zu bändigen und auf die Knie zu bringen, verleiht eine langwirkende Überlieferung dem mit Erkenntnis Begabten die Macht, auch in das widerspenstigste Material körperliche Liebe zu pflanzen. Körperliche Liebe, also Liebe überhaupt, wenn man absieht von der europäischen Unzucht, die Dinge der Natur ins Blümerante und Schöngeistige zu verdrehn. Erinnern Sie sich an die berühmte Skandalgeschichte von der Entführung der Miß Holywood in Neuyork? Sie war eine Schönheit ersten Ranges, umworben von der männlichen Blüte des Landes, unnahbar, von makellosem Ruf. Eines Tages war sie verschwunden; spurlos, rätselhaft. Man setzt für ihre Auffindung Prämien von schwindelnder Höhe aus, zweihundert Detektive sind Tag und Nacht am Werk, aber erst nach Monaten entdeckt man ihren Aufenthalt in einem der schmutzigsten Winkel der Chinesenstadt. Man verhaftet eine Anzahl Chinesen, der eigentlich Schuldige ist entwischt. Die junge Dame bringt man in das Haus ihrer Eltern, aber sie ist nicht wiederzuerkennen. Sie steht nicht Rede; sie kann sich dem früheren Leben nicht mehr bequemen, sie leidet unter Ausbrüchen von Wut und krankhafter Depression, die Ärzte vermögen nichts über sie, die früheren Freunde nichts, und während man alle Hebel zu ihrer Heilung in Bewegung setzt, gelingt es ihr, eine Verbindung mit dem Entführer herzustellen; plötzlich ist sie zum zweitenmal verschwunden, und wie sie in einem hinterlassenen Brief mitteilt, ist es ihr freiwilliger Entschluß gewesen, zu dem Chinesen zurückzukehren. Die amerikanische Gesellschaft war natürlich außer sich, denn was gibt es in ihren Augen Verächtlicheres als einen Chinaman? Mich beschäftigte die Sache ungemein. Da ich keinerlei Kasten- und Rassendünkel kenne, scheute ich mich nicht, meine chinesischen Beziehungen dahin auszunützen, daß ich über den mysteriösen Fall, der durchaus kein vereinzelter war, wie ich später erfuhr, verschiedene Aufschlüsse erhielt. Was nicht leicht war. Die Chinesen sind sehr zurückhaltend, außerdem behaupten sie, es gäbe auf diesem Gebiet zwischen ihren und unsern Anschauungen keine Verständigung. Es fehlen die Vokabeln schon, behaupten sie. Aber das Glück wollte, daß ich auf einen prachtvollen Lehrmeister stieß, einen Burschen so fein wie Triebsand und so weise wie ein alter Elefant. Hören Sie auch zu? Ich sehe nicht mehr genau Ihr Gesicht. Sie werden nichts wissen wollen von dieser Weisheit und Feinheit, die in ein Labyrinth führt. Und was fruchtet sie mir, wenn Sie sich am Eingang in das Labyrinth sträuben? Es weht asiatische Wollust heraus. Das ist ein ander Ding als unsere Miniaturleidenschaften und gestatteten Gefühle. Bei dieser Mischung von Gelehrsamkeit und narkotischer Hochglut ist das Wesentliche, daß der Mensch von der Angst vor seiner untersten Tiefe befreit werden muß. Wer von uns erreicht seine unterste Tiefe? Der größte Verbrecher nicht. Dostojewskij; aber die Angst bleibt auch bei ihm. Mein Chinese entwickelte unter anderm eine ganze Philosophie der sinnlichen Beeinflussungen und Übertragungen. Die Herrschaft über das lebendige Instrument ist dann nur die eine Folge. Die Technik ist sehr individuell, aber unsere Frauen verlieren schon im ersten Stadium die Widerstandskraft. Je höher gezüchtet eine ist, je wehrloser ergibt sie sich. Ich habe das schriftliche Bekenntnis einer solchen Frau gelesen; die erstaunlichste Epistel, die mir untergekommmen ist, schamlos und kühn. Es war eine vornehme Dame, Gattin eines Professors in Philadelphia, die mit einem chinesischen Diener durchgegangen war. Sie sprach von dem Glück des Grauens, von der Wonne der Verlöschung und daß sie keine Gewissensbisse darüber empfinde, die Seele, diesen lügenhaften Frieden der Seele, hingegeben zu haben für die Flammen, die sie umprasselten und dem Augenblick des Todes den der Auferstehung des Fleisches folgen ließen. Das klingt wie Wahnwitz und ist in der Tat vielleicht eine Form der Hysterie. Überdies soll sie vor ein paar Jahren in einer Vorstadt von Peking ohne Kopf und mit abgeschnittener rechter Hand aufgefunden worden sein. Alles das aber reizte mich, es mit der Praxis zu versuchen, und die Erfolge waren nicht übel; die Schule bewährte sich. Freilich fehlte das letzte Geheimnis; was hätte ich gegeben um das letzte Geheimnis! Aber wir sind zu weit dazu und zu seicht; der europäische Mensch ist nicht eng genug; etwas Ähnliches sagt schon Dimitrij Karamasoff, scheint mir. Ich stellte die Probe bei vielen an. Die Wildesten wurden zahm; wie Würmer so zahm wurden sie. So eigentümlich entseelt waren sie nach kurzer Zeit, als hätte man aus ihrem Gehirn gewisse Bewußtseinskomplexe mit dem Messer entfernt. Man wendet niemals Gewalt an; man schleicht sich ein, man umschlingt sie unbemerkt, die wunderbaren Körperchen, bemächtigt sich ihrer, indem man den Sklaven macht, den unhörbaren Schatten, das unentbehrliche andre Ich, das verachtete und verstoßene Teil, die böse, lockende Chimäre. Und so zieht man das Menschlein an sich, bis es nicht mehr entschlüpfen kann. Es gibt da Zärtlichkeiten wie Sammet; das Ohr, das Augenlid, die Spitze jedes Fingers, jede Stelle der Haut, die Höhle unter der Achsel, das alles wird belehrt, auf seine ihm zukommende Zärtlichkeit dressiert und dankt. Jedes Glied an dem geliebten Leib dankt. Jedes ist hingeschmolzen in seine besondere Lust, jedes erwacht für sich als wie ein jauchzendes, williges Tierchen, ein Flammentierchen, und was man in Armen hält, ist ein Wesen ohne Scham und Lüge, ohne Geist und ohne Angst, unergründlich wie der Himmel. Maria Jakowlewna«, seine Stimme, die zuletzt ein Flüstern geworden war, erhob sich und klang durch den Kontrast wie ein Schreien, »wenn ich in Ihre Brust lange und Ihr Herz packe, gehört es mir, so oder so. Lassen wir die Erzählungen, die Erinnerungen. Es ist eine Welt, die vor hunderttausend Jahren war. Ja, ich reiße Ihre Brust auf, und innen ist kein Gesicht eines andern mehr, keine Gestalt, kein Gelöbnis, kein Bild, innen ist nur Liebe. Ich will drin verbrennen und verdorren, wenn es sein muß, aber geben Sie mir Liebe.«

Der Mond war untergegangen. Es war völlig finster geworden. Maria erhob sich, tastete sich zum Tisch und griff nach der Kerze. Sie fand Zündhölzer daneben und machte Licht. Besorgt sah sie, daß das Stümpchen nicht lange brennen würde. »Liebe«, murmelte sie, »Liebe.«

»Warum töten Sie das Wort, indem Sie es so aussprechen?« fragte Golowin zu ihr hinüber.

»Ich verscharre nur den Leichnam, getötet haben Sie es«, antwortete sie ernst. »Ein Leben lang.«

»Moral, flaue Moral«, sagte er achselzuckend; »der Hieb ist zu matt, ich pariere ihn nicht.«

Maria begann mit, jener tiefen Stimme einer Märchenerzählerin, die alles, was sie sagte, durch den bloßen Klang versinnlichte: »Auf dem Gut hörte ich eine Geschichte von zwei Bauern, Petruschka und Nikituschka. Beide waren arm und konnten zu nichts kommen. Da begab sich Petruschka auf die Wanderschaft und blieb viele Jahre fort. Als er heimkehrte, brachte er einen Sack voll Gold mit. Woher hast du das Gold? fragte Nikituschka gierig. Aus dem Bergwerk hab ich's, erwiderte Petruschka und fing an, ein stolzes Schloß zu bauen. Nikituschka läßt sich den Weg erklären, macht sich auf, kommt aber nach einer Zeit müde zurück. Ich habe mich verirrt, sagt er. Da begleitet ihn Petruschka, bis sie zu einem Berg gelangen, in den der Stollen führt und sagt: In den Stollen mußt du hinunter und viele Jahre graben. Es dauert nicht lange, da erscheint Nikituschka abermals unverrichteterdinge und sagt: Ich habe keine Lust, viele Jahre unter der Erde zu graben; gib mir lieber von deinem Gold, das ist einfacher. Von meinem Gold kann ich dir nichts geben, sagt Petruschka, du siehst ja, daß ich mir da ein Schloß baue; wovon soll ich die Bauleute entlohnen? Hilf auch du mir bauen, dann hast du Teil an meinem Gold.«

Sie schwieg.

»Der Hieb ist nicht stärker geworden«, sagte Golowin lächelnd; »Petruschka hätte teilen sollen, als er mit dem Gold zurückkam.«

»Was hätte es Nikituschka genützt«, erwiderte Maria mit Eifer; »er hätte seinen Anteil verschwendet und wäre so arm gewesen wie zuvor.«

»Besser zu verschwenden als mühselig zu graben«, beharrte Golowin, noch immer lächelnd, und sah sie aus den Augenwinkeln an.

»Der Verschwender ist ein Dieb«, sagte Maria; »man muß im Stollen gewesen sein; man muß gegraben haben.«

»Man muß, man muß«, spottete Golowin, und der Blick aus den Augenwinkeln wurde funkelnd; »hab ich etwa nicht im Stollen gerobotet, ich?«

»Nicht Gold gefördert, nicht Petruschkas Gold«, wehrte Maria mit erhobener Rechten ab, doch mehr seinen Blick als seine Worte; »wenn Petruschka fragt: Was hast du im Stollen gemacht, so werden Sie ihm antworten müssen: Was dich kränkt, was dein Gemüt vergiftet, was dir Leiden bereitet, dir und deinen Brüdern. Petruschka hat gebaut.«

Golowin entgegnete nichts. Er drückte den Hinterkopf an die Bretterwand, fuhr fort zu lächeln, fuhr fort, sie aus den Augenwinkeln zu betrachten. Eine eigene Unruhe bemächtigte sich ihrer, eine von unten aufsteigende und sie allmählich ganz einhüllende, seltsame Scham. Ihr wäre am liebsten gewesen, auf der Stelle zu versinken oder zu verschwinden. Es ging so weit, daß sie sich ärgerte und sich innerlich Vorwürfe machte, die Kerze angezündet zu haben. Das Herz fing an zu klopfen, es wurde ihr an den Ohren und im Nacken heiß; sie konnte sich diesen Zustand durchaus nicht erklären. Plötzlich fragte er, ohne sich zu rühren, in die Luft hinein: »Glauben Sie an das Ende?«

»An welches Ende?«

»Nicht bloß an das Ende von Maria Krüdener und Igor Golowin, das ist ja gewiß. An das Ende von Rußland und Europa meine ich, an das Ende von Eisenbahn und Telegraph, von Zeitungen und Büchern, von Kunst und Wissenschaft und Politik, an das Ende der Welt, an das Ende der Menschheit, an das Ende von allem. Glauben Sie daran?«

Maria senkte den Kopf. Nach einer Weile antwortete sie leise: »Ich glaube nicht daran. Ich glaube an das ewige Leben.«

»Glauben Sie an die Wiederkehr?« fragte Golowin, und sein Lächeln verdämmerte in den Schatten, die der flackernde Kerzenschein in sein Gesicht warf.

»Was verstehen Sie unter Wiederkehr?«

»Nichts kehrt wieder«, sprach er, ohne die Frage zu beachten, »und doch schreit jeder Atemzug im Menschen nach Wiederkehr. Nichts kann noch einmal sein, was gewesen ist, und doch ist es das unstillbarste Verlangen im Menschen, daß es wiederkommt. Wieder, wieder, das ist das Wort, bei dem man schwach wird. Solang man es nicht überwindet, ist man der Narr des Schicksals. Auch für Sie, Maria Jakowlewna, kehrt nie wieder, was einmal Ihr Stolz, Ihr Besitz, Ihr unwiderstehlicher Hinweis gewesen ist. Es kehrt nicht wieder. Er kehrt nicht wieder.«

Mit geschlossenen Augen schüttelte Maria den Kopf und sagte: »Ich weiß es so fest, wie daß die Sonne aufgehn wird: Er kehrt wieder.«

»Es gibt eine Zuversicht wider besseres Gefühl; die spricht aus Ihnen. Sie haben das Unglück gehabt, eine glückliche Ehe zu finden, sonst wären Sie ein Weib gewesen, mit dem man auf die Barrikaden gehen könnte. Schade, wenn ein Wesen mit Adlerinstinkten zur Bruthenne erniedrigt wird. Alles, was edel und flugkräftig an Ihnen war, hat die Ehe in eine Kapsel gepreßt, und Sie wagen sich nicht zu rühren aus Angst, das Gehäuse zu sprengen. Sie haben nach allen Seiten hin Versicherungen angebracht, Verpflichtungen, Dankbarkeitsklammern, Entfaltungsillusionen; wozu Sie aber hätten steigen können, wenn man Ihnen die Menschenfreiheit nicht geraubt hätte, davor verschließen Sie sich. Frauen wie Sie müßten in ihrer Jugend vom Staat beschlagnahmt werden. Die Ehe zerstört sie. Es ist, als hätte man Sand in ein kostbares Uhrwerk geschüttet. Wenn dann der große Feind kommt, ist es zu spät. Der große Feind, der große Abrechnungskommissär, der Unbestechliche.«

Sie schwieg. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck unnennbarer Innigkeit, der Golowin betroffen machte.

»Glauben Sie auch nicht an den großen Feind?« fragte er verdeckten Tones.

Sie blickte ihm stumm und gerade in die Augen und antwortete nicht.

»Haben Sie sich schon einmal ein Bild von ihm gemacht?« fuhr er lauernd und seltsam spöttisch fort. »Sicherlich. Sie haben ja Phantasie. Ist er nicht einnehmend, berauschend, verführerisch? Sieht er nicht aus wie ein echter Liebhaber? Ist er nicht der Kenner der Geheimnisse, nicht eingedrungen in alles Geschriebene und Paktierte und Erforschte und Erlebte, eingedrungen aus Wollust? Die Welt ist voll von ihm. Er fegt den angesammelten Kehricht weg.«

»Ja, die Welt ist voll von ihm«, sagte Maria; »er schreit Gerechtigkeit – und mordet; er schwärmt von Bruderliebe – und mordet; er trieft von Mitleid – und mordet; er faselt von Fortschritt und Erneuerung – und mordet; er küßt und umarmt – und mordet. Er kennt kein Erbarmen in seiner – Liebe.« Sie blickte ihm noch immer in die grün funkelnden Augen. Die Kerze verlosch zischend.

Es entstand ein langes Schweigen. Maria fühlte Schwäche in den Knien, ging zu der Bettstelle und ließ sich auf die Kante nieder. Daß Golowin sich nicht rührte, war unheimliche Drohung. Grauer Schimmer webte vor dem Fenster, die erste Ankündigung des Tages. Sie wagte nicht hinzuschauen. Sie war in einen bleiernen Panzer geschnürt.

Auf einmal kam seine Stimme: »Sie sind so reich, daß Sie eine Nacht aus Ihrem Leben ausstreichen können. Für Sie nicht gelebt, für mich hundertfach gelebt. Ich spreche nicht von dieser; diese ist vorbei. Es kann die nächste sein. Ist es die nächste nicht, so wird es eine andere sein. Ich kann warten.«

Maria antwortete zwanghaft, als würde ihr die Rede von einem unsichtbaren Dritten diktiert: »Es kann keine sein.«

Er sagte: »Wir sind zwei vorgeschobene Posten. Wir können uns vergleichen ohne Rücksicht auf die kriegführenden Parteien. Es läge eine gewisse Größe darin. Kein Loskauf, kein Verrat; ein Opfer vielleicht, das viele andere überflüssig macht.«

»Ich gehöre nicht mir. Kein Haar an mir ist mein Eigentum«, entgegnete Maria.

Er sagte: »Sie fühlen sehr genau die Feigheit in diesem Argument. Besteht ein physischer Widerstand, der unbesiegbar ist?«

»Auf die Frage möchte ich lieber nicht antworten.«

»Wo nur die Vergangenheit sich weigert und nicht die Gegenwart, ist zwischen Ja und Nein kaum mehr zum Besinnen Platz.«

»Ich appelliere heute zum zweitenmal an Ihre Ritterlichkeit.« Sie bedeckte die Augen mit der Hand.

Er sagte: »Wenn Sie Ihre Lippen auf meine drückten, könnt ich mir einbilden, ich sei wieder Knabe und finge von vorn an. Wiederkehr, Wiederkehr. Fürchten Sie nichts, ich bewege mich nicht von der Stelle. Ich will ritterlich sein wie ein Troubadour. Doch können Sie mir nicht verwehren, zu träumen. Ich träume, daß ich Ihre Hand halte. Daß ich sie nur mit meinen Fingerspitzen streife. Sie vergessen, daß Sie Mutter, Gattin, Dame, Herrin sind, alle diese verruchten Würden einer überlebten Welt. Sie sind Hand, nichts als Hand. Darin eingeschlossen, daran geklammert meine, mit Blut, Hirn, Trieb, Seele. Was können Sie dagegen tun? Still, wunderbare Weiberhand; ich hauche mich in dich hinein, und du öffnest dich wie ein Kelch ...«

Maria hörte zu, außen und innen Eis, doch von etwas Lauem durchflutet, das betäubte. Er hatte sie nicht angerührt, trotzdem fühlte sie ihre Hand wie in einem Schraubstock. Ihre Gedanken stoben durcheinander. Das Blut wirbelte zum Kopf und wieder zum Herzen. Sie glaubte zu sprechen und erschrak vor dem Wort, das sie nicht gesagt. Mitjas ernste Augen blickten sie an. Ihr Körper war ihr fremd, und sie fürchtete ihn. Das Bild einer Uhr erschien ihr, ein Zifferblatt mit Zeigern, die nicht weiterrücken wollten. Sie schaute gegen das Fenster. »Es wird Tag«, murmelte sie. Von der Straße schallten eilige Schritte herauf. Gut, daß die Menschen erwachen, fuhr es ihr durch den Kopf.

Mit kaum erratbarem Vibrieren der Stimme fuhr Golowin fort: »Ja, es wird Tag. Schluß des ersten Aktes. Vorhang. Die Länge der Zwischenpause ist nicht bekannt. Tut auch nichts zur Sache. Wie wollen Sie sich meiner in Zukunft erwehren? Wie wollen Sie die Macht brechen, die ich über Sie erlangt habe? Sie werden sich in Pflichten stürzen, Sie werden Aufgaben zu lösen trachten, Sie werden Menschen an sich ziehen, Sie werden das Eingestürzte aufzubauen beginnen, aber im Hintergrund werde immer ich sein, da nützt kein Sträuben und kein Tun.«

Sie konnte jetzt in der Dämmerung sein Gesicht wahrnehmen. Es glich einem fleckig grauen Tuch. Sie fand keine Widerrede. Inmitten ihrer bedrückten Versunkenheit wunderte sie sich über seine Haltung, die etwas Lockeres, beinahe Elegantes hatte. Unten schrillte plötzlich ein langgezogenes Pfeifensignal. Golowin hob den Kopf wie ein Wachthund. Er trat zum Fenster, zog eine Metallpfeife heraus und erwiderte das Signal. Gleich darauf hörte man von der Richtung des Meeres her Geschützdonner.

»Gut«, sagte Golowin, »man schnallt das eiserne Stirnband wieder um.« Er nahm den Mantel vom Haken und warf ihn über die Schulter. »Ihre Straße ist frei, Maria Jakowlewna«, fügte er mit einer Verbeugung hinzu.

Maria stand auf. Es war keine Erleichterung in ihr.

»Zwei Worte noch«, sagte er, an der Tür stehenbleibend; »das eine: Prägen Sie sich ins Herz und bitten Sie Ihren Stern darum, daß unsere Wege sich nie mehr kreuzen.«

»Nein; unsere Wege dürfen sich nie mehr kreuzen«, erwiderte sie.

»Das zweite: Es gibt kein Mittel in der Welt, durch das Sie den Frieden Ihrer Seele wiedergewinnen können, außer es kommt noch einmal zur Entscheidung zwischen uns. Und das steht dahin.«

Maria lauschte seinen starken Schritten nach, als er gegangen war. Sie drückte die flachen Hände gegen die Brust und hob das Gesicht, das bleich war, mit frommerschlossener Miene zur Höhe.

Als sie in das untere Stockwerk kam, waren alle bereits auf den Beinen und rüsteten sich zu neuer Reise. In der Freude über den Abzug der Matrosen achtete man ihrer gar nicht. Menasse unterhandelte bereits mit einem Schiffer, der eine Barke zur Überfahrt zu vermieten hatte. Sie aber fühlte die Wahrheit der Worte Golowins: die Straße war frei, aber das Ziel des Wegs war unkenntlich verdunkelt.


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