Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Drittes Buch

Joseph und Marie
oder
Die Glaubenswelt

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Das Revisionsverfahren gegen Karl Imst und Jeanne Mallery war rascher in Gang gekommen, als irgendjemand der Beteiligten hatte hoffen können. Es war eine ganze Partei am Werk gewesen. Ein bernischer Anwalt hatte sich seit sechs Jahren unermüdlich damit befaßt, die Unschuld des verurteilten Paares nachzuweisen. Die Bekundungen der Hellseherin fielen als juristisch unkontrollierbare Einflüsse nicht ins Gewicht, obwohl die neuen Tatsachen, die dadurch ans Licht gekommen waren, die Auffindung der Giftschachtel, die Feststellung der Liebesbeziehung zwischen der verstorbenen Selma Imst und einem zwanzigjährigen Studenten, die Grundlage für das Wiederaufnahmeverfahren bildeten. Die Assisen traten bereits am fünften Juni zusammen, und am siebenten erfolgte der Freispruch. Imst und Jeanne Mallery wurden wieder in ihre bürgerlichen Rechte eingesetzt, auch wurde jedem von ihnen eine beträchtliche Geldentschädigung zugesprochen, damit sie sich eine neue Existenz aufbauen konnten.

Als Schwester Wys-Wiggers die Nachricht erhielt, wurde sie vor Freude ohnmächtig. Marie, die in den letzten Wochen ganz im Dienst dieser Sache aufgegangen war, konferiert und korrespondiert hatte, fühlte sich unendlich erleichtert. Von ihr ging die Anregung aus, den beiden für die nächste Zeit im Hause Seeblick ein Asyl zu gewähren. »Die wissen doch sicher nicht, wohin sie den Fuß setzen sollen«, sagte sie zu Kerkhoven; »sie haben alles verloren, ihr Heim, ihre Freunde, den Zusammenhang mit der Welt, vielleicht können sie sich nicht einmal mehr mit den Menschen verständigen.« Kerkhoven stimmte ihr zu. Er schrieb an den Direktor des Strafhauses in Langenau sowie an Karl Imst; Schwester Else legte einen Brief an den letzteren bei. Nach zwei Tagen kam die Antwort. Imst nahm die Einladung, auch im Namen seiner Gefährtin, dankbar an. Am achten fuhr Kerkhoven mit Schwester Else nach Langenau, um die beiden abzuholen. Sie wurden in den Zimmern einquartiert, die Mordann und seine Tochter bewohnt hatten.

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Karl Imst sah ziemlich bäurisch aus, vierschrötig und plump. Die aschfahle Gesichtsfarbe und das scheue Wesen erklärten sich durch die langjährige Zellenhaft. Auch der schwankende, fast taumelige Gang. Die Mallery mochte einmal schön gewesen sein, eine jener schweizerisch-romanischen Schönheiten, deren Edelrassigkeit sich vor allem in Haltung und Gestus äußert. Jetzt war alles an ihr zerstört und eine kleinbürgerlich wirkende, schwer erschöpfte Frau übriggeblieben. Sie war dermaßen überempfindlich, daß heftige Geräusche, wie Hämmern, Holzhacken, Hupensignale, einen Tränenstrom auslösten.

Bei der ärztlichen Untersuchung stellte Kerkhoven ein krankhaftes Versagen der Organleistungen fest. Sehkraft, Atmung, Verdauung, Nervenfunktion, Stabilitätsgefühl, alles hatte gelitten, namentlich aber Herz und Nieren. In seelischer Beziehung fehlte jeder Impuls, jeder Antrieb. Da Imst das Verlangen geäußert hatte, seinen achtjährigen Sohn zu sehen, der bei Verwandten in der Innerschweiz in Pflege war, ließ Kerkhoven den Knaben kommen. Aber als er dann da war, kümmerte sich Imst kaum um ihn, ja, er schien das Kind mit Abneigung zu betrachten.

»Der Mann ist einfach nicht wiederzuerkennen«, sagte Schwester Else zu Kerkhoven; »wenn Sie bedenken, daß das einmal ein lebensfroher Mensch war, ein Unband von Kerl, Jäger, Hochtourist, Skiläufer. Und jetzt? Eine Ruine.«

Das Auffallendste war, daß Imst und Jeanne nach den ersten Tagen des Beisammenseins einander ängstlich zu meiden schienen. Das heißt, Imst war es, der Jeanne aus dem Weg ging, unerfindlich aus welchem Grund. Die Wys-Wiggers, die beständig eine rührende Teilnahme für die beiden bezeigte, zerbrach sich den Kopf darüber; sie versicherte Kerkhoven immer wieder, die arme Jeanne gräme sich halb zu Tode. »Was mag denn nur dahinterstecken?« fragte sie ratlos. – »Ich fürchte, etwas recht Schlimmes«, antwortete Kerkhoven, und als ihm die Schwester an einem der folgenden Tage berichtete, Imst habe gebeten, man möge in der Doppeltür zwischen seinem Zimmer und dem der Mallery eine Matratze zur Geräuschdämpfung anbringen, schaute er eine ganze Weile nachdenklich vor sich hin.

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Der Fall Imst-Mallery bot ihm so viele Möglichkeiten zu allgemeinen Schlußfolgerungen, namentlich was die Beziehung zwischen Verbrechen und Staatsgewalt, zwischen Strafvollzug und Gesellschaft betraf, daß er beschlossen hatte, ihn in sein Werk über den Wahn aufzunehmen. Hier hatte die öffendiche Meinung, lediglich gestützt auf Vorurteil und Hörensagen, eine so blindwütige Macht bewiesen, daß das Recht und der Rechtsgedanke ihr von vornherein kläglich unterlegen waren. Die Schädigung, die die Einzelseele durch die wahnhafte Verseuchung jener Gruppen erfuhr, die der Gerechtigkeit ihren Willen aufnötigten, war ein Problem, mit dem man sich als Arzt zu befassen hatte, deckte es doch eine der geheimen Fehlerquellen in der Gesamtfunktion des sozialen Körpers auf. Und da es für Kerkhoven eine unumstößliche Grundwahrheit war, daß im engsten Bezirk, am unbeträchtlichsten Individuum, nicht geschehen kann, was sich nicht wie ein physikalischer oder chemischer Vorgang mit unerbittlicher Folgerichtigkeit in der Gemeinschaft, der Nation, der Menschheit auswirkt, war das Schicksal der beiden Menschen für ihn symptomatisch, um so mehr, als es sich um mittlere Charaktere handelte, Leute von mittlerer Intelligenz und geringer Bildung.

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Wenn er, gewöhnlich zu einer frühen Nachmittagsstunde, bei Imst eintrat, um ein wenig mit ihm zu plaudern, saß dieser vor einem Schachbrett, in die Lösung einer Aufgabe vertieft. Die Aufgaben schnitt er aus den Sonntagsbeilagen alter Zeitungen heraus, von denen ein Stoß unordentlich unter dem Bett lag. Er hatte eine kurze englische Pfeife im Mundwinkel, die er meistens kalt rauchte. Kerkhoven legte es darauf an, sich ungefähr wie ein Hotelbesitzer zu benehmen, der seine Gäste zwar möglichst wenig stören will, andererseits aber Sorge trägt, daß sie sich nicht langweilen. Wenn er eine Frage stellte, antwortete Imst nie direkt, sondern stieß zuerst ein hastiges »Wie bitte?« oder »Wie meinen?« hervor, als wolle er Zeit zum Überlegen gewinnen, eine Finte, deren sich viele mißtrauische und verängstigte Menschen bedienen. Ins Freie ging er selten. Die Neugier nach der Welt war offenbar in ihm erstorben. Sein Aufenthalt im Hause war in der Gegend bekannt geworden, und obgleich er von niemand belästigt wurde, bildete er sich ein, Schaulustige und Sensationsgierige belagerten Tag und Nacht das Tor. Es war ein schwacher Versuch, das ertötete Selbstgefühl in Form einer Abwehr wiederherzustellen.

Einmal forderte ihn Kerkhoven zu einer Partie Schach auf. Er lehnte ab, seltsam erschrocken. Kerkhoven wollte wissen, weshalb er sich weigere. Er sagte, er spiele nicht gut genug. »Aber ich bin auch nur ein blutiger Dilettant«, entgegnete Kerkhoven lachend. Imst war nicht dazu zu bewegen. Endlich glaubte Kerkhoven die wahre Ursache zu erkennen: Es war die Furcht, zu verlieren; Imst konnte den Gedanken nicht ertragen, im Spiel zu verlieren. Denn er verlor damit nicht nur die Partie, er verlor auch das Fünkchen Selbstachtung, das noch in ihm glomm.

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Eines Tages wagte Kerkhoven die vorsichtige Frage: »Sie sind zum Bewußtsein Ihrer Freiheit wohl noch gar nicht gekommen?« – »Meiner Freiheit? Meiner Freiheit? Bei Gott, nein.« Die Antwort klang müde und resigniert. – »Warum eigentlich nicht? Alles hat sich doch aufs günstigste gestaltet. Feierliche Rehabilitierung. Die Wege ins Leben wieder offen ...« Imst schüttelte den Kopf und bemerkte trüb: »In was für ein Leben, bitte? Wozu trampelt man denn in dieser blödsinnigen Welt herum? Was fang' ich denn an mit der Freiheit? Hat ja keinen Sinn, hat ja gar keinen Sinn.« – »Aber soviel ich sehe, macht es Ihnen Spaß, Schachprobleme zu lösen«, warf Kerkhoven lächelnd ein; »das ist doch auch, wenn nicht ein Sinn, so doch ein Reiz.« – »Vielleicht. Aber es könnte ja einer den eigenen Kot fressen, um nicht zu verhungern. Das beweist nicht, daß es ihm schmeckt.«

Als sie am andern Tag vor dem unvermeidlichen Schachbrett einander gegenübersaßen, sagte Kerkhoven nach langem Schweigen: »Wenn der Springer nach f2 zieht, droht Matt in zwei Zügen, scheint mir.« – Imst, den Kopf zwischen beiden aufgestützten Händen, blickte überrascht empor. »Sie verstehen sich ja drauf«, sagte er anerkennend; »leider ist der Zug bloß eine Verführung; der König kann dann den Läufer schlagen.« Ein schwach vernehmliches Husten drang aus Jeanne Mallerys Zimmer herüber. Kerkhoven machte ein verwundertes Gesicht, so, als wüßte er nicht, daß sich eine Matratze zwischen den Türen befand. Er ging hin, öffnete die Tür, besah sich die Füllung, murmelte gedehnt: »Hm ... Ach so«, und schloß die Tür wieder. Dann kehrte er an den Tisch zurück und tippte mit dem Zeigefinger auf Imsts Schulter. »Für die Frau da drinnen muß etwas geschehen«, sagte er, »die siecht uns unter den Händen hin.« – Imst schwieg. – »Das Ding dort bedeutet wohl noch was anderes als einen Lärmschutz?« forschte Kerkhoven. Und da Imst den Mund nicht auf tat: »Was geht denn zwischen euch vor? Ich denke, Sie sind mir eine Erklärung schuldig.« – Imst starrte regungslos auf Kerkhovens mächtige Hände, die gegen die Tischplatte gestemmt waren. »Ich möchte es nicht, Herr Professor. Verzeihen Sie, ich möcht' es lieber nicht erklären«, murmelte er. – »Auch nicht, wenn man ihr damit helfen könnte?« – »Kann man nicht, Herr Professor. Niemand kann helfen.« – »Wer weiß. Vielleicht Sie selber. Jedenfalls ist die Behandlung, die Sie ihr angedeihen lassen, reichlich brutal.« – Imst zuckte zusammen wie unter einem Nadelstich. – Kerkhoven setzte sich an seine Seite und sprach leise: »Sie lieben sie nicht mehr. Gut. Daraus kann man Ihnen keinen Vorwurf machen. Aber schließlich hat die Frau alles Unglück mit Ihnen geteilt, und die einfachste menschliche Rücksicht ...« – »Es hat keinen Zweck, mich ins Kreuzverhör zu nehmen«, unterbrach ihn Imst mit ebenso leiser Stimme. »Sie sind sehr freundlich zu mir, Herr Professor. Ich bin kein undankbares Aas. Nur in dieser Sache ... Es liegt nicht an mir, kann ich Ihnen sagen.« – »Ich dachte an eine sexuelle Störung, wie sie in solchen Fällen häufig aufzutreten pflegt«, sagte Kerkhoven. – »Davon habe ich mich noch nicht überzeugen können«, war die kaum hörbare Antwort. – Kerkhoven war frappiert. »Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit«, fuhr er grüblerisch fort, ohne die gequälte Miene Imsts zu beachten. »Sie machen Jeanne Mallery unbewußt für das Geschehene verantwortlich. Sie wollen sich unbewußt an ihr rächen. Daß sie die schuldlose Verursacherin ist, wissen Sie zwar, aber haben Sie sich in der Zelle nicht immer wieder vorgesagt: Wäre die Jeanne nicht gewesen, alles wäre anders gekommen? Ich stelle mir vor, daß dieser Gedanke Sie überhaupt nicht mehr verlassen hat, daß er Sie unaufhörlich verfolgt hat.« – »Daran ist was Wahres«, gab Imst finster-erstaunt zu, »wie können Sie das wissen?« – »Weil es ein elementarer Trieb in uns Menschen ist, den Schwerpunkt der Verantwortung zu verlegen.« – »Wie meinen? Das versteh' ich nicht ganz.« – »Denken Sie ein wenig darüber nach.« – Imst zog den Tabaksbeutel aus der Tasche und stopfte mit erkünsteltem Phlegma die Pfeife. Seine Finger zitterten. Plötzlich brach er dumpf-verzweifelt aus: »Sie kommt nicht von der Selma los! Kommt und kommt nicht los! Leben Sie einmal mit einer Toten, Herr Professor! Zu dritt mit einer Toten!« Da gingen Kerkhoven die Augen auf.

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Jeanne Mallerys Stimmung bewegte sich in grellen Gegensätzen. Zwischen exaltierter Lustigkeit und trüber Schwermut war kein Übergang. Wenn Marie und Schwester Else sie aufsuchten und mit ihr in den Park gingen, war sie wie berauscht und schwatzte ununterbrochen wie ein Wasserfall, in einer zusammenhanglosen, oft sogar verworrenen Art; ließ man sie dann fünf Minuten allein, so war sie wie ausgewechselt, alle Lebensgeister erloschen, sie drückte die Schultern zusammen, stierte ausdruckslos vor sich hin und erbebte beim geringsten Laut.

Daß sie nie vorher an Sinnestäuschungen gelitten hatte, war ziemlich sicher, obwohl im allgemeinen Sträflinge, die sich in jahrelanger Einzelhaft befinden, häufig von Gehörs- und Gesichtshalluzinationen befallen werden. Man wußte jedenfalls in der Anstalt nichts davon. Kerkhoven erkundigte sich eigens beim Gefängnisarzt, der ihm mitteilte, er habe keinerlei derartige Erscheinungen beobachtet, zweifle auch, daß sich je welche eingestellt hätten, da Jeanne Mallery während der ganzen sechs Jahre in einem Zustand vollkommener seelischer Erstarrung hinvegetiert habe; Ähnliches sei ihm in seiner Praxis kaum vorgekommen.

Es ließ sich also nur annehmen, daß die Befreiung aus dem Zuchthaus etwas bewirkt hatte, was dem Aufbrechen und Abfallen einer Kruste zu vergleichen war, ein Vorgang, der in der Sprache der Fachleute als rückläufige Erregung der Sinnesstätten bezeichnet wird. Kerkhoven legte aber keinen Wert auf die Einordnung in die Kategorie, er hielt sich an das Bild, versenkte sich in den einen, einzigen Menschen und schloß, phantasiemäßig schon, alles Generelle aus. Und da sah er die in der Freiheit jäh erwachte Seele von einer gespensterhaften Hand in die Vergangenheit zurückgeschleudert. Nichts war abgebüßt, nichts vergessen, der furchtbare Kampf, den sie gegen das dämonisch-böse Weib um den Geliebten geführt, setzte sich fort, als wären die Jahre im Kerker nicht gewesen, als hätte sie den Tod der Frau nur geträumt; sie war wieder da, die unversöhnliche Heischerin, und heischte Rechenschaft und Sühne; die Anklage, die sie erhob, übertönte in Jeanne Erinnerung und Gegenwart, und statt sich endlich, wiedervereinigt mit dem Mann, ohne den es für sie kein Leben gab, dem langerstrebten Glück hinzugeben, erschien ihr dieses Glück als Einbildung und Trug, und die alte Schuld, die alte Angst, die alte Verfolgung würgten sie. Ein Beweis für die übermenschliche Gewalt, die von den Willensbesessenen selbst dann noch ausgeht, wenn sie zu Schatten geworden sind und den irdischen Schauplatz ihrer Taten verlassen haben.

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Es überraschte Kerkhoven nicht, als ihm Marie sagte, sie habe den Eindruck, Jeanne Mallery sei im Innern überzeugt, die Selma Imst wirklich ermordet zu haben, und daß sie an den gerichtlichen Freispruch und an die Tatsache, daß sie mit Karl jetzt unter einem Dach lebte, nicht ernstlich glauben könne. Es war die logische Folge in der finster-unlogischen Verkettung. Marie verbrachte bisweilen den Abend in Jeannes Zimmer, um sie zu zerstreuen und von ihren Zwangsvorstellungen abzulenken. Die schlimmste Zeit war die vor dem Einschlafen. Sobald sie sich ins Bett legte, erzählte Marie, zitterte sie wie Espenlaub und fing an, unverständliche Worte in die Luft hinein zu reden, wobei ihre Augen einen nichtvorhandenen Gegenstand oder eine unsichtbare Person fixierten. Dann brach sie in unaufhaltsames Schluchzen aus. Marie war von diesen Szenen jedesmal so erschüttert, daß Kerkhoven sie bat, die abendlichen Besuche einzustellen. »Man kann sie doch nicht in ihrem Elend liegen lassen!« rief Marie aus. »Gibt es denn kein Mittel? Kannst du nichts tun, Joseph? Worauf wartest du eigentlich?« – »Ich muß auf eine Klimax warten«, erwiderte er, »den Moment des stärksten Anfalls, wo er gleichsam in sich selber zusammenbricht.« – »Kann man einen solchen Menschen nicht mit der Wirklichkeit, mit dem Augenschein konfrontieren?« fragte Marie schülerhaft. »Geht das nicht?« – »Wie denkst du dir diese Konfrontation, Marie? Was du Wirklichkeit nennst, ist doch auch etwas Ungreifbares und Eingebildetes.« – »Sonderbar, während du es sagst, wird es mir bewußt«, antwortete Marie betroffen; »man kommt sich vor wie der Mann aus Syrerland, der im Brunnen hängt; oben das böse Kamel, unten der wilde Drache.« – »Du vergleichst nur das Gleichnis«, sagte Kerkhoven trocken, »aber vergiß wenigstens die süßen Beeren nicht, nach denen der Unglückliche trotzdem schnappt.«

Gegen zehn Uhr abends, als Kerkhoven die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinaufstieg, vernahm er im Korridor des Erdgeschosses eine leidenschaftlich erregte Frauenstimme. Er lauschte. Eine zweite Stimme war nicht zu hören, es war kein Zwiegespräch, die Stimme sprach allein. Da nickte er vor sich hin und kehrte um. Es war finster im unteren Flur, er hatte selber vor ein paar Minuten das Licht ausgedreht. Aber am Ende des schmalen Gangs war eine Zimmertür offen, die von Jeannes Zimmer, und aus diesem fiel ein schwacher Lichtschein fast bis zu der Stelle am Treppenabsatz, wo er stand. Er konnte Jeanne Mallery erkennen. Sie trug ein weißes Nachtgewand, das bis zu den Fußknöcheln reichte. Die Füße waren nackt. Der Filzbelag des Bodens machte die Schritte der nackten Füße vollends unhörbar. Man vernahm nur die klagende, bettelnde, beschwörende Stimme. Abgerissene Worte. Dazu bettelnde, beschwörende Gesten. Der Gang einer Traumwandlerin. Lady Macbeth, mußte Kerkhoven denken. Er strengte sich an, die Worte zu verstehen, die an eine unsichtbare Begleiterin gerichtet waren. Aber er hörte nur den Namen Selma und dazu ein »schau« oder »ich bitt' dich«, »schau, Selma, ich bitt' dich, Selma«, dann verlor sich alles in ein hastiges, unartikuliertes, angstvolles, monotones Geflüster. Auf der andern Seite des Flurs tauchte Schwester Else auf. Kerkhoven konnte sich ihr gerade noch bemerklich machen, ehe sie Jeanne in den Weg trat. Er ging auf die Halluzinantin zu und ergriff sanft ihre beiden Hände. Sie war weder erschrocken noch erstaunt. Sie ließ sich ruhig von ihm in ihr Zimmer führen. Er redete ganz leise zu ihr. Es waren völlig belanglose Dinge, die er sagte. Es kam nur auf die schutzversprechende Stimme an. Er hob sie ins Bett, deckte sie zu und strich mit der Hand leicht über ihre Stirn. Sie sah ihn ohne Unterlaß an, mit einem gespannten, aber abwesenden Blick. Es fiel ihm auf, wie verjüngt sie aussah. Beinahe schön. Das Gesicht glühte wie im Fieber. Er setzte sich an den Bettrand und hielt ihre Hand so lange fest, bis sie schlief. Dann machte er dunkel, verließ das Zimmer und schloß behutsam die Tür. »Sie wird die Nacht durchschlafen«, sagte er zu der draußen wartenden Schwester; »von morgen an werden wir sie eine Zeitlang unter Schlaf setzen. Ich möchte das javanische Mittel benutzen. Es bewirkt Dauer-Somnolenz und ist so unschädlich wie Zuckerwasser ...«

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Imst war hinter der Verbindungstür gestanden. Er war schon im Bett gelegen. Das Geräusch der Schritte und verschiedenen Stimmen hatte ihn aufgetrieben. Er hatte die Matratze entfernt und an der Tür gehorcht. Als es ruhig geworden war, öffnete er leise die Tür. Er schloß sie nur bis auf einen Spalt. Das durch diesen aus seinem Zimmer hereinfließende Licht erzeugte eine schwache Dämmerung in Jeannes Zimmer. Auf Zehen ging er zu ihrem Bett. Er sah sie lange Zeit an. Er konnte sich nicht satt sehen. Es war ein faltenloses, ein kindliches, ein leidensloses Gesicht. Zehn Jahre waren darin ausgelöscht. Was war geschehen? Wie hinuntergezwungen legte er sich an ihre Seite. Er wartete und wartete mit klopfenden Pulsen; sie erwachte nicht. Er kehrte ihr das Gesicht zu und murmelte gepreßt und schier atemlos: »Jeanne, Jeanne ... hörst mich? ... Hör mich doch, Jeanne.« Sie erwachte nicht. Kerkhoven, Meister des Schlafs, hatte ihr Bewußtsein gefesselt. Ihre Seele war zu tief in die Schlünde der Erschöpfung gefallen und lag dort wie in einem unzugänglichen Felsenloch. »Jeanne«, murmelte er und krampfte die Finger in das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte, »sie ist tot, die Selma, seit sieben Jahren tot, du brauchst dich nicht vor ihr zu fürchten, Jeanne ... Hör mich doch, Jeanne ...« Sie erwachte nicht. Sie seufzte dumpf und schlang die Arme um seinen Hals, erwachte aber nicht. Er drückte sie mit einem kurzen, wilden Aufschrei an seine Brust; sie erwachte nicht. Er begann an allen Gliedern zu zittern, der ganze Körper war naß von Schweiß, auf einmal sprang er auf, verstört, verzweifelt, impotent, und stürzte in sein Zimmer zurück. Jeanne erwachte nicht ...

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Marie hatte mit Robert und Johann einen Tagesausflug gegen Frauenfeld verabredet. Die Knaben freuten sich unbändig darauf. Da ihr der kleine Konrad Imst in seiner Verlassenheit leid tat, nahm sie ihn mit. Sie wußte nicht, daß sich zwischen ihm und dem um zwei Jahre älteren Johann bereits ein offener Haß entwickelt hatte, obgleich sie einander nur wenige Tage kannten. Es war eine Blutsfeindschaft, aus der Natur heraus, wie zwischen zwei Hunden, die einander atavistisch und durch den Geruch reizen. Schon in den ersten Stunden mußte Marie zu verschiedenen Malen Frieden stiften; nach der Mittagsrast kam es zu einer erbitterten Rauferei, bei der Johann unterlag, was ihn gewaltig wurmte. Er war zu stolz, um sich bei seiner Mutter zu beklagen, aber Tatsache war, daß sich der jüngere gewisser hinterlistiger Tricks bedient hatte, die unter Knaben verpönt sind. Marie hatte es jedoch heimlich beobachtet. Kurz darauf kam es abermals zu einem Gezänke, das Konrad provoziert hatte, und als er im Verlauf des Wortwechsels Johann der Feigheit zieh, wurde dieser ganz blaß, machte plötzlich kehrt und rannte spornstreichs in den Wald hinein. Eine halbe Stunde lang suchte Marie nach ihm, endlich fand sie ihn in einem Busch, worin er sich verkrochen hatte; nur mit größter Mühe konnte sie ihn dazubringen, das Versteck zu verlassen; er gebärdete sich wie ein Berserker. Konrad Imst stand hämisch triumphierend dabei. Beim Weitermarschieren entdeckte der ein Stück hinterhertrippelnde Robert eine junge Kohlmeise, die im Gras lag und ängstlich mit den Flügeln flatterte; sie war offenbar bei einem verfrühten Flugversuch zu Schaden gekommen. Konrad bemächtigte sich sofort des Vogels, bettete ihn in sein Sacktuch, streichelte ihn unablässig, fauchte den sechsjährigen Robert wütend an, als der behauptete, das Tier gehöre ihm, er habe es zuerst gesehen, und benahm sich so übertrieben zärtlich gegen das flügellahme Geschöpf und so boshaft gegen seine menschliche Umgebung, daß Marie das Gefühl hatte, der Bub sei nicht ganz just, es müsse eine Schraube bei ihm los sein. Zwei Stunden später ließen sie sich am Ufer der Thur zum Ausruhen nieder; Konrad legte das bebende Tierchen ins Moos und entfernte sich, um Würmer und Käfer zu suchen. Johann war die ganze Zeit über auffallend gedrückt und still gewesen; kaum war Konrad verschwunden, so stürzte er mit funkelnden Augen auf das Tierchen zu und zertrat ihm mit dem Stiefelabsatz den Kopf ...

Alles dies erzählte Marie am Abend Kerkhoven. Sie befanden sich in dem riesigen Arbeitszimmer unterm Dach, Marie saß schmal und unbequem auf einer Holzbank an der Kaminsäule, den Blick ins schwarze Gebälk gerichtet. Kerkhoven lag in einem der breiten Ledersessel. »Du kannst dir denken, wie mir zumute war«, endete sie ihren Bericht; »das Herz ist mir stillgestanden. Im ersten Moment hätt' ich den Buben packen und ins Wasser werfen mögen. Solche Tücke! Solche Roheit! Was nützt da die Erziehung, was sollen Güte, Verständnis, Vorbild? Auf einmal hat man eine blutdürstige kleine Bestie vor sich.« – Kerkhoven sagte kopfschüttelnd: »Stimmt alles nicht. Ein Kind ist kein Mensch. Nicht in unserm Sinn. Ich habe als Kind gelogen, betrogen und gestohlen. Alle anständigen Leute haben mir das Zuchthaus prophezeit.« – »Meinetwegen lügen und stehlen«, erwiderte Marie heftig, »hundertmal besser als das. Diese Infamie. Kalte gemeine Rache an einem Tier.« – »Hast du ihn zur Rede gestellt?« – »Nein. Ich habe kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Ich habe auch beim Schlafengehen nicht mit ihm gebetet.« – »Das hat ihn natürlich geschmerzt?« – »Ich hoffe. Es kann ihn gar nicht tief genug schmerzen.« – »Und der andere, der kleine Imst?« – »Der? Ja, das war merkwürdig. Stell dir vor: Er kommt zurück, die Hand voller Regenwürmer, wo die Buben immer so viel Würmer herkriegen, ist mir ein Rätsel, und wie er den Vogel tot liegen sieht, augenscheinlich umgebracht, dem Johann sah man ja die Missetat an der Nasenspitze an, da lächelt er!« – »Lächelt? Was du sagst!« – »Ja. Ein widerwärtiges Lächeln. Wie wenn einer durchblicken läßt: Ihr könnt mir nichts mehr weismachen mit eurer Feinheit und eurer Tugend. Es gibt eben schlecht geborene Menschen, Joseph, gemein geborene, böse geborene.« – »Ich kann dir darin weder beipflichten noch kann ich's bestreiten, Liebste. Jedenfalls hast du keinen erfreulichen Tag verlebt.« – »Nein. Aber der Versager ist man zuletzt doch selber. All der Wahn von Einfluß und Bluterbe und angestammter Art! Was soll ich denn nur tun? Bin ich eine so unzulängliche Mutter? Eine Person, die sich, Gott weiß, welchen überspannten Illusionen hingibt, sich aufspielt und überschätzt? Rate mir doch, Joseph, hilf mir doch!«

Kerkhoven schwieg. Oh, dieser Ruf, dieser bange Menschenruf, wie gut kannte er ihn, wie oft hatte er ihn gehört! Mit großen, forschenden Augen schaute er Marie an, als wollte er ihr Innerstes prüfen. Da hob Marie mit einem Ruck den Kopf und blickte gegen die Tür, die sacht geöffnet worden war. Auf der Schwelle stand im Schlafanzug der kleine Johann. Er hatte ein verweintes Gesicht. Als er der Mutter ansichtig wurde, lief er ohne sich zu besinnen auf sie zu und barg sich stumm an ihrer Brust. Marie drückte den warmen, zitternden Körper fest an sich und wiegte ihn mit schmeichelnden, beschwichtigenden Gurrlauten ein wenig hin und her. Dann stand sie auf, um ihn hinauszutragen, in sein Bett hinunterzutragen. Aber er war ihr zu schwer, und Kerkhoven nahm ihn ihr ab. Es war ein ziemlich weiter Weg. Als er den beschämten Ausbrecher wieder auf seinem Lager verstaut hatte, drängte ihn Marie beiseite, setzte sich an den Bettrand, nahm die gefalteten Hände des Knaben zwischen ihre beiden und sagte ihm das Vaterunser vor. Das Kind sprach es mit süßer, dankbarer Stimme nach. Kerkhoven stand still dabei; es war, als dürfe er keine Silbe, keinen Laut verlieren. Eine sonderbare Unruhe glänzte in seinen Augen.

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»Willst du noch eine halbe Stunde zu mir kommen?« fragte er, als sie draußen waren und den Flur entlangschritten. Sie nickte. Er schob seinen Arm unter ihren. »Bist du nicht zu müd?« erkundigte er sich besorgt. – »Du bist ja auch nicht müd und hast mehr getan als ich«, antwortete sie; »du wirst wohl nie müde, wie? Du weißt gar nicht, wie das ist?« – »Müde macht mich nur die Zweckarbeit«, sagte er.

Als sie oben waren, drückte er sie in den Lehnsessel, schob einen Schemel heran und setzte sich neben sie. »Sag mal, Marie«, begann er, »du betest da mit dem Kind ... das Vaterunser ... Ich weiß, du tust es jeden Abend ... Sag mir: Glaubst du an das Gebet, während du es sprichst?« Da ihn Marie erstaunt anblickte, fuhr er in dringenderem Ton fort: »Wenn du sagst: ›Vater unser, der du bist im Himmel‹, glaubst du da wirklich und tatsächlich an den Vater im Himmel? Denk einmal genau nach. Mit dem Beinah-Glauben und Als-ob-Glauben ist es nämlich eine heikle Sache.« – »Was soll ich dir antworten?« fragte Marie bestürzt. »Es ist ...« – »Nein oder ja sollst du antworten«, unterbrach sie Kerkhoven lebhaft; »glaubst du es einschränkungslos, wörtlich, unbedingt, wenn du sagst: Vater unser, der du bist im Himmel ... ?« Marie sah ihn scheu und ängstlich an. »Ich weiß es nicht genau, Joseph«, gab sie flüsternd zu, »wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich's nicht.« – »Hm. Du weißt es nicht«, sagte er grübelnd, »vielleicht sind wir da an der Wurzel von allen deinen Ungewißheiten.« – »Das kann schon sein«, hauchte Marie; »das war ja immer die Barriere, schon damals in Berlin, wie ich die fremden Kinder zu mir ins Haus nahm ... und dann in Dürrwangen, mit dem gelähmten Mädchen ... Ich hab' dir ja davon erzählt ... Um Haaresbreite ... um einen Herzschlag mehr, du verstehst, was ich meine ... und man hätte glauben können ... trotzdem ... Zum Schluß war die Mauer da ... Wie kommt man durch die Mauer durch?«

Kerkhoven erhob sich und ging mit schweren Schritten auf und ab. »Nicht ohne einen umfassenden, für mich vorläufig kaum ausdenkbaren Verzicht wahrscheinlich«, sprach er im Gehen vor sich hin. »Vater unser, der du bist im Himmel ... wundervolles Wort ... Aber bist du damit nach allen Seiten hin gedeckt und geschützt? Das ist die Frage. Ich will dir was sagen, Marie: Glauben, wirklich glauben, das heißt soviel, wie den Faust dichten oder die Matthäuspassion komponieren. Alles andere ist Annäherung und Notbehelf. Wenn einer zu mir kommt und fragt ›Was soll ich tun, um zu glauben‹, so frag' ich zurück ›Wo sind deine Eingebungen, deine Offenbarungen, wo ist dein Werk?‹ Glauben ist eine höchste menschliche Leistung, werde ich ihm sagen, ein ungeheurer Aufflug; traust du dir zu, da oben zu atmen, wo dir dein Ich aus der Seele geblasen wird wie ein Rußkorn aus einem entzündeten Auge?«

Marie legte die Fingerspitzen aneinander und erwiderte mit zweifelvollem Kopfschütteln: »Das hilft mir nicht. Es ist Dialektik. Du wehrst dich mit Händen und Füßen gegen das einfache Gefühl.« – »Das Gefühl ist nicht einfach, Marie, wenn es das bedeuten soll, was du meinst. Es ist das Endstadium eines langen und schweren Prozesses, oder es ist eben nur die kleine Angst, die Kinderangst, der Kindertrost.« – »Nein, Joseph. Aus dir spricht das Wissen von Menschen und Dingen. Das viel zu viele Wissen. Es macht dich zum Theologen, zum Scholasten. Du kannst nicht mehr hinein in das Vaterunser, aber vielleicht ist es ein größeres Gehäuse als irgendeines, das du dir mit deiner Erfahrung baust.« – Kerkhoven blieb vor ihr stehen. »Ich wünschte, es wäre so«, sagte er traurig; »hast du noch nicht bemerkt, daß mir dieses ganze Wissen, die ganze Erfahrung längst brüchig und verdächtig geworden sind? Ich tue doch nichts anderes mehr, als verzweifelt um das eine zentrale Geheimnis herumlaufen und einen Zugang dazu suchen! Ich bin wahrhaftig nicht der Mann, der sich einbildet, den Mäusen die Ohren angenäht zu haben, damit sie die Katze hören können.«

Marie schwieg bedrückt. Sie streckte die Arme aus, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn zart.

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Aus einem Brief Bettinas an Kerkhoven:

» ... es widerstrebt mir, in Ihre Zeit einzubrechen wie ein dummer, kleiner Dieb in ein gastliches Haus, obwohl Sie mir einmal sagten, Sie hätten keine eigene Zeit. Ich weiß jetzt, von wie vielen Menschen Sie in Anspruch genommen werden, das ist für mich Hindernis genug. Sie müssen bedenken, teurer Freund, meine Anfänge lagen in einer abgegrenzten und formelhaften Welt. Als Kind wurde ich von meinem Vater dazu erzogen, die Distinktionen zu achten und die Unterscheidungen zu lernen. Er war weise. Eigentlich gehörte er ins achtzehnte Jahrhundert, wo man noch die Vernunft hochachtete, und oft sagte er scherzend, einer, der den Kopf oben behält, ist mehr wert als hundert, mit denen das Herz durchgeht. Später bin ich dann in die Lebensunordnung geraten, ins geistige Abenteuer, damit hab' ich vielleicht mein inneres Gesetz übertreten, und der Becher der Wirklichkeit ist mir in der Hand zersprungen. Ich habe viel über das Pascalsche Wort nachgedacht, das Sie in Ihrem letzten Brief anführen: Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point. Gewiß. Aber wenn man so wie ich durch Fügung und Schicksal unaufhaltsam in das dunkle Reich der Instinkte hineingezogen worden ist, diesen reißenden Strom, von dem man nie weiß, an welches Ufer er einen schleudern wird, ans höllische oder ans paradiesische, dann richtet sich alle Sehnsucht, deren man fähig ist, auf die Helligkeit, die Form und das Maß. Sie haben mir einmal auseinandergesetzt, warum Alexander nach Ihrer Ansicht unverwundbar sei, unschuldig und unverwundbar sagten Sie, erinnern Sie sich? Sie sprachen davon, daß Menschen mit einer gesicherten Instinktgrundlage unter einer Art von Engelschutz lebten. Ich habe Sie doch richtig verstanden? Schön, aber wir andern, bei denen die letzten, untersten Bewußtseinsschichten nicht so ins Element hineinfließen, was sollen wir tun, was ist unser Los? Geist und Logos haben da unten keine Stimme mehr, die Erdmächte herrschen, die Nachtmächte, die Blutmächte, ich aber kann dauernd in einer Welt wie unserer nicht leben, in der die Anima in den Animalismus und den Totemismus versinkt, sowenig wie in einer Musik, die nur noch aus Tönen besteht und keine Mathematik mehr hat ... Über Alexander schreib' ich Ihnen nächster Tage ausführlich. Alles in ihm scheint einer neuen Krise zuzutreiben, gefährlicher noch als die erste, und ich bin unfähig, sie abzuwehren ...«

Kerkhoven gab den Brief Marie zum Lesen. Sie las ihn, und als sie fertig war, las sie ihn zum zweitenmal. Dann sagte sie: »Die Frau muß ich kennenlernen.«

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Schon in den letzten Monaten des Jahres 1930 hatte unmerklich jener seltsame Aufstieg Joseph Kerkhovens begonnen, der nicht auf sozialen, auch nicht auf ärztlich-wissenschaftlichen, sondern fast ausschließlich auf menschlichen Errungenschaften und Leistungen beruhte. Was bedeutet aber der unklare Begriff »menschlich« hier? Unaufhörlichen Einsatz der Persönlichkeit bis zum Selbstopfer. Um Kranke und Leidende ging es nur im engsten Kreis seines Wirkens, und wo er sich als Arzt im eigentlichen Sinn zu betätigen hatte, war er sich in den meisten Fällen schon der Vergeblichkeit, ja Zweckwidrigkeit seines Tuns bewußt. Der Kranke und der Leidende stellten ihn vor ein vollzogenes Faktum. Manchmal ließen sich die Wunden zur Not heilen, manchmal nicht; man konnte dem und jenem, der Leib und Seele töricht oder lästerlich hatte verkommen lassen, für eine Weile wieder aufhelfen, die geschädigte Funktion wieder zum Dienst zwingen; das mißhandelte Organ wieder gebrauchsfähig machen; Schmerzen, wenn nicht beseitigen, so doch betäuben; ein verfinstertes Gemüt, wenn nicht nachhaltig, so doch vorübergehend aufhellen; man konnte einen Gehirntumor im Entstehen diagnostizieren und durch rechtzeitige Operation das gefährdete Leben retten; man konnte ein zugrunde gerichtetes Herz durch unendliche Sorgfalt aus der Todesnähe entfernen, aber das alles war Flick- und Stückwerk; das einmal angegriffene und bedrohte Leben war fast immer schon ein verlorenes Leben. Selten war Krankheit fruchtbringend; selten war Leiden ein Lebenswert; wenn sie es waren, dann freilich stand der Arzt vor seinen höchsten Aufgaben. Es im einzelnen zu erkennen war schwer; die Entscheidung zu treffen führte zu kaum tragbaren Verantwortungen.

Darüber hinaus waren es aber die Zeit, die allgemeine Seelenlage, die beispiellose Seelennot, die verheerend um sich greifende Existenzangst, die Verdorrung aller Liebesinstinkte, die Abdrängung und Abschnürung von drei Vierteln der Menschheit, von Produkten, von Arbeit, von der Verbundenheit mit dem Ganzen, von jeglicher Erfüllung überhaupt, die Kerkhovens Aufmerksamkeit in einem Maße auf sich zogen, daß ihm demgegenüber alles andere nicht mehr von Belang erschien. Und da bewahrheitete sich wieder die Erfahrung, daß einer nur bis zum Kern seines Wesens, erkennend oder wirkend, in einer Sache zu stehen braucht, und er wird, durch eine Art von Magnetismus, zum Richtpunkt und zur Zuflucht aller derer, die kämpfend oder untergehend darin verstrickt sind. Aber, wie gesagt, mit seinem ganzen Denken und Fühlen muß er erfaßt sein, dann kann er in der Wüste Gobi oder in der Antarktis oder in einem afrikanischen Urwald sitzen, und die Ausstrahlung seines Willens und Geistes, die gesammelte Bereitschaft in ihm, das tätige Herz werden die Menschen zu ihm hintreiben, wie Bienen durch die Emanationen einer reifen Blüte zu meilenlangem Flug bewogen werden.

Dies ist, im Fall Joseph Kerkhoven, keine Erfindung, keine schöne Fabel. Wir haben hierüber die bestimmtesten Nachrichten und schlagendsten Belege und könnten mit einer Überfülle von Beispielen dienen. Rätselhaft, wie viele Leute, in allen möglichen Ländern verstreut, sich plötzlich seiner erinnerten und wie sie herausbrachten, wo er wohnte und wie er zu erreichen war. Die ihm Briefe schickten, entweder mit den Schilderungen eigenen Elends erfüllt oder mit dem ihrer Freunde, Genossen und Verwandten. Ob es Hungernde und Unterstandslose waren, politische Flüchtlinge oder in ihrem Beruf Entgleiste, mitten in einem Werk Niedergebrochene oder über Nacht Verarmte, Leute aus allen Ständen und Schichten, von jeglicher Geisteshaltung, Greise und Jünglinge, Mädchen und Frauen: Alle, alle kamen zu ihm, standen an seinem Weg, drängten sich zu jeder Tages- und Nachtstunde in seine Einsamkeit, telefonierten und schrieben, legten ihm Dokumente vor, erzählten ihre Schicksale, sprachen von ihren Hoffnungen, baten um Empfehlungen, um Rat, um Brot, um Stellung, um Arbeit, und wen nicht das eigene Hangen und Bangen zu ihm führte, der verlangte Aufschluß, Deutung der Katastrophe, von der die Menschheit heimgesucht war, Gespräch und tröstendes Wort.

Er suchte zu genügen. Er machte sich zum Postenjäger für eine Armee von Beschäftigungslosen. Wo immer ein vakantes Amt war, er hatte einen Anwärter dafür, dem er es verschaffte. Wenn hier eine Schreibmaschine war und hundert Kilometer weit entfernt ein Mensch, der ihrer bedurfte, so brachte er die Maschine und den Menschen zusammen. Wurde in einer Tuberkuloseheilstätte ein Platz frei, so hatte er sofort die Person bei der Hand, die darauf wartete. Leuten, die Bilder und Möbel veräußern wollten, verhalf er zu einem Käufer und sorgte dafür, daß sie nicht betrogen wurden. Er wußte, wo man Hauslehrer, Hofmeister, Erzieherinnen, Pflegerinnen brauchte, und schickte diejenigen hin, die hierzu geeignet waren. Zu dem Zweck mußte er fortwährend weitverästelte Beziehungen unterhalten und sein Gedächtnis mit Namen und Adressen vollstopfen. Menschen, die in der Krise ihr Vermögen eingebüßt hatten, entlockte er wie ein geistiger Schatzgräber bisher brachgelegene Gaben und Fähigkeiten, durch die sie eine Weile ihr Leben fristen konnten. Er fügte Ehen wieder zusammen, die durch jahrelangen Unfrieden zerstört waren, und brachte Paare zum Auseinandergehen, die sich in tödlichem Hader aufrieben. Wenn er sich in einer der benachbarten Städte aufhielt, waren auf seiner Liste immer schon so viele Fälle vorgemerkt, daß er alle Neuhinzukommenden abweisen mußte, und oft erinnerte er sich erst am Abend während der Heimfahrt, daß er seit dem Frühstück keinen Bissen zu sich genommen hatte. Obwohl seine materiellen Umstände nicht die besten waren (die Einnahmen aus der Praxis waren gering, und das Kapital, das er damals in Berlin hatte flüssigmachen können, ging stark auf die Neige), half er mit Geld aus, wo er konnte, nicht selten mit ansehnlichen Summen. Es war ihm unmöglich, eine Notlage zu ignorieren, wenn ihr mit einem Hundertfrankenschein, den er in der Tasche trug, gesteuert werden konnte.

Verzweiflung nahm er nicht an; er bewilligte sie sozusagen nicht; keinem. Er erkannte nicht das Pathos an, in das sich jeder Verzweifelte hüllt, wie ein Schauspieler in sein Kostüm. Er übte auch nicht Kritik, weder an den Menschen noch an ihrem Schicksal, noch am Zustand der Welt. Dazu ließ er sich nicht herab. Sich gegen das Unabwendbare aufzulehnen macht klein. Die freundliche Ruhe, womit er die trübsten Geständnisse anhörte, den zu Boden Geschlagenen aufrichtete und noch in der aussichtslosesten Verwirrung mit divinatorischer Sicherheit den einzig gangbaren Weg zeigte, wirkte auf viele wie ein Wunder und war an sich schon Hilfe.

Aber auch in einer unermeßlich reichen Seele erschöpft sich der Kräftevorrat, wenn zu keiner Zeit mit ihm hausgehalten wird. Eines Tages meldet sich die Natur und hält dem Verwirtschafter die Rechnung vor. Und dieser Tag ließ nicht lange auf sich warten.

100

Es war in den letzten Junitagen, als zwei Ereignisse mit besonderer Wucht auf ihn eindrangen. Sie beraubten sogar ihn für eine Weile des inneren Gleichgewichts und führten in der Folge zu einer Entdeckung, die jeden andern Mann gelähmt und bewogen hätte, sich aller seiner Geschäfte schleunigst zu entledigen, um sich vor der drohenden Gefahr zu retten. Bei ihm bewirkte sie das Gegenteil.

Wir wollen die Vorgänge der Reihe nach erzählen.

An einem Dienstagmittag fuhr er nach Zürich hinüber, wo er in der Dufourstraße ein bescheidenes Absteigequartier hatte. Dort warteten bereits mehrere Leute auf ihn, die ihn mit ihren Angelegenheiten schon seit längerer Zeit in Atem hielten. Während er den letzten abfertigte, brachte der Postbote ein eingeschriebenes Paket, auf dem als Absender Alexander Herzog genannt war. Er wog es einen Augenblick in der Hand und legte es uneröffnet auf den Tisch in seinem Schlafzimmer, um in der Nacht mit der Lektüre zu beginnen; daß es sich um die von ihm angeregten Aufzeichnungen des Schriftstellers handelte, unterlag keinem Zweifel. Er war im voraus gespannt und trug die äußere Spannung den ganzen Rest des Tages mit sich herum, ungefähr, wie wenn man auf eine bedeutsame Nachricht vorbereitet ist, deren Wortlaut und Tragweite man noch nicht kennt.

Es wurde fünf Uhr, bis er in die Nervenklinik kam. Auch dort war das Vorzimmer mit Wartenden gefüllt, und als er sich endlich in den Präpariersaal begab, um verschiedene wichtige Untersuchungen zu machen und Untersuchungsresultate zu begutachten, war es halb acht. Er blieb bis neun. Für halb zehn hatte er die Schreiberin in die Dufourstraße bestellt, er war pünktlich zu Hause und diktierte bis dreiviertel zwölf an seinem großen Werk. Ehe das junge Mädchen fortging, kochte sie ihm Tee und richtete einen kalten Imbiß her. Kaum hatte er sich zu Tisch gesetzt und in Hast ein belegtes Brot hinuntergeschlungen, als es draußen läutete. Die Wohnungsinhaberin war schon schlafen gegangen, er mußte selber hinaus, um zu sehen, wer es war. Er öffnete die Flurtür, vor ihm stand eine junge Person, in der Hand einen flachen Reisekoffer. Im Halblicht starrte er ungewiß in das Gesicht der späten Besucherin und machte eine Bewegung, als traue er seinen Augen nicht. Es war Aleid Bergmann, Maries Tochter aus erster Ehe. »Was ist geschehen? Wo kommst du her?« fragte er verdutzt und zog sie an der Hand ins Zimmer.

Sie stellte das Köfferchen auf einen Stuhl, riß den Stoffhut vom Kopf, schüttelte die Haare und sagte in ihrer burschikosen Weise: »Guten Abend, Onkel Joseph. Nimm mir den mitternächtlichen Überfall nicht übel. Ich konnte nicht anders. Du mußt mir helfen. Ich komme direkt von Dresden, hab' hier auf dem Bahnhof nach Seeblick telefoniert und erfahren, daß du in Zürich bist. Und da bin ich. Aber verzeih, ich sterbe vor Hunger und Durst. Darf ich?« Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie am Tisch Platz, schenkte sich Tee ein und verzehrte heißhungrig alles, was auf den Tellern lag, Brote, Wurst, Schinken, Eier, Käse, in erstaunlich kurzer Zeit.

Kerkhoven saß, in stiller Verwunderung, an der andern Seite des Tisches und schaute ihr zu. Sie schien ihm sehr verändert, seit er sie das letztemal gesehen hatte. Das war jetzt zwei Jahre her. Wie alt mochte sie sein? Er rechnete nach; etwas über zwanzig. Sie sah jedoch älter aus, reifer. An Schönheit hatte sie nicht zugenommen. Schön war sie nie gewesen. Durch die außerordentliche Blässe, fast Weiße des Gesichts traten die Sommersprossen auf der Haut peinlich störend hervor. Dazu das verstruwwelte, kupferrote Haar, das übermäßig lange, schmale Kinn, der grellrot geschminkte Mund. Aber die smaragdgrünen Augen, die einen überraschenden Glanz hatten, der kühne selbstbewußte Blick verliehen den Zügen einen fremdartigen Reiz, und was beim ersten Eindruck pittoresk und unharmonisch wirkte, wurde bei längerer Betrachtung anziehend, ja ungewöhnlich fesselnd.

Endlich war sie mit dem Essen fertig. Sie wischte mit der Serviette den Mund ab und sagte: »Ich mußte dich unbedingt sprechen, Onkel Joseph. Ich weiß nicht, ob ich der Mutter unter die Augen treten kann. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll. Ich bin in einer scheußlichen Situation, schlimmer, als du dir vorstellen kannst.« – »Nun, leg los«, antwortete Kerkhoven, »mit mir kannst du offen sein. Wir waren ja einmal recht gute Freunde.« – »Ich bin im vierten Monat schwanger, Onkel Joseph.« – »So. Das ist unangenehm, wenn man nicht verheiratet ist, liebe Aleid. Und das bist du doch vermutlich nicht?« – »Nein.« – »Und wer ...?« – »Wer der Betreffende ist, meinst du? Er ist nicht mehr. Er ist tot.« – Kerkhoven machte eine jähe Bewegung. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück. Aleid stützte die Ellbogen auf den Tisch und umschloß mit den gekreuzten Händen ihren Hals. »Hast du von Melchior Bernheimer gehört?« fragte sie leise. – »Dem Korvettenkapitän?« – »Ja. Ein Held, Onkel Joseph, ein Held. Kriegskrüppel. Ein Mensch, wie es vielleicht keine zehn in Europa gibt.« – »Ich habe von ihm gehört.« – »Vorgestern haben sie ihn erschossen. Einfach gemeuchelt. Nachts auf dem Heimweg. Ein Kommunist. Von hinten in den Kopf geschossen.« – »Und du ..?« – »Ich ... na ja ... Was soll ich noch sagen? Das Kind ist von ihm.«

Kerkhoven schaute sie wortlos an. Ihre unnatürliche Gefaßtheit ängstigte ihn. Die Blässe des Gesichts spielte ins Bläuliche. Der smaragdgrüne Blick hatte etwas Aufgerissenes, Kaltloderndes. Um die Lippen vibrierte ein Lächeln wie bei einer Gepeitschten, die sich in heldenhafter Pose gefällt. »Fein, was, Onkel Joseph? Sag selber, ist's nicht fein? Feine Leute. Feine Zeit ...« – »Ich erinnere mich, in der Zeitung davon gelesen zu haben«, sagte Kerkhoven matt; »aber willst du nicht etwas ausführlicher ...« – »Kann nicht«, fiel sie ihm mit seltsam gellender Stimme ins Wort; »verstehst du, wie ich hierhergekommen bin? Ich versteh's nämlich nicht. Ich wollte weg, nur weg. Freunde haben mich an die Bahn gebracht. Haben mir die Fahrkarte gekauft. Ich hätte sonst ... ich weiß nicht ... Was Schreckliches wäre passiert ... Er war schon lange zum Tode verurteilt. Er hat's gewußt. Alle haben mir die Hölle heiß gemacht. Großmutter drohte mich zu enterben. Ich hab' ihr gesagt, daß ich ... Enterben ... großartig. Wie bei der Courts-Mahler ... Ich hatte keine Ahnung, daß die alle so feig sind ... so grenzenlos feig ... Hör zu, ich glaub', ich werde wahnsinnig ... Bestimmt werd' ich wahnsinnig ... Hast du einen Kognak?«

Sie warf mit einer Kopfbewegung die Haare zurück und lachte. »Ich muß dir viel von ihm erzählen«, fuhr sie zusammenhanglos fort, »tagelang könnt ich dir erzählen ... Übrigens hab' ich ein Bild von ihm, warte ...« Sie sprang auf, schleppte das Köfferchen herüber, suchte den Schlüssel, fand ihn nicht, ließ den Nickelhebel springen, wobei sich zeigte, daß das Schloß nicht versperrt war. »Den Koffer hat mir einer im letzten Moment geliehen ... Weiß gar nicht, was sie alles hineingestopft haben ...« Während sie fiebrig und gehetzt redete, schmiß sie Strümpfe, Blusen, Hemden, Taschentücher achtlos auf den Boden; da fiel ihr ein Buch in die Hand, sie vergaß, was sie gesucht hatte und reichte Kerkhoven das Buch. »Das hab' ich neulich gelesen«, berichtete sie in ihrer hektischen Hast, »es ist wundervoll ... Melchior hat's mir geschenkt ... ein paar Tage vor ... Der Mann, der das geschrieben hat, weiß allerlei von einem ... Mit dem müßte man mal reden ...« Kerkhoven warf einen neugierigen Blick auf das Titelblatt. Es war Alexander Herzogs letztes Werk: »Tine und ihr Schatten« hieß es, die Geschichte zweier Frauen, Mutter und Tochter, die aneinander zugrunde gingen, weil die eine wirklich lebte, was die andere nur erträumte und zu leben unvermögend war. Kerkhoven kannte es; das unterirdische Hineinspielen des Buches in das Schicksal des jungen Mädchens; der Gedanke, daß im Zimmer daneben eine Botschaft von demselben Mann seiner harrte, von dem diese Geschlagene da wie von einem Erlöser sprach, das warf ein verwirrendes Licht auf die scheinbar zufälligen Zusammenhänge des Lebens, und es war ihm, als ob die Fäden glühend würden, die er selber in der Hand hielt.

Indessen hatte sich Aleid in einen Sessel geworfen. Sie saß ganz steif, mit angezogenen Schultern, das Gesicht war maskenhaft unbeweglich, und aus den smaragdgrünen Augen, die an die Augen einer exotischen Eidechse erinnerten, flossen wasserhelle Tränen. Sie schien Kerkhovens mitleidigen Blick nicht zu bemerken; sie leckte ein paar Tränen ab, die ihr unter die Nase geronnen waren, und fragte mit einem blechernen Ton, ob sie hier übernachten könne. Selbstverständlich könne sie das, erwiderte Kerkhoven, einiges Bettzeug werde sich wohl finden, sie könne auf dem Sofa schlafen; »aber wir müssen einen Beschluß fassen«, fügte er hinzu, »du mußt zu deiner Mutter. Ich kann dich ihr nicht verheimlichen. Und warum auch?« – Mit gerunzelter Stirn dachte Aleid nach. »Komisch, daß ich an die Mutter bis jetzt nicht gedacht habe«, sagte sie; »bis jetzt, wo du von ihr sprichst ... Ich hab' entsetzliche Angst. Sie ist solch ein Charakter. Ich bin kein Charakter.« – »Siehst du darin einen Vorzug?« – »Weder noch. Ich hab' mir nie überlegt, ob man Charakter haben soll. Hast du Charakter?« – »Vielleicht. Ein Gesicht muß man haben.« – »Ja, ein Gesicht. Ich hab' die Mutter so lange nicht gesehen. Was ist sie für eine Frau? Ich kenne sie ja kaum.« – »Und mich kennst du?« – »Einen Mann kennt man.« – »Deine Mutter ist der einzige Mensch auf der Welt, den du brauchst ... Du mußt nur ein Herz für sie haben.« – »Herz? Auch Herz hab' ich nicht, Onkel Joseph.« – »Sei kein Prahlhans, Kind.« – »Nein, wirklich nicht. Herz ist ein Vorurteil. Oder sagen wir eine falsche Prämisse. Aber lassen wir's. Du findest also ernstlich, ich soll mich an den mütterlichen Busen flüchten?« – »Es wäre gut für beide Teile.« – »Dann müßtest du etwas für mich tun«, sie preßte die Hände an die Wangen und sah ihn, mit einem irren Schimmer in den Augen, an, »ich will nichts erzählen, ich will nichts erklären, ich will nicht gefragt werden, ich bin ...« Sie sprang auf, griff nach der leeren Teetasse und schleuderte sie zu Boden, daß sie in hundert Scherben zerbarst, »so, weißt du, so!« Hierauf ging sie zum Fenster, riß es auf, dehnte die Lunge und atmete in tiefen Zügen die Nachtluft ein. Kerkhoven kniete nieder und legte die Scherben auf ein Häufchen.

Aleid drehte sich nach ihm um. »Geh jetzt schlafen, armer Onkel Joseph«, sagte sie; »kümmere dich nicht um mich. Keine Geschichten, kein Bettzeug, nichts. Ich streck' mich da auf dem Sofa aus. Ich bin müd ... Herrgott, bin ich müd!«

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Das Herzogsche Manuskript war die Ursache, daß Kerkhoven vierundzwanzig Stunden länger in Zürich blieb, als er vorgesehen hatte. Aleid schlief bis in den späten Nachmittag. Er hatte die Hauswirtin gebeten, sie nicht zu stören und das Zimmer nicht zu betreten. Er selbst verließ die Wohnung nur, um in einer benachbarten Gastwirtschaft zu Mittag zu essen. Besucher wurden abgewiesen. Er hatte noch in der Nacht zu lesen begonnen; um acht Uhr morgens setzte er die Lektüre fort und las bis vier Uhr nachmittags.

Schon als er das erste Blatt aufgeschlagen, hatte er gestutzt. Die Wahnwelt ... (Später bemerkte er darüber zu Alexander Herzog: »Merkwürdig, daß wir uns so oft an einem Kreuzweg treffen.« – »Wie das?« fragte Herzog. – »Nun, zuerst das mit dem Gang in die Wüste und jetzt: Die Wahnwelt. In die Wahnwelt rüst' ich seit Jahr und Tag meine Expeditionen aus. Ich bin so eine Art Sven Hedin der Wahnwelt, wenn Sie den Vergleich nicht anmaßend finden.«)

Was er seinerzeit von Alexander Herzog verlangt hatte, daß er ihm die lebendige Kreatur zeige, dieses eine, beispiellose Menschenwesen Ganna, das war geschehen. In einem Ausmaß, mit einer Wahrheitstreue, mit einer Schonungslosigkeit gegen das eigene Ich, einer fanatischen Hingabe an die Furchtbarkeit der Realität, daß dem nichts entgegengesetzt werden konnte als Schweigen, das verdonnerte Schweigen des zuschauenden ohnmächtigen andern. Ja, daß man »der andere« war, der weltenweit entfernte Betrachter, der nur das Bild sehen, den Schatten erspüren, das Verhängnis erahnen konnte, war ein Glück, sonst hätte es einen zermalmen und zerstampfen müssen. Kerkhoven kannte derartige Wirkungen nicht. Er hatte sich bisher noch nie eines solchen Spiegels bedient, um ein Stück Leben aufzufangen, an dem er tätigen Anteil nehmen sollte. Denn dieser Spiegel war ein magischer Spiegel. Die Überzeugung, die er vermittelte, war übersinnlich. Daß sie von den Sinnen ausging und sich auf das Wahrnehmbare beschränkte, war nur Schein. Die Gestalt bedeutete zuviel, um für sich allein gelten und sein zu können; sie sagte Umfassendes über einen Mann wie Alexander Herzog aus, zugleich aber legte sie das Innere der Zeit, ihr geheimstes Triebwerk gewissermaßen, wie unter Blendlicht bloß. Es war eine Erfahrung für Kerkhoven, mit der er nicht leicht fertig wurde. Stunden und Stunden hindurch verblieb er in einem Zustand bestürzter Ratlosigkeit. Ein Mann wie dieser Alexander Herzog war zweifellos in ähnlichem Sinn Zeuge wie die Hellseherin Thirriot, stand ähnlich unter Befehl und Zwang, wenn auch unvergleichlich reicher ausgestattet mit Bild und Wort, ja bild- und wortbeseelt bis ins Blut und in den Nerv. So wurde er fast zum Organ, zum Ding, zum sprechenden Instrument im Strom des Geschehens und der Wesen, verselbstet mit Geistern, Mund alles Stummen auf Erden. Darin lag auch das Aufregende und Bestürzende: Wie es plötzlich den Raum ausfüllte, dies Erschienene, wie ungeheuerlich sie da war, Ganna, und nur Ganna, wie sie von den Grenzen des Lebens her auf einen zuschritt und sich wieder entfernte bis zu den entgegengesetzten Grenzen, wie sie gierig die Welt verschluckte und eine freche Lügenwelt dafür aufbaute: Es durfte nicht sein, das Phantom hatte kein Recht, nach Willkür über Herz und Phantasie zu schalten, es mußte heraus aus der Sphäre, in der es entfesselt raste, es mußte exorziert werden, seine Nichtigkeit und Scheinhaftigkeit mußte dargetan und der Weg zu jener Macht gefunden werden, vor der es nichts war und bedeutete als ein schemenhaftes Unding ...

Es waren große Entschlüsse, die Kerkhoven in jenen Stunden einsamen Nachdenkens faßte; man hätte beinahe von inneren Umwälzungen sprechen können; einer Absage an bisherige Grundsätze und Anschauungen. Den Rest des Nachmittags und den ganzen Abend verbrachte er im Präpariersaal der Klinik und ließ sich vor jedem Besucher verleugnen. Eben an diesem Tag war das Gehirn seines verstorbenen großen Freundes eingeliefert worden; er hatte es dem Institut vermacht, und es hatte Monate gedauert, bis es untersuchungsreif war. Kerkhoven saß davor und schaute es an, das braungelbe, seltsam kompakte Gebilde, die starr gewordenen Windungen und Geflechte, ehemals der Sitz erhabener Gedanken und eines Lebens hoch über jeglichem Wahn, eines vollkommen lauteren, vollkommen frommen Lebens, und nun ein Haufen vertrockneten Schleims, nicht viel größer als zwei Männerfäuste.

Zweimal hatte er in der Dufourstraße angerufen und jedesmal den Bescheid erhalten, das Fräulein Tochter habe sich noch nicht sehen lassen. Er wunderte sich.

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Als er gegen zehn Uhr heimkam, teilte ihm die Wirtin mit, das Fräulein scheine noch immer zu schlafen. »Das ist nicht gut möglich«, murmelte er und ging rasch, voller Vorahnung, ins Wohnzimmer. An das Sofa tretend, erkannte er auf den ersten Blick, was geschehen war. Er packte die regungslos Daliegende an den Schultern, rüttelte sie, drückte das Ohr auf ihre Brust, die Finger auf die Augen, roch an ihrem Mund, es litt keinen Zweifel: Vergiftung, offenbar mit Veronal. Nasenspitze, Hände und Füße waren schon kalt, die Pupille, beim Öffnen der Lider, war nicht größer als ein Stecknadelkopf. Als er den Oberleib hochhob, röchelte sie. Zwei Minuten später hatte er die Magenpumpe eingesetzt und die Wirtin gebeten, unverzüglich ein heißes Bad zu richten. In weiteren zwei Minuten war die Spitalsleitung verständigt, der junge Kollege am Telefon versprach, sogleich mit dem Auto zu kommen. Die Auspumpung, das zweiunddreißiggradige Bad und die starke Frottierung hatten unmittelbaren Erfolg: Aleid erlangte die Besinnung wieder, doch man konnte sie dann nicht gleich transportieren, da sich heftiges Erbrechen einstellte, das über eine halbe Stunde dauerte. Kerkhoven machte noch einen Aderlaß, endlich konnte man sie in Tücher wickeln und in den Wagen schaffen. Kerkhoven fuhr mit. Er blieb bis ein Uhr nachts im Spital, und als er nach Hause ging, hatte er die Beruhigung gewonnen, daß das unglückliche Kind gerettet war.

Er fiel sofort in tiefen Schlaf. Nach einer Stunde erwachte er ruckartig unter einem heftigen Schock und mit einer sonderbaren gläsernen Klarheit im Kopf. Er bemerkte zu seiner Verwunderung, daß er von den Füßen bis zum Hals in Schweiß förmlich gebadet war. Als er die Hand auf seine Brust legte, zog er sie naß wie in warmes Wasser getaucht zurück. Er erhob sich, machte Licht, streifte den Schlafanzug ab, nahm ein Tuch und rieb sich trocken. Bei dieser Hantierung stand er vor dem Spiegel und gewahrte zwei matte braune Flecken in seinem Gesicht, schräg von den Augen abwärts je einen. Kopfschüttelnd ging er zum Bett zurück, da hatte er auf einmal das Gefühl, als seien seine Schenkelknochen hohl. Es war ein unangenehmes bleiernes Ziehen. Einen halben Schritt vor dem Bett brach er in die Knie. Er schaute erstaunt an sich herab, etwa wie ein Reiter das Pferd betrachtet, auf das er sich lange Zeit sorglos verlassen hat und das plötzlich unter ihm zusammenstürzt. Nur mit Mühe gelang es ihm, wieder ins Bett zu kriechen; er legte sich an den Rand, wo das Linnen trocken geblieben war, und verspürte alsbald von den Beinen aus ein Ameisenlaufen über Bauch und Brust, zugleich einen eisigen Kälteschauer im Nacken und ein Flimmern vor den Augen.

Dies alles beobachtete er ohne zu erschrecken. Mit einem kleinen, gespannten Lächeln lauschte er in seinen Körper hinein. Er befühlte den Puls; etwas dünn, dachte er, etwas fadig. Was geschah, was war los? Hatte er sich bereits da drinnen einquartiert, der Tod? Gleich einem verpuppt gewesenen Insekt, das ausgekrochen ist; einer Motte, die im Futter eines Anzugs überwintert hat; eines Tages nimmt man mit Verdruß das Loch wahr, das sie in den Stoff gefressen. Doch ein Insekt, eine Motte, das sind schon Giganten; ein unendlich viel winzigeres Ding treibt hier sein Zerstörungswerk. Oder ist es nicht vielmehr ein planvoller Aufbau? Der mikroskopisch kleine Architekt, zielbewußt in seinen Maßnahmen, holt sein Material aus dem Verbrauchten, den Aschenresten des göttlichen Lebens, die er geduldig sammelt und aufspeichert, um in unermüdlicher Arbeit an Stelle jeder Lebenszelle eine Todeszelle zu setzen, bis er, parasitisch und herrschsüchtig, die großartige Kathedrale aus Blut und Eiweiß, Phosphor und Stickstoff zum Einsturz bringt. Ein Vorgang, so logisch wie Geburt und ebenso unerfahrbar. Der Tod ist unerfahrbar. Ein Bild, eine Vorstellung, eine Idee, eine Furcht, alles das, aber eine Wirklichkeit kann der Tod nicht werden.

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Man muß für jeden Fall vorbereitet sein, überlegte Kerkhoven. Mit Selbstuntersuchung kam man nicht sehr weit, das wußte er. Dem Arzt ist das eigene Innere nicht zugänglich; er kann höchstens experimentieren, sehen kann er nichts. Einen Kollegen zu Rate zu ziehen hätte nur zu lästigen Erörterungen geführt und zur Anwendung von Methoden, an die er nicht mehr glaubte. Er ließ sich nicht davon einlullen, daß die verräterischen Symptome sich in den nächsten Tagen wieder »verspurlosten«, wie er es zu nennen pflegte. Der Körper macht es oft wie ein falscher Freund; wenn er einem hinterrücks geschadet hat, tut er doppelt zutraulich und treu; dann muß man besonders auf der Hut vor ihm sein.

Mehrere Blutproben, die er in gebotenen Fristen vornahm, sorgfältige Blutdruckmessungen, Registrierung wiederkehrender Erschöpfungszustände, Feststellung von Schwellenbildungen der Lymphdrüsen zeigten der Eigendiagnose den Weg, und obwohl er von einem gewissen Zeitpunkt an ziemlich im klaren war, was sich hinter der Wand seines Leibes begab, verschmähte er es, diesem Begebnis den ihm zukommenden Namen zu verleihen. Er mußte versuchen, es auf andere Weise zu bekämpfen als auf kenntnis- und erkenntnismäßige.

Wir aber wollen über die weitere Entwicklung dieses Prozesses vorläufig einen Schleier breiten. Wir erachten es als überflüssig, einen Joseph Kerkhoven bei jenen Tathandlungen zu verfolgen, die dazu dienen sollten, sein irdisches Gehäuse mit einem Wall von Schutzmaßregeln zu umgeben, hinter dem er unbemerkt eine abgelebte Seelenform mit einer neuen vertauschte. Manche Leser erinnern sich vielleicht an die tagelange rätselhafte Aphasie, die ihn nach dem Tod Johann Irlens befiel. Es war der Beginn seiner zweiten Existenz. Die Wehen der dritten waren weniger schmerzhaft und katastrophal, wirkten sich aber in größerer Tiefe aus. Systematisch durchzuführende Täuschung der Umwelt stellte sich als erstes Erfordernis dar; Selbstbeherrschung in jedem Wort, jedem Blick, jeder Miene; keinen Verdacht erregen, keiner Beobachtung Stoff liefern, sich niemals gehenlassen, auch während des Alleinseins nicht. Sodann war es notwendig zu ergründen, welchen Spielraum man nach menschlichem Wissen und Ermessen noch vor sich hatte. Das lag einstweilen noch völlig im dunkeln.

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Das Befinden Aleids machte gute Fortschritte. Am andern Mittag, nach einem längeren Besuch im Spital, fuhr Kerkhoven nach Seeblick. Er bat Marie in sein Zimmer und teilte ihr das Vorgefallene mit, ohne sich mit Verhehlungen und Beschönigungen aufzuhalten. Er wußte, daß Marie eine furchtbare Wahrheit, die sie mit einem Schlag erfuhr, leichter ertrug und verwand als eine hingezogene Verteilung, die den inneren Aufruhr nur verstärkte. Sie blieb ganz still. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, aber sie sagte kein Wort. Als sie aufstand, um die Vorbereitungen zur Fahrt nach Zürich zu treffen, schleppte sie sich schwer zur Tür. Kerkhoven ging ihr nach und umarmte sie. Widerstandslos ließ sie sich an seine Brust sinken. Mit geschlossenen Augen und zuckenden Lippen lehnte sie den Kopf an seine Schulter. »Dank dir«, flüsterte sie, »dank dir, daß du gut zu mir bist.« – »Fühlst du dich fähig, allein zu fahren?« fragte er. – »Ich versuch's«, antwortete sie, »wenn's mir schlecht geht in der Stadt, ruf' ich dich.«

Sie rief ihn nicht. Am Donnerstagabend fuhr sie, am Sonntag kam sie mit Aleid zurück. Obwohl keineswegs hergestellt, war diese doch außer Gefahr. Man hatte sie der Mutter übergeben, da man voraussetzen durfte, daß sie im Haus Seeblick in sachgemäße Pflege kam. Die kurze Reise hatte schon einen Rückfall bewirkt. Die Sprache war lallend, der Kornealreflex fehlte. Kerkhoven verordnete strenge Bettruhe.

Am selben Tag gelang es ihm zum erstenmal, die seelische Verkrampfung Jeanne Mallerys zu lockern. Im Verlauf eines anderthalbstündigen Gesprächs brachte er sie mit unbeschreiblicher Geduld dahin, daß sie ihm eingestand oder wenigstens andeutete, was ihr Gewissen bedrückte. Natürlich war er sich von vornherein darüber klar; sie durfte es nur nicht länger unenthüllt mit sich herumtragen. Es war die Frage, ob ein Wunschmord möglich sei, die sie quälte. Nicht, als hätte sie sich dieses Wortes bedient; der Begriff als solcher war ihr fremd, aber dem Sinn und der Tat nach war es Wunschmord, Phantasiemord, dessen sie sich schuldig gemacht. Dem lag alter Volksglaube, finsterer Hexenwahn zugrunde. Ist man einmal an diesem Wahn erkrankt, so kann es ja geschehen, die Erfahrung beweist es, daß man sich selber Hexen- und Zauberkünste andichtet, wenn sich ein Geschehnis vollzieht, das mit einem geheimen Verlangen übereinstimmt, so, als ob die Natur wirke, was die Seele sündhaft erträumt hat. Das Urböse in einer Gestalt wie der Selma Imst hatte wie durch giftigen Anhauch alles um sich herum zersetzt, wobei das Merkwürdige war, daß dieses Böse nur selten in seiner Nacktheit hervortrat, sondern meist in niedrigen Verkleidungen, als Verleumdungssucht oder Gier oder Lügenhaftigkeit. Bei der Imst spielte hauptsächlich der kleine, vulgäre Geiz eine Rolle. Jeanne erzählte zum Beispiel, daß sie im Anfang ihrer Beziehung zu den Imsts in deren Haus als Kostgängerin gelebt habe. Eines Tages hatte sie das Mittagessen zu spät abgesagt, d. h. erst gegen elf Uhr. Es war noch nichts gekocht, nur ein Topf mit Wasser stand auf dem Herd. Selma war wütend über die Absage und verrechnete Jeanne Mallery zehn Centimes, nämlich für das Salz, das sie in den Topf getan, und die Kohlenmenge, die beim Kochen des Wassers auf sie fiel. Aus solchen Einzelheiten und einer ganzen Reihe anderer, die er kannte oder nach Analogieschlüssen zusammenfügte, baute Kerkhoven vor der entsetzt lauschenden Jeanne ein Charakterbild auf, das sie ohne weiteres zu der Anschauung führte, wie sich die Dinge in Wahrheit zugetragen. Ein Kind mußte es begreifen, und Jeanne, mit ihrem einfachen Verstand und nüchternen Tatsachensinn, sah auf einmal völlig klar. Es machte ihr einen gewaltigen Eindruck. Indem er die abgefeimte Planung der Frau, den Selbstmord als Mord zu arrangieren, Zug für Zug auseinanderfädelte, fiel es wie Schuppen von Jeannes Augen; schließlich schrie sie auf: »Großer Gott, ich hab's ja immer geahnt! Ich hab' mich nur nicht getraut, es zu glauben. Also das!« – »So war es, so muß es gewesen sein«, sagte Kerkhoven; »dem Gericht hat der Beweis des Freitods genügt, auf den Zweck, der noch damit verbunden war, brauchte es sich nicht einzulassen. Man darf auch nicht darüber nachdenken. Sie wissen es jetzt, vergessen Sie es.« – »Aber kann man so jemand noch einen Menschen heißen?« fragte Jeanne mit gefalteten Händen. – »Ach ja, ach doch«, erwiderte Kerkhoven freundlich, »in der Hinsicht darf man nicht knausern. Sehen Sie, meine Liebe, jeder von uns ist in jedem Augenblick gleich fähig zum Guten und zum Schlechten. Wir wissen nicht einmal immer, ob es gut oder schlecht war, was wir getan haben.« Jeanne Mallery sah ihn sinnend an. Plötzlich packte sie seine Hand mit einer Bewegung, als wolle sie ihre Lippen darauf drücken. Er konnte es noch rechtzeitig verhindern.

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Am Tag darauf kam ein alarmierender Brief von Bettina Herzog, offenbar in großer Hast und Verwirrung geschrieben. Sie und Alexander waren Hals über Kopf mit dem Buben von Ebenweiler abgereist und hatten sich, unerfindlich warum gerade dort, in einem kleinen Hotel im Prätigau eingemietet. Es machte den Eindruck eines Zusammenbruchs auf der Flucht. Kerkhoven rief das Gasthaus telefonisch an, und als Bettina am Apparat war, erkundigte er sich besorgt, was denn los sei, weshalb sie die Reise nicht bis Seeblick fortgesetzt hätten. Das sei ja die Absicht gewesen, erwiderte Bettina in flehend-ratlosem Ton, allein Alexander habe plötzlich erklärt, er könne keine Menschen sehen, er hasse den Bodensee, auch vor einem Aufenthalt in Zürich graue ihm, so habe sie mit ihm den Zug verlassen und in die Einöde gehen müssen, in der sie sich seit zwei Tagen befänden. Es sei wie ein hysterischer Anfall über ihn gekommen, sie wisse nicht, was sie tun solle. »Es muß doch ein bestimmter Grund vorliegen?« fragte Kerkhoven. Bettina entgegnete zögernd: »Unser Haus ist versteigert worden. Er kann und kann es nicht verwinden.« Kerkhoven dachte nach. Dann sagte er: »Hören Sie zu, Frau Bettina. Bleiben Sie getrost noch ein paar Tage dort. Widersetzen Sie sich ihm nicht. Überreden Sie ihn zu nichts. Tun Sie alles, was er verlangt, auch das Ungereimteste. Er wird morgen woandershin wollen. Fahren Sie mit ihm, wohin er will. Ich muß nur immer wissen, wo Sie sind. Vor allem Mut!«

Während des Gesprächs stand Marie hinter ihm. In wenigen Worten setzte er ihr auseinander, worum es sich handelte. Da er wußte, welchen Anteil sie an allem nahm, was Alexander Herzog und, seit sie Bettinas Brief gelesen, auch Bettina betraf, sagte er: »Wir werden die beiden bald im Hause haben. Ich möchte, daß du die Aufzeichnungen Herzogs kennenlernst. Du mußt über ihn und die Frau im Bild sein. Ich glaube, ich kann's wagen. Er wird es sicher gutheißen.«

Er gab ihr das Manuskript. Er sah die Wirkung voraus. Es konnte anders nicht sein, wer immer den Ganna-Kreis betrat, auch nur das von einer belasteten Phantasie gemalte Abbild, wurde davon tingiert wie von einem ätzenden Farbstoff, der in alle Hautporen dringt. In den nächsten Tagen war er so beschäftigt, daß er Marie kaum zu Gesicht bekam. Er wurde dringend nach Solothurn gerufen, den Tag darauf war er in Waldshut im Badischen wegen eines schweren Falls von Melancholia attonita, der betreffende Kranke war ein Freund aus seinen Universitätsjahren, der es inzwischen zu einer hohen Stellung bei der Regierung gebracht und sich plötzlich seiner erinnert hatte; er wollte von keinem andern Arzt wissen als von ihm, obwohl fast ein Vierteljahrhundert verflossen war, seit sie einander zuletzt gesehen. Vermutlich hatte er von Kerkhovens Wirksamkeit vernommen, waren doch in der ganzen Gegend bis weit hinein ins Reich die sonderbarsten Gerüchte über ihn im Schwange. Keineswegs nur freundliche und gutartige; namentlich in seiner engeren Umgebung trat eine nicht recht zu fassende Feindseligkeit immer stärker hervor; er hatte den Eindruck, als ob die Bevölkerung heimlich gegen ihn aufgewiegelt würde; sowohl Marie als auch Schwester Else hatten ihm schon von einzelnen häßlichen Gerüchten erzählt; er nahm es auf die leichte Achsel, obschon es ihn zuweilen verstimmte; die Frauen waren jedoch beunruhigt und forschten den verborgenen Urhebern nach.

Mit Marie konnte er schon deshalb wenig beisammen sein, weil sie ihre Tochter Aleid nicht eine Stunde allein ließ. Sie hatten nur den späten Abend für sich, und auch den nur, wenn Kerkhoven zu müde war, um zu arbeiten, zu müde sogar, um seine Notizen zu sichten und zu ordnen. Als sie ihm Ende der Woche die Herzogschen Bekenntnisse zurückbrachte, sah sie aus wie eine Leidende, die für kurze Zeit das Bett verlassen hat. Sie legte die Mappe stumm auf seinen Schreibtisch, setzte sich in einiger Entfernung von ihm nieder und schaute in die Luft. »Nun, was sagst du?« richtete er endlich das Wort an sie, nicht so sehr, um ihre Meinung zu hören, als, um ihr bedrückendes Schweigen zu brechen. – »Was soll man da sagen?« versetzte sie. »Man schämt sich, daß man ein Weib ist.« – »Es scheint, du hast dich stark engagiert.« – »Du nicht?« – »Ich habe mich bemüht, es ... wie soll ich sagen ... es durchs Fernrohr zu betrachten.« – »Das glaub' ich dir gern, aber wir andern sind keine Astronomen.« – »Es war auch für mich nicht so einfach, wie du meinst. Ganna ist eine Formel für so viele Erscheinungen im Leben ... Die Figur faßt so vieles zusammen ... Auch in meiner Vergangenheit ist ja ...« – »Du denkst an Nina? Mein Gott, Nina war ein unschuldiger Engel ...« – »Das wohl, aber erinnere dich an ihre tyrannische Liebe. Wie die einen schuldig gemacht hat. Den Wahnsinn, der darin liegt, einen Menschen ausschließlich besitzen zu wollen. Erinnere dich. Doch an Nina hab' ich nicht in erster Linie gedacht, sondern an meine Mutter. Das hat mehr mit meinem Blut und Hirn zu tun, wirst du zugeben. Sie war eine Maßlose durch und durch. Maßlos, wenn sie mich gezüchtigt hat, und maßlos, wenn sie mich vergöttert hat. Als Kind war ich ein halber Psychopath unter ihrer Fuchtel. Ja, sie war eine Ganna, eine vom Stamm der Gannas. Du begreifst, daß ich mir diese fast leibhaftige Ganna nicht zu nah kommen lassen darf.« – »Ich find' es wunderbar, daß du es in der Gewalt hast, Joseph.« – »Es kostet was, Liebste, es liegt was dahinter.« – »Ich weiß. Aber vergiß die zwei Menschen nicht. Die haben es nicht in der Gewalt.« – »Wie sollt' ich die denn vergessen?« – »Naja, ich meine nur ... Es könnte sonst zu spät sein.« – »Da sorg dich nicht. Die vergess' ich nicht. Die brauch' ich.« Er sagte das in so eigenem Ton, daß Marie verwundert aufsah. »Wieso? Was heißt das: brauchen?« – »Ich brauch' sie eben«, wiederholte er und stach mit dem Bleistift Punkte auf ein Blatt Papier; »man braucht eben mal die und die Menschen. Ist dir das so neu?«

Marie schaute ihn aufmerksam an. Dann erhob sie sich, trat zu ihm hin und schob mit der Hand sein Kinn ein wenig in die Höhe, so daß auch er sie anschauen mußte. »Du kommst mir verändert vor, Joseph«, sagte sie, »du verschweigst mir was. Sag mir, was es ist.« Er erschrak. Dies entging Marie nicht. Er ärgerte sich über sein Erschrecken und tat lustig entrüstet. Es gelang schlecht. Marie drängte, doch er schüttelte obstinat den Kopf und gab vor, nicht zu verstehen, was sie meinte. Da ließ sie ihn.

106

Wir sehen Alexander Herzog in kainhafter Rastlosigkeit umhergetrieben. Aus seiner Erde, seiner Landschaft, seiner Stille gerissen, wurde ihm jeder andere Aufenthalt zur Pein. Dies äußerte sich in zweierlei Arten, teils in Menschenhunger, teils in Menschenscheu. Teils glich er einem abgesetzten und verjagten Fürsten, der seiner verlorenen Sache Anhänger gewinnen will, teils einem verurteilten Bankrotteur, der Angst hat, erkannt zu werden.

Als Kerkhoven späterhin diesen Zustand zu ergründen versuchte, stieß er auf ein verschlungenes Gewebe von Motiven, die eine ebenso unheimliche wie zeitbedingte Erkrankung aufdeckten: Einsturz des Identitätsbewußtseins. Daher auf der einen Seite der Drang, sich mitzuteilen, zu eröffnen, zu erklären, zu rechtfertigen, und auf der andern die Furcht, als ein Ausgestoßener zu gelten, der nicht mehr mitzählt und sich und seine Rolle in der Welt heillos überschätzt hat.

Das Werk, das hinter ihm stand und das er fühlte, wie eine Mutter von zehn oder zwölf Kindern die Existenz dieser Kinder fühlt, wurde ihm zum Popanz; der Ruhm, auf den er sich gestützt, zur eitlen Einbildung; die Liebe und Bewunderung von vielen, die ihm zuströmte, zur Heuchelei; die erhoffte Altersernte gereiften Schaffens zur törichten Illusion. Es war eben alles zerschmettert.

Natürlich versuchte Bettina, obwohl sie selber mit ihren Kräften am Rande war, gegen diese gefährliche Verdüsterung anzukämpfen. Wie beredt sie war mitten in ihrem eigenen grauen Leid! Welche Mühe sie sich gab, ihm eine Zuversicht einzuflößen, die sie zuzeiten selbst nicht mehr empfand! Er hörte ihr zu und schüttelte den Kopf. »Wie willst du mir beweisen, daß ich für die Welt noch da bin«, fragte er dumpf, »daß ich ihr noch was wert bin? Du siehst den Alexander Herzog, der ich zu sein glaubte, nicht den traurigen Überrest von ihm, der sich künstlich mit den Inhalten eines bereits in Verwesung übergegangenen Lebens füllt. Gehöre ich der Zeit noch an, oder hat sie mich am Wege stehengelassen? Antworte, wenn du kannst. Du kannst nicht antworten. Auch in deinen Augen bin ich erledigt. Ein entlassener Domestik, der froh sein muß, wenn man ihm das Zeugnis gibt, daß er treu, fleißig und ehrlich gedient hat. So ist es. Ganna hat nur die Axt an einen umgestürzten Baum gelegt.«

Bei solchen Verzweiflungsausbrüchen erstarrte Bettina das Herz. Ihren Widerspruch hielt er für unaufrichtig. Er brauchte andere Bestätigungen als die ihren. Um sie zu finden, raste er von Stadt zu Stadt, nach Genf, nach München, nach Heidelberg, nach Paris, nach Sankt Moritz, in seine fränkische Heimat. Überall umgab er sich einen Tag lang mit Menschen, bekannten und unbekannten. Aus ihrem Verhalten zog er heimlich Schlüsse, wie es um ihn stand. Bei jedem Gespräch lag die stumme, angstvolle Frage in seinen Augen: Bin ich noch ich? Ist meine Welt noch eure Welt? Sprech' ich noch zu euch und hört ihr mich, wenn ich spreche? Was ihn damals bewegt und gehetzt hatte, als er in die Bergwildnis gegangen, wütete jetzt in ihm wie eine fressende Flamme.

Kam man ihm herzlich entgegen, so folgte der anfänglichen freudigen Überraschung das tiefste Mißtrauen. Feierte man ihn, so stellte er mit Bitterkeit fest, daß andere, die geringere Verdienste hatten, enthusiastischer bejubelt wurden. Bezeigten ihm junge Leute ihre Verehrung, so schrieb er es ihrem Mangel an Urteil zu; taten es ältere, so argwöhnte er, daß sie ihn als Parteigänger für ihre reaktionären Anschauungen gewinnen wollten. Frauen schienen ihm von vornherein befangen, Freunde durch Sympathie bestochen. Jede Teilnahme, jede Anerkennung war im besten Fall ein großmütiges Trinkgeld. Es war immer zuwenig, es war immer zuviel.

Die Menschen machten ihn unglücklich. Ihre Interessen langweilten ihn, ihre Geschäfte verachtete er. Fremdling bis ins Innerste, fühlte er sich niemals wirklich auf- und angenommen. Gesellschaften haßte er, einzelne strengten ihn an. Er war zu höflich, um zu schweigen, zu ungeduldig, um zuzuhören, zu intensiv mit sich beschäftigt, um sich hinzugeben, zu wählerisch, um sich mit Quantitäten zu begnügen oder mit einem bloßen stimulierenden Beisammensein. Er empfing Leute aus Pflichtgefühl, aus Neugier, aus Furcht, nein zu sagen, und nach einer halben Stunde war er wie gerädert. Blieb er aber unbesucht und unbemerkt, so verfiel er in die finsterste Melancholie und sah alle seine Befürchtungen bewahrheitet. Jeder Ort wurde ihm unleidlich, sobald er ihn betrat, und jeder Abschied wurde ihm schwer, vom gleichgültigsten Menschen, von einem Wirtshauszimmer, von einer Zufallsgesellschaft. Aufbruch war sein Wesen und seine Qual, Verweilen seine Sehnsucht und seine Unmöglichkeit.

Es wurde schlimmer und schlimmer. Für Bettina entstand die Frage, wie sie es ertragen sollte. Sie hatte den kleinen Helmut bei einer Freundin in Winterthur untergebracht. Wenn sie von der wilden Hatz erschöpft war, fuhr sie zu ihrem Söhnchen. Bekam sie dann keine Nachricht von Alexander, so war sie vor Sorge wie von Sinnen und zählte die Stunden, bis sie wieder bei ihm sein konnte. Er sagte: »Wenn du nicht bei mir bist, geh' ich zugrunde.« War sie jedoch bei ihm, so spielte er den Griesgram und benahm sich, als sei sie ihm eine Last, da ihm ja alles Last war, sein Innen und sein Außen, was er haßte und was er liebte. Sie redete ihm zur Arbeit zu. Er sagte: »Ich kann nicht. Ich habe keine Ruhe, ich habe keinen Boden. Ich bin fertig.« Sie flehte ihn mit gefalteten Händen an, mit ihr zu Kerkhoven zu fahren. Er sagte: »Ich will nicht. Ich brauche keinen Wärter.«

Eines Tages las sie ihm eine Stelle aus einem Brief Kerkhovens vor, die von dem Ganna-Buch handelte. »Richten Sie Ihrem Gatten aus«, hieß es in dem Brief, »daß ich unaufhörlich unter dem Eindruck seiner Konfession stehe. Während des Lesens war mir zumute, als würde ich an den Haaren durch eine brennende Gasse geschleift. Es geht nicht an, daß er mir eine solche Botschaft ins Haus schickt und sich dann unsichtbar macht. Er muß sich mir stellen. Ich warte. Er hat mir eine Bürde aufgeladen, die nur er mir wieder abnehmen kann.« Alexander schwieg verdutzt. Dann murmelte er: »Nein.« Dann sagte er mit bitterem Auflachen: »Daß er wenigstens einen Ton von sich gibt!« Und dann, herumgehend: »Wozu beklag' ich mich? Was hat's denn auf sich? Der arme Lazarus hat seine Memoiren geschrieben. Dergleichen Klienten hat er wahrscheinlich zu Dutzenden.« – »Was verlangst du von ihm«, fragte Bettina ungehalten; »was hätte er denn tun sollen?«

Jedoch darüber äußerte sich Alexander nicht. Vielleicht hatte er erwartet, daß Kerkhoven an ihn schreiben und nicht Bettina als Vermittlerin wählen würde. Später begriff er, daß ein solcher Brief, hätte er die gewünschte Wirkung haben sollen, für Kerkhoven eine Arbeit von Tagen bedeutet und zudem seine eigentliche Absicht durchkreuzt hätte.

107

Alexander hatte beschlossen, nach Mailand zu fahren, um sich mit seinem Sohn Ferry auszusprechen. Das heißt, er wollte Ferry vor die Entscheidung stellen, an wen er sich künftig zu halten gedenke, an ihn, den Vater, der ihm eine Existenz geschaffen hatte, ihm zeitlebens ein Freund gewesen war und auf alle Weise getrachtet hatte, ihn für eine glücklose Jugend zwischen hadernden Eltern zu entschädigen, oder an die Mutter, die mit einem verschwenderischen Aufwand an Gefühl, dem nie ein Tun entsprochen, Unfrieden und Zerstörung um sich verbreitet hatte. Verhängnisvolles Entweder-Oder. Es konnte zu keinem guten Ende führen. Bettina sah es voraus. Ihre Warnungen fruchteten nichts. Alexander bestand auf seinem Willen. Vorahnend weigerte sie sich aber energisch, ihn allein fahren zu lassen, wie er zuerst beabsichtigt hatte.

Sie wohnten im Hotel Cavour. Ferry hatte sich für zehn Uhr vormittags angesagt. Um halb zehn verließ Bettina das Hotel, um in die Brera zu gehen. Als sie gegen zwölf zurückkam, stieß sie in der Halle auf Ferry. Sie begrüßte ihn lebhaft. Sie hatte immer große Sympathie für ihn gehabt, obwohl sie wußte, daß er ihr die Ehe mit seinem Vater nicht verzieh. Als Vorwand für seine Abneigung, die allerdings von verkrochener und unsicherer Art war, hatte er sich eingeredet oder einreden lassen, sie sei zu sehr Dame und zu wenig Frau. Auch dies wußte Bettina und lächelte nachsichtig darüber, denn ihre Stellung Alexanders Kindern gegenüber war stets schwierig gewesen. Es hatte manchmal ihres ganzen Taktes und vieler Selbstüberwindung bedurft, um dieser Schwierigkeit Herr zu werden. Ferry gefiel ihr auch äußerlich. Er war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann von melancholischem Temperament. Seine Wortkargheit ließ ihn oft mürrisch erscheinen, aber er war früh gereift, das Leben war nicht besonders glimpflich mit ihm umgegangen, und wie den meisten Frühgereiften fehlte ihm das Selbstvertrauen.

Bettina fragte ihn, warum er schon gehe, ob er nicht zum Essen bleiben wolle. Er antwortete kaum. Mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung eilte er an ihr vorbei. Bestürzt schaute sie ihm nach. Dann eilte sie die Treppe hinauf, lief den vielfach geeckten Korridor entlang und stürzte ins Zimmer. Totenbleich stand Alexander vor ihr. »Was ist dir, um Gottes willen?« stieß sie hervor. Er wankte zum nächsten Sessel und brach mit einem furchtbaren Weinkrampf zusammen.

Bettina, tief entsetzt, schlang die Arme um seine Schultern. Sie forschte nicht, fragte nicht, sie war nur zärtlich. Sie lag auf den Knien vor ihm und streichelte seine Hände. Was sie sprach, war hilfloses Gestammel, aber es beruhigte ihn, ihre Stimme zu hören war schon Trost. Er klammerte sich an sie wie ein Kind. Sie war nicht einen Augenblick im Zweifel über das, was vorgegangen war. Sie spürte es in der Luft des Zimmers. Wie sie es vorausgewußt, so hatte es sich abgespielt. In seiner Unschuld war Alexander nicht darauf gefaßt gewesen, daß ihm plötzlich der Sohn Gannas gegenüberstand. Trotz allem der Sohn Gannas. Und er hatte gehofft und geglaubt, seinen Sohn zu finden.

Sie sagte es ihm unverhohlen, mit grausamer Offenheit. Das hätte sie nicht tun sollen. Es war nicht richtig. Sie vergaß, daß der Sohn die Mutter nicht verleugnen darf, auch nicht, wenn er gegen sie steht, auch nicht, wenn seine Liebe dem Vater gehört. Er darf sie um des Vaters willen nicht verleugnen. Es gibt für ihn kein Recht und Gericht darin. Bettina vergaß es, weil es mit der Schonung nicht mehr weiterging, weil sie es müde war, den Waagebalken krampfhaft in der Gleichlage zu halten. »Er ist mein Fleisch und Blut«, wandte Alexander zornig-verstört ein, »das kannst du nicht mit dem Messer aus mir herausschneiden.« – »Fleisch und Blut sind eins und Gesinnung und Art ein anderes«, erwiderte Bettina leidenschaftlich erregt; »du opferst dich einem Götzen. In dir sitzt der Blutswahn, der Vaterwahn, der Verantwortlichkeitswahn, und die toten Pflichten machen dich blind gegen die lebendigen.« – »Gegen welche lebendigen?« – »Das fragst du? Die gegen mich zum Beispiel. Die gegen deinen jüngsten Sohn. Auch dein Fleisch und Blut. Aber der wird dir gehören, der wird dich nicht im Stich lassen.« – Alexander sah bedrückt vor sich hin. Nach einer Weile sagte er mit erloschener Stimme: »Das Helmutlein? Ja ... vielleicht. Obwohl ... Ich glaube an keinen Menschen mehr. Nicht einmal an dich, Bettina.«

Bettina erschrak bis auf den Grund ihrer Seele.

108

Er wollte lange nicht mit der Sprache heraus. Es mochte sein, daß er sich schämte. So begann sie denn, auf ihre Weise, eine wohlgeübte und oft bewährte, mit vorsichtigem und beharrlichem Fragen den Kern auszugraben, um den sich Schicht um Schicht sein Argwohn gelegt hatte. Stockend und niedergeschlagen erinnerte er sie an ihre begeisterten Berichte und Erzählungen über Kerkhoven, an die zahllosen Briefe, die sie ihm geschrieben, an das häufige Telefonieren mit ihm und wie sie es bei all ihrer Verstellungsgabe nicht verbergen könne, daß ihre Gedanken ständig bei ihm weilten. »An ihn hast du nun einmal deinen Sinn gehängt«, sagte er mit einer hoffnungslosen Geste, »deshalb willst du mich auch zu ihm bringen. Wozu leugnen? Ihn achtest du, ihn bewunderst du, ihm vertraust du, ich bin dir nur noch eine trübe Gewohnheit ... mit Recht, mit Recht, und daneben höchstens eine Sorge.« – Bettina hatte ihm neugierig zugehört, ganz still, mit Augen, in denen schmerzlicher Schalk leuchtete. Nur bei dem Wort von der Verstellungsgabe hatte sie hellauf gelacht. »Das alles ist sündhafter und bösartiger Nonsens, mein dummer und sehr geliebter Alexander«, sagte sie endlich, »darauf kann man ja im Ernst nicht antworten. Oder hast du dir gedacht, ich soll dir solchen Erzblödsinn ausreden? Schau, Lieber, wir haben doch Besseres und Dringenderes zu tun, als uns mit Grillen zu plagen.« – »Gib wenigstens zu, daß dich der Mann beschäftigt.« – »Das will ich meinen, und ob!« rief Bettina mit heiterem Trotz. »Ist es etwa verboten? Soll ich mir alle Wege verrammeln, die vor Alexander Herzog keine Gnade finden? Mir scheint, den Kral bist du doch nicht losgeworden. Nein, ich lass' mir die Welt nicht zusperren. Ich will nicht das Jahr über aus ehelicher Treue in Sack und Asche trauern. Das könntest du endlich wissen.« – »Was bindet dich an ihn?« forschte Alexander naiv. »Freundschaft?« – Bettina zuckte die Achseln. »Brauchst du ein Wort dafür? Gut, nenn es Freundschaft.« – »Als ob's das wirklich gäbe ... Freundschaft«, sagte er tonlos. Bettina sah ihn erstaunt an, gab aber keine Antwort.

Seine Depression wuchs Stunde um Stunde. Bisweilen sprach er verzweifelt und in abgerissenen Sätzen von Ferry. Einmal erzählte erfolgendes. Als Ferry zwei Jahre alt gewesen, sei er, Alexander, eines Tages ins Kinderzimmer getreten, da sei der Bub auf dem Boden gesessen, mitten in einem aus funkelnden Stäubchen bestehenden Sonnenstrahlenbündel, und habe einen großen Löffel regelmäßig zum Munde geführt; als er das Kind fragte, was es da mache, habe es jauchzend erwidert: Die Sonne essen! Warum er gerade dieser Erinnerung so hartnäckig nachhing, war nicht zu ergründen. »Ich fürchte, er hat doch nicht genug Sonne zu essen gekriegt«, sagte er vor sich hin.

Ferry hatte einen ausführlichen Brief an seinen Vater geschrieben, der Alexander ein wenig zu beruhigen schien. Er wollte ihn aber Bettina nicht zeigen. Eine nochmalige Begegnung hielt sie für gefährlich und traf daher Anstalten zu schleuniger Abreise. Ihre ganze Tageseinteilung war darauf gerichtet, daß sie ihn nicht zehn Minuten allein zu lassen brauchte. Am zweiten Vormittag schrieb sie unten im Lesezimmer einen Brief an Kerkhoven; als sie zurückkam, fand sie Alexander in einem Zustand, der wie ein Angstrausch aussah. Es war die leibhaftige Bestätigung dessen, was sie an den Freund geschrieben: »Der Mann ist wie zerhämmert und in Stücke gehackt. Es ist ein seelischer Tod, den ich mit ansehen muß. Und ich hoffe noch immer auf die Auferstehung, noch immer glaub' ich an das Wunder. Wer soll aber das Wunder bewirken? Ich weiß keinen andern als Sie, in der ganzen, weiten Welt niemand sonst. Mute ich Ihnen zuviel zu? Aber die letzte Zuversicht dürfen Sie mir nicht rauben.«

In einem Auto, das ihnen der italienische Verleger Alexanders zur Verfügung gestellt hatte, fuhren sie nach Como. Da er sich weigerte, mit der Bahn weiterzureisen, ließ es Bettina zu, daß er in einem seiner Anfälle von Verschwendungssucht für zehn Tage einen Schweizer Wagen mietete. Er bestimmte die Wege und die Ziele, Bettina ließ sich schleppen. Sie fuhren auf den kleinen Sankt Bernhard, das Rheintal hinunter, ins Engadin hinauf, über die Bernina und das Stilfser Joch ins Tauferer und Münstertal, über Meran in die Dolomiten, an den Gardasee und zurück zum Julier und Gotthard. Nirgends wollte er bleiben, überall störten ihn die Menschen, für keine Landschaft hatte er einen frohen Blick, die Sonne freute ihn nicht, selten trat ein Lächeln auf seine Lippen, und wenn er mit Bettina sprach, geschah es nur, um Bemerkungen über das Wetter, die Straßen und das Nachtquartier zu machen. Zerstörter Mensch, dachte Bettina, armer, geliebter, zerstörter Mensch ... Es gibt Frauen, die aus einem edlen und mutigen Entschluß heraus fähig sind, unverbrüchlich ein Bild zu lieben, auch wenn ihm keine Wirklichkeit mehr entspricht und es nur noch in ihrem Traum lebt. Sie stand mit Kerkhoven im Komplott. Er hatte ihr nahegelegt, Alexander zu ihm zu bringen, er hielte es für hoch an der Zeit. Darauf hatte sie ihm geschrieben, es sei nicht leicht für sie, er fürchte sich vor der Hand, die ihn packen und führen wolle, sie müsse die größte List und Vorsicht anwenden, um ihn langsam an den Gedanken zu gewöhnen. Kerkhoven schlug ihr vor, sie möge einen Ort bestimmen, wo er sie und Alexander an einem genau festzusetzenden Tag treffen könne, das Weitere nehme er dann auf sich. Sie vereinbarten ein Zusammentreffen am achten August in einem Luzerner Hotel. Damit in Alexander kein Verdacht entstand und der verabredete Termin eingehalten werden mußte, veranlaßte sie, daß am gleichen Tag der kleine Helmut mit einer Begleitperson nach Luzern kam. Alexander sehnte sich schon sehr nach dem Kind.

109

Es war nicht anders, es nützte nichts, dagegen anzukämpfen; ein innerer Widerstand gegen die Tochter blieb in Marie. Bei aller Liebe, allem Wissen, allem Verständnis. Und wie es manchmal geht, war es ein anscheinend harmloser Umstand, durch den es ihr bewußt geworden war: Aleid frönte dem Laster des Nägelbeißens. Dies reizte Marie bis zum Zorn, bis zur Wut, und sie wurde dann ungerecht in allem, was Aleid betraf.

Wohl sah sie, daß die eisige Frechheit der Auflehnung in dem jungen Geschöpf nur die Maske eines endgültigen Nihilismus war. Worte trafen da nicht hin. Es hätten niegesagte Worte sein müssen, und wer ist deren mächtig? Mitgefühl stieß auf Hohn, Glaube an eine höhere Ordnung der Dinge auf Gelächter. Alle Leidenschaft erschöpfte sich in der Ratio, im Greifbaren, im Verfechtbaren; das Schicksal wohnte nicht mehr über den Sternen, es war der Ausdruck für den feindseligen Zusammenprall sozialer Übel und menschlicher Niedertracht. Und sobald die Wurzel allen Leids solcherart bloßgelegt werden konnte, gab es nur noch die Wahl zwischen dem Schwächeeingeständnis und der Entschlossenheit, die seiende Welt zu vernichten, um eine andere aufzubauen.

Marie spürte es in jedem Nerv; diese Jugend war geistigen Qualen ausgesetzt, von deren Umfang und Schwere frühere Generationen nichts geahnt hatten. Ihre Ungewißheiten reichten tiefer und wirkten sich verheerender aus als die religiösen Zweifel jener Jahrhunderte, in welchen Gott noch eine persönliche Gestalt besaß. Sie hatten keine Weiser, keine Lehrer, keine Herren, keine Fürsten mehr, nur noch Verwirrer und Vergewaltiger. Sie liebten nicht mehr das Leben, sie liebten den Tod; ein Überdruß war ihnen das Leben. Sie beteten die Macht an und verachteten den Menschen. Kein Wunder, denn was für ein Erbe hatten sie angetreten? Verzweiflung, Schrecken und Not, das Werk der Väter und Mütter, die so stolz darauf waren, sich Menschen zu heißen.

Das alles sagte sich Marie immer wieder vor, wenn sie über Aleid nachdachte. Doch der seltsame Widerstand, der fast einer Abneigung gleichkam, blieb und führte zu Konflikten.

110

Während eines schweren Gewitters, um die Dämmerungsstunde, saß sie bei Aleid in deren Zimmer. Aleid hatte die Ellbogen auf den Fenstersims gestützt; den Kopf vorgestreckt, starrte sie mit einer Miene in den lodernden Himmel, als wolle sie die Blitze trinken. In einer Pause zwischen zwei Donnerschlägen sagte sie mit ihrer brüchigen, heiseren Stimme: »Blödsinnig, sich mit einem Schlafmittel umbringen zu wollen. Damit macht man's den Herren Doktoren bequem. Schließlich kann man doch Veronal nicht pfundweise fressen.« – Marie begnügte sich zu antworten: »Deine Natur hat es besser mit dir gemeint als dein Verstand.« – »Natur!« spottete Aleid. »Meine Natur gibt mir nichts vor. Wenn ich was von ihr haben will, muß ich mit ihr raufen. Genauso wie mit dir.« – »Aleid!« – »Es ist doch so. Immer die sittlichen Standpunkte. Gräßlich.« – »Sie haben dir ja das Herz zerstampft, da draußen«, sagte Marie. – Aleid lachte knurrend in sich hinein. Aus einer tintenschwarzen Wolke flammte ein glühendvioletter Blitz in den schäumenden See. Mit einem tiefgeatmeten Ah beugte sie sich aus dem Fenster und nickte, gleichsam einverstanden mit dem gewaltigen Krachen des Donners. »Vom Blitz erschlagen zu werden, stell' ich mir weitaus am angenehmsten vor«, sagte sie versonnen, »aber das ist ein Glücksfall, mit dem man nicht rechnen kann. Danach ... Wart mal, was käme noch in Betracht? Sich von einem Turm herunterstürzen. Oder von einem Flugzeug. Herrlich. Durch die Luft schweben und wissen, in fünf, in zehn Sekunden ist alles zu Ende. Herrlich.« – »Du redest wie eine Verrückte«, sagte Marie gepreßt. – »Und wenn schon? Was ändert das an der Ursache, was ändert's am Effekt?« – »Ist denn das Leben zu nichts gut als zum Wegwerfen?« – »Zu nichts, Mutter, zu nichts.« – »Und fühlst du dich für nichts in der Welt verantwortlich?« – »Nein. Für nichts.« – »Aber das Kind in deinem Leibe?« – »Hach ... darauf hab' ich nur gewartet. Hab' ich's gerufen? Brauch' ich's? Braucht's sonst wer? Es gibt dir wohl noch zu wenig verfehlte und überflüssige Existenzen? Da siehst du ja, daß deine sogenannte Natur so dumm wie ein Vieh ist.« – »Und das sagst du deiner Mutter?« – »Ja, denk dir. Wenn du damals gewußt hättest, was für ein jämmerliches Geschöpf du in die Welt setzen wirst, hättest du dir die Enttäuschung und mir den ganzen Rummel ersparen können.« – Marie erhob sich jäh. »Das ist frevelhaft«, rief sie aus, »man muß dich verabscheuen ...«

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Das dem Unwetter zugekehrte Gesicht des jungen Mädchens leuchtete wie weißer geschliffener Stein. Sie hatte das Kinn auf die verschlungenen Hände gestützt. Auf einmal murmelte sie: »Ach, Mutter, mir graut so, mir graut so ...« – Marie näherte sich ihr zögernd, beinahe furchtsam. Es drängte sie, Aleid die Hand auf den Kopf zu legen, doch es zu tun kostete einen Entschluß. Aleid blickte neugierig empor. »Wenn ich nur wüßte, wie du bist«, sagte sie leise, sich der Berührung unmerklich entziehend, »ich habe keine Ahnung ... Alles an dir ist mir ein Rätsel, deine Ehe, dein Wesen, dein Leben.« – »Ich bin, wie ich bin«, sagte Marie verschlossen. – »Na, wie denn? Gut? Nicht wahr, gut? Was verstehst du denn darunter? Doch nur einen abgeklärten lauen Mischmasch, so was wie Arznei, nein? Was hab' ich denn davon? Zeig mir doch einen Weg aus den hunderttausend Lügen heraus, dann will ich glauben, daß hinter dem Gut-Sein was steckt. Also?« – »Ich weiß nicht, was dahintersteckt«, antwortete Marie, »vielleicht nur der Schmerz über das Schlecht-Sein.« – »Solche Pastorensprüche machen mir keinen Eindruck«, höhnte Aleid; »sag offen und ehrlich: Ich kann dir nicht helfen, ich muß dich zugrunde gehen lassen, ich kann dir höchstens dein Bett und dein Essen und die paar Fetzen zum Anziehen geben und Schluß. Alles andere ist Quatsch.« Sie sprang auf, lief zu der offenen Fenstertüre, die in den Garten führte, und als sie draußen war, beugte sie den Kopf in den Nacken und ließ den Regen über ihr Gesicht strömen. Marie machte ein paar Schritte, wie um ihr zu folgen, blieb aber in Gedanken verloren stehen.

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Es war nicht etwa ein Vertrauensbeweis Aleids, als sie der Mutter eines Nachts von dem Mann erzählte, den sie geliebt hatte; das Wort Liebe kam natürlich nicht über ihre Lippen; es war wohl auch ein abgestandener Begriff für sie, auch eine von den »hunderttausend Lügen«. Es war auch nicht so, daß es sie zu einem Bekenntnis drängte; sie wollte eher der Mutter vor Augen führen, wie berechtigt ihre Ablehnung aller positiven Lebenswerte war und daß es für sie und ihresgleichen keinen Grund gab, an irgend etwas in der Welt zu glauben außer an das Böse und daran, daß mit dem Tod alles zu Ende war.

Sie zeigte keinerlei Bewegung. In demselben Ton hätte sie von einem gleichgültigen Bekannten reden können. Sie ging sogar so weit, sich über seine leidenschaftliche Vaterlandsliebe, den Schmerz über die politische Erniedrigung lustig zu machen. Dennoch trat hinter der gewollten Nüchternheit und Skepsis das Bild eines ungewöhnlichen Charakters hervor, eines jener gläubigen Unerbittlichen, die jederzeit bereit sind, sich für ihre Idee auf dem Märtyrerstein schlachten zu lassen. »Ich habe Briefe von ihm, die müßtest du lesen«, sagte Aleid; sie saß in verkrümmter Haltung da, die Beine übereinandergeschlagen, das Kinn fast auf dem einen Knie, eine Zigarette zwischen den Lippen; »vielleicht geb' ich sie dir mal. Dieser Idealismus; zum Totlachen. Menschheitsglaube! Zu blöd! Es kommt mir so vor, wie wenn ich sage, ich glaube – na, an was denn gleich? – an die Kerzenfabrikation. Hier und da gibts' noch Kerzen, gewiß, aber sie sind doch ein komischer Artikel; so für ganz poweres Volk; nein?« Sie warf die Zigarette fort und fing an, die Fingernägel zu benagen.

Freunde hatten Geld für seine Flucht gesammelt. Er weigerte sich, zu fliehen. Das Geld, zweihundert Mark, nahm er und schenkte es notleidenden Kameraden. Er hatte nie eine richtige Wohnung. In einem Bett hatte er seit Jahren nicht geschlafen. Seine Augen waren seit dem Krieg ruiniert, zuletzt hatte ihm Erblindung gedroht. Er wußte es und tat nichts dagegen.

Blumen hatte er über alles geliebt; »du siehst, was für ein phantastischer Kerl er war«; man konnte ihm keine größere Freude machen, als wenn man ihm einen Strauß Feldblumen brachte. Bedrückt fragte sich Marie: Ist man wirklich ein »phantastischer Kerl«, wenn man Blumen liebt? Im Zusammenhang damit berichtete Aleid etwas seltsam Schauerliches, das sich bei seiner Ermordung zugetragen hatte. Der Mensch, der ihm von hinten mit dem Ausruf »Verreck, du Hund!« eine Kugel in den Kopf geschossen hatte, trug einen kleinen Büschel Maiglöckchen im Knopfloch. Als Hildenbrand auf dem Pflaster lag und der Mörder sich über ihn beugte, um sich zu vergewissern, ob er tot sei, sah der vor Schrecken erstarrte Begleiter, daß der Sterbende entzücktverwundert mit der Nase in der Luft schnupperte, und vernahm noch die Worte, mit denen er seine Seele aushauchte: »Wie gut das riecht! Wie gut das riecht!«

Die absichtsvoll unbeteiligte Art, in der Aleid dies erzählte, ungefähr wie man eine Anekdote von einem schnurrigen Sonderling erzählt, trieb Marie die Röte der Entrüstung ins Gesicht. Sie sah eben nicht bis auf den Grund. Sie ließ sich täuschen von einem Zynismus, in den sich Aleid verbiß wie ein geprügelter Hund in den Stock, mit dem man ihn geschlagen hat. Und während die Smaragdaugen mit herausfordernder Fühllosigkeit (so empfand es Marie erbittert) auf sie gerichtet waren, verlor sie die Ruhe und herrschte sie an: »Hör auf, deine Nägel zu beißen! Es macht einen ja ganz toll.« – »Das versteh' ich, Mutter«, gab Aleid mit dreister Gelassenheit zurück, »es hat ja auch was zu bedeuten, wenn mir recht ist; Verzweiflung ... sich selber aufessen ... Mußt es doch wissen, als Frau von einem hochgelehrten Haus. Ja, die Aleid verspeist sich selber, aber sie schmeckt sich nicht. Pfui Teufel.« Sie lachte grell.

Ihr Lebensmut war in der Wurzel gebrochen. Auch alle Fähigkeit zur Hingabe. Das unterlag für Marie alsbald keinem Zweifel mehr. Wissenschaft, Kunst, Religion erschienen ihr als die verlogenen Ausflüchte einer Menschheit, die von Idioten und Verbrechern in Gehorsam gehalten wurde. Wenn man ihr von Vernunft, von Seele, von Gerechtigkeit sprach, schüttelte sie sich, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die roten Haare und grinste wie ein kleiner Satan. Das Eigentümliche war, daß es Marie nicht über sich brachte, mit Joseph über Aleid zu reden; ein paarmal nahm sie einen Anlauf, doch das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. Eine unerklärliche Scham hinderte sie daran, ihr war, als gäbe sie sich selbst damit preis, als enthülle sie ihre traurige Unzulänglichkeit, noch dazu der leiblichen Tochter gegenüber; ihr Kind war es, nicht seines. Und wieder einmal vor ihm stehen mit dem Bekenntnis: Ich kann nicht weiter, ich habe versagt? – Nein.

Hätte nur nicht Aleids ganzes Wesen alle Abwehrtriebe in ihr aufgeweckt. Jedes Wort fügte ihr eine Wunde zu, jeder Blick, jede Geste beleidigte sie. Haltlos schwankte sie zwischen Widerwillen und Erbarmen, zwischen Gereiztheit und schmerzlichem Begreifen. Oft fragte sie sich: Was hab' ich gemein mit dieser fremden Person, die ich in einem andern Leben geboren habe? Und oft wieder dünkte sie, als sei sie eines Leibes und Herzens mit ihr, und sie müsse sie retten und in den lichten Bezirk hinübertragen, den sie selber freilich nur wie durch einen Dämmerschleier sah, unsäglich weit weg.

Es erschütterte sie zutiefst, als Aleid eines Tages in ihrer würgenden inneren Not mit dem Plan herausrückte, sie wolle fürs Rote Kreuz nach China gehen. Es war die pure Rebellion. Wie fast in jedem jungen Menschen war ein feuriges Bedürfnis nach Redlichkeit und Wahrheit in ihr. Mit diesem Anspruch war sie in der Welt, aus der sie kam, schroff zurückgewiesen worden. Daß der Mensch, an dem sie mit einer Leidenschaft gehangen, deren Ausmaß ihr selbst kaum bewußt war, an den sie geglaubt hatte, zum ersten und einzigen Mal wirklich geglaubt, um einer Idee willen, einer reinen Hingabe wegen, gehaßt, verfolgt, gemordet worden war, das konnte und konnte sie nicht fassen, sie dachte sich das Hirn krank darüber. Warum denn, grübelte sie mit verzerrtem Gesicht, wo liegt denn da eine Schuld, wie kann denn das möglich sein? Ihr war zumute, als rinne ihr das Herz aus. Und wenn sie sagte, sie wolle nach China gehen, so hatte auch das keinen Sinn und Inhalt für sie, sie fragte ganz naiv, wie man es machen, was man dazu tun müsse; kurz, es war der finsterste Winkel in ihrem verfinsterten Geist, worin sich dies abspielte, da war kein Weiterdenken möglich, und wenn einer mit Worten daran rührte, konnte man ihm nur ins Gesicht schreien: Schämst du dich nicht, daß du ein Mensch bist? Schämst du dich nicht, daß du lebst? Und lachen. Und sich die Nägel abbeißen.

Unter dem vernichtenden Eindruck dieser Gemütsverfassung ihres Kindes schwand Marie hin wie eine Pflanze in einem Keller.

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Bevor Kerkhoven nach Luzern gefahren war, hatte er mit Marie und Schwester Else beraten, wo man die Herzogs unterbringen sollte. Man hatte sich dafür entschieden, ihnen den kleinen Pavillon an der Seeseite des Parks einzuräumen; dort würde Alexander Herzog mehr Ruhe haben als im Hauptgebäude. Ungestörte Ruhe tat ihm vermutlich not. Außerdem war drüben auch für den kleinen Helmut genügend Platz. Die Mahlzeiten konnte man hinüberschicken, falls sie es vorzogen, für sich zu sein.

Es war ein wolkenloser Nachmittag, als Kerkhoven mit Alexander, Bettina und dem Bübchen in Seeblick ankamen. Das Quartier schien ihnen zu gefallen; vier aneinanderstoßende Räume, zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer, ein Wohn- und Arbeitszimmer und oben in der Mansarde das Zimmer für den Buben. Weiße Wände, lichte Möbel, bunte Kretonnevorhänge, ein paar chinesische Stiche und altertümliche Porträts ergaben einen anheimelnden Gesamteindruck. Auf dem Rasen vor den Fenstern stolzierte ein Pfau. Am Ufer stand eine Schaukel, deren Viereck sich scharf gegen den blauen Himmel abzeichnete. Auf dem Schwebebrett saß Aleid im Schwimmanzug und schwang sich lässig hin und her. Über den ultramarinblauen See glitten Boote mit weißen Segeln. Durch die Krone der Buchen und Kastanien schimmerte zitronengelb die Fassade des Hauptgebäudes.

Helmut wurde sofort mit Johann und Robert bekannt gemacht. Nach einer halben Stunde waren sie dick befreundet.

Es hatte keiner besonderen Anstrengung bedurft, um Alexander Herzog zu bewegen, nach Seeblick zu gehen. Als Kerkhoven in dem Luzerner Hotel, wie aus der Versenkung emporgetaucht, an dem Tisch stand, wo er mit Bettina Platz genommen, war er nicht einmal überrascht gewesen. Kerkhoven hatte ihm mit einer Herzlichkeit die Hände geschüttelt, als ob er nach Jahren der Trennung den liebsten Freund wiedersähe. Das hatte ihn wohltuend berührt und seinen Argwohn eingeschläfert. Und als Kerkhoven den Zufall pries, der ihn gerade heute zu einer Konsultation nach Luzern geführt, war er vollends beruhigt. Im Verlauf eines lebhaften Gesprächs fühlte er sich, genau wie damals in Ebenweiler, mit elementarer Macht zu dem Manne hingezogen. Nur zu gern fügte er sich in seinem Innern einem überlegenen Beschluß, wenn ihm dadurch die Mühe der Selbstbestimmung erspart blieb, und so widersetzte er sich nicht mehr, als Kerkhoven unter Bettinas stummem Einverständnis einen Aufenthalt in Seeblick von zunächst noch unbegrenzter Dauer für ratsam erklärte.

Die Fahrt war bei der Hundstagshitze ziemlich anstrengend gewesen. »Wir wollen den Tee unten auf der Terrasse nehmen«, schlug Kerkhoven vor. Sie gingen hinunter. Als der Tisch gedeckt war, erschien auch Marie. Sie sah blaß und müde aus, doch die Freude, Herzog und Bettina bei sich begrüßen zu können, verbreitete über ihre Züge einen festlichen Glanz, der sie schön machte. Sie trug ein teerosengelbes Kleid von einfachem Schnitt und um den Hals eine rote Korallenkette mit einer alten Gemme. Bettina war noch in ihrem braunen Reisekostüm. Ihr Wesen war entspannt wie das eines Menschen, der sich nach einer langen Periode der Gefährdung endlich unter sicherem Schutz befindet. Mit ihrem hellen, gewinnenden Lachen, das alle ansteckte und selbst den bärbeißigsten Zuhörer zum Lächeln gezwungen hätte, erzählte sie von der verrückten Hetzjagd in dem gemieteten Auto. Wie sehr sie darunter gelitten hatte, konnte ihr niemand anmerken. Marie spürte es jedoch in jedem Ton und Wort. Sie hörte aufmerksam zu. Für eine halbe Stunde vergaß sie ihren Kummer. Eine stürmische Sympathie regte sich in ihr. Bettina empfand es dankbar in allen Nerven und erwiderte das Gefühl augenblicklich. Warum kommt sie mir nur so bekannt vor, dachte sie, während sie angeregt eine Episode erzählte, in der Alexander eine ziemlich komische Rolle spielte, wo hab' ich es schon gesehen, dieses liebe Gesicht? Dabei wußte sie bestimmt, daß sie es noch niemals gesehen hatte.

Kerkhoven betrachtete Bettina immer wieder, und indes er ihr zu lauschen schien, stellte er bei sich fest, daß es nicht leicht ein Gesicht gab, in welchem sich die momentanen Stimmungen und Erlebnisse mit solcher Treue und Schärfe spiegelten. Schmerz, Trauer, Mutlosigkeit, Unlust jeder Art, die heftigste Reizbarkeit, ein schwärmerisches Phantasieleben, eine fast wahrnehmbare Abhängigkeit von Traum, von innerem Bild, von unbewußten magischen Kräften der Seele; die Tiefe des Auges, das Ausweichende und Flüchtende des Blicks, der Pessimismus um den weichen Mund, der kindlich sanguinische Zug um die Nase, die Jugendlichkeit der Reflexe und Vibrationen, verbunden mit dem Ausdruck uralter Erfahrung, uralter Weisheit beinahe, all das wirkte wie aus vielen Gesichtern zusammengesetzt, wie die kühne Vision eines lionardesken Zeichners, und hatte dabei doch die Einheitlichkeit der unverkünstelten Natur. Was Alexander Herzog betraf, der schweigsam dasaß, so waren Kerkhovens Gefühle gegen ihn bisher ein wenig zwiespältig gewesen; eine fast zärtliche Zuneigung hatte mit einem verhehlten Argwohn gewechselt, jenem vorsichtigen Abwarten, das ein Gegner oder Gegenspieler erregt, der eigentlich ein Bruder ist. Jetzt war ihm plötzlich zumute, als hätten ihm die Mächte einen Beweis höchsten Vertrauens gegeben, indem sie ihm diesen Menschen zugeführt und unter seine Obhut gestellt hatten, und als riefe ihm eine Stimme zu: Von nun an kannst du keinen Schritt mehr gehen, den du nicht in Gemeinschaft mit ihm gehst.

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Jeanne Mallery konnte nicht voraussehen, welch verhängnisvolle Torheit sie beging, als sie Karl Imst die Motive zu dem Selbstmord seiner Frau entschleierte, so wie Kerkhoven sie ihr dargestellt hatte, um sie von dem Schuldwahn zu erlösen. Sie hielt sich für verpflichtet, den Freund ebenfalls aufzuklären, vielleicht, weil sie glaubte, auch ihrerseits ein Befreiungswerk damit zu tun. Hierin irrte sie jedoch gründlich. Es geschah etwas Unerwartetes. Er starrte Jeanne an, als sei sie betrunken und rede im Rausch. Er tobte. Er schrie: »Du lügst; das lügst du in deinen verfluchten Hals hinein. Das hat sich der Professor Kerkhoven ausgedacht, um sich wichtig und mich unmöglich zu machen!« Jeanne wußte nicht, was sie davon denken sollte. Sie war wie erschlagen.

Was ging da vor? Etwas Lächerliches, Unglaubliches. In Karl Imst erwachte plötzlich der Bourgeois. Verholzte Begriffe von Familien- und Standesehre gewannen neues Leben und erlaubten ihm nicht, die augenfällige Wahrheit und Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Daß sein Eheweib, des Apothekers Imst angetraute Frau, solche Schlechtigkeit begangen, ihn durch ein teuflisch-überlegtes Selbstmordmanöver ins Zuchthaus gebracht haben sollte, war einfach nicht vorstellbar, und deshalb konnten sich die Dinge auch nicht so zugetragen haben. Indizien hin oder her; Beweise hin oder her; es war eine Erfindung, durch die der Name Imst auf ewig gebrandmarkt werden sollte. Von der Geschichte mit der Hellseherin Thirriot hatte er gehört; er erklärte das alles für Schwindel und konstruierte um Selmas Tod einen Sachverhalt, der ihm gestattete, die Vergangenheit auszulöschen und umzubiegen. Erstaunlicherweise lag ihm plötzlich an dem Phantom der bürgerlichen Wohlanständigkeit unendlich viel mehr als an seiner eigenen öffentlichen Lossprechung von der Mordschuld. Es war Ahnengötzendienst, Sippenwahn. Mit verbissenem Eifer machte er sich daran, die Megäre Selma in eine liebende und pflichtgetreue Gattin und Mutter zu verwandeln und Jeanne Mallery in eine von ihm zu spät durchschaute Verräterin und ein willenloses Werkzeug Kerkhovens.

Den Professor werde er zur Rechenschaft ziehen, brüllte er, werde ihn wegen Verursachung ehrenrühriger Nachrichten vor Gericht belangen. Jeanne lag vor ihm auf den Knien und flehte ihn an, sich zu mäßigen. Als die Auftritte sich wiederholten, schritt Kerkhoven ein. Er hatte das alles längst kommen sehen. Der demolierte Kleinbürger, so nannte er Karl Imst im stillen. Bei einem Versuch, den unflätig Tobenden zu bändigen, spuckte dieser vor ihm aus. Kerkhoven packte ihn bei den Schultern, drückte ihn in einen Sessel und sah ihm fest in die Augen. Da klappte er zusammen und murmelte etwas von seinem kranken Kopf. Am andern Tag war er verschwunden. Er hatte heimlich seinen Koffer gepackt und im Morgengrauen das Haus verlassen.

Diese Flucht war nicht so harmlos, wie sie aussah. Man erfuhr, daß er in einem benachbarten Dorf Wohnung genommen hatte. Er ging unter den Bauern und Fischern herum und verbreitete üble Dinge über das Haus Seeblick. Unter anderm behauptete er, Jeanne Mallery werde gewaltsam ihrer Freiheit beraubt. Kerkhoven glaubte die Ausstreuungen eines bösen Narren nicht beachten zu sollen. Mit Unrecht. Böse Narren finden immer und überall Gehör. Die Feinde und Wühler, die bis jetzt im verborgenen gearbeitet hatten, wagten sich nun ans Licht. Der Verleumdungsfeldzug des Karl Imst war der Beginn eines Kesseltreibens, das den Frieden von Seeblick alsbald ernstlich bedrohte.

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Ängstlich vermied es Kerkhoven, Alexander Herzog zu überfallen. Er ließ ihn frei. Er verhielt sich abwartend. Er hütete sich vor merkbarer Beobachtung. Er überschritt nicht die Grenzen gesellig-freundschaftlichen Verkehrs. In den ersten Tagen wußte er sogar das Alleinsein mit ihm zu verhindern und schien, wenn er eine unbeschäftigte Stunde hatte, die Unterhaltung mit Bettina vorzuziehen. Da er in seinem Betragen den tiefen Respekt betonte, den er gegen den Menschen und Schriftsteller Alexander Herzog empfand, mußte dieser glauben, Kerkhoven wage nicht, die Schranke zu durchbrechen, die er rücksichtsvoll zwischen sich und ihm aufgerichtet hatte. Doch ihn verlangte nach der Schranke nicht. Er wünschte sie zu beseitigen, war aber zu scheu und zu unentschlossen dazu. Bettina, die ihm hätte behilflich sein können, tat nichts dergleichen, und er grollte ihr deshalb. Die diplomatische Reserviertheit Kerkhovens erregte nach und nach eine quälende Spannung in ihm, als wäre eine Falle dahinter verborgen, sah er doch überall Gespenster. Es kam so weit, daß ihm das Herz bis in die Kehle hinauf klopfte, wenn er Kerkhoven im Haus oder im Park begegnete und dieser mit einem artigen Gruß an ihm vorüberging. Er will mich aushungern, der gute Professor, dachte er dann, er will mich präparieren, damit ich ihm ein gefügiges Objekt abgebe, ich werde ihm aber einen Strich durch die Rechnung und mich aus dem Staub machen.

Vielleicht hätte er diesen Vorsatz in seiner nervösen Empfindlichkeit und Ungeduld auch ausgeführt, wenn Marie nicht gewesen wäre. Zwischen ihm und Marie hatte sich mit dem ersten Blick und Händedruck eine jener geheimnisvollen Beziehungen entwickelt, die ohne Austausch von Worten, ohne sogenannte nähere Bekanntschaft sogleich in voller Kraft und mit natürlicher Selbstverständlichkeit von beiden Partnern aufgenommen werden. Es ist nicht eine neue Begegnung, es ist ein Wiederfinden, als hätte einer den andern lange Zeit im unendlichen Raum umkreist, bis das Gesetz der gegenseitigen Anziehung ganz von selbst die physische Nähe erzwingt. Es gab da keine Neugier, nicht das kleine Geplänkel des Einander-Erforschens, sie sprachen und betrugen sich von der ersten Stunde an wie Geschwister, völlig unkonventionell, völlig locker und gelassen. Alexander sagte in seiner lakonischen Weise zu Bettina: »Eine wunderbare Person, diese Marie Kerkhoven« (welchem Urteil Bettina durchaus zustimmte; auch ihr hatte es Marie angetan); und Marie, nicht ganz so enthusiastisch, sagte zu ihrem Mann: »Dieser Alexander Herzog ist ein Mensch nach meinem Geschmack, er macht einen warm« (was den freundlichen Beifall Kerkhovens fand). Mit dieser zwiefachen Anerkennung vor den maßgebenden Instanzen war zugleich eine loyale Übereinkunft verbunden und ein stillschweigender Bund nach außen hin kundgegeben.

Marie war es also, die Alexander Herzog in Schach hielt und vor übereilten Schritten bewahrte. Dabei muß bemerkt werden, daß sie sich instinktiv hütete, mit ihm über seine Lebensverhältnisse zu sprechen. Zwar gestand sie ihm, nicht ohne begreifliche Scheu, daß sie seine Bekenntnisse gelesen habe; sie wollte nicht mit verdeckten Karten spielen; jetzt, da sie ihn selbst kannte und sich mit solcher Schnelligkeit ein Freundschaftsverhältnis gestaltet hatte, durfte sie ihm ihr Wissen nicht vorenthalten; es wäre unehrlich gewesen. Er zeigte sich auch weder erstaunt noch verstimmt, er ging einfach darüber hinweg. Sie ließ es sich zur Lehre dienen. Hätte sie insistiert und die Wunde durch noch so zarte Berührung zum Bluten gebracht, so hätte sie ein noch kaum aufgekeimtes Gefühl verletzt. Sie hatte somit keine Wahl. Sie mußte sich gedulden. Es war auch nicht ihres Amtes, ihn, zu dem sie doch verehrend aufblickte, wie einen seelisch Notleidenden zu behandeln, wenn er es auch tatsächlich war. Sie durfte sich vor allem nicht in das Geschäft eines Berufeneren eindrängen, Joseph Kerkhovens. So bewegten sich ihre Gespräche vorspielhaft im Unpersönlichen, falls sie sich nicht über Kerkhoven, über Aleid oder über Bettina unterhielten. Eines Morgens hatte sie Bettina beim Geigenspiel belauscht. Sie erzählte es ihm mit tiefer Ergriffenheit. Sie habe nicht geahnt, sagte sie, daß in einer Frau so viel Musik sein könne. Sie sei vollständig verzaubert gewesen, als hätte sie einen Engel singen gehört. »Aber verraten Sie mich nicht«, fügte sie besorgt hinzu, »es war sehr früh am Tag, sie hat sicher nicht an einen Zuhörer gedacht; vielleicht war es darum so schön.« Alexander lächelte und versprach zu schweigen. Er sagte nur: »Ich bin glücklich, daß sie spielt. Da regt sich doch wieder was in ihr.«

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Dann kam ein Tag, da Kerkhoven bei Alexander Herzog erschien, um ihn zu einem Spaziergang abzuholen. Sie schlugen den Weg in den Wald ein und rasteten auf einer Höhe. Herzog konnte nicht lange marschieren; während des Gehens stellte sich ein stechender Schmerz im rechten Fuß ein, seit Monaten schon. Er hatte Kerkhoven bisher nichts davon gesagt. Auf der Bank im Wald bat ihn Kerkhoven, Schuh und Strumpf auszuziehen, und kniete nieder, um den Fuß zu untersuchen. Er strich mit sachten Fingern über den Knöchel und den Rist, drückte auf die Adern und sagte: »Sie sollten aufhören zu rauchen. Sie rauchen zuviel.« Alexander schwieg. Es fiel ihm schwer, von seinen Gewohnheiten zu lassen. Er war den Stimulantien versklavt. Kerkhoven wußte es. Warnung und Vorhalt fruchteten in solchen Fällen nicht. Und hier im besonderen nicht, wo ein trüber Fatalismus die Zukunft unverführerisch machte. Außerdem gibt es für den Phantasiemenschen keine Zukunft als die des nächsten Augenblicks. Eigentümlich genug, aber es ist so. Das ist das Unmoralische an ihm.

Diese Ansicht verhehlte Kerkhoven nicht. Sie gerieten in ein schwieriges Gespräch über Selbstbeherrschung. Alexander gab offen zu, daß er sich niemals darin geübt habe; im täglichen Leben nämlich, die Arbeit habe allen Vorrat an Selbstbeherrschung aufgesogen. »Ich fürchte, Sie haben es nie verstanden, die Arbeit in Harmonie mit ihrem Leben zu setzen«, bemerkte Kerkhoven. Alexander Herzog fand die Behauptung etwas kühn. »Man muß sich nach dem Wichtigen richten«, antwortete er achselzuckend. – »Ja, aber das Gefährliche bei unseren Tätigkeiten ist die einseitige Belastung«, sagte Kerkhoven, »sie erzeugt Überverbrauch. Nerven und Organe lassen sich nicht auswechseln wie abgenutzte Schienen. Und ein totes Geleise verrostet.« – »Das sind ärztlich-technische Gesichtspunkte«, replizierte Alexander Herzog, »wer nach ihnen lebt, mag so alt werden wie Methusalem und wird doch keine Spuren hinterlassen.« – »Kann sein«, sagte Kerkhoven spöttisch, »in der Theorie hört sich das ganz gut an, aber wenn die Schmerzen kommen, verzagen sogar die Michelangelos, hat man mir erzählt.«

Damit begann es. Wie man bei einer Hochtour anfangs mühelos über Matten und gebahnte Pfade wandert, bis sich allmählich die Felsenwelt auftut und Gras und Baum verschwinden, die Wege steiler werden, Geröll und Moränen sich ausbreiten, eine Wand, ein Kamin erklettert, ein Grat überquert werden muß und endlich die Gipfel hervortreten, Gletschergetürm und ewiger Schnee: So fing es an, so setzte es sich fort, ein leidenschaftliches, großes Ringen, wechselndes Führen und Geführt-Werden. Nebeneinandergehen in Nebel und Steinschlag, Hinaufklimmen von Absatz zu Absatz, Umkehren und neuer Versuch, Verirren in Sturm und Gewölk und neuer Anstieg, immer zwischen Leben und Tod und zwischen Himmel und Erde, das war das Geschehen, das haben wir in der Folge zu berichten.

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Der Schauplatz war meistens das große Studio Kerkhovens; Alexander Herzog nannte es das Refektorium. In der ersten Zeit fanden sie sich schon nach dem Abendessen dort zusammen, da Alexander, dessen Physis noch in der alten Stundeneinteilung von Ebenweiler verharrte, um zehn Uhr so müde wurde, daß ihm die Augen zufielen. Nach der schweren Erkrankung, die ihn drei Wochen ans Bett fesselte, einer Entzündung sämtlicher Gesichtshöhlen, der Nase, der Kiefer, der Stirn, änderte sich dies plötzlich, er war viel frischer und ausdauernder; »noch eine solche Krankheit, und wir sind aus dem Wasser«, scherzte Kerkhoven. Das Beisammensein dauerte dann oft bis Mitternacht. Manchmal fanden sich auch Marie und Bettina ein, die es liebten, den Nachmittag über in der Gegend herumzustreifen oder in einem Boot auf dem See zu fahren; es wurde Tee serviert, und Obst; als die Abende kühl wurden, machte Kerkhoven Feuer in dem mächtigen Steinkamin, und die hochflackernden Flammen ließen den weitläufigen Raum mit seinem finstern Dachgebälk noch pittoresker erscheinen. Da die Frauen sahen, daß sie nicht nur geduldet wurden, sondern daß ihre Anwesenheit erwünscht, ja mehr und mehr notwendig war, verloren sie ihre Zurückhaltung, kamen fast jeden Abend von selbst hinauf und wurden zu Mithandelnden in dem vielaktigen Drama. Und eine fünfte Person gesellte sich bisweilen hinzu, eine, die stumm war und regungslos in einem entfernten Winkel saß oder kauerte: Aleid Bergmann. Gewöhnlich merkte man gar nicht, daß sie da war; ungesehen kam sie herein, und wenn die andern sich zum Aufbruch anschickten, schlich sie unhörbar hinaus; weiß Gott, wie sie das erstemal den Mut gefunden hatte, die »geheiligte Schwelle« zu überschreiten, wie sie sich in ihrer galligen Manier gelegentlich gegen Alexander Herzog ausdrückte. Ihre Mutter hatte ihr wohl ein Zeichen gegeben oder sie eines Abends eingeschmuggelt. Marie hatte nämlich beobachtet, daß sie, wann immer es anging, nach Alexander Herzogs Nähe strebte. Es war etwas jungenhaft Neugieriges in der Art, wie sie mit den Augen an ihm hing und jedes seiner Worte verschlang. Als sie eines Tages am Seeufer im Gras lag und er zu ihr trat und sie anredete, war sie ehrlich verlegen.

Aber nicht allein im Refektorium spielten sich die entscheidenden Vorgänge ab; auch im Pavillon, auch in Maries Arbeitszimmer, und nicht bloß abends und nachts, auch zu jeder Zeit des Tages, bei zufälligen Begegnungen, in ein paar Fragen und ein paar Antworten manchmal nur, doch immer in dem Gewebe von Fäden, die sich unaufhörlich und mit wachsender Bindungskraft von einem zum andern spannen und in die sie schließlich eingehüllt waren wie in ein Geisterkleid.

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Während einer Fahrt nach Lausanne, wo er eine Zusammenkunft mit einem amerikanischen Arzt haben sollte (es handelte sich um die Gründung einer internationalen Notgemeinschaft), machte sich Kerkhoven plötzlich schwere Sorgen um Alexander Herzog. Er hatte ihn vor seiner Abreise flüchtig gesehen und den Eindruck ungewöhnlicher Verfallenheit mitgenommen. Es dünkte ihn, daß er sich möglicherweise über den Allgemeinzustand getäuscht und gewissen Anzeichen zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Manche unter ihnen konnten sozusagen klinisch eingereiht werden und ergaben ein markantes Bild von Ratlosigkeit, Gedächtnisverwirrung und Bewußtseinsunterbruch. Er sah den Mann deutlich vor sich; er summierte die verdächtigen Merkmale; das fortwährende Aufstehen vom Stuhl; zur Tür gehen und nachsehen, ob sie geschlossen war; anfassen von Gegenständen auf dem Schreibtisch und sie wieder weglegen; nach einem Buch greifen, nach einem andern Buch; in der Nacht das Bett verlassen und sich vergewissern, ob nicht irgendwo eine glimmende Zigarette liegengeblieben war; stundenlanges Suchen nach einem Zettel mit einer völlig belanglosen Notiz, der sich dann wohlverwahrt in einer Lade fand; die tägliche Angst vor der Briefpost; und dergleichen mehr. Dazu der trübe Blick, die kindische Widersetzlichkeit gegen jede Verordnung, die Müdigkeit, die Freudlosigkeit, das apathische In-sich-Versinken ...

Vor einigen Tagen war Kerkhoven in sein Zimmer gekommen und hatte gefragt, ob er störe. Keineswegs, hatte Herzog erwidert, Kerkhoven sehe ja, wie faul er sei, gedankenfaul, gemütsfaul, augenfaul, ohrenfaul. Kerkhoven bemerkte, wenn man sich einem solchen Zustand nur richtig hingebe, sei nichts Bedenkliches daran, eher etwas Heilsames. Das könne er nicht, entgegnete Alexander mit seinem scheu abgleitenden Blick, er könne sich keinem Zustand hingeben, sein Inneres sei zu einem Stück Kreide geworden, nicht mehr auflöslich, nicht mehr brennbar. Und er bedeckte die Augen mit der Hand ...

Ich habe zu lange gewartet, überlegte Kerkhoven; ich habe fälschlich angenommen, daß das Bekenntnis an sich schon Erlösung und Absolution bedeute; ein ungeheurer Irrtum, wie sich zeigt; ich wollte ihm Spielraum lassen, damit das Alte in ihm absterbe, das Neue sich konsolidieren konnte; es war offensichtlich ein Fehler; ich war leichtsinnig; ich habe vergessen, daß seine Existenz eine Art Strandgut ist, und statt zu bergen, was noch zu bergen war, und keinen Augenblick zu säumen, habe ich mich auf ein psychologisches Kunststück verlegt wie zu den Zeiten, da ich noch an solche Experimente glaubte. Unverzeihlich.

Bei diesem Gedanken wurde ihm glühend heiß, teils aus Beschämung, teils aus Angst vor den Folgen seiner Unterlassung. Es wurde ihm immer klarer: Er hatte trotz aller revolutionierenden Erkenntnis, trotz der geschehenen Wandlung wieder einmal die Sünde begangen, das nahe, blutende, schmerzvolle Leben einer Idee zu opfern. Er hatte gehofft, eine einfache Beschwörung würde genügen, und Ganna und der Ganna-Wahn würden sich aus der Seele des davon Besessenen verflüchtigen. Man verschreibt ein Rezept nach dem derzeitigen Stande der Wissenschaft, etwas wie ein seelisches Purgativ, und das Übel verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Der große Kerkhoven spricht sein Apage Satanas und siehe, der Satan erschrickt gewaltig und entweicht. Welche Anmaßung! Welches eitle und schwächliche Vertrauen auf Theorien in einem Fall, der wie keiner sonst den Einsatz des ganzen Menschen, des ganzen Daseins forderte!

Er fühlte sich an jenem Tag besonders elend und konnte sich vor Erschöpfung kaum schleppen. Während er mit dem amerikanischen Gelehrten sprach, dachte er: Wenn der Mann eine Ahnung hätte, was für Kräfte ich aufbieten muß, nur um ihm Rede zu stehen, würde er mir bestimmt nicht so liebenswürdig zulächeln, er würde sich vielleicht erinnern, daß er selber Arzt ist, und mich schleunigst ins Bett schicken. Aber das waren seine kleinen Triumphe, und wenn einer dann sagte: »Sie sehen ja blühend aus«, und seine Herkulesnatur bewunderte, konnte er erheitert vor sich hin kichern und die Anerkennung wie einen ihm zukommenden Tribut einkassieren. Aber gerade diese Schwäche, die ihn bei der Heimfahrt fast einen Kollaps befürchten ließ, so daß er hastig ein paar Tropfen Valerian auf die Zunge träufelte, machte ihn wahrscheinlich für eine Vision empfänglich, auf die er in keiner Weise vorbereitet war, denn es war das erstemal in seinem Leben, daß ihm dergleichen zustieß.

Er saß allein in einem Abteil dritter Klasse, in eine Ecke gedrückt, den Hinterkopf gegen die Holzwand gelehnt, die Augen halb geschlossen, und erwog, ob er nicht die elektrische Birne, deren stechendes Licht ihm weh tat, mit seinem Taschentuch umwickeln solle. Da stieg, ohne daß der Zug hielt, eine Frau ein, die sich ihm schräg gegenüber setzte, atemlos, wie jemand, der mit Müh und Not zurechtgekommen ist. Sie hatte kein Reisegepäck, breitete aber eine Menge Gegenstände auf der Bank aus, eine schäbige Wolldecke, fünf oder sechs Bücher, einen unappetitlich aussehenden Sack mit Proviant und eine riesige Aktentasche, aus der sonderbarerweise auch der Stiel einer Haarbürste hervorschaute. Ihren Kopf krönte eine abenteuerliche Helmfrisur (das lächerlich kleine Topfhütchen war im Proviantsack verstaut), die hektische Röte des Gesichts war durch grelle Schminke noch verstärkt, die großen blauen Augen hatten einen fahrigen, grundlos bestürzten Ausdruck; etwas von inhaltsloser Schwärmerei lag in ihnen oder von geschäftiger Kümmernis; die auffallend kleinen Hände staken in zerrissenen Strickhandschuhen; über den Schultern hing ihr eine abgetragene, altmodische Mantille, wie denn der ganze Aufzug etwas Theatralisches, Unordentliches und Zusammengestoppeltes hatte.

Er wußte sofort, daß er Ganna Herzog vor sich hatte. Er kam aber erst nach und nach darauf, daß es bloß eine Erscheinung war, obgleich mit allen Zügen der Wirklichkeit. Daß er einer Sinnestäuschung unterlag, stellte er erst im Lauf verstandesmäßiger Überlegung fest, sozusagen neben und hinter dem erschreckend wahren Bild, zum Beispiel dadurch, daß er sich an ihre materielle Notlage erinnerte, von der ihm Bettina berichtet hatte, und daß sie sicherlich nicht die Mittel zu einer Reise in die Schweiz haben konnte. Desungeachtet erfüllte ihn eine seltsame Spannung und Erwartung, und er verfolgte jede Bewegung der Frau, ihre flatternden Gesten und aufgeregten Blicke. Was wird sie tun, fragte er sich, als könne jeden Moment etwas Verrücktes und Unheimliches geschehen; was mögen es für Bücher sein, die sie vor sich aufgestapelt hat? Von dem, das zuoberst lag, konnte er sogar den Titel lesen: Anweisung zur Handlesekunst. Als er den Blick zu dem Gesicht der Frau erhob, sah er ein eigentümlich verblasenes Lächeln auf ihren Lippen, wie bei einem Kind, das schmollt, ja, dieses Lächeln gemahnte auf irgendeine Art an das eines wahnsinnigen Kindes; von diesem Augenblick an wich die alpdruckhafte Beklemmung von Kerkhoven, er atmete auf wie ein Mensch, der sich von einer leeren Drohung hat einschüchtern lassen, und das hatte nichts mit der täuschenden Körperlichkeit der Erscheinung und ihrem alsbaldigen Verschwinden zu tun, einem Verdunsten beinahe, es war essentieller im Sinne von Bild und Wesen der wirklichen Ganna Herzog.

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Es war halb zehn, als er in Seeblick eintraf. Beim Durchqueren des Gartens begegnete er Alexander und Bettina. Sie waren in hastigem Gespräch, anscheinend keinem erfreulichen, denn Alexander sah versorgt und zerquält aus. Kerkhoven blieb stehen. Bettina erzählte ihm in raschen Worten, der kleine Helmut habe sie am Abend durch seinen Tränenausbruch erschreckt, bei dem heiteren und stets gut aufgelegten Kind etwas Seltenes. Lange hatte sie vergeblich in ihn gedrängt, ihr zu sagen, was ihn so schmerze, endlich war es herausgekommen; er sehnte sich nach Ebenweiler; er sehnte sich nach seinem »Hausli«; er konnte sich hier nicht zurechtfinden; er vermißte »seine« Stube, »seinen« Balkon, »seinen« Garten, »seinen« See. Bettina hatte schließlich zum äußersten Mittel gegriffen, um ihn zu beruhigen, einem nie versagenden: Sie hatte die Geige geholt, um ihm vorzuspielen. Da hatte er sich wieder zufriedengegeben. »Aber spiel was Taktvolles, Mutter«, hatte er sie gebeten; darunter verstand er einen ihm zugänglichen Rhythmus. »Was sagen Sie dazu? Was raten Sie mir?« schloß Bettina ihren bewegten Bericht. – »Darin ist er wohl sehr Alexander Herzogs Sohn«, erwiderte Kerkhoven lächelnd, »wir wollen es ein wenig überdenken«; und, sich an Alexander wendend, setzte er hinzu: »Kommen Sie doch noch eine Stunde zu mir hinauf. Wir könnten über dies und anderes ein bißchen plaudern.«

Oben war es drückend schwül. Kerkhoven öffnete die hochangebrachten Lüftungsklappen, dann holte er aus einer Mauernische eine Schale mit Birnen und lud seinen Gast ein, mitzuhalten. Dieser dankte ablehnend. Während er eine Birne schälte, sagte Kerkhoven: »Ich habe Ihnen heute Konkurrenz gemacht. Ganna ist mir erschienen. Tatsächlich erschienen. Ich könnte sie Ihnen Zug für Zug beschreiben. Es war höchst merkwürdig.« Er schilderte so trocken wie möglich die imaginäre Begegnung. Alexander Herzog sah ihn zweifelnd und erstaunt an. »Und ... ?« fragte er nur. – Kerkhoven lachte still. »Ja ... und ...! Was wollen Sie denn noch wissen?« – »Sie haben sich in diesem Punkt bis jetzt in vorsichtiges Schweigen gehüllt«, antwortete Alexander; »soll ich diese ... diese Erscheinung ernst nehmen?« – »Das sollen Sie allerdings.« – »Was für Folgerungen ziehen Sie daraus?« – »Daß Sie einem Blendwerk erlegen sind.« – »Ich? Sie sagten doch eben ...« – »Na ja, Sie haben mich angesteckt. In diesem Fall sind Sie der Meister gewesen. Sie haben es fertiggebracht, mich vollständig mit Ganna und der Ganna-Atmosphäre zu durchtränken. Es wird geradezu eine Gefahr für mich.« – »Das beweist nur, daß sie glaubhaft ist, diese Ganna, daß sie wahr ist.« – »Lieber Himmel, sie ist so wahr, daß man inbrünstig wünscht, sie möchte nicht existieren. Entsetzlich wahr. Verrucht wahr.« – »Wie hab' ich das aufzufassen?« fragte Alexander Herzog erbleichend. – »Daß Sie, wenn ich mir eine Meinung erlauben darf, über das Zulässige hinausgegangen sind.« – »Inwiefern?« – »Die Wahrheit hängt wie ein abgeschnittener Kopf im Raum.« – »Keine Ahnung, was Sie damit meinen.«

Kerkhoven rückte tiefer in den Halbschatten, als wolle er von seinem Gegenüber nicht gesehen werden. Er legte den rechten Fuß auf das linke Knie und umspannte mit der Hand den Knöchel. »Ich meine es wörtlich. Es gibt eine Wahrheit, die das Leben köpft. Sie verzerrt alle Verhältnisse, sie fälscht alle Eindrücke. Auch der Traum ist, absolut genommen, wahr und hat doch keine Wirklichkeit.« – »Demnach sprechen Sie Ganna die Wirklichkeit ab?« – »Das nicht. Sie hat nur nicht die Wirklichkeit, die Sie ihr gegeben haben.« – »Welche denn?« – Kerkhoven lachte leise vor sich hin. »Sie verhören mich wie ein Untersuchungsrichter. Tja ... es ist da etwas Diabolisches geschehen. Sie haben alle Mittel Ihrer Kunst, Ihre ganze Überredungskraft und Gemütsmacht aufgeboten, um eine unendliche Fülle realer Tatbestände derart zusammenzuschweißen, daß der täuschende Schein eines Organismus entsteht. Man bemerkt keine Nähte mehr, man findet keine Kuppelungen mehr, und trotzdem hat man keine Fleisch- und Blutswirklichkeit vor sich, sondern eine Phantasmagorie. Woher kommt das?« – »Das weiß ich nicht«, sagte Alexander Herzog bestürzt; »wenn es so ist, dann ... Ich weiß es nicht.« – »Verstehen Sie mich recht«, fuhr Kerkhoven fort, gerührt von dem Ausdruck der Niedergeschlagenheit, der sich in Alexanders Mienen malte, »ich habe nichts gegen das Gebilde als solches einzuwenden, das mich ja überzeugt, wie es jeden überzeugen muß. Meine Abwehr beginnt dort, wo Ihnen die eigene Kreatur über den Kopf wächst und Sie sich als Mensch aufgeben. Da geh' ich nicht mehr mit. An dem Punkt überschreiten Sie Ihre Vollmacht. Nicht die von mir erteilte meine ich, so unbescheiden bin ich nicht, eine andere Vollmacht, eine höhere. Was war denn der Sinn des großen Bekenntnisses? Reinigung. Entlastung ...« – »Die aber nur möglich waren, wenn mir der lebendige Mensch gelang«, warf Alexander erregt ein, »Worte entlasten nicht, der Zeuge entlastet. Darin waren wir doch einig?« – »Gewiß, gewiß. Aber ich hatte mir etwas vorgestellt wie die Scheidung der Wasser, nach dem Bibelwort: Das Feste kommt herauf, das Chaos zerteilt sich. Den Sieg über das Formlose hab' ich mir vorgestellt, doch klar, nicht? Statt dessen haben Sie sich unterkriegen lassen, das Chaos über sich Herr werden lassen, und nicht allein das, wenn's nur das wäre, berauscht haben Sie sich daran, Wollust haben Sie daraus getrunken. Das ist mein Vorwurf. Daß Sie das Maß verloren haben. Die Freiheit. Daß Sie die Finsterkeit nicht mehr heraustun können aus Ihrer Seele und Ihrem Bewußtsein. Sie muß aber heraus. Sie muß heraus, sage ich Ihnen. Sie halten es für unmöglich. Ich werde Ihnen beweisen, daß das schauerlich Überlebensgroße, das hexenhaft Abstruse nur in Ihrer Einbildung vorhanden ist, daß es keine Wirklichkeit besitzt, daß es nichts weiter ist als Wahn, Alexander Herzogs ureigenster, geliebter Wahn.«

Kerkhoven hatte sich erhoben und war aus dem Schatten hervorgetreten. Wie ein gewaltiger Riese stand er vor Alexander Herzog. In diesem Augenblick kamen die beiden Frauen herein, Marie und Bettina, und setzten sich still in eine Ecke.

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»Mir scheint aber, anfangs haben Sie Ganna als ... wie soll ich sagen ... als Schicksalsträgerin anders eingeschätzt«, sagte Alexander, »Sie hatten doch empfunden, daß sie meine Gottesgeißel geworden war. Oder irre ich mich?« – »Natürlich nicht. Ich war damals stark beeinflußt von Ihrer Lage, von Ihrer Stimmung, habe selber alles durchs Vergrößerungsglas gesehen, und dann kam das niederschmetternde Bildnis! Ich mußte es erst in mir verarbeiten.« »Und alles hat sich mit einem Schlag verändert, weil ...« Er kehrte sich in die Richtung, wo Marie und Bettina saßen, und bemerkte erklärend: »Joseph Kerkhoven hat nämlich die Gabe des zweiten Gesichts in sich entdeckt. Gannas Geist ist ihm begegnet. Ich darf's doch verraten?« Er schaute Kerkhoven an, der den Unterton von Ironie in seinen Worten nicht weiter übelnahm. Bettina ließ ein verwundertes Ach hören und heftete den gespannten Blick auf Kerkhoven. Marie schien beunruhigt. Die Sache war ihr nicht geheuer. Offenbar fürchtete sie, daß da ein Zusammenhang mit gewissen Anzeichen körperlichen Verfalls bestand, die sie in letzter Zeit manchmal an ihm beobachtet hatte. »Wie war es denn? Erzähl doch«, drängte sie.

Er berichtete das seltsame Intermezzo im Eisenbahnzug mit der ihm eigenen Trockenheit. »Wieso haben Sie sie erkannt?« fragte Bettina. – »Erstaunt Sie das, nach dem Porträt, das unser Freund von ihr gemalt hat?« antwortete Kerkhoven schmunzelnd. Und er beschrieb Gannas Aussehen und Gebaren mit allen charakteristischen Zügen so treffend, daß Bettina laut herauslachte. »Sie lachen«, sagte Kerkhoven, »aber mir war, zunächst wenigstens, nicht zum Lachen. Ich muß offen zugeben, im ersten Augenblick hatte ich ein verdammt unbehagliches Gefühl. Vor allem wegen meines eigenen Zustands. War mir ja neu, diese Art von Sinnestrübung oder ... Sinnestrübung ist natürlich ein total verkehrter Ausdruck, das Gegenteil ist vielleicht richtig. Und dann das Wesen vor mir ... unheimlich ... erinnerte mich an ... Als Kind hatte ich eine grauenhafte Angst vor Fledermäusen. Jeder kennt das. Aber bei mir war es eine krankhafte Phobie. Ich glaubte, sie wühlten sich einem in die Haare und man müßte auf der Stelle sterben. Eines Abends im Freien verfiel ich in einen Schreikrampf, meine Mutter warf eine Bettdecke über mich, und man mußte mich ins Haus tragen. So überkam's mich jetzt wieder. Jawohl, liebe Frau Bettina, Sie schauen mich so komisch an, aber ich bin vielleicht doch nicht ganz der eiserne Mann, den Sie in mir vermuten. Doch lassen wir das. Es ist nicht interessant. Das Interessante kommt noch. Wie ich mir das Wesen so betrachte, die Erscheinung, da sag' ich mir: Stimmt ja alles nicht, ist ja alles ein Fieberprodukt, da ist kein Dämon, ist keine Ate, ist keine Verkörperung des Bösen, sondern eine arme, unglückselige Person, ein Weib, wie es Tausende gibt, nicht normal, nicht verrückt, harmlos im Grunde und gefährlich nur, wenn man aus ihr etwas macht, was sie weit und breit nicht ist ... Wollten Sie etwas sagen, Frau Bettina?« unterbrach er sich, da Bettina von ihrem Sitz emporgeschnellt war. Aber Bettina, als bedaure sie, ihn abgelenkt zu haben, schüttelte stumm den Kopf und nahm wieder Platz. Er fuhr fort: »Und sehen Sie, von dem Moment an vernichtigte sich die Erscheinung. Ich kann's nicht anders bezeichnen. Verkrümelte sich. Zerging wie Rauch. War in jeder Beziehung nicht mehr vorhanden.«

Jetzt war es an Alexander Herzog, aufzuspringen. In nervöser Hast lief er zweimal durch die ganze Länge des Saals, dann blieb er stehen und fragte: »Also bin ich nach Ihrer Ansicht ein Gespensterseher«? – »Ich hab's dir immer gesagt«, kam es, wie von weit her, aus Bettinas Mund, »hab' es dir fortwährend gepredigt.« – »Was der Zuschauer befindet, macht das Leiden nicht kleiner«, versetzte Alexander heftig. – »Als Zuschauerin wär' mir wohler gewesen«, murmelte Bettina mit einiger Bitterkeit. Marie legte sanft ihre Hand auf Bettinas Arm. – »Alexander meint nicht Sie, Frau Bettina, er meint mich«, sagte Kerkhoven, und Alexander Herzog stutzte überrascht, denn es war zum erstenmal, daß ihn Kerkhoven beim Vornamen nannte. Kerkhoven trat auf ihn zu und schlug seine mächtige Pranke auf des andern Schulter. »Lieber, Verehrter«, redete er ihn an, »hier wird nicht Kritik an Ihnen geübt. Auch nicht, ich wiederhole es, an dem Geschöpf Ihrer Phantasie. Dieses wollen wir in seinem Rahmen und seiner Farbe belassen. Was uns angeht und worum wir uns zu bekümmern haben, aber ganz gehörig, ist der Mann und Mensch und Freund Alexander Herzog. Und dem sage ich: Die Ganna, die wir sehen und von der wir wissen, ich spreche im pluralis majestaticus, weil ich nicht uns zufällig Anwesende meine, sondern eine gedachte Zahl, unbefangene Beurteiler, denken Sie sich meinetwegen zwei Dutzend Joseph Kerkhovens, kompetentere Joseph Kerkhovens, die sagen also: Die wirkliche Ganna ist kein fürchterlicher Teufel, sie ist eine gewöhnliche, durchschnittliche, hausbackene Neuropathin, ein Schulfall.« – »Es ist falsch, es ist ein Irrtum«, gab Alexander in erregter Abwehr zurück, »gerade Sie haben sich doch immer gegen die Sammelbegriffe gewendet, hat man mir erzählt.« – »Allerdings, aber wenn mir jeder Seelenkranke zu einem Weltuntergangssymbol würde und jeder Psychotiker zum Werwolf, der die Menschheit bedroht, wäre ich selber eine Gefahr für die Menschheit.« – »Sie übertreiben. Sie können doch den Augenschein nicht leugnen, meine blutige Erfahrung nicht. Es hat doch alles ein solches Übermaß bei dieser Frau, die Gier, die Besitzwut, die Rachsucht, die Verblendung, die Selbstgerechtigkeit, der Dünkel, der Paragraphenwahn ...« – »Ich lade Sie ein, mich einmal eine Woche lang in die Ambulanz zu begleiten«, erwiderte Kerkhoven ruhig; »ich werde Ihnen Männer und Frauen, junge und alte, vorführen, kann es Ihnen statistisch nachweisen ... Unter dreißig Fällen zehn manisch Besessene, fünf oder sechs Halbverbrecher, die übrigen notorische Querulanten, unheilbar Seelenblinde, Menschen, die von einem geheimnisvollen Haß gegen ihre Nächsten verzehrt werden, Leute, die genauso aussehen wie irgendein Beliebiger, der Ihnen auf der Straße begegnet, und die von gräßlichen Vernichtungsgelüsten heimgesucht werden, die an nichts denken als an Mord, verkappte Sadisten, Selbstquäler, die nur noch dadurch vegetieren, daß sie ihre Brüder, Schwestern, Mütter und Gatten quälen ... Ich habe Ihnen ja, glaube ich, von der Selma Imst erzählt ... Auch so ein Fall ... Und so geht das Tag für Tag und ginge, wenn meine Zeit ausreichen würde, auch Nacht für Nacht, eine ununterbrochene Parade von Zerrütteten, ein Heerlager des Wahns und dabei nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt, eine Kompanie in einer ungeheuren Armee.« Er ging herum, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt. »Ich will zugeben«, sprach er weiter, »daß der Fall Ganna Herzog durch eine gewisse Häufung von Wahnhandlungen auffällt. Es wäre aber ein Fehlschluß, wollte man deshalb seinen typischen Charakter bezweifeln, seine Alltäglichkeit, seine vergleichsweise Unbeträchtlichkeit. Denn diese Häufung, dieses Übermaß, wie Sie es nennen, wie sind sie denn entstanden? Wer hat es denn mit allem Fleiß und Eifer dahin gebracht? Wo ein Explosivkörper ist, muß ein Chemiker sein, der die Stoffe gemischt hat. Dieser Chemiker waren Sie, einzig und allein Sie.« – Alexander Herzog stand wie in den Boden gewurzelt. »Wenn Sie noch eine Weile so fortfahren«, entgegnete er tonlos, »werden Sie behaupten, ich hätte Ganna auf dem Gewissen, was Ihnen jedenfalls Gannas begeisterten Dank eintragen wird.« – »Verzeih, mein Lieber, aber was du da redest, ist Unsinn«, sagte Bettina, »Professor Kerkhoven mißt dir ja keine bewußte Schuld bei ...« – »Wieso nicht? Was sonst?« – »Es handelt sich um die Wechselwirkung bestimmter Eigenschaften und daß man die Augen davor schließt ... daß man nicht aufmerkt ... Hab' ich recht?« Sie sah Kerkhoven fragend an. – »Ja, Sie haben recht, Bettina«, antwortete Marie an Stelle ihres Mannes; »ich glaube, Joseph meint, daß jedes Verhältnis zwischen Menschen sich nach einem System gegenseitiger Entsprechung regelt.« – Kerkhoven nickte. »So ist es«, pflichtete er bei, »es ist tatsächlich der zentrale Punkt. Sehen Sie, Teurer, da ist zum Beispiel Ihr Zusammenbruch wegen des Bucheggergutes. Gewiß, man hat Ihnen schon vorher grausam zugesetzt, und es war sozusagen der letzte Stoß. Trotzdem scheint mir der große Kummer um diesen Verlust nicht gerechtfertigt. Wenn Ihr Helmut Tränen vergießt, weil er nicht mehr in sein Hausli zurück darf, gut, das läßt sich verstehen, obgleich es eine gefährliche Weichheit verrät bei einem Kind, eine gefährliche Weltangst vor allem ... aber Sie! Denken Sie einmal nach ...« – »Da ist nichts nachzudenken«, fiel ihm Alexander fast zornig ins Wort, »das Stück Erde dort war mein Um und Auf im Leben ... Am Morgen, wenn ich die Fensterläden im Schlafzimmer aufgemacht habe, stand die Buche wie eine grüne Mauer da, wie ein konzentrierter Urwald ... und die silberblättrigen Birken und die jahrhundertalten Ahornbäume, einer teilte sich in fünf Stämme und sah aus wie die Finger einer Riesenhand ... und die Blutbuche ... und der Nußbaum und die vielen Eichhörnchen im Herbst ... erinnerst du dich, Bettina? ... und der Christusbaum, der schon ein wenig morsch war ... und die Dahlien und die Rosen ... draußen die Bergwände, in meinem Arbeitszimmer die Bücherwände, es war Schutz vor allem Unglück, es war beinahe Schutz vor dem Tod ...« Er hielt inne und sah Kerkhoven und die beiden Frauen der Reihe nach an, als wundere er sich, daß er ihnen dies erst begreiflich machen mußte, daß sie es nicht wußten und in ihrer Unwissenheit sein Gefühl verkannten. Und alle drei betrachteten ihn schweigend.

»Du weißt sehr gut, daß wir das Haus ohnehin nicht mehr hätten halten können«, sagte endlich Bettina, »mich haben die Sorgen nicht mehr schlafen lassen, und du hättest deine ganze Schaffenskraft hingeben müssen – für eine schöne Illusion.« – »Demnach wäre ja Ganna ein Werkzeug des Himmels gewesen«, versetzte Alexander bitter; »das heiß' ich keine Illusion, wenn man sieht und spürt, was man hat, und es innerlich wahrhaft besitzt.« – Da sagte Marie zaghaft: »Es ist wohl Ihre sinnliche Natur, Alexander, die Sie so stark an die Dinge verhaftet. Und daß Sie sie leibhaftig zu eigen haben wollen, Bäume, Wege, Landschaft. In Ihrer Jugend waren Sie so wundervoll unabhängig, und dann haben Sie sich mehr und mehr an die Sachen verdungen. Woher kam das?« – »Von Ganna kam es«, rief Kerkhoven, ehe Alexander antworten konnte, »nur von Ganna. Doch klar. Sie haben vorhin von Gannas Besitzgier gesprochen. Da besteht eine Ursachenverbindung.« – »Wie soll ich das verstehen?« fragte Alexander unsicher. »Sie meinen, wenn ich nicht so mit allen Fasern an dem Besitz gehangen hätte ...« – »Genau das will ich sagen. Es gibt ein Gesetz der korrespondierenden Seelenbewegungen. Sucht weckt Eifersucht. Widerstand gegen die Gier macht gierig. Streit um Habe erniedrigt. Sie sind nicht der Mann des Habens. Es ist nicht Ihre Bestimmung, es steht nicht in Ihrem Stern geschrieben. Alle Sachen, um das Wort meiner Frau zu gebrauchen, haben eine Seele, und zwar eine richtig dämonische, den Menschen feindlich gesinnte Seele. Während sie sich scheinbar an ihren Eigentümer klammern, verraten sie ihn an den, der sich ihnen noch bedingungsloser verkauft. Deshalb steht auch hinter jedem Besitz die Schuld. Wissen Sie das nicht? Selbstverständlich wissen Sie es.«

Alexander hatte sich vor den Kamin hingekauert, die Ellbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände gestützt. Kerkhoven ging zu ihm hin und zog ihn empor. »Nun wollen wir Sie aber nicht länger quälen«, sagte er gütig, »kommen Sie, lassen wir die Damen allein, ich begleite Sie, Sie müssen jetzt Ruhe haben.« Er schob seinen Arm unter den Alexanders und verließ mit ihm den Raum.

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»Ich hätte gern noch ein paar Worte mit Ihnen gesprochen«, sagte Herzog, als sie im unteren Flur angelangt waren, »es lastet mir was auf der Brust, und ich möchte es Ihnen beichten.« – »Gut, gehen wir ins kleine Sprechzimmer dort hinten«, erwiderte Kerkhoven, »da sind wir ungestört.«

Sie traten in ein längliches, aufs sparsamste möbliertes Gemach, Kerkhoven drehte das Licht auf, setzte sich an den Tisch und lud Alexander durch eine Gebärde gleichfalls zum Sitzen ein. »Es ist das ...«, begann Alexander Herzog und strich sich nervös über die Stirn und die Haare, »nicht leicht, darüber zu reden ... es ist wie Schaum, wie ein Schatten, der übern Weg rinnt ... und doch, es drückt einen nieder, macht einen gemein ... Ein Leben lang hat man einer Idee von sittlicher Wandlung gedient, auf einmal entlarvt einen das Schicksal als heimlichen Verbrecher ... Und nach diesem Abend, da ich so manches klarer sehe und erkenne ...« – Kerkhoven begriff. Es war, als hätte er Alexander Herzogs Gedanken gelesen. »Sie brauchen kein Wort weiter darüber zu verlieren«, sagte er, indem er seine gewohnte Haltung einnahm, den Rumpf nach vorn geneigt, die flach zusammengelegten Hände zwischen den Knien; »ich weiß. Ich weiß alles. Darf ich Ihnen etwas Analoges aus meinem eigenen Leben erzählen? Vielleicht gibt es Ihnen eine Richtlinie. Vor zwei Jahren befand ich mich in einer schweren Krise. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre draufgegangen. Die ganze Existenz stand auf der Messerschneide. Ich hatte damals einen jungen Freund, halb Schüler, halb Sohn, ich hatte ihn aus dem dicksten Morast gezogen, ich hatte ihn gewissermaßen zu einem neuen Menschen gemacht. Es ließ sich Großes von ihm erwarten, ein spezifisch heutiger Typ, ich hielt ihn für erprobt, ich hätte Berge auf ihn gebaut. Er hat mich verraten. Hat mich ganz schmählich hintergangen und mein Vertrauen mißbraucht. Die näheren Umstände will ich aus dem Spiel lassen, kurzum, es kam so weit mit mir, daß ich das Gefühl hatte, er und ich hätten auf demselben Planeten keinen Platz. Es gab Tage, da ich nichts anderes dachte und träumte, als ihn zu vertilgen, wie man ein Ungeziefer vertilgt. Sie sehen, auch ich ... Aber er war geflohen, hatte sich vor mir in Sicherheit gebracht. Ich machte mich an seine Verfolgung. Der erste rasende Zorn hatte sich abgekühlt, ich wollte ihn nur stellen, wollte sein schuldiges Antlitz vor mir sehen. Eine wunderliche Begierde, wie? Item, es war so. Nun hatte ich auf irgendeine Weise den Aufenthalt seiner Mutter erfahren, die ich nicht persönlich kannte; ich wußte nur von ihr, als einer Frau, die durch ein tragisches Geschick dahingelangt war, sich vollständig von Welt und Menschen abzusondern; die ist wirklich und tatsächlich in die Wüste gegangen, und in der Wüste hat sie auch ihren Gott gefunden. Ich reiste in die Stadt, wo sie wohnte. Man wies mich zu dem Haus. Der Sohn war nicht mehr bei ihr. Sie hatten den Winter über zusammen in der Einöde gelebt, jetzt war er fort, und sie war in die Stadt gezogen, das Haus stand in derselben Gasse wie der Dom. Ich kann nicht erklären, warum es mich mit aller Gewalt in die Nähe der Frau trieb, obgleich ich doch wußte, der junge Mensch war nicht mehr da. Ich habe es oft zu ergründen versucht; ich weiß es nicht. Vielleicht war es bloß die mystische Vorstellung: Mutter. Vielleicht hoffte ich auf eine stumme Botschaft, eine nur für mich verständliche Übermittlung. Eines frühen Morgens, es war der Tag, an dem ich sie aufsuchen wollte, sah ich sie in die Kirche gehen, unvergeßlich ihr Gang, ihr Dahinschreiten; ich folgte ihr unbemerkt. Ich trat in die Kirche und sah sie vor dem Altar knien. Nichts sonst. Und eine Stunde später reiste ich ab. Mich verlangte nicht mehr nach der Begegnung mit dem Menschen. In mir war Frieden eingekehrt.« – »Weil Sie sie knien gesehn hatten?« fragte Alexander Herzog mit großen Augen. – »Weil ich sie knien und beten gesehn hatte, ja.« – »Was hatte daran solchen Eindruck auf Sie gemacht?« – »Kann ich nicht sagen. Alles. Es hat meine Lebensauffassung verändert. Es geschieht selten, daß man einen Menschen in der ihm wesensgemäßen Situation erlebt. Es geschieht noch seltener, daß diese Situation zugleich den Gipfel veranschaulicht, den ein Mensch überhaupt erreichen kann, in diesem Fall die Hingabe, die Versenkung, die Andacht. Und es geschieht am allerseltensten, daß ein solches Ereignis mit der inneren Bereitschaft eines andern zusammenfällt.« – »Welcher Bereitschaft«, drängte Alexander unruhig gespannt, »welcher Bereitschaft?« – »Der Bereitschaft zu glauben.« – Alexander sah erstaunt und verlegen zu Boden, so erstaunt und verlegen, daß Kerkhoven ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Das führt allerdings weit«, sagte er und erhob sich, »weit, weit.« – »Verzeihen Sie, Joseph Kerkhoven«, stotterte Alexander, gleichfalls aufstehend, »ich bin etwas vor den Kopf geschlagen.« – »Nun, bewahren Sie es als Geheimnis in Ihrer Brust«, sagte Kerkhoven mit eigentümlichem Sarkasmus. – Und Alexander darauf, grüblerisch: »Nur weil sie gebetet hat? Nur deswegen? Rätselhaft.« – »Ein Wort, mein Lieber, ein grenzenloses Wort: beten«, erwiderte Kerkhoven achselzuckend, »es kann alles mögliche bedeuten. Ich hab' so meine besonderen Gedanken darüber ... Ja, meine ganz besonderen Gedanken. Aber entschuldigen Sie mich, der Tag war lang, ich bin nicht sehr gesprächsfähig, es kommt jetzt oft so plötzlich über mich ...« Er ließ Alexander vorausgehen, drückte ihm draußen fest die Hand und eilte gegen die Treppe. Alexander schaute ihm nach, bis er verschwunden war.

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Es gehörte zu den Schrullen Alexander Herzogs, daß er nie zu Bett ging, wenn sich Bettina nicht gleichzeitig zum Schlafengehen rüstete. Daran änderte die Tatsache nichts, daß sie zwei Schlafzimmer innehatten. Es herrschte dann eben keine Ordnung in seinem Gefühl. Das Hangen an Regel und Regelmäßigkeit und gemeinsame Beendigung des Tages war eine Sonderlingsleidenschaft bei ihm und für Bettina ein stetes Ärgernis. Bei aller Liebe weigerte sie sich, als lebendiges Anhängsel eines Mannes behandelt zu werden, der das Zubettgehen, Aufstehen, Spazierengehen und die Mahlzeiten mit komischer Pedanterie als Gemeinschaftsaktionen zelebriert. Er dachte sich natürlich nichts Böses dabei. Es war eine Mischung von verschrobener Hausväterlichkeit und zärtlicherTyrannei. So blieb er auch jetzt, nachdem er sich von Kerkhoven getrennt hatte und in den Pavillon hinübergegangen war, im Arbeitszimmer sitzen und wartete auf Bettina. Sie war wohl noch bei Marie im Refektorium geblieben. Er unterließ es, das Licht einzuschalten. Er saß im Dunkeln, und seine Gedanken spannen in seiner halb träumenden Weise um die Erzählung Kerkhovens, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Doch als es später und später wurde und Bettina nicht kam, ergriff ihn die Ungeduld. Er ging zum Fenster und lehnte sich hinaus. Es war eine finstere Nacht, zudem etwas neblig. Kaum konnte man die Umrisse der nächsten Bäume ausnehmen. Da schallten Schritte auf dem Weg, der vom Hauptgebäude herüberführte. Endlich, dachte er. Es waren die Schritte zweier Menschen. Die beschwingten Bettinas erkannte er sogleich. Die andern waren die eines Mannes. Es konnte nur Kerkhoven sein. Alsbald hörte er auch dessen Stimme. Bettina antwortete. Sie sprachen leise. Die Worte waren nicht zu verstehen. Die Stimmen hatten einen vertraulichen Klang. Etwa zehn Meter vom Hauseingang entfernt bogen beide in den Weg zum Seeufer ein. Die Schritte verhallten. Nach einer Weile kehrten sie zurück. Die vertraulichen Stimmen erklangen wieder, entfernten sich wieder, kehrten abermals zurück; nicht schnell, nicht langsam, sondern wie die von zwei Leuten, die sich, ohne an die verfließende Zeit zu denken, über ihre persönlichen Angelegenheiten unterhalten.

Unter den Füßen der Schreitenden raschelten dürre Blätter. Bisweilen drang ein Ausruf, ein leises Lachen Bettinas zu den Ohren des angestrengt Lauschenden empor; die sonore, bald näherkommende, bald verschwimmende Stimme Kerkhovens gab zu der hellen Bettinas den Grundbaß. Dem Horcher wurde von Minute zu Minute das Herz schwerer. Wozu hat er mir vorgeredet, er sei müde, sei nicht mehr gesprächsfähig, grollte er in sich hinein, wenn er jetzt noch mitternächtlicherweise im Garten lustwandeln kann; und sie, sie läßt alle ihre Künste spielen; daß ich da oben auf sie warte, ist ihr egal; was haben sie nur miteinander auszumachen, so spät noch, sie ist in ihn verschossen, ich weiß es ja längst, ganz närrisch ist sie mit ihm ... Jeder Mann läßt sich's gefallen, wenn man ihn anbetet; er ist immerhin zehn Jahre jünger als ich, er fasziniert sie, er hat so viel Lebensmaterial in sich aufgesammelt, er weiß so ungeheuer viel von Menschen, hat immer alles parat, kann alles auftischen, da hängt sie an seinen Lippen, eines Tages wird sie die Besinnung verlieren, da überlegt sie nicht lange ...

Als Bettina ins Zimmer trat und Licht machte und ihn mit fahlem Gesicht, vollständig vernichtet, auf dem Diwan sitzen sah, war ihr Schrecken groß. Aber sie kannte seine Miene und sein Auge und sein beklommenes Schweigen; den stummen Vorwurf, das stumme Fragen, die kindliche Verzweiflung, das alles kannte sie und ängstigte sich davor. Es war mehr als ein Erraten, es war wie ein Austausch des Ichs. Da setzte sie sich an seine Seite, nahm ihn bei der Hand und suchte ihm zu erklären, was Kerkhoven ihr bedeutete und was sie zu ihm zog. Alles, was er sich selbst gesagt hatte, was er aber jetzt, da es aus ihrem Mund kam, trotzig und mißtrauisch nicht anerkennen wollte – ihr gegenüber nicht, das war eben der Trotz, der quälende Eifersuchtstrotz; vor sich selbst erkannte er es in höchstem Maß an, mit einer Art von Schaudern beinahe, vor sich selbst wußte er, daß er von der Lauterkeit dieses Mannes nichts zu fürchten hatte, daß dieses kristallene Wesen alle trüben Verdächte und sinnlichen Eifernisse beschämte, doch die geliebte Frau sollte keinen andern Gott haben neben ihm, auch dann nicht, wenn sie an seine eigene Göttlichkeit nicht mehr glaubte. Ach, gefallene Götter sind eifersüchtiger als thronende und wollen die Seele, die sich ihnen einmal angelobt hat, nicht mehr lassen. Dies durchschaute Bettina wohl, und sie bedauerte ihn wegen seines Zitterns um den Besitz, denn das war es ja eben, wovon sie ihn frei sehen wollte: Besitzangst, so frei wie sie selber davon war, seit Haus und Landgut und schöne Dinge und alle andere Luxuslast sie nicht mehr bedrückten.

»Du hast mir das Bild der Welt gegeben«, sagte sie, »Joseph Kerkhoven gibt mir das Begreifen der Welt. Ich brauche das eine und brauche das andere. Mir genügen nicht die Empfindung und die Farbe und die Melodie, ich muß auch die Struktur kennen. Daß mir das gewährt wird, ist ein großes Glück für mich. Ich fühle, wie es mich weiterbringt, wie es mich über das bloße Ahnen und Träumen hinausträgt. Soll ich darauf verzichten, weil du nur einen feuergefährlichen Flirt drin siehst? Das bist doch nicht du, der so kleinlich hadert. Das ist doch nicht Alexander Herzog. Das ist doch ein Pascha. Das ist doch ein Hahn.« Er lachte und schloß sie in die Arme. Doch sie wollte in diesem Augenblick nicht geherzt sein, sie machte sich etwas unmutig los, erhob sich und ging auf und ab mit Schritten wie ein Mann. »Und weißt du auch, worüber wir meistens reden«, fuhr sie mit aufflammendem Blick fort; »über dich. Von zehn Gesprächen beschäftigen sich neun mit dir. Was ich denke und tue, interessiert ihn nur mittelmäßig. Du bist für ihn die erste Person. Deine Gesundheit, deine Arbeit, deine Stimmung, deine Ansichten über dies und das ... dann kommt noch lange nichts, und dann komm' erst ich.« – »Und dabei erfüllt er trotzdem die Funktion, die du eben so begeistert gerühmt hast ... ?« – »Ja. Trotzdem. Du bist der Umweg, den ich in Kauf nehmen muß.« Jetzt war sie es, die über sein verblüfftes Gesicht lachen mußte.

Aber sein Argwohn war nicht gestillt; er glomm unterirdisch weiter, schwieg für ein paar Stunden, loderte wieder auf, umging sein Bewußtsein und schlich sich in seine Träume. »Ich ernte nur, was ich gesät habe«, sagte er einmal zu Bettina; »so viele haben aus gleichem Grund durch mich gelitten, jetzt rächen sie sich auf diese Weise an mir.«

Schuld, Schuld; alte, uralte Schuld, immer wieder. Verzagt schüttelte Bettina den Kopf.

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Auslöschung Gannas: daran arbeitete Kerkhoven unablässig; Vernichtigung, wie er es genannt hatte. Doch hinter jeder Schwierigkeit, die er beseitigt, erhob sich eine neue. Alexander Herzog war ein Mensch mit unglaublich vielen Hintergründen, so einfach er erschien. Wenn sich einer nach dem andern eröffnete, war es, wie wenn sich in langer Folge zahllose Türen auftun, die zuletzt ins nicht mehr Erforschliche führen, in die Weltraumschwärze. Und er stand harmlos da, immer ein wenig verzaubert, immer ein wenig tierhaft, nichts von sich wissend. Die Ganna-Verklammerung war so tief in seiner Seele, mehr noch in seiner Phantasie verlagert, daß keine Macht des Wortes dagegen aufkommen konnte. »Wenn ich zehn Jahre lang zu vergessen vermöchte, dann vielleicht«, sagte er. Kerkhoven wußte natürlich, daß man eine Wunde nicht durch Besprechung heilen kann. Er hatte hier mit einer unverfälschten Erkrankung der Phantasie zu tun, in solcher Ausschließlichkeit und Abgegrenztheit etwas sehr Seltenes. Es gab dagegen keine irgendwo angedeutete oder praktizierte Therapie. Es gab nicht einmal den Begriff. Die Kategorien waren in dieser Hinsicht verwischt, weil die Forschung noch in den Anfängen steckte. Das einzige Mittel war, Erscheinung gegen Erscheinung zu setzen. Er mußte ein neues Bild von Ganna aufbauen. Mit dessen Hilfe hatte er einen doppelten Nachweis zu erbringen: erstens den der Unwesentlichkeit, ja Unwesenhaftigkeit Gannas (den er zum Teil schon erfolglos versucht hatte); zweitens den der innerlichen Gesetzmäßigkeit des Erlebnisses für Alexander Herzog, das heißt, daß es nur die Stufe bildete zu einer höheren Entfaltung, die Möglichkeit zum Aufstieg, der in der ganzen Anlage seines Lebens vorgesehen war. Er war sogar kühn genug, bei dieser Gelegenheit von der Begnadung durch das Leiden zu sprechen.

Alles dies stieß jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten, von denen die sinnliche Triebhaftigkeit Alexanders, seine Abhängigkeit von Lust und Unlust und seine rein psychologische Einstellung zu den Erfahrungen des Lebens nicht die geringsten waren. Marie hatte das vollkommen richtig erkannt. Sie sagte ihm einmal: »Man darf sich nicht auf das Böse in der Welt verlegen, man muß sich auf die göttliche Kraft zurückziehen.« Für ihn waren das vorläufig leere Worte. Wenn Ganna nicht das Böse war, warum hatte sie ihn dann zu Boden schlagen und entmannen können, ihn, der noch vor zwanzig Jahren den Kampf mit der gesamten Hölle aufgenommen hätte. »Ich war im Grunde ein heiterer Mensch«, rief er aus, »ein zuversichtlicher, ohne Bruch, ohne Schicksals- und Zukunftsangst.« – »Und arm«, fügte Kerkhoven hinzu, »besitzlos. Vergessen Sie das nicht.« – »Nicht Ganna hat mich zu einem Besitzenden gemacht«, versetzte er irritiert. – »Doch. Gerade Ganna. Es war eine reaktive Wirkung.«

Die logische Folgerung ergab sich von selbst: Ganna, die Zeitgebundene, der Zeit Entsprossene, Exponent der bürgerlichen Ära, in nichts artverschieden von der Bankiersfrau Soundso, der Rechtsanwaltsgattin X und der Regierungsrätin Ypsilon, nicht einmal von dem Dienstmädchen, das mit ihrem Verführer um die Alimente prozessiert. »Das haben Sie ja auch ebenso kräftig wie überzeugend dargestellt«, hielt ihm Kerkhoven vor. – »Dennoch ist es nicht ganz richtig, was Sie sagen«, antwortete er; »in Gannas Ursprüngen lag es nicht, vielleicht in der Bestimmung, soweit ich darin einbezogen bin.« – »Einbezogen in die Jahre, gewiß einbezogen in den Verfall einer Gesellschaft, in die Atrophie des Herzens, mit der wir heute, soviel ich sehe, an den Grenzen der Menschheit stehen.« – »Da wäre Ganna nur ein Glied in der Kette ...?« – »Wenn Sie es historisch betrachten, ja. Biographisch genommen, als Funktionärin in einem Gruppenschicksal, der Gruppe Ganna – Alexander – Bettina, hatte sie die Aufgabe der Unruhe im Uhrwerk, verstehen Sie mich? Man könnte sich vorstellen, daß es mittels einer fortgesetzten Reihe von Schmerzen geschieht, durch die die kleinen Zahnrädchen in Gang erhalten werden und die das Wunder der Zeitkündung vollbringen. Können Sie sich das nicht denken? Ein bißchen verrückt, ich geb's ja zu.« Er lächelte listig. Alexander starrte ihn perplex an. Der Gedanke erschien ihm wirklich verrückt, doch sonderbarerweise ging eine Erleichterung von ihm aus, es steckte eine kaum definierbare Wahrheit drin, nämlich eine, vor der sich die ganze Schuldfrage plötzlich verflüchtigte.

Denn das Schuldgefühl war der Wall, den Kerkhoven nicht erstürmen und hinter den er nicht dringen konnte.

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Es war nichts, was mit Bewußtsein und Urteil zu tun hatte. Kerkhoven bezeichnete es Bettina gegenüber als eine elementare Verfinsterung, einen Rost, der die Seele überzogen hatte und sie zerfraß. Bettina stimmte ihm bei. Sie nannte es das eingefrorene schlechte Gewissen. In Ganna hatte es seinen Nährboden, Ganna war die Erregerin; so lange Ganna war, war auch Schuld. Hätte er ihr Millionen in den Schoß geworfen und alles Glück der Erde verschafft, die Schuld wäre geblieben. Kerkhoven hatte ein Gleichnis dafür: Ganna und Alexander waren wie zwei übereinandergeschobene Kreisflächen, die zwar niemals in eine konzentrische Lage kamen, aber bisher auch niemals außer Kontakt gesetzt werden konnten, und wo immer der Alexander-Kreis vom Ganna-Kreis bedeckt wurde, entstand jene Verfinsterung, jener Seelenrost. Er erklärte es ihm selbst so. Das Phänomen ließ ihn nicht ruhen. Er fragte ihn über seine Kindheit aus, über seinen Vater und seine Mutter. Der frühe Tod der Mutter, die gedrückten Verhältnisse, in denen die Familie gelebt, der verzweifelte Kampf des Vaters um die Existenz, ein Lebenslauf in absteigender Linie; Heirat mit einer zweiten Frau, einer kaltherzigen, geizigen, berechnenden, ungebildeten Kleinbürgerin, das alles hatte viel zu bedeuten und war aufschlußreich. Kerkhoven hatte eine liebevollgeduldige Art, Alexander mitteilsam zu machen, hütete sich aber wohlweislich, in ihm die Vorstellung eines ärztlichen Privatissimums zu erwecken; das sollte es ganz und gar nicht sein, sondern eine Aussprache unter Freunden, und daß sich Marie und Bettina, zwar nicht regelmäßig, doch so oft es anging, hinzugesellten, war fast selbstverständlich. Übrigens erfuhr Bettina dadurch mancherlei aus Alexanders Leben, wovon sie noch nicht wußte und was sie tief berührte.

Die Gestalt der Stiefmutter trat für eine Weile in den Vordergrund. Es war so lange her; fünfzig Jahre; ein Menschenalter; damals war mein Vater noch ein junger Kapellmeister und ich noch lange nicht auf der Welt, mußte Bettina denken, und Alexander kam ihr in diesen Augenblicken wie ein uralter Mensch vor, der durch eine Vergeßlichkeit der Natur seine Jugend bewahrt hatte. Deshalb klang seine Erzählung wie ein Märchen aus verschollener Zeit; Stiefmutter war ja auch ein Märchenmotiv, heute gab es die Figur im abschreckenden Sinn kaum mehr. Kerkhoven konnte feststellen, daß das tyrannische Weib eine bereits vorgebildete Ganna war, eine Deutung, die Alexander aufhorchen ließ; es war seine eigene Lehre, daß jeder Mensch immer wieder mit denselben Charaktertypen in verschiedenen Abwandlungen zu tun hat, und diese bestimmen jeweils seinen Weg. Nicht lange, nachdem die Frau ins Haus gekommen war, hatte sie sich zu seiner Peinigerin gemacht. Einmal hatte sie ihn wegen einer zerrissenen Hose halbtot geschlagen. Sie zählte die Zuckerstücke in der Büchse und markierte die Brotlaibe. Der Diebstahl von einer Handvoll Kirschen wurde mit den grausamsten Strafen gesühnt. Entziehung der Mahlzeit war noch die gelindeste. Um den Hunger zu stillen, trank er in der Nacht den Milchtopf leer, was greuliche Untersuchungen und Verhöre zur Folge hatte. Wenn sie ihm an Wintermorgen, bei unvollkommenem Tag noch, die Bettdecke wegriß, um ihn zum raschen Aufstehen zu zwingen, hatte sie die Miene und die Gebärden einer Furie. Unheilbarer in die Erinnerung geätzt war die irrsinnige Wut, die sie ergriff, als sie von seinen frühen schriftstellerischen Versuchen Wind bekam. Das war um sein vierzehntes Jahr herum. Sie verlegte sich mit Ingrimm aufs Spionieren, fast immer gelang es ihr, die von ihm beschriebenen Blätter zu erwischen, und die warf sie dann höhnend und geifernd ins Feuer. Er hatte sich in späteren Jahren oft nach dem Grund dieses unverständlichen Hasses gegen »das Schreiben« gefragt. »Das ist doch wieder gar nicht gannahaft«, bemerkte er zu Kerkhoven, »das Widerspiel eher.« – »Das Widerspiel ist oft das nämliche Spiel«, sagte Kerkhoven nachdenklich. Konnte nicht eine instinktive Angst vor Verrat dahintergesteckt haben? Wer Übel in sich aufhäuft, muß Verrat fürchten. Oder war es die radikale Abwesenheit von Phantasie in dieser unheimlich platten Natur, die sie gegen alles Phantasie- und Traumähnliche in Harnisch brachte, da es ja, allem Erwerb und Besitz feindlich gesinnt, die Lebensbedrohung an sich war? Vor nichts graut dem Kleinbürger mehr als vor Phantasie und Traum. – »Wie hat sich denn Ihr Vater dazu verhalten?« forschte Kerkhoven, für den dieser Bericht eine unerwartete Aufhellung war. – »Mein Vater hatte ein so aufreibendes und freudloses Leben, er plagte sich derart mit Geldverdienen und war immerfort in solchen Sorgen, daß er einfach nicht sehen wollte, was vorging. Ich erinnere mich, wenn er am Abend heimkam und sich die Stiefmutter vor ihm aufpflanzte und ihm das Register meiner Sünden aufzählte, daß er dann sonderbar verlegen dasaß, seine Suppe löffelte und mich kopfschüttelnd anschaute; und dann wurde er auf einmal von seinem Jähzorn überwältigt, sprang auf und versetzte mir eine so schreckliche Ohrfeige, daß mir das Hirn im Schädel schepperte. Er liebte die Musik und hatte eine gewisse Ehrfurcht vor den Klassikern, aber er hielt diese Neigung für eine Schande, wenigstens seitdem er die zweite Frau geheiratet hatte, meine Mutter hatte sich ja in der Welt der Händler und Kaufleute wie eine Eingekerkerte gefühlt. Eigentümlich ist das letzte Bild, das ich von meinem Vater in mir herumtrage. Warum es in mir haftengeblieben ist, weiß ich nicht, denn es hat gar keine Bedeutung, es drückt nur etwas aus von seiner steten – was war es nur? – Verlegenheit, ja, Verlegenheit. Es war wenige Tage vor seinem Tod, deswegen hab' ich's wohl auch nicht vergessen können. Ich kam mit Ganna im ersten Jahr unserer Ehe aus Italien zurück, wir mieteten in einem Dorf am Brenner ein Häuschen, und ich lud meinen Vater zu uns ein, damit er Ganna kennenlernte. Das betrachtete er als eine große Ehre, er war sehr stolz auf mich, die Achtzigtausend-Kronen-Mitgift war für ihn der Gipfel des irdisch Erreichbaren. Ganna erwies ihm außerdem alle mögliche Liebe, und er schloß sie mit einer Dankbarkeit in sein Herz, die ihn mir in einem neuen Licht zeigte. Als er beiläufig erwähnte, diese Tage seien seine ersten Ferien seit siebenunddreißig Jahren, überblickte ich ein Leben sklavischer Fron, an das ich in meinem geistigen Hochmut bis jetzt nicht einmal hingedacht hatte. Aber ich wollte nur erzählen, was auf dem Bahnhof geschah, als er wieder nach Hause reiste. Ich hatte ihm die Fahrkarte gekauft und brachte sie ihm. Da starrte er mich so verwundert und erschrocken an, wie wenn ich ihm eine Rolle Goldstücke zugesteckt hätte. Um seinen Mund zuckte das verlegene Lächeln, das mich selber verlegen machte, deshalb schaute ich von seinem Gesicht weg auf seine Hand, in der er den Schirm trug, einen alten, schäbigen Regenschirm, oben mit einem schwarzen Band verschnürt, in der Mitte gebauscht; man sieht solche Schirme auf Bildern von Spitzweg oder Leibl. Und die Hand ... Es war eine zittrige, verbrauchte Hand, nicht wie bei einem Mann von sechsundfünfzig, sondern von neunzig Jahren, sie war behaart und mit kleinen gelben Flecken bedeckt; der Zeigefinger rieb sich fortwährend an dem Messingring, der die Schirmstäbe zusammenhielt. Das prägte sich mir so stark ein, dieser Zeigefinger; er machte gleichsam die Verlegenheit offenkundig, die den Mann von oben bis unten erfüllte; später hatte ich die tolle Idee, daß etwas in ihm den nahen Tod vorauswußte und er darum so verlegen war wie einer, der mit einem Geheimnis Abschied nimmt, das er aus Anständigkeit verbirgt. Aber es war wahrscheinlich nur so, daß ihm die richtigen Worte fehlten. Er hatte eine wunderbare Handschrift, monumental und kalligraphisch, und sein Stil war das Muster von kaufmännischem Schwung, aber mit den Worten stand er auf Kriegsfuß, sagen konnte er nur das unumgänglich Notwendige ... Aber schwatz' ich da nicht dummes Zeug? Ist das alles überhaupt interessant?«

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»Sehr interessant; ich glaube, ich kenne ihn jetzt durch und durch«, sagte Kerkhoven, »und das Seltsame ist, ich sehe ihn in Ihnen drin. Seltsam, nicht als biologische, sondern als optische Tatsache.« – »Das mit der Verlegenheit ist merkwürdig«, äußerte sich Marie, »Verlegenheit ... das ist doch nur eine Umschreibung von Schuldbewußtsein ...« – »Sprechen Sie nicht davon, ich weiß es«, fiel ihr Alexander hastig ins Wort, »ich möchte ihn wirklich nicht nach dreißig Jahren in mir wiederentdecken.« Unwillkürlich schob er die Hand in die Tasche, da Kerkhovens Blick darauf ruhte. – »Ein unfaßlich einsamer Mensch muß es gewesen sein«, fuhr Marie fort; »von einer derartigen Einsamkeit ahnen wir ja nichts. Hat er jemals nach etwas anderm gestrebt als nach Geld? Hat er jemals wie soll ich es möglichst unpathetisch ausdrücken? – zu den Sternen hinaufgeschaut?« – »Zu den Sternen? Nein. Halt' ich für unwahrscheinlich. Wenigstens nicht in dem Sinn, den Sie meinen, Frau Marie.« – »Wurde in Ihrem Elternhaus auch nie von dergleichen gesprochen ... von ... sagen wir also: von den Sternen?« – »Nein. Ich kann mich nicht erinnern.« – »Gab es in Ihrer ganzen Jugend nichts ... keine Regung ... kein frommes Gefühl ... keine Sehnsucht nach oben ... Verzeihen Sie, das klingt alles ein bißchen zudringlich ... aber eine gewisse pflichtmäßige, gewohnheitsmäßige Religiosität war doch auch in den unteren bürgerlichen Schichten verbreitet, ein gewisses Zur-Schau-Tragen, ein äußerliches Zeremoniell ... und wenn man bloß am Sonntag in die Kirche ging ...« – »Ich denke nach und denke nach«, erwiderte Alexander, »aber um ehrlich zu sein: Auch das war nicht vorhanden. Man war freigeistig. Man war stolz darauf, daß man Freigeist war.« – »Aber wie konnte man dabei leben!« rief Marie aus. »Ein Kind, ein vollständig gottloses Kind!« – »Ich war nicht vollständig gottlos, Frau Marie. Zu den Sternen hab' ich oft hinaufgeschaut, schon, weil mir's unten auf der Erde ganz und gar nicht gefallen hat.« – »Ach, damit war ja nichts getan«, antwortete Marie traurig; »das war ja nur Träumerei. Ich weiß es aus meiner eigenen Jugend. Später wird dann so was wie eine schwärmerische Philosophie draus. Man kann nicht genug staunen, daß Sie in einer solchen Umgebung sich selbst gefunden haben. Daß Sie in solchem Boden haben wachsen können und daß aus Ihnen geworden ist, was Sie schließlich sind. Ich begreif es nicht. Ein Künstler scheint also doch ein Wesen für sich zu sein, anders als alle andern ...« – »Allerdings«, murmelte Bettina nicht ohne leisen Spott. – Marie errötete. »Ich bitte Sie, Liebe, mißverstehen Sie mich nicht. Ich bin doch keine Pute. Seit Jahr und Tag gärt und braust etwas in mir, Joseph weiß es, ich spreche und frage nicht als ein Mensch, der sich mit seinem Glauben zur Ruhe gesetzt hat und anmaßend drauflos orakelt, o Gott, nein, ich bin ja auch in der dicksten Finsternis und taste überall hin und schreie: Helft mir, daß ich herausfinde!«

Es war ein aufregender Moment. Sie hatte schnell, fast überstürzt gesprochen, die Röte auf ihren Wangen war einer tiefen Blässe gewichen, ihre Augen standen voller Tränen. Alle schauten sie an. Bettina, die dicht neben ihr saß, neigte sich und küßte spontan ihre Hand. Und drüben unterm Fenster erhob sich jemand und schritt geräuschlos an das andere Ende des Saals, um sich dort niederzulassen. Es war Aleid. Kerkhoven folgte ihr, flüsterte ihr ein paar Worte zu und kehrte hierauf zu den andern zurück. »Wir dürfen Alexander Herzog nicht in seinem Fundament bezweifeln«, wandte er sich an Marie; »er ist ja eine religiöse Natur, besser gesagt, ein Mensch mit einer religiösen Grundverfassung. Was freilich an sich nicht gar zu viel besagt. Nicht unbedingt muß auf solchem Grund eine höhere Entwicklung vor sich gehen, eine höhere Vegetation gedeihen. Er ist nur die Voraussetzung dazu. Alexander bewegt sich in einer Welt, die uns verschlossen ist. Nach Erkenntnissen zu handeln ist ihm nicht gegeben, dazu ist er nicht berufen. Wir haben ihn auch nicht zu belehren, wir haben von ihm zu lernen. Er soll uns Botschaft bringen, nicht wir ihm. Wahrscheinlich ist er näher bei den geahnten Mächten als jeder von uns, nur weiß er es nicht. Wenn er es wüßte, wäre er's nicht mehr. Rufen wir ihn aus dem Traum, so hat er uns nichts mehr zu bieten. Mit dieser Tatsache müssen wir uns abfinden. In den Traum ist er eingehüllt wie die Seidenraupe in den selbstgesponnenen Kokon.« – »Wenn man ihn aus dem Traum weckt, ist er überhaupt nicht mehr da«, sagte Bettina lächelnd. – »Ich bin mit Freuden bereit, ihm nachzugehen in sein unsichtbares Reich«, begann Marie, aber Alexander unterbrach sie: »Unsichtbar? Unsichtbar? Sie können es gesetzlos nennen, phantastisch, wirklichkeitsverlassen, was Sie wollen, aber unsichtbar? Das gerade ist es nicht, denk' ich, oder ich bin ein Narr, ein Schwindler.« – »Nicht, nicht, Alexander«, bat Marie mit aufgehobenen Händen, »aber eins müssen Sie doch zugeben: Was Sie träumen und schaffen, ist nicht dasselbe wie das, was Sie als Mann und Mensch tun. Nein und aber nein. Ihr Traum ist nicht Ihr Leben. Es steckt so enorm viel Negatives in Ihnen. Woher kommt das?« – »Daher, daß ich fast keine Gewißheiten habe. Nicht einmal, ob ich wirklich bin, ist mir gewiß.« – »Haben Sie nie mit einem Gottesgedanken gelebt?« – »Mit dem Gedanken, o ja, mit dem Bild, nein.« – »Sie sagen, Sie wissen nicht, ob Sie sind. Das leuchtet mir nicht ein.« – »Warum nicht?« – »Erinnern Sie sich ... in der Matthäuspassion ... der bange Aufschrei: Ich bin's, ich sollte büßen ... ? Alles an Ihnen schreit fortwährend, stumm und laut: Ich bin's, ich sollte büßen ...« Darauf blieb Alexander die Antwort schuldig.

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Der Kampf brannte immer heißer. Es war, wie wenn sich vier Menschen vor einer verschlossenen Pforte zusammendrängen, und keinem von ihnen wird Einlaß gewährt. Keiner besitzt den Schlüssel, obgleich jeder hofft, daß der andere ihn hat. Sie studieren die Beschaffenheit des Schlosses und der Riegel: Keine Aussicht, daß sich das ehern versperrte Tor öffnen läßt. Wo mag der Schlüssel sein? Denn es stellt sich heraus, daß keiner ahnt, wo er sich befindet und wie man seiner habhaft werden kann. Vielleicht braucht man keinen Schlüssel und muß nur ein Zauberwort wissen oder auf eine geheime Feder drücken. Sie spähen, sie lauschen, sie beraten, sie senden Rufe aus in der Erwartung, daß ihnen von jenseits der Pforte ein Zeichen wird. Nichts dergleichen geschieht. Wenn sie den Schlüssel nicht haben, gibt es keinen Zugang.

Das ist ungefähr, bildlich gesehen, die Situation. Man muß sich fragen: Was ist der Antrieb? Was geht in diesen Menschen vor? Was bewegt sie und was ist das Ziel der Bewegung? Es handelt sich ja nicht um ein Konventikel, nicht um irgendwelche sektiererische Gelüste oder überspannte Ideen, noch weniger um eine spintisierende oder theoretische Gottsucherei. Beide Männer und beide Frauen stehen auf dem Scheitelpunkt ihres Lebens; sie sind gesättigt von Erfahrungen, ausgestattet mit allen Erkenntnissen ihrer Zeit; jeder hat sein vollabgemessenes Tagewerk, seine beruflichen und häuslichen Pflichten und schreitet fest auf der Erde, tätig unter Tätigen: Was versetzt sie also in die geisterhafte Unruhe?

Sie finden nicht mehr ihr Auslangen mit den Erfahrungen und Erkenntnissen, das ist es. Das tägliche Tun, sie können es sich nicht länger verhehlen, wird allmählich zu einem freudlosen Betrieb. Die wiederkehrenden Geschäfte und gleichbleibenden Verrichtungen erstarren zu einer bloßen Mechanik des Lebens. Man kommt nicht mehr weiter mit dem Gegebenen. Man hat keine Vorräte mehr, von denen man zehren kann. Die Kammern und Truhen, in denen man sie aufgespeichert gewähnt, erweisen sich als leer. In allen Dingen des inneren Seins sieht man sich auf einen Bodensatz, auf schäbige, verdorrte Überbleibsel angewiesen. Es beginnt mit der Nahrung zu hapern. Eine Weile läßt sich der Schein aufrechterhalten, als hätte man noch reichlich zu essen. Aber nach und nach stellt sich der Hunger ein. Und die Folgen des Hungers sind Schwäche, Verzweiflung und die immer unstillbarer werdende Begierde nach Speise.

Aber das ist nicht etwa eine Einzelerscheinung, beschränkt auf diese zufälligen vier Personen. Es ist eine Hungerepidemie. Es ist ein europäischer Hunger, es ist ein planetarischer Hunger. Die vier Personen, von denen die Rede ist, sind nur insofern in einer besonderen Lage, als ihre Nerven- und Seelenverfassung sie zu außergewöhnlich empfindlichen Registrierapparaten macht. Sie spüren den Zustand der Welt bis in ihre Pulsadern hinein. Das Wort vom traumatischen Tetanus, Seelentetanus, ist eine Kerkhovensche Prägung; daß man zwanzig Jahre lang wie unter einem glühenden Bleidach gelebt habe, im Starrkrampfschlaf. Und nun: Die ganze Menschheit ein zitternder Leib, von Fieberschweiß bedeckt, zähneklappernd in der Weltraumkälte liegend, in Hungerdelirien, nichts vor Augen als den Tod. Aber es stehen einige auf, die treffen Anstalten, den Tod von sich abzuschütteln, den Tod als Tatsache; und sie gehen mit dem brennenden Hunger in den Eingeweiden unter ihren Brüdern und Schwestern herum mit Mienen, als hörten sie die Steine singen; es sind die Menschen des Aufbruchs, die den Weg von vielen in sich tragen. Ihre Wirkung ist geheim und anonym, und eben daraus schöpfen sie eine Kraft, die jeden Widerstand niederschlägt.

Da ist zunächst Marie Kerkhoven. Von Haus aus ein Weltkind; erzogen und aufgewachsen in Sorglosigkeit, in einer Sphäre des Geschmacks und der Kultur, von Kindheit an gewohnt, ihre luxuriösen Neigungen zu befriedigen, in ihrer Denkungsart von der Tradition bestimmt und in ihren Handlungen von ihr behütet, voller Reiz, voller Impuls, so reich an Herz wie an Verstand, aber ohne eigentliche Mitte und ohne sichere Führung. Bis in ihr fünfunddreißigstes Jahr läßt sie sich treiben und merkt nicht, daß ihr Schiff leck geworden ist. Da kommt sie in die Verkettung, in die Konflikte der Leidenschaft; erlebt Enttäuschung und Verrat, den Zusammenbruch des geliebten Mannes, der sie dann durch einen Akt heroischen Verzichts zu sich selbst zurückführt; sie, die niemals allein gewesen, steht plötzlich allein in einer Welt, die nicht mehr die ihre ist (denn ihre ist verschwunden, zerschlagen, ausgerottet) und angesichts deren maßloser Zerrüttung nur eines zu tun übrigbleibt, wenn man nicht mit in den Abgrund geschleudert werden will: Hand anlegen; retten, was noch zu retten ist; die Isolierzelle verlassen und Menschendienst leisten. Sie befolgt das innere Gebot und macht es sich zum äußeren Gesetz. Doch es zeigt sich, daß das Haus, an dem sie helfen will zu bauen, eine Ruine ist. Lächerlich, ein paar Ziegel und ein paar Kellen Mörtel herbeizuschleppen, es stürzt auf allen Seiten ein. Es gibt kein Vollbringen, es reift keine Frucht, es meldet sich keine Freudigkeit, der Glockenschlag des Herzens ist nicht da. Und den will sie vernehmen, sonst lohnt sich das alles nicht. Die alten Stützen wanken, jeder Weg endigt an der bewußten Mauer, die gleichwohl zu dem einen zwingt, was dem Leben bisher gefehlt hat: Aufblick. Aber wenn der Blick keinen Gegenblick trifft, verzweifeln die Augen. Ist wer droben, der dich sieht? Ist ein Wesen, ein Geist, ein Unsagbares, dem du zuströmen kannst? Wo? Was mußt du tun, um es zu finden? Glauben? Woran glauben? An einen Sinn, eine Gestalt, ein Gedachtes, ein Gefühltes? Glauben: vielspältiger Begriff, zerhadertes Wort, das, wie ein geheimnisvoller Vogel oder wie ein Komet, eine parabolische Bahn beschreibt vom Innern der Brust in die Unendlichkeit und aus der Unendlichkeit zurückkehrt in die Brust, tödlich schweigsam.

In einem früheren Teil dieses Buches wurde in etwas verändertem Bild bereits von dem »Schlüssel« gesprochen, nach welchem Marie suchte. »Sie hätte erst den Schlüssel haben müssen«, heißt es dort, »um die Tür aufzusperren, hinter der sie als die unabänderlich geprägte Person Marie Kerkhoven gefangensaß. Sie hätte das Gehäuse Marie Kerkhoven sprengen müssen. Und an dieser Aufgabe verzweifelte sie: aus Anhänglichkeit an ihre Form, aus Furcht vor den damit verbundenen Leiden, aus Liebe zu sich selbst.« Sie fragt sich dann, ob sie je den Menschen finden würde, dessen Sein oder Schicksal ihr zur Überwindung helfen könnte, denn ohne einen lebendigen Menschen, einen irdischen und sinnlich greifbaren, scheint es nicht möglich. »Sie sollte ihn finden, diesen Menschen«, heißt es zum Schluß.

Der unbewußte Helfer ist Alexander Herzog. Als er in ihr Leben tritt, ist das seine an der untersten Grenze angelangt und gänzlich aus den Fugen. Marie braucht ihm nur die Hand hinzustrecken, und er ergreift sie mit einer Dankbarkeit, als wäre es das erste Erlebnis dieser Art, als hätte er nie eine Bettina gehabt. Darin sind ja die Menschen seltsam: Immer ist eine neue Begegnung vonnöten, wenn Erneuerung geschehen soll. Wir nützen uns alle aneinander ab und werden faul in der süßen Vertraulichkeit. Das leidenschaftliche Bekennertum in der aufgeschriebenen Geschichte seines Lebens wirkt auf Marie wie eine Offenbarung. Ein Märtyrer, aber ein glaubensloser; trotzdem steht er auf rätselhafte Weise in der Gnade. Ein Mensch von stark entwickeltem metaphysischem Bedürfnis, aber sein Reich ist ganz und gar von dieser Welt. Ein Herz voll Demut, aber er ist niemals auf den Knien gelegen. Er weiß nicht vom Gebet, in keinem Sinn, dennoch scheint er dem unbekannten Gott nahe zu sein. Er hat die große Leidensgeduld derer, die sich dem Schicksal beugen, und hängt mit animalischer Dumpfheit an den kleinen Genüssen des Daseins. Er ist imstande, andere zu ergreifen und zu befeuern, sich selbst läßt er ratlos im Stich. Diese Widersprüche verwirren Marie unbeschreiblich. Ihr ist, als blicke sie in ein trüb kochendes Element. Der sänftigende Einfluß, den sie auf ihn ausübt, gibt ihr nach und nach ein Gefühl des Selbstvertrauens, das sie lange entbehrt hat. Daß sie ihm seelisch etwas bedeutet, zeigt ihr den Weg, den sie gehen muß, um ihn aus seiner Schattenwelt zu reißen. Auf einmal ist er es, der die Worte findet, nach denen sie ringt, der den heimlichen Wünschen Ausdruck verleiht, die in ihr brennen; es ist wie höhere Eingebung, sie möchte ihn am liebsten in die Arme schließen und ihn beschwören: Streif deine Ketten ab, gefesselter Mensch! Er spürt ihre Not, er erkennt ihre eigentliche Fähigkeit, das Persönlichste an ihr, die angeborene Gabe, zu lehren und zu erziehen, und überzeugt sie so nachdrücklich davon, daß sie zum zweitenmal den Versuch mit Kindern unternimmt, planvoller, nicht so im leeren Raum sozialer Betätigung zerbröckelnd wie damals in Berlin. Ihre beiden Söhne, das Helmutlein und der kleine Imst (den sein Vater ruhig bei Jeanne Mallery gelassen hat), bilden die Keimzelle einer Anstalt, die keine ist, nur Spiel- und Heimstätte für allerlei umherschweifendes Kindervolk, Kinder von Taglöhnern, Handwerkern, alleinstehenden Frauen und politischen Flüchtlingen. Sie kommen und gehen, wann es ihnen paßt. Sie werden nicht gerufen, sie stellen sich ein, zuerst aus Neugier und weil man was zu futtern kriegt, dann aus Vergnügen an der scheinbar ungebundenen Vergesellschaftung und in wachsendem Respekt vor einer Führung, die ihnen die Illusion der Freiheit läßt. Die Sache redet sich herum, einer erzählt es dem andern, und ohne daß je eine Kundmachung oder gar Anlockung erfolgt ist, muß man alsbald trachten, den Zustrom zu dämmen. Es gibt keinen regulären Unterricht, keinen Stundenplan, es gibt nur Spiele, Wandern und Gespräch, sonderbares Gespräch oft, von Gott und göttlichen Dingen, die wie Sportregeln behandelt werden. Endlich hat Marie das Gefühl einer Leistung, noch mehr, einer Erfüllung. Ihr Tag ist gegliedert und reich an Geschehnis und Einblick. Sie weiß nichts von Müdigkeit, ihr ist, als fliege sie über ein zerklüftetes Gebirge hin. Sie hat spezielle Freunde unter ihren Schützlingen; wenn sie mit denen spricht, sieht sie aus wie die strahlende junge Mutter eines ganzen Heerbanns von Kindern. Alexander Herzog, der wenig Talent hat für den Umgang mit der Jugend, ist zutiefst erstaunt über das, was er in ihr zum Leben erweckt hat, und in einem enthusiastischen Augenblick vergleicht er sie mit einem Kinderheiland. Lasset die Kindlein zu mir kommen, immer klingt dieses Erlöserwort auf, wenn eine Welt vor dem Umschwung steht. Marie erschrickt; nicht bloß vor dem Unziemlichen des Vergleichs, sondern weil sie sich kennt; sie weiß aus Erfahrung, wie leicht sie ihr Maß verliert, das körperlich gesetzte wie jenes, das ihr durch das Verhältnis zu den blut- und herzverbundenen Menschen vorgeschrieben ist. Nicht noch einmal darf es geschehen, daß Joseph Kerkhoven sich als Fremdgewordener außerhalb der Sphäre bewegt, in der sie allzu selbstvergessen schaltet. Sie muß sich ihm bewahren, ja aufsparen, sie muß an seiner Seite bleiben, im Geist und im Leibe. Und da ist auch noch Aleid; auch um die muß sie bangen, auch die muß sie halten. So schlingt sich Band um Band um sie, Pflicht um Pflicht, und mahnt sie, daß nur die gegenwärtige Stunde das Leben zu meistern vermag, wie immer die Gestirne stehen.

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Mit Bettina ist es so, daß sie lange Zeit gebraucht hat, um sich zu sammeln. Das Erlebte hinter sich zu werfen und einen Strich darunter zu machen, das hat sie keinen Entschluß gekostet, es entspricht ihrem Wesen und Temperament, doch der Lärm braust ihr noch in den Ohren, der häßliche, wüste Lärm um Geld und Haus, die Erinnerung an das Grauen saß noch in den Nerven, und anfangs hat sie viel Mühe aufwenden müssen, sich so munter und regsam zu geben, wie sie glaubte, daß man es von ihr erwartete. Denn das Recht auf diese Erwartung räumt sie jedem ein, in dessen Gesellschaft sie sich befindet. Nie hat sie jemand traurig gesehen, sie hängt ihre Schmerzen nicht ins Fenster. Sie muß viel liegen, viel schlafen, sie hat viel Schlaf nachzuholen, sie wäre manchmal restlos zufrieden, wenn ihr das Klima bekömmlicher wäre, sie ist an stärkere Luft gewöhnt, die hier ist ihr zu schlapp. Doch beglücken sie der Garten, die Rosenblüte, die Weite des Himmels; an klaren Tagen schimmern die Gipfelketten der Hochalpen traumhaft in der Bläue, sie sitzt mit einem Buch am See, die Stille wird nur durch das leise Plätschern des Wassers gestört, bisweilen hebt sie den Blick und schaut dem lautlosen Flug der Möwen zu oder späht über die leichtbewegte Fläche, die die Unendlichkeit des Meeres vortäuscht.

Alles Leben rückt nach innen zusammen, da sie es so lange nach außen vergeudet hat. Wirklich entspannt ist sie nur, wenn der Tag ohne praktische Forderungen vor ihr liegt, ein fast krankhafter Abscheu vor Geschäften und Nutzverrichtungen ist ihr geblieben, sogar wenn sie an ihre zärtlich geliebten Töchter schreiben soll, ist es eine Beschwer. Das Verlangen des Eremiten erfüllt sie, der die Welt vergessen und sein eigenes Inneres erforschen will, alles andere wehrt sie von sich ab, deshalb flößt ihr auch der glühende Eifer, mit dem sich Marie ihrer neuen Aufgabe widmet, etwas wie Angst ein, obgleich sie die Freundin dabei aufs innigste bewundert. Sie kann sich aber dem tätigen Anteil nicht ganz entziehen, sie darf nicht die müßige Zuschauerin spielen, sie schließt sich zwei- oder dreimal bei den Wanderungen an, besorgt den Einkauf von Proviant, liest den Kindern Märchen vor, und als ihr Marie eines Tages die alten Verse hersagt, die ihr in all den Jahren insgeheim als Leitspruch gedient haben: Ich bin in der finstern Welt / eine unentzundene Kerz / sei still, streitsüchtig Herz / ich weiß ja, wer mich hält –, da setzt Bettina die Strophen in Musik, und die einfache, kanonartige Melodie, die sie dazu findet, wird alsbald von den Waldläufern, so nennt sich die ganze Kindergruppe, mit Vorliebe gesungen. Doch obschon sie keineswegs mit Unlust bei der Sache ist und ihr Marie von Tag zu Tag teurer wird, fühlt sie sich erst wieder wohl, wenn sie allein sein kann oder bei einem Zwiegespräch mit Kerkhoven oder am Abend im Refektorium, denn die Stunden dort oben werden von Mal zu Mal bedeutungsvoller für sie; was sie dabei erfährt und erlebt, wird zum unvergeßlichen Eindruck, oft ist ihr die Kehle wie versperrt und ihr schwindelt förmlich, vor Glück, vor Qual, was weiß ich, wobei auch die Qual halbes Entzücken ist, die andere Hälfte ist Bedauern darüber, daß man selber so stumm ist, oder furchtsames Staunen, wenn die Dinge, mit denen man ein Leben lang schmerzlich gerungen hat, sehr verhalten und verborgen freilich, sehr im Schweigen begraben, so überraschend wahr und sichtbar ans Licht treten.

Sie ist unter den vier Menschen sowohl die leidenschaftlichste wie auch die gottessehnsüchtigste Natur. Hoher Anspruch an das Leben, der höchste an Liebe und Freundschaft; brennende Klarheit des Denkens, verbunden mit ungeduldiger Selbstungenügsamkeit; beständiges Suchen nach Aufschluß, Erkenntnis, Entfaltung, Belehrung, nach reinem Bild und reinem Ton, wie ihn die Musik ihr gibt; Ringen mit einem allzu schwachen Körper, dem Körper der Frau, der immer versagt, wo der letzte Einsatz ins Spiel zu werfen ist; Verzweiflung an einer Welt, die ihr keine Hoffnung auf einen Platz für ein Wesen ihresgleichen mehr läßt und die so verschieden von der Welt ihrer Jugend ist, wie eine zerfetzte Leinwand von einem heitern Gemälde; die Existenz an der Seite eines Mannes schließlich, der sie anbetet, ohne sie zu kennen, und so viel Raum zum Atmen braucht, daß sie froh sein muß, wenn sie sich in einen Winkel verkriechen kann: das alles hat jenen Hunger, von dem wir gesprochen haben, übermächtig werden lassen, so daß ihre Seele völlig verdorrt und abgemattet davon ist und ihr vor den Attrappen widert, mit denen sie sich allzulange genährt hat, vor den brüchigen Gefühlen, den folgenlosen Worten, den anfechtbaren Thesen. Es ist das Lebendige, wonach sie begehrt, was angeschaut werden kann und was ergreift. Und es muß ihrem Urteil standhalten. Und sie muß sich an ihm messen können.

Damit ist schon in den Grundzügen ihr Verhältnis zu Joseph Kerkhoven gegeben.

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Wenn ein Mensch fast ausschließlich im Bezirk der Kunst und der Geistigkeit gelebt hat, stellt sich eine Art Anämie bei ihm ein, Schwächung seiner elementaren Kräfte. Schönheit und Hingabe an das Schöne können wie ein Rauschgift wirken, wenn ein persönliches Privileg daraus abgeleitet wird, das Recht auf ein Dasein außerhalb einer Gemeinschaft, die unter ganz anderen Gesetzen steht, unerbittlichen, grausamen. Es ist, wie wenn jemand in einer Stadt, über die das Standrecht verhängt ist, einen bemalten Papierdrachen steigen läßt. Zu dieser bestürzenden Erkenntnis kam Bettina bereits nach flüchtigem Einblick in das Leben Kerkhovens, eigentlich schon bei der ersten Begegnung mit ihm. Als sie sich dann angelegentlich mit ihm beschäftigte und ihm mit wachsendem Staunen zuschaute, mit ihren scharfen Augen, denen nichts entging, keine innere und keine äußere Bewegung, da bildete sich in ihr eine vollkommen veränderte Vorstellung von menschlicher Haltung, und die Welt, von der sie bisher nur die Peripherie berührt hatte, war nicht mehr ein entfernt Gewußtes, sondern in die Nerven hineingeglühte Wirklichkeit. Der Mann im Mittelpunkt, so faßte sie ihre Gedanken über ihn zusammen. So entstand der Wunsch, der immer heftiger wurde, sich diesem Mittelpunkt zu nähern, als sei nur dort das Gleichgewicht zu finden, der Blick über alles Geschehen, alles Leiden, alle Gefahr. Das war es ja hauptsächlich, daß man sich so unerhört gefährdet vorkam, wehrlos in die Feuerlinie kommandiert. An seiner Seite aber war man bis zu einem gewissen Grad geschützt, denn er kannte den Schlachtplan und die Deckungen und hatte so viele entschlossene Streiter um sich, daß man allein durch ihre Masse geborgen war. Wie er es machte, daß er trotzdem jedem einzelnen Gehör schenken, mit Rat und Tat behilflich sein, dem ein Schlupfloch zuweisen, dem andern einen Weg aus der Bedrängnis zeigen, den dritten in Pflege nehmen, den vierten gleichsam mit Waffen versehen, den fünften gar auf dem Rücken aus dem Getümmel schleppen konnte, unausgesetzt, unermüdlich, unabgeschreckt, unverdüstert und alles, wie wenn's nichts wäre, nicht des Aufhebens wert, war nicht zu fassen; der Verstand blieb einem stehen.

Sie sagte: »Schonen Sie sich doch, Sie treiben Raubbau mit sich.« Er erwiderte: »Wenn ich anfange, mich zu schonen, ist kein Ende mehr mit der Schonungslosigkeit gegen andere. Was heißt überhaupt sich schonen? Ist man ein auf Zinsen angelegtes Kapital? Das sind Anschauungen von Anno Tobak. Von Opfer zu reden ist dumme Prahlerei, aber die Idee, daß man die paar Funken, die das Schicksal aus einem schlägt, in der Sparbüchse sammeln soll, ist lachhaft.« Dabei war in seinem Gesicht wieder einmal jener erloschene und gewaltsam beherrschte Ausdruck, der in Marie eine so ahnungsvolle Bangigkeit erregt hatte und auch Bettina erschreckte. Sich ihm ganz offen zu geben, wagte sie nur selten. Mußte ihm doch alles zu gering erscheinen, was sie beschwerte. Er war zu beansprucht, zu verstrickt im Unabsehbaren. Sie fürchtete seine Kritik, ein kleines abschätziges Zucken um den Mund, ein kleines mitleidiges Lächeln. In praktischen Angelegenheiten war er ein verläßlicher Berater. Da Alexander Herzogs Einnahmen infolge der politischen und wirtschaftlichen Umstände stark zusammengeschrumpft waren, vertraute sie ihm auch ihre finanziellen Sorgen an. Er wußte immer einen Ausweg. Als es am Monatsende mit der Zahlung verschiedener Schulden haperte, machte er einen Mann ausfindig, der Alexander eine größere Summe vorstreckte, zehntausend Franken. Doch sprach sie über ihre eigenen Mißlichkeiten äußerst ungern mit ihm. Wenn sie mutlos den Kopf hängen ließ, zankte er mit ihr. Oft gerieten sie einander in die Haare. Sie wurde fuchsteufelswild, wenn er sie spöttisch als Dame behandelte und ihre Anfälle von Verzagtheit als Kapricen einer verwöhnten »Lady« abtat. Aber er meinte es nicht ernst. Er liebte es, mit ihr zu streiten. Er freute sich an ihrem schlagfertigen Witz. Wenn er in einem Wortgeplänkel den kürzeren gezogen hatte, machte er sich über seine Niederlage lustig und drohte etwa: »Warten Sie, ich werde mich mit Alexander verbünden, zu zweit sind wir der Pallas Athene vielleicht doch gewachsen.« – Und sie antwortete lachend: »Vorsicht! Die hat ihren Namen davon, daß sie einem Giganten die Haut abzog. Merken Sie sich's.«

Was sie zu Alexander gesagt: »Du hast mir das Bild der Welt gegeben, er gibt mir das Begreifen«, war im umfassendsten Sinn wahr, nicht bloß die leichtfertige Äußerung einer Bildungssüchtigen. Oberflächlich war sie in keinem Bezug und bei keinem Tun. Entweder verzichtete sie, oder sie engagierte sich mit ihrer ganzen Person. Um so weniger konnte sie sich hier mit dem Ungefähr begnügen, als es um das Sein an sich ging, um die einzige Möglichkeit, sich im Sturm der Seelen und der Geister zu behaupten. Sie erkannte ihre schwachen Kräfte, den Mangel an Hilfsmitteln, ihre laienhafte Unwissenheit, die Fremdartigkeit eines Gebietes, auf dem jeder Quadratzoll Boden für sie das Entlegene schlechthin war, doch sie wollte lernen, wollte unbedingt lernen, nur, um zu erfahren, was es mit dem Mann auf sich hatte, der ihr seine so leidenschaftliche Hochachtung einflößte, daß sie sich schon in diesem Gefühl behütet schien wie im Innern eines Berges. Es kann mir nichts geschehen, sagte sie sich immer wieder, ein österreichisches Wort, das, vom Theater her, sie durch ihre Jugend begleitet hatte; unter seinem Schutz kann mir nichts geschehen. Er sprach mit ihr über seine Wissenschaft, über seine Patienten; er las ihr Teile seines Werkes über den menschlichen Wahn vor; das alles bedeutete Ungeheures für sie und verlieh ihrem Leben eine neue Tiefe. Aber es führte noch nicht zu der Umwälzung, die erst eintrat, als sie sich überzeugt hatte, daß seine Forschungen, seine theoretischen Arbeiten, seine ärztliche Tätigkeit, sein Helferdienst, dieses alle Grenzen überströmende Wirken für Freunde und Fremde, wobei Unglück gleichsinnig war mit Krankheit, und Verbrechen und Laster mit Unglück: daß dies alles nur Vorstufe war zu dem Aufstieg in eine weit darüber liegende Region, mit klareren Worten, daß dieser Gelehrte und Mann der praktischen Disziplinen bewußt und vorsätzlich den Weg ins Ewige suchte, die göttliche Bindung ... Das war das Erlebnis, das Wunder. Damit statuierte er ein Exempel.

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Es waren zum Teil recht schwierige Gedankengänge, die er ihr entwickelte, und es dauerte ziemlich lange, bis er sich dazu entschloß, wie wenn er erst ihre Aufnahmefähigkeit, die Kapazität ihres Gehirns hätte prüfen wollen. Alles Werdende ist in seinen Uranfängen einfach, führte er aus. In der Keimzelle herrscht zunächst der formbildende Instinkt, der nach einem festen Bauprogramm arbeitet. Was er schematisch erzeugt, das Gerüst gleichsam, birgt weitere Gliederungen in sich, die sich immer verfeinerter differenzieren. Es treten nacheinander auf den Plan die morphologischen Kräfte für die dringliche Selbsterhaltung, hernach die Organe für die Erhaltung der Art. Dann folgen, wie bei einer Präzisionsmaschine, die Träger der Welt der Bewegung und Empfindung, der Orientierung und der Kausalität. In den weiteren genetischen Vorgängen sind die schöpferischen biologischen Kräfte zu suchen für die seelischen Entfaltungsmöglichkeiten der Kreatur. Die Ouvertüre des vitalen Dramas setzt schon früh ein, freilich nur mit wenigen Instrumenten und in piano, sozusagen mit kleinem Orchester.

Die untersten Wurzeln der Religion liegen nicht, wie Wissenschaft und Seelenforschung immer annehmen, im Gefühlsbereich; nicht in den Gedanken an die Unsicherheit des Schicksals, in der Furcht vor dem Untergang, im Bestreben nach Sicherung, in der Sucht nach Macht und Erfolg, sondern viel tiefer, in weit zurückreichenden Entwicklungszuständen, wo von Bewußtsein noch nicht die Rede sein kann, dort, wo die für das Lebensprogramm tätigen Urkräfte das seelische Wachstum des Menschen bestimmend vorbereiten.

Nicht nur ist also das Protoplasma, das einzellige und durch Abschnürung sich vermehrende Lebewesen, unsterblich, sondern es ist auch in der Gesamtreihe auf die Ewigkeit eingestellt. Ewigkeit ist aber die absolute Zeitlichkeit, die alle denkbaren zeitlichen Schichten und Strukturen in sich schließt. Der Anspruch auf vitale Behauptung wird nicht so sehr vom Einzel-Ich repräsentiert, er liegt vielmehr in der Fortsetzung des Ichs gegen die ihm innewohnende Unendlichkeit. Dieses unbekannte Treibende in uns, die individuelle Horme und ihre ausgeprägteste Form, das biologische Gewissen, leiten mit sicherer Hand unsere Lebensaufgaben und Geschicke, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, das heißt nicht derart, daß uns das Wesen ihrer Energien verständlich wird; im Gegenteil, die unmittelbaren Begierden und Forderungen des Ichs blenden uns gewöhnlich so, daß wir unsere wahren Zukunftsinteressen überhaupt nicht ins Auge fassen können (eine Geistesverfassung, die in dem Buch über den Wahn als »reziproke Anastole« bezeichnet war). Jedoch arbeitet jenes Treibende schlummernd und verborgen und kommt im entscheidenden Augenblick an die Oberfläche, nämlich sobald unsere höheren seelischen Güter angetastet oder in Frage gestellt werden.

Was man gemeinhin psychisches Gefühl nennt, beruht auf dem Begriff des Lebens, es ist in jedem organisierten Protoplasma mit eingeschlossen und verrichtet eine Spiegelfunktion. Mit ihm beginnt die Persönlichkeit, es ist gewissermaßen eine stete Momentaufnahme der vitalen Bilanz, es löst im Zentralnervensystem blitzartig das Bewußtsein von Vergangenheit und Zukunft aus und spielt endlich in unseren Beziehungen zum Gesamtkosmos die bestimmende Rolle als religiöser Instinkt.

Aber von der Welt der Gefühle zur religiösen Welt ist ein gewaltiger Sprung, wenn auch die Religion durchaus der Welt der Gefühle und Instinkte angehört und nicht der Welt der Empfindung und Bewegung. Dieser ist allerdings aufgegeben, aus den archaischen Gefühlen ein hohes seelisches Gebilde zu formen, indem sie auf der Basis unzähliger sich wiederholender Konflikte Klärung und Reinigung in unsere Handlungsnormen bringt und somit zur Krone der gesamten psychischen Entwicklung wird.

Der Forscher oder Wissenschaftler, der vor dem Problem der Religion haltmacht, verdient diesen Namen nicht mehr. Doch darf er nicht außer acht lassen, daß auf religiösem Gebiet die gebräuchlichen Worte rohe Behelfe sind, mit denen er nicht weiterkommt. Er muß neue Begriffe bilden, sich neuer Anschauungsformen bedienen, muß seherische Gaben besitzen und mit vorurteilslosem Geist in die Tiefe gehen. Das religiöse Gefühl gibt in letzter Linie den harmonischen Zusammenhang aller veredelnden seelischen Faktoren unseres Daseins wieder. Religion unterscheidet sich von Wissenschaft durch die beherrschende Rolle des Persönlichen, durch das Element des Glaubens. Der Glaube stellt die mächtigste Urform des inneren Geschehens dar. Die exakteste Forschung ist nicht lückenlos. Keine logische Schärfe rettet wissenschaftliche Annahmen vor dem Zusammenbruch, wenn dabei die Seelenkräfte vernachlässigt wurden, die bei noch genauerer Untersuchung und vor einem noch unbestechlicheren Auge plötzlich eine vorher nicht geahnte Bedeutung erlangen.

Unmöglich zu verkennen, daß die Geschichte der Nationen und der Völker, ja, der ganzen Menschheit von einer Welthorme gelenkt und geordnet wird, die selbst wieder gewaltigen Erschütterungen und Schwankungen unterworfen ist. (Er zitierte das Wort von Quinet: L'histoire n'est au fond qu'un itinéraire des peuples vers Dieu.) Ein unnennbares Wesen jedenfalls, gleichviel welchen Namen man ihm verleiht. Ein das Universum umfassendes und durchdringendes, geheimnisvolles, alle Lebensvorgänge potenzierendes Gut. Der Gedanke nun, daß ein solches, der Anschauung unzugängliches, der Seele gleichwohl innewohnendes höchstes Wesen ebenso erschütterbar und wandelbar sein könne wie das niederste der Geschöpfe, daß es sich selber im Wandel neu erschaffe, sterblich-unsterblich, dieser Gedanke war es, der den Arzt und Denker Kerkhoven unmittelbar zum Glauben führte, denn die Vorstellung eines schicksalsbeteiligten, schicksalsergriffenen Gottes war eine menschliche Erreichbarkeit, der Sinneserfahrung noch nah. Nur so konnte das ungeheure Leiden der Welt ertragen werden. Was sich als unausdenklich dem Vernunftschluß entzog, wurde Bild, ungefähr, wie wenn sich ein Sternennebel durch einen kosmischen Krampf zu einem erhabenen kraftspendenden Kristall verdichtet. Es war trotzdem ein Irrweg. An seiner letzten Station deckte er das Grundgesetz allen Wahns auf. Es war der Surrogat-Glaube, in den er geflüchtet war, der Wahn, wenn auch in seiner äußersten, verdünntesten Schicht, Wahn an der Grenzscheide des Glaubens, im Endlichen und Zeitlichen noch. Wahn ist erdverhaftet und anthropomorph; Glaube hat die Gestalt geopfert: Der Sieg der Horme über das Protoplasma ...

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Sie befanden sich im Mittelzimmer des Pavillons, das als Wohn- und Schreibzimmer diente. Auf dem runden Tisch zwischen ihnen stand noch das Teegeschirr. Sie hatten vor zwei Stunden Tee getrunken. Kerkhoven hatte seitdem seine Haltung kaum verändert. Er saß in der Sofaecke, den Kopf auf den Arm gestützt, in der rechten Hand hielt er eine Nuß, die er angelegentlich betrachtete. Trotz der Septemberkühle war das eine Fenster offen; durch das gilbende Laub einer Kastanie loderte der Feuerball der untergehenden Sonne.

»Ohne Gestalt kann man nicht Christ sein«, sagte Bettina leise. – »Muß man Christ sein?« versetzte Kerkhoven achselzuckend. – »Ich sehe keine andere Erfüllung«, erwiderte Bettina, »wenigstens was das Opfer und was die Gnade betrifft.« – »Das ist vielleicht wahr«, sagte Kerkhoven, »aber auf dem Weg von der Menschwerdung zur Gottwerdung gibt es keine Nachfolge. Schon die Menschwerdung ist ein Prozeß, der in zweitausend Jahren nicht einmal begonnen, geschweige denn vollendet werden konnte.« – »Handelt es sich denn um die Nachfolge?« – »Ausdrücklich handelt es sich darum.« – »Nicht eher um die Liebe und die Barmherzigkeit?« – »Die sind in der Nachfolge drin, sie können aber nicht verwirklicht werden. Der Weg ist zu weit.« – »Ist der Ihrige kürzer?« – »Religiöser Glaube ist eine Angelegenheit von wenigen Auserwählten. « – »Dann auch der christliche.« – »Ja, aber die zwei Jahrtausende haben ihn ausgekältet.« – »Kann man ihn nicht wieder zum Glühen bringen?« – »Nicht genug, um das Material zu verarbeiten. Es hat sich zuviel neues Material angesammelt. Seit Generationen.« – »In jedem Auserwählten glüht Jesus Christus. Auch in Ihnen«, sagte Bettina. Darauf schwieg Kerkhoven, und Bettina fand keinen Grund, das Schweigen zu brechen. Aus der Mansarde oben schallte bisweilen das silberne Gelächter des kleinen Helmut, der mit Robert und Johann »Dampfschiff« spielte.

Da betrat Alexander Herzog das Zimmer nebenan. Er wußte, daß Kerkhoven bei Bettina war, diese hatte es ihm gesagt. Aus der Art ihrer Mitteilung hatte er entnommen, daß sie mit dem Freund allein sein wollte. Deshalb war er weggegangen und hatte Marie zu einer Bootfahrt abgeholt. Es war nun dreiviertel sechs; er dachte, er dürfe sich wieder zeigen. Er trug Gummisohlen an den Schuhen, seine Schritte waren lautlos. Um auf keinen Fall zu stören, hatte er beim Eintreten die Tür unhörbar auf- und zugemacht. Doch um ganz genau zu sein, war es so: Einerseits wollte er wirklich nicht »stören«, andrerseits hätte er in seiner durch nichts zu stillenden Eifersuchtsverranntheit gern etwas von der Unterhaltung erlauscht, die zwischen den beiden im Gange war. Ein paar Worte nur; die Tonlage; die Stimmfarbe; das konnte manches verraten. Jedoch sie schwiegen. Er stand da, die Tür war nur angelehnt (immerhin entlastend, schoß es ihm verrückterweise durch den Kopf), und kein Laut unterbrach das rätselhafte Schweigen außer jene kaum merklichen kleinen Geräusche, die die Anwesenheit von Menschen anzeigen, ein tiefer Atemzug etwa, das Rascheln eines Kleides, das Scharren eines Fußes. Hätte er den Anlaß dieses Schweigens geahnt, seine Beschämung wäre so groß gewesen wie jetzt seine unnatürliche und unschickliche Pein; so aber sagte er sich, nur eine intime und schon bewährte Vertrautheit zwischen einem Mann und einer Frau könne ein Schweigen wie das hervorbringen, dessen Zeuge er war und das ihm in die Ohren donnerte, als stürze sein Leben zusammen. Bei einer unwillkürlichen Bewegung oder doch einer, die er nicht beherrschen konnte und die er ausführte, weil er sonst kein Mittel sah, der quälenden Situation ein Ende zu machen, stieß er an einen Stuhl; da rief Bettina, die schon minutenlang das Gefühl seiner Gegenwart hatte, seinen Namen. In ihrer Stimme war keine Befangenheit oder Überraschung; das beruhigte ihn einigermaßen, aber als er auf die Schwelle trat, sah er aus wie eine Leiche, und wie gewöhnlich war alles, was in ihm vorging, in seinen Augen zu lesen. Auch Bettina verfärbte sich. Zorn, Scham, Bitterkeit kämpften in ihren Mienen. Als er ihrem Blick begegnete, lächelte er hilflos und beugte den Nacken. Kerkhoven hatte sich langsam erhoben. Er schaute Bettina an, schaute Alexander an; ein schnelles Zusammenziehen der Brauen: Er wußte. Er verbarg sein tiefes Erstaunen, ging zum Fenster und schloß es mechanisch. Während er stumm in den Garten sah, verließ Bettina das Zimmer und ging zu den spielenden Buben hinauf.

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»Finden Sie nicht, daß es ein wenig unter der Würde ist«, begann Kerkhoven, ohne sich umzudrehen, »kann es da Erklärungen geben?« – Alexander, noch immer an den Pfosten der Tür gelehnt, durch die er eingetreten war, schwieg. – »Es ist schmerzlich, daß ein Mann wie Sie zu keiner Sicherheit gelangt, in keiner Beziehung.« – »Wissen Sie kein Medikament dagegen?« kam es mit trübem Spott zurück. – Kerkhoven erwiderte: »Irgendwo habe ich einmal das tiefsinnige Wort gelesen: Der Kranke ist ein Arzt, der sich durch die eigenen Gifte heilt.« – »Ich bin kein solcher Kranker, mich bringen die Gifte um.« – »Wenn Sie an Bettina zweifeln, hat die jahrzehntelange Ganna-Krankheit nichts in Ihnen bewirkt. Ich habe Sie in der Rekonvaleszenz geglaubt.« – »Zweifle ich denn an Bettina? An mir doch, an mir! Und suche Anhaltspunkte, Bestätigungen ...« – »Das ist es nicht. Sie benehmen sich Ihrem Schicksal gegenüber wie ein agent provocateur.« – »Daran ist was Wahres«, gab Alexander betroffen zu. – »Oder wie ein Roulettespieler. Ich fürchte, Sie sind eine Spielernatur. Ein Mensch, der sich betäubt, indem er verzweifelt hasardiert. Dabei sind Sie so reich, daß es vollkommen wahnsinnig ist, zu spielen.« – »Ich bin zu tief in Bettinas Schuld«, sagte Alexander kaum vernehmlich.

Jetzt endlich drehte sich Kerkhoven um. »Heillos«, murmelte er, »heillos. Schuld, Schuld, Schuld. Wenn zwei Menschen in echter Gemeinschaft leben, gibt es keine Schuldenrechnung und keinen Schuldendienst. Jeder übernimmt die Lasten des andern zu treuen Händen.« – »Trotzdem; ich habe versagt.« – »Haben Sie bei Ihrer Geburt eine Urkunde unterschrieben mit der Verpflichtung, niemals zu versagen? Das Gefüge von Kraft und Schwäche in uns hat einen magnetischen Pol, der ist das Anziehungszentrum der Liebe.« – »Mag sein, aber der Körper ist ein störrisches Vieh.« – »Was ... wollen Sie damit sagen?« – »Ganz einfach; daß ich über den Widerspruch nicht hinauskomme, der zwischen der Anzahl meiner Jahre und einem Trugbild von Junggeblieben-Sein klafft.« – »Warum Trugbild? Sie sind ja jung geblieben. Unbegreiflich jung. Warum Trugbild?« – »Dem Manne werden unumstößliche Beweise geliefert, Joseph Kerkhoven ...« – Kerkhoven ging auf ihn zu und sah ihm fest in die Augen. »Es ist die Ungeduld in Ihnen, die blasphemische Ungeduld«, sagte er leise, »Sie greifen den Entscheidungen vor und nehmen zu hohe Anleihen auf.« – »Ich kann mich nicht an die veränderten Gezeiten gewöhnen, das ist wahr. Es macht mich rasend zu denken, Bettina könnte rufen, und ich bin taub. Dann stell' ich mir vor, daß sie ... daß sie Kompensationen sucht.« – Kerkhoven legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Bei mir«, fragte er mit einer seltsam tragisch klingenden Eindringlichkeit, »bei mir?« – Alexander konnte seinem Blick nicht standhalten. Seine Augen wichen zur Seite. Es war inzwischen dunkel geworden. Nur weil sie einander so nah waren, unterschied einer des andern Züge noch. »Können Sie verschwiegen sein«, fragte Kerkhoven, »unbedingt verschwiegen?« – »Ich glaube.« – »Ihre Hand!« – Alexander reichte ihm die Hand. – »Einem Freund darf man ein solches Geständnis machen«, fuhr Kerkhoven mit vorsichtig gedämpfter Stimme fort, »zumal, wenn er eine so ... so unfreundschaftliche Torheit begeht ...« Er setzte sich auf die Sofalehne und sprach in die Dunkelheit hinein: »Ich habe nämlich ... warten Sie ... zwölf, vierzehn, vielleicht sind es fünfzehn ... ich habe noch fünfzehn Monate zu leben. Höchstens.« Alexander packte ihn am Arm. Flüsternd fragte er: »Wieso denn? Was ist denn?« – »Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich habe mich um die Feststellung gewissenhaft bemüht. Es handelt sich um eine Endokarditis lenta, eine allmähliche Blutzersetzung.« – »Und das ist sicher? Sie täuschen sich nicht?« – »Ich täusche mich bestimmt nicht.« – »Es gibt keine Heilung?« – »Keine.« – »Seit wann ...?« – »Seit etwa sechs Wochen weiß ich Bescheid.« – »Es kann nicht sein, Joseph, es ist unmöglich«, sagte Alexander, die Hände ineinanderpressend, und da Kerkhoven nur mit einem leisen überlegenen Brummen antwortete: »Wie haben Sie es entdeckt?« – Kerkhoven lachte vor sich hin. »Verlangen Sie wirklich eine Anamnese? Wozu?« – »Und die Ursache?« – »Ein Streptokokkus. Ich habe ihn mir auf Platten gezüchtet. Kann sie Ihnen gelegentlich zeigen. Eine interessante grünliche Kolonie.« Er ging auf und ab. – »Seltene Krankheit übrigens. Eine königliche Krankheit. Man weiß fast nichts darüber.« – »Und Marie? Hat sie ...?« – »Um Himmels willen! Keine Ahnung. Das wäre! Niemand darf ahnen ... Es war Vorsatz von Anfang an ... Ich muß mit diesen fünfviertel Jahren umgehen wie mit einem kostbaren Schatz ... Verrat' ich mich, ist es eine Art Selbstmord. Die Zeit, die mir bleibt, muß Zug für Zug geatmet werden. Was das heißt? Kann ich Ihnen schwer erklären. Hinübergeatmet in eine andere Dimension. In die ... in die vierte Existenz vielleicht. Nein, fragen Sie mich nicht; es ist besser, Sie fragen mich nicht. Möglich, daß es ein Fehler war, Ihnen reinen Wein über mich einzuschenken ... Verzeihen Sie die triviale Redensart, aber jetzt wissen Sie wenigstens, daß Sie über Ihre Befürchtungen lächeln dürfen. Und das ist das einzige, was ich von Ihnen erreichen wollte.«

Damit ging er.

Langsam schritt er auf das Hauptgebäude zu. Dort wartete die Schwester Wys-Wiggers, um ihm Bericht über das Befinden einer neuen Patientin zu erstatten, einer Schauspielerin aus Mannheim, die mit einer schweren Kokainvergiftung in Begleitung einer Freundin gestern im Auto angekommen war und am selben Abend einen Tobsuchtsanfall gehabt hatte. »Wir werden sie kaum durchbringen«, sagte er und schrieb einige Notizen auf ein Blatt Papier, das er der Schwester reichte. – »Sie sieht immerfort Ratten im Zimmer«, sagte Schwester Else. Er nickte. »Jaja, die gewissen Ratten«, seufzte er, »die ganze Welt wimmelt von ihnen. Sie sehen Ratten, sie sehen nichts als Ratten, die armen Menschen ...«

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Alexander schützte Kopfweh vor und ging früh zu Bett. Er lag und lag und lag und starrte gegen die Zimmerdecke. Er konnte nicht lesen. Er konnte nicht denken. Er konnte nicht schlafen. Der Gang der Stunden glich dem Traben eines hufeisenlosen Pferdes über sumpfigen Grund. Er lag und versank in ein Fluten von Bildern. Er sah Kerkhoven in einem steinernen Sarkophag, mit gekreuzten Händen wie ein mittelalterlicher Ritter, aber die Augen waren weit geöffnet und strahlten eine unendliche wissende Freundlichkeit aus. Er sah ihn auf einer finstern Straße, eine Laterne in der Hand; die Straße war bedeckt von Verwundeten und Kranken, bei jedem blieb er stehen, und jedes Gesicht, in das der Schein der Laterne fiel, belebte sich sofort, und wenn er weiterging, standen die Leute auf und folgten ihm, ein langer Zug. Oder dies, näher bei der Wirklichkeit, mehr Erinnerungsbild als Vision: Da war ein etwa vierzigjähriger Mann, der keine bestimmte Krankheit hatte, er litt an fortgesetztem Erbrechen, er erbrach und erbrach, als wolle er die Seele aus dem Leib speien; Kerkhoven hielt ihn fest in den Armen und sprach hilfreiche Worte zu ihm, und als der Mann endlich aufhörte zu erbrechen, deckte er ihn mit seinem eigenen Mantel zu und sagte zu den Umstehenden: »Es ist der Ekel. Er stirbt vor Ekel. Es ist der Tod von neunzehnhunderteinunddreißig.« Ähnliches hatte sich vor kurzem ereignet, Kerkhoven hatte es selbst erzählt. Plötzlich empfand Alexander eine Unruhe, die beständig zunahm. Es war, als riefe ihn Kerkhoven. Und zwar nicht, weil Kerkhoven seiner bedurfte, sondern weil er, Alexander, Kerkhovens bedurfte und dieser auf eine verborgene Weise davon Kunde erhalten hatte.

Er stand auf, machte Licht und zog sich an. Seine Uhr zeigte sieben Minuten nach eins. Auf Strümpfen schlich er ins Vorzimmer und zur Tür, die in Bettinas Schlafgemach führte. Er öffnete behutsam und hörte ihre gleichmäßigen Atemzüge. Sie pflegte bei offenem Fenster zu schlafen; der Raum war vom Mondlicht hell. Er trat an das Bett. Sie schlief friedlich wie ein Kind. Der Kopf ruhte auf dem rechten Unterarm. Er betrachtete das Gesicht zärtlich und wunschlos. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück, schlüpfte in die Schuhe, trat in den Flur, ging vorsichtig die Treppe hinunter und verließ das Haus. Der Mond war in einen dünnen Wolkenschleier gehüllt wie in Fließpapier. In der Ferne schrie ein Käuzchen.

Das Tor des Hauptgebäudes war verschlossen. Mit diesem Umstand hatte er bei seinem triebhaften Vorhaben nicht gerechnet. Er hätte läuten und den Pförtner aufwecken können. Er zögerte, es zu tun. Es war zuviel Alarm. Womit sollte er es begründen? Wußte er denn, ob Kerkhoven noch wach war? Allerdings war er beinahe überzeugt davon, er hatte ja den Ruf gehört. Alle Fenster waren dunkel bis auf zwei im Erdgeschoß. Es war das Zimmer von Aleid Bergmann. Es hatte eine Glastür gegen den Garten; er stieg über das eiserne Geländer, das eine wenig erhöhte Terrasse umschloß, und pochte an die Scheibe. Nach einer Weile wurde der Stoffvorhang zurückgeschoben, und Aleids erstaunt-fragendes Gesicht spähte durch das Glas. Als sie ihn erkannte, öffnete sie die Tür zu einem Spalt und rundete, noch erstaunter, die Brauen. »Seien Sie mir nicht böse«, sagte er, »ich möchte zu Ihrem Vater hinauf und wollte niemand wecken. Können Sie mich nicht durch Ihr Zimmer lassen?« – »Ist was passiert?« fragte sie zurück, und da er den Kopf schüttelte, starrte sie ihn verdutzt an, machte aber die Tür auf. Sie war in einem weiß- und rotgewürfelten Pyjama, das kupfrig leuchtende Haar stand steil in die Höhe, Alexander mußte an den Pierrot von Cézanne denken. »Sprechstunde zu nachtschlafender Zeit?« spottete sie und kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht, ob Sie Glück haben werden, manchmal schläft sogar Joseph Kerkhoven ...« – »Nicht heute«, erwiderte er und war schon an der Tür zum Korridor, »ich schaue jedenfalls nach, kümmern Sie sich nicht weiter um mich, heraus komm, ich auf dem normalen Weg.« Sie hielt die Türklinke, während er schon draußen stand, und plötzlich streckte sie ihm die Hand hin, die er überrascht nahm und drückte.

Er tastete sich zur Stiege, dort hatte er keine Mühe mehr; durch die schmalen Treppenhausfenster fiel das Mondlicht. Dennoch ging er die Stufen hinauf wie mit Blei an den Füßen, und als er vor dem Refektorium stand, zauderte er und überlegte. Es war eine schwere Eichentür; wie ihm erinnerlich war, öffnete sie sich völlig lautlos. Er wollte sich erst vergewissern, ob drinnen Licht war; wenn nicht, wollte er wieder umkehren; sich durch Anklopfen bemerkbar zu machen, hinderte ihn eine unbestimmte Scheu, als müsse er sich bis zum letzten Moment die Möglichkeit der Flucht sichern. Dann auf einmal stand er drinnen und übersah den kirchenartig mächtigen Raum, durch das dämmrige Halbdunkel hindurch, das nach oben in die Schwärze des Gebälks strömte, bis zu dem Schreibtisch auf der andern Seite, der gleichsam meilenweit entfernt schien und an dem Kerkhoven saß und schrieb. Der herabgebeugte Kopf und die Schultern waren von der elektrischen Lampe beleuchtet; auch die schreibende Hand bewegte sich in diesem starken Licht und sah aus wie ein merkwürdiges Kriechtier, sehr weiß, sehr vorsichtig hingleitend über die glatte, weiße Fläche. Alexander regte sich nicht. Das Bild erschütterte ihn. Der Mann mitsamt dem gelben Lichtkegel begraben in der tiefen Nacht, das Schweigen und die Einsamkeit um ihn: Es war, als erblickte Alexander Herzog sich selbst in den edelsten, besten, hingegebensten Stunden seines Lebens. Daraus schöpfte er Mut, die Brust weitete sich ihm, der Einlaß in die »Zauberpforte« dünkte ihn nicht mehr so unmöglich wie noch vor wenigen Augenblicken, am liebsten hätte er sich jetzt still fortgeschlichen; aber Kerkhoven schaute jäh empor in die Richtung der Tür, es war wie ein Hören nach dem Hören, in seinen Zügen malte sich verträumte Verwunderung. Und als er sah, daß es Alexander war, durchmaß er mit seinem charakteristisch lebhaften, plump-leichten Schritt die Breite des Raums; und mit einem »Sie sind es? Welche Freude!« ergriff er Alexanders Hand und führte den späten Besucher mit der ihm eigenen Courtoisie zum Kamin, in welchem noch die Buchenscheite glommen. »Nehmen Sie Platz«, sagte er in einem Ton, als sei es fünf Uhr nachmittags, »machen Sie sich's bequem. Eine prächtige Idee, noch zu mir zu kommen!«

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Alexander zündete eine Zigarette an und schwieg lange. Das erste Wort war schwer zu finden. Endlich begann er von der Unruhe zu sprechen, die ihn heraufgetrieben. Er wisse wohl, daß er damit, wie alle andern auch, zum Räuber an Kerkhovens Zeit werde, aber die Not rechtfertige sein Unterfangen, die aktuellste Not. Was ihm Kerkhoven mitgeteilt, habe ihn aufgewühlt, es sei ihm zumute gewesen, als trage er die Verantwortung für diesen zu gewärtigenden Tod, und seine Phantasie und sein Geist weigerten sich die Vorstellung aufzunehmen. Es sei wider die Natur, wider die Vernunft, wider die Ordnung. Vielleicht glaube Kerkhoven, er sei gekommen, um Pater peccavi zu sagen, jedoch das sei nicht der Fall, wenn er auch andrerseits mit seinem vollen Sündenbewußtsein hier erschienen sei. Nein, Kerkhoven solle ihm nicht widersprechen, nicht die alten Vorhaltungen von eingebildeter Gewissenslast und selbstbesessener Büßerwollust auffrischen, das sei ihm sattsam bewußt, es gehe diesmal um mehr, es gehe um den Alexander Herzog in Bausch und Bogen ...

Er hielt inne, um eine neue Zigarette anzuzünden, während Kerkhoven ein paar Holzstücke in den Kamin legte. Dann fuhr er fort. Er müsse Kerkhoven ein Geständnis machen. Die Todeskunde habe ihn zwar gewaltig erschreckt, aber nur äußerlich, auf der Haut sozusagen, innerlich habe sie ihn kaltgelassen. Nein, das sei nicht der richtige Ausdruck, er habe sie wie eine lästige Störung empfunden, einen Eingriff in seine ... wie solle er es nennen ... in seine Stabilität. Und das sei von jeher so gewesen. Als vor Jahren sein bester, sein einziger Freund an einer unheilbaren Krankheit hingesiecht, habe er jedesmal, wenn er ihn besuchte, mit einem verstockten Widerwillen kämpfen müssen, und bei der Nachricht vom Tode des wirklich geliebten Menschen habe sich gleich hinter dem Schmerz ein unverständlicher Haß erhoben, wie wenn es eine Bosheit von ihm gewesen wäre zu sterben und das Schicksal seine Kompetenzen überschritten hätte, indem es sich an Alexander Herzogs Besitz- und Gewohnheitsrechten vergriff. Unmenschlich, nicht wahr? »Was ist das? Was bedeutet das? Was steckt dahinter?« fragte er mit einer düstern Flamme in den Augen. Doch Kerkhoven antwortete nicht.

Offenkundig der Unglaube an den Tod, sprach er weiter. Und Unglaube an den Tod sei identisch mit der Unfähigkeit zu leben. Das Seltsame liege darin, daß er sich im Grunde nur wenig für sich selbst interessiere, und dieser auffallende Widerspruch in seinem Charakter, mangelndes Selbstinteresse bei unauflöslicher Selbstverstricktheit, erzeuge ständig eine gefühllose und vom Denken gemiedene Kälteschutzzone. Er habe kürzlich mit Marie darüber gesprochen; sie habe gemeint, man müsse das naturbedingte Finstere in sich austilgen, aus sich heraus beschwören, durch Versenkung, durch Verinnigung, darin bestehe die eigentliche Menschenaufgabe, ohne die es keine Bindung ans Obere gebe, vielleicht nicht einmal eine Selbstwahrnehmung. Aber das sei alles leicht gesagt. Wie man es machen solle, habe sie ihm nicht mitteilen können. Auf einmal sei dann die Erkenntnis über ihn gekommen, so wie alle Erkenntnis über ihn komme, blitzartig, wie ein Ausbruch, und zwar erst heute, vor ein paar Stunden erst ...

Er schwieg wieder und dachte angestrengt nach. Im Sessel zurückgelehnt, hatte er beide Hände mit verflochtenen Fingern um den Nacken gespannt. Kerkhoven rückte mit dem Schürhaken die Scheite zurecht, so daß die Flamme hoch aufprasselte.

»Meinem Leben hat etwas Entscheidendes gefehlt«, sprach er weiter; »eine Wurzelverflechtung. Eine bewußte Folge. Alles war dem Zufall des Tages überlassen, dem Ereignis. Alles Geschehen hat mich geblendet, hat das Sein überblendet. Kein Erhobenes, immer nur Eindruck, was genau das Gegenteil ist. Da ist man gewissermaßen gezeichnet. Von Eindrücken wird man gezeichnet wie ein Blatt Papier vom Griffel. Es ist ein sittlicher Defekt. Ich war nie Griffel. Ich habe mich zeichnen lassen. Alles das ist so zweideutig, aber Sie werden mich ja verstehen. Deswegen hatte ich mich nie in der Hand. Jeder Wind konnte mich wegwehen. Genaugenommen habe ich nur vegetiert. Ein Instinktkloß. Eine Laterna magica, die Bild um Bild an die Wand warf. Und zwischen den Bildern war eine Art stimmungsvolle Nacht. Im Glücksfall; im andern eine friedlose, freudlose. Ja, ich bin ein Nachtmensch gewesen. Und ich habe meine Nacht mit Worten illuminiert wie mit hunderttausend kleinen Lampions. Das allein hat mich gereizt und befriedigt, die Lampions aufzuhängen und Beleuchtungseffekte zu veranstalten. Nein, ich bin nicht zu hart gegen mich. Ich weiß schon, daß es kein bloßes Feuerwerk war, eine richtige Lichtquelle war es auch. Aber sehen Sie, in mich selbst ist kein Licht eingedrungen, derart nicht, daß ich das Leben vergessen und an den Tod nicht geglaubt habe. Das ist das Rätselhafte dabei. Und noch etwas. Die Geschöpfe, die ich im Bild geschaffen habe, sind alle einen Weg nach aufwärts gegangen und haben das Böse überwunden; ich selbst bin unten geblieben und konnte das Böse nicht überwinden. Ich habe nicht die Konsequenzen gezogen. Aus Trägheit? Aus Angst? Ich weiß es nicht. Und so habe ich mir wohl nur eingebildet, zu glauben. Es war eine übertragene Angelegenheit. Wenn das Herz verbraucht ist, übernimmt der Kopf seine Geschäfte. Sich mit dem Intellekt zum Ewigen wenden, das heißt auf dem hohen Seil tanzen. Da gleicht man dem Seiltänzer, der herunterstürzt, sobald er an die fünf Taler denkt, die ihm sein Kunststück einträgt. Mein ganzes Leben lang haben sich die Engel und die Teufel um meine Seele gestritten, aber die Teufel haben immer die Oberhand behalten, es ist ihnen jedesmal gelungen, mich einzufädeln, vielleicht haben sie auch meine Phantasie stärker beschäftigt, weil sie mehr Augenscheinlichkeit haben, und so ist gleichsam der weiße Glaube in mir ein schwarzer Glaube geworden. Jetzt wissen Sie auch, was Ganna in meinem Leben bedeutet hat. Sie war die dämonische Wirklichkeit ganz einfach. Sie war's, sie ist es nicht mehr. Ihr Werk, Joseph. Sie haben es tatsächlich erreicht, sie zu verwinzigen und zu vernichtigen. Aber damit ist ein Hohlraum entstanden. Ein Vakuum; ein Gefühl, als seien einem die Eingeweide herausgenommen ...«

Er legte die Hand über die Augen und sagte: »Wie ist es denn mit Gott? Wer ist Gott? Gibt es ihn?« Plötzlich beugte er sich vor, packte Kerkhoven bei den Knien und flüsterte mit rauher Stimme: »Einfältige Narrenfrage: Gibt es ihn? Ich habe kein Bild, ich habe keine Vorstellung, ich kann nicht sagen: Ich glaube an ihn, ich kann höchstens sagen: Ich glaube ihm, aber handelt es sich denn um eine Wirklichkeit und nicht wieder um eine Flucht aus der Wirklichkeit? Um ein Wesen, nicht wieder um ein Abbild?«

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Sie saßen Aug' in Auge, vorgebeugt beide; einer spürte den Atem des andern. Ein paar Sekunden lang stockte Kerkhoven der Puls, und es schwindelte ihm. Das Gesicht ihm gegenüber erschien ihm wie eine von einem Erdbeben zerrissene Landschaft. Zunächst hatte er das zornig-leidvolle Gefühl: Das ist nicht erlaubt, damit dringt der Mann zu heftig auf mich ein; doch er befreite sich von der dumpfen Abwehrregung und fragte tonlos: »Sie brauchen ihn demnach?« – »Ja. Ich brauche ihn.« – »Und da soll ich Ihnen sagen, ob es ihn gibt?« – »Sie sind der einzige Mensch auf Erden, der es mir sagen kann.« – »Wieso das?« – »Weil Sie mit der Todesgewißheit leben können.« – »Sie etwa nicht? Das müssen wir alle.« – »Wir andern leben im Wahn unendlicher Zeit. Zeit und Tod schließen einander aus. Sie hingegen haben das Gesetz umgestoßen und den Tod in die Zeit eingebaut.« – »Ein etwas verkrampfter Gedanke. Mit der Philosophie überhaupt ... Aber gesetzt den Fall, Sie hätten recht; wie dürfte ich Armseliger es wagen und für Sie die Entscheidung treffen?« – »Ich frage ja nur, wie ich einen Seher fragen würde: Was hast du erschaut?« – »Sie meinen, ich hätte ihn erschaut?« – »Ich frage, ich frage.« – »Ist er denn ein Gegenstand? Ein Leib? Eine Erscheinung? Kann man sein Vorhandensein lehren? Kann er erkannt werden? Nein.« – »Aber was sonst? Ich frage, ich frage ...« – »Schon im Versuch der Verpersönlichung liegt der Grundirrtum. Auch dann, wenn Sie irgendeinen Geistbegriff, irgendeinen Traumbegriff damit verbinden.« – »Aber Ihre Erfahrung ... Ein Mann wie Sie tritt doch nicht eines Tages willkürlich aus der Empirie heraus. Da ist doch ein vernunftgebotener Gang ...« – »Erfahrung ... Was soll ich darauf antworten? Vielleicht ist er die Kraftsumme in den Atomen und Elektronen. Vielleicht ein Geheimnis der inneren Sekretion. Vielleicht steckt er in den Fermenten und Enzymen, deren chemische Zusammensetzung wir nicht kennen und die die Umwandlung von Nahrung und Atemluft in Energien bewirken; sie erhalten sich ja jahrtausendelang, so daß man sie in den Muskelgeweben ägyptischer Mumien noch zum Leben erwecken konnte. Vielleicht schwingt er im Ätherwirbel, vielleicht reguliert er den Reizleitungsapparat des Herzens, von dem wir so wenig wissen wie von den schweifenden Nebelkernen im Weltall. Denn wir, Sie und ich, haben keinen Einfluß darauf, auf nichts, auf den Flug der Fliege nicht, auf die Geburt eines Goethe nicht. Wenn ich nur zehn Atemzüge nach meinem eigenen Ermessen tue, sterbe ich sofort an Kohlensäurevergiftung. Alles dies in eins gefaßt, Mikro-und Makrokosmos, Wunder und Grauen, Unerforschtes und Offenbartes, Dämonen und Cherubim, Kraft und Stoff, hat keine sinnliche Existenz, ist auch kein von irdischen Gehirnen erdenkbarer Pan-Gott. Was bedeutet's viel, wenn ich sage, es ist das Namenlose, es liegt hinter dem Tod und über der Zeit, das sind zerredete Formeln. Oder wenn ich sage, im Erschauern kommt er ... in der weitentbundenen Gelassenheit. Oder wenn ich sage, es ist eine innere Begegnung ... das hauptsächlich, das vor allem ... Und darauf muß man vorbereitet sein, muß gleichsam wahlverwandte Vorläufer gehabt haben ... Es gibt da etwas wie einen Stammbaum der Seelen. Aber immer wird es in der einen Seele allein wirklich und nur in der Selbstentscheidung. Da heißt es: Gehorche und erwidere! Nichts anderes. Es sind die beiden Pole des menschlichen Verhaltens ...«

Er hatte schon seit einigen Minuten mit sichtlicher Anstrengung gesprochen; bei den letzten Worten wurde er kalkweiß im Gesicht und griff mit konvulsivischen Bewegungen nach dem Mauervorsprung des Kamins, an dem er sich anklammerte. Alexander sprang auf und faßte ihn um die Brust. Der Körper war zu schwer und zu mächtig, als daß er ihn hätte emporziehen können. »Lassen Sie nur«, keuchte Kerkhoven, »es geht schon vorüber ...« Er schloß die Augen und atmete in tiefen Zügen. Mit ungeheurer Kraft überwand er den Anfall. Der eiserne Druck, mit dem er Alexanders Hände festhielt, war wie Hinausdrängung der tödlichen Schwäche. Er sagte lächelnd: »Das Nachtgespenst ... Vor dieser Heimsuchung ist man nie sicher ... Gehn Sie jetzt, lieber Freund, sonst kommt das Morgengrauen über uns.« Eine echt Kerkhovensche Doppelsinnigkeit. Alexander verließ ihn mit düsterer Sorge.

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Wie im Mysterienspiel hinter den Figuren, die um den göttlichen Glauben ringen, der Leugner und Widergeist lauert, um von Zeit zu Zeit sein Hohnwort erschallen zu lassen, war es hier Aleid Bergmann, die vom Schicksal Zertretene, in welthassende Bitterkeit Geflüchtete, die den heroischen Kampf der vier engverbundenen Menschen mit kritischen Augen und vorsätzlicher Verstocktheit verfolgte. Schon ihr heimliches Kommen und Gehen war Protest, mehr noch die trotzige Neugier, mit der sie dasaß und zuhörte, ohne jemals den Mund aufzumachen. »Was soll das alles?« fragte sie ihre Mutter. »Ich kann mir absolut keinen Vers darauf machen. Es ist wie in einer Kirchenversammlung. Nächstens werdet ihr fromme Lieder singen da oben.« – Marie antwortete gereizt: »Entweder bist du eine raffinierte Heuchlerin, oder du weißt nicht, was du tust.« – »Warum? Was soll das heißen?« – »Wann war es nur ...? Vor ein paar Tagen erst ... Joseph erzählte den Herzogs die ganze Irlen-Geschichte ... den Tod des Freundes und wie er ihm nachgestorben und förmlich wiederauferstanden ist ... Erinnerst du dich? Du hast durchaus nicht ausgesehen wie jemand, der lieber bei einem Boxkampf wäre als bei einer Auseinandersetzung, bei der es ums Leben geht. Durchaus nicht. Du schienst mir eher benommen davon.« – »Na jaaa ...«, machte Aleid gedehnt und leicht verlegen, »das war aber auch richtig spannend. Außerdem hat es mich genealogisch interessiert. Irlen war doch ein naher Blutsverwandter von dir, soviel ich weiß. Und die Art, wie Onkel Joseph es erzählt hat, war prachtvoll. Gruselig geradezu. Er bringt alles so gut, wie sie beim Theater sagen.« Sie lachte.

Es war nicht der einzige Fall, wo sie wie ein Aal entschlüpfte, wenn Marie sie stellen wollte. Man konnte nie ergründen, was sie empfand. Daß die Abende im Refektorium sie unwiderstehlich anzogen, war offensichtlich. Trotzdem kam sie nie ohne ein mokantes Lächeln auf den Lippen. Manchmal gab sie sich den Anschein, als schlafe sie ein vor Langeweile, aber wenn dann Alexander Herzogs verwunderter Blick sie traf oder Bettina sie mit nicht ganz ehrlicher Besorgnis fragte, ob sie sich nicht zur Ruhe begeben wolle, wurde sie rot bis an die Schläfen und fing an, verzweifelt die Fingernägel zu zernagen. Gewöhnlich kauerte sie in einem der äußersten Winkel des Raumes, auf einem Kissen auf dem Boden oder, wie eine Katze zusammengerollt, auf einer Sofabank, um die Schultern einen weißen, indischen Schal, den ihr Marie geschenkt. Hier und da richtete sie sich jäh zum Sitzen auf und starrte, die Hand wie einen Schirm vor den Augen, eine halbe Minute lang zu den andern hinüber, um sich dann wieder einzurollen, schweigend und scheinbar teilnahmslos.

Am bissigsten machte sie sich über die Leidenschaft ihrer Mutter für die fremden Kinder lustig. »Diese Kinderbewahranstalt en gros ist wahrhaftig das Lächerlichste, was ich je gesehen habe«, sagte sie. Der Umstand, daß sich die Kinder in immer wachsenden Scharen in Seeblick einfanden, daß sie oft von weit her kamen, von Hörhausen, von Wäldi, von Münsterlingen und noch weiter, als hätte ein neuer Rattenfänger von Hameln sie gelockt, und bisweilen richtige Schlachten stattfanden, wenn die Mehrzahl zurückgewiesen werden mußte, das trieb Aleids galligen Ärger auf die Spitze, und als ihr gar das Wort vom Kinderheiland zugetragen wurde, schüttelte sie sich vor Gelächter. Es war aber ein schmerzliches Lachen und hatte, wie alles an ihr, einen Hintergrund von Verheimlichtem und Verwildertem.

Bettina ging sie soviel als möglich aus dem Weg. Sie habe kein Faible für Frauen, pflegte sie zu sagen, besonders nicht für so gescheite. Doch als sich Bettina einmal auf Kerkhovens Bitte bewegen ließ, mit einem jungen Musiker, der von Badenweiler herübergekommen war, die Kreutzersonate zu spielen, hörte sie zu wie verhext, und während des Satzes mit den Variationen zuckte ihr Gesicht fortwährend wie das einer Epileptikerin. »Ich habe nicht geahnt, daß Ihre Frau eine solche Künstlerin ist«, sagte sie zu Alexander Herzog, »warum stellt sie ihr Licht unter den Scheffel, tut nie dergleichen und macht sich klein? Ich glaube, Sie drücken sie, sie traut sich nicht aus sich heraus, oder sie ist zu stolz, sich zu zeigen. Nein?« Alexander fand die Bemerkung taktlos und erwiderte ärgerlich, davon sei ihm nichts bekannt, Bettina lege keinen Wert auf die übliche Darbietung, sie betrachte ihr Talent als integrierenden Teil ihres Wesens und Lebens. Wozu Aleid eine zweifelnde Grimasse schnitt.

Im übrigen begegnete sie Alexander Herzog nicht mit jenem kalten Mißtrauen, das sie sonst gegen alle Menschen herausfordernd zur Schau trug. Manchmal schien es, als dränge es sie in seine Nähe, und ohne bestimmten Zweck. Seine Schweigsamkeit war ihr angenehm, und wenn sie mit ihm sprach, hatte sie oft einen gewissen Spießgesellenton, der ihn ergötzte; schließlich war er ja vierzig Jahre älter als dieser Knirps. Die Freundschaft, die ihn mit Marie verband, machte ihr offenbar viel zu schaffen. Auf alle Weise suchte sie ihn darüber zum Reden zu bringen und war wütend, wenn er ihr auswich. Allmählich gewann er den Eindruck, daß nichts auf der Welt sie in solchem Maß interessierte wie das Tun und Lassen ihrer Mutter, aber da sie außerordentlich geschickt im Verbergen ihrer Gefühle und Absichten war, wurde ihm nicht klar, was sie aus ihm herausholen wollte. Und eines Tages, der Anlaß war sonderbar genug, wurde diese Unklarheit beseitigt. Sie hegte in bezug auf ihn und Marie einen absurden Verdacht, der sie heimlich zu beschäftigen und zu quälen schien.

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Nach dem nächtlichen Gespräch mit Kerkhoven hatte er weit in den Vormittag hinein geschlafen. Als er aus dem Haus trat, ging Aleid wie ein Wachtposten auf dem zum Ufer führenden Pfad auf und ab. Sie schien auf ihn gewartet zu haben, denn kaum war sie seiner ansichtig geworden, als sie stehenblieb und ihm zuwinkte. »Sie sehen ja ziemlich verkatert aus, Maestro«, sprach sie ihn an; »die Unterredung heut nacht hat lange gedauert. Dreiviertelvier war's, wie ich Sie 'runterkommen hörte.« – »Soso, Sie haben aufgepaßt? Da muß man sich ja vor Ihnen hüten«, antwortete er unliebenswürdig, und als sie ihm dreist forschend ins Gesicht schaute, fügte er hinzu: »Sie sind doch hier nicht als Krankenschwester angestellt, warum schlafen Sie also nicht?« – »Gott, sogar die Babys haben manchmal Grund, nicht zu schlafen«, spottete sie, »zum Beispiel, wenn sie Bauchweh kriegen.« – Sie standen am See, über dem der Nebel dick wie Fabrikrauch hing. Trotz des scharfen Ostwinds trug Aleid ein dünnes, weißes Leinenkostüm. Alexander merkte, daß sie fror; er fragte, ob er ihr einen Mantel holen solle. Sie schüttelte den Kopf, schlug aber vor, sie sollten zu der Bank beim Gewächshaus gehen, wo man halbwegs geschützt saß. »Sie sehen aus, wie wenn Sie was auf dem Herzen hätten«, begann Alexander, als sie Platz genommen hatten, »darf ich indiskret sein und fragen, was es ist?« – »Scharfsichtiger Mann«, entgegnete sie spitz und zündete sich mit den abstoßenden Gewohnheitsgebärden, die manche Frauen beim Rauchen haben, eine Zigarette an; »na ja, es ist ja Ihr Geschäft, die Menschen aufzuspießen wie Käfer.« Als er ärgerlich die Stirn runzelte, lachte sie. »Verzeihen Sie, ich bin wieder einmal gänzlich respektlos. Ihre Anhängerinnen haben Sie doch sicher schrecklich verwöhnt. Aber lassen Sie sich von der rauhen Schale nicht täuschen. Ich weiß schon Bescheid. Jetzt ist er wieder ungehalten!« rief sie in komischer Bestürzung aus. »Was soll ich denn tun, um mir Ihre Gunst zu erwerben?« – »Ich bin nicht ungehalten«, erwiderte Alexander trocken, »und ich habe keine Gunst zu verschenken; sagen Sie mir, wo Sie hinaus wollen. Ich verstehe mich nicht auf Scharmützel.« – »Da hab' ich mir's eben verscherzt«, gab sie trotzig zurück und stand auf, um wegzugehen. – Alexander faßte sie beim Handgelenk. »Bleiben Sie«, herrschte er sie an, »machen Sie keinen Idioten aus mir.« – Sie maß ihn mit großen Augen, wagte aber nicht zu widersprechen und setzte sich wieder. Während sie sich erhoben hatte, war sein Blick auf ihre zarte Gestalt gefallen, an der sich bereits deutliche Merkmale der Schwangerschaft zeigten. Sie hatte seinen Blick aufgefangen, ihre Züge verfinsterten sich, um ihren Mund zuckte es weh. Alexander war verlegen. Es tat ihm leid, sie so angefahren zu haben. »Sie benehmen sich wie ein Gassenbub, der einem mit dem brennenden Zündholz vor der Nase herumfuchtelt«, murmelte er verdrießlich, »seien Sie doch ein bißchen gelassener, ein bißchen ruhiger.« – »Ach was«, antwortete sie, und die Smaragdaugen schauten leer ins Leere, »ersparen Sie sich die Ermahnungen. Das geht bei mir zum einen Ohr hinein, zum andern hinaus. Danke übrigens für die gute Absicht.«

Eine Pause entstand. Plötzlich kehrte sie ihm das Gesicht voll zu und fragte: »Waren Sie wirklich bei Onkel Joseph heute nacht?« – Er starrte sie erstaunt an. »Wo denn sonst? Wo soll ich gewesen sein?« – Sie lächelte eigentümlich. Ihr grüner Blick bohrte sich in seine Augen. – »Nun, was ist's«, drängte er neugierig, »was dachten Sie denn?« – »Ich dachte, Sie seien zu meiner Mutter gegangen«, flüsterte sie, immer mit dem eigentümlichen, halb schamvollen, halb boshaften Lächeln. – »Zu Ihrer Mutter? Um halb zwei Uhr nachts?« Das Erstaunen machte ihn fast sprachlos. »Warum denn? Warum sollte ich Ihnen dann gesagt haben ...« – »Warum, warum«, unterbrach sie in ungeduldig, »das braucht doch nicht bequatscht zu werden. Will ich gar nicht. Die Tatsache genügt. Ich hab' doch meine Augen im Kopf.« – Alexander sah sie an, als habe er nicht recht gehört. Unwillkürlich rückte er von ihr weg. »Toll«, sagte er vor sich hin, »toll«. Er nahm wahr, daß sie am ganzen Körper zitterte. Auch ihre Hände, die nervös mit einem abgerissenen Zweig spielten, zitterten. – »Kreiden Sie mir's nicht an, wenn ich unrecht habe«, fuhr sie mit hastiger Stimme fort, den Kopf gesenkt; »Sie müssen wissen, meine Mutter, die ist ein versiegeltes Buch für mich. Und wenn man das Siegel aufbrechen will, ist es, wie wenn Todesstrafe draufstünde. Sie hat eine Art Bemühung im Leben ... Man fühlt sich glatt zermalmt ... Eine Heilige ... Man möchte gern dran glauben ... Ich hab' aber Heilige immer gehaßt ... Und eine Mutter darf nicht so hoch über einem stehen ... Trotzdem ... wenn es echt wäre ... wenn man die Heilige wirklich glauben könnte ...« Sie stockte, beugte den Kopf noch tiefer, und ihre Schultern bebten verräterisch. – Alexander streichelte ihren Arm. »Aber Kind, Kind«, sagte er leise, »wohin verirren Sie sich, worein verwirren Sie sich ...!« – Sie machte eine Bewegung, um sich seiner Hand zu entziehen. »Ich muß Ihnen was erzählen«, sprach sie weiter, »vielleicht ist es schlecht von mir, aber Sie begreifen dann wenigstens ... Vor zwei Jahren ... etwas länger ... Im Sommer waren es zwei Jahre ... Wir hatten damals noch das Gut Lindow in der Mark ... Ich war zu den Ferien mit einer Freundin zu Hause ... Und da war auch ein junger Kerl, ein sehr hübscher Mensch, Schüler oder Sekretär von Onkel Joseph, wenn ich mich recht erinnere ... Zwischen ihm und der Mutter ging irgendwas vor, irgendwas Unheimliches, Verbotenes ... So empfand ich's damals, ich war ja noch ein Frosch ... Die Mutter hatte vollständig den Kopf verloren ... Eines Tages fing der junge Mensch an, meiner Freundin den Hof zu machen, aus Bosheit, glaub' ich, um meine Mutter zu quälen ... Und sie ... ich habe nie vergessen können ... zu verrückt war das ... zu furchtbar ... sie merkte nicht, daß wir alles merkten ... Dann wurde sie krank, wir mußten weg ... Ich sehe noch Onkel Joseph am Fenster stehen; es war am Morgen meiner Abreise, er hörte gar nicht, wie ich ihm Adieu sagte ... Wie ein Stein stand er da, zur Mutter dürft' ich nicht hinein ... Ich hatte den Eindruck, sie haßte und verwünschte mich ... Und jetzt, nach zwei Jahren, ich hatte mittlerweile allerlei gelernt, das dürfen Sie mir glauben ... jetzt ... eine ungeheuer fremde Frau, eine Frau vom Mond, eine Heilige! Ich im Fegefeuer drin, und sie eine Heilige ...!« Sie riß ihr Taschentuch aus dem Ärmel und zerknüllte es in der Faust.

Alexander saß regungslos da. Die fieberhafte Erzählung des jungen Mädchens warf ein unerwartetes Licht auf das Geständnis, das ihm Joseph Kerkhoven neulich in dem kleinen Sprechzimmer gemacht. Obgleich er den Einblick in die Vergangenheit der beiden ihm so nahen Menschen um nichts hätte missen mögen, war es ihm doch peinlich, daß er jenen Teil des Aufschlußes, der Marie betraf, von Maries Tochter empfangen hatte, und er beschloß im stillen, es der Freundin nicht zu verhehlen. Er durfte ihr ein Wissen nicht vorenthalten, das er sich hinter ihrem Rücken, so konnte sie es auffassen, verschafft hatte, wenn es ihr auch in seiner Meinung und Schätzung nicht schadete; im Gegenteil, sie stieg noch höher dadurch in seinen Augen, sah er doch fast visionär den schweren Weg, den sie gegangen war.

Mitten in dem Schweigen, in das sie beide versunken waren, erinnerte er sich plötzlich einer scheinbar unbeträchtlichen Einzelheit aus seinem kurzen Zusammensein mit Aleid in der Nacht. »Etwas müssen Sie mir erklären«, begann er zögernd; »wenn Sie schon diesen sträflichen Argwohn hegten, als ich Sie bat, mich ins Haus zu lassen, warum haben Sie mir dann beim Weggehen so freundlich, so besonders nett die Hand hingestreckt?« – »Wirklich, hab' ich das getan?« fragte Aleid etwas unaufrichtig betroffen. »Komisch. Das weiß ich gar nicht mehr. Komisch.« – »Sie werden es schon wissen«, fuhr er fort, ohne sich an ihren Ableugnungsversuch zu kehren, »aber Sie brauchen sich nicht zu bemühen, ich glaube, ich kenne den Grund. Sie haben ja die ganze Zeit darauf gewartet, daß die Heilige vom Altar gestürzt wird, obgleich es eine Katastrophe für sie gewesen wäre, und in mir haben Sie dann das Werkzeug gesehen, den Erfüller Ihres ... Ihres Qualwunsches. Hab' ich nicht recht?« – »Ins Schwarze getroffen«, höhnte Aleid, »hoch die Psychologie!« – Aber Alexander ließ sich von dem Hohn nicht täuschen. Er spürte, was darunterlag. »Heilige ... es mag schon was dran sein«, sprach er weiter; »Ihre Mutter hat sich durch das Trübe gerungen, durch die Leidenschaften und die Irrtümer. Was das in Wirklichkeit bedeutet, an Verzicht, an Mut, an Seelenkraft, das können Sie schwerlich ermessen ...« – »So wenig, wie sie ermessen kann und ermessen will, was mir geschehen ist!« warf Aleid schneidend dazwischen. – Alexander Herzog nickte bedächtig. »Das sieht vielleicht so aus. Ich gebe zu, Ihr Schicksal, soviel ich davon weiß ...« – »Von der Mutter natürlich ...« – »Ja, von Ihrer Mutter. Wir sind Freunde, und sie vertraut mir. Ihr Schicksal, Aleid, ist für mich gewissermaßen ein Symbol. Sie werden sagen: Was nützt mir das groß? Naja, der Mensch wehrt sich gegen das Zeichen, das über ihm schwebt, keiner will einen Kollektivschmerz erleiden, lieber noch das Übermaß an Einzelschmerz. Das rebelliert in Ihnen, das macht Sie so wild, und deshalb finden Sie sich auch als Kind, als Tochter, von Ihrer Mutter nicht erkannt oder anerkannt. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke. Marie Kerkhoven ist nämlich eine Frau ... Wie soll ich es sagen ... Ihr tragischer Konflikt ist, daß sie zwischen Weltbindung und Gottbindung mitteninne steht: Unter schweren Opfern hat sie sich Schritt für Schritt hinaufgekämpft, wie ein Flieger die Wolkendecke durchstößt, und da kommt auf einmal die erwachsene Tochter und reißt sie mit Übergewalt zurück ins schmerzvoll Dunkle. Und sie muß zurück, da hilft nichts, schon aus Liebe muß sie zurück, nur ist sie selbstverständlich ein wenig benommen, ein wenig ratlos. Das ist es, was Sie fälschlich das Madonnenhafte nennen. Und dann, bedenken Sie, das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter hat immer, wenn man tief genug schürft, einen Eifersuchtsgehalt, ganz elementar. Der Geist und der Charakter sind da ohnmächtig gegen die Natur, die ja ohnehin alle möglichen Hülsen und Schalen drumherum wachsen läßt. Zumal in Ihrem Fall; als Kind sind Sie von ihr weggegangen, als Weib kehren Sie wieder ... Verstehen Sie das nicht?« Aleid hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. »Das hat alles was für sich«, sagte sie widerwillig, und dann mit grellem Auflachen, »außerdem ... ich wäre wahrscheinlich auch nicht gern Großmutter von einem Judenbankert.« Auf einen entrüsteten Blick Alexanders knirschte sie mit zusammengebissenen Zähnen und einer Geste, als wolle sie sich den Bauch aufschlitzen: »Ich will's nicht, ich will's nicht, ich bring's um, wenn es auf die Welt kommt ... Hat doch nicht mal einen Vater, und ich? Ich bin ja bloß ein Scherben ...« Sie stand auf, seltsam ruhig auf einmal, und ging, ohne Gruß, ohne Nicken, über den Rasen dem Haus zu.

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Schon seit einer Reihe von Tagen hatten die Bewohner von Seeblick gespürt, daß die feindselige Stimmung ringsum im Lande in beständigem Wachsen war. Das böswillige Gerede wucherte wie Unkraut; nicht wahrscheinlich, daß Karl Imst, der bei einem Kollegen, einem Apotheker in Steckborn, Aufnahme gefunden hatte, der alleinige Urheber war. Die Verbrüderung mit dem Pharmazeuten war möglicherweise nicht ganz zufällig, denn diese Herren waren dem Professor Kerkhoven bei seiner bekannten Abneigung gegen Rezepte und Medikamente nicht grün. Jedenfalls ließ sich dem Imst nichts Faktisches nachweisen, nur die Hartnäckigkeit, mit der sich das Gerücht behauptete, die Jeanne Mallery werde in der Anstalt gefangengehalten und grundlos als Geistesgestörte behandelt, deutete auf seine rachsüchtigen Umtriebe hin. Die Machenschaften waren ja auch nicht jüngsten Datums. Bereits nach dem plötzlichen Tode Martin Mordanns hatte sich übelwollendes Gemunkel erhoben, bestärkt durch versteckte Anklagen, die von gewissen Klüngeln im Reich ausgingen. Wie wenn Kerkhoven als notorischer Reaktionär und mit seinen nicht sehr geordneten Finanzen ein handgreifliches Interesse daran gehabt hätte, den berühmten Journalisten verschwinden zu lassen; man habe ihm sozusagen mit dem goldenen Zaunpfahl gewinkt. Es war nicht ausgeschlossen, daß Agnes Mordann vor ihrem Selbstmord Andeutungen in dieser Richtung gemacht und damit die überall noch vorhandenen Parteigänger ihres Vaters aufgestachelt hatte. Das bodenlose Geschwätz erhob sich jetzt von neuem, und fast sah es aus, als stünde der Besuch zweier Herren, die in diesen Tagen wegen der verbrannten Brederodeschen Briefe bei Kerkhoven erschienen, im Zusammenhang damit (wir werden auf das kleine Intermezzo zurückkommen).

Noch andere Umstände traten hinzu. Da war vor allem die Waldläuferschule, die Anstoß erregte. Nicht leicht zu begreifen, warum. Man hätte denken sollen, die Leute wären froh, ihre streunenden und unterstandlosen Kinder ein paar Stunden im Tag gut aufgehoben zu wissen. Hatte doch Marie eigens für diesen Zweck eine stattliche Halle gebaut, mit Turngeräten, abgeteilten Werkstätten und einer bescheidenen Bibliothek. (Das Geld dazu, ihr erinnert euch, hatte sie von ihrer alten Freundin, Frau de Ruyters, erhalten.) Aber die Anstalt war ja nicht jenen ein Dorn im Auge, die ihren Vorteil daraus zogen, sondern den Satten, die ihrer nicht bedurften, den Wohlanständigen und Konservativen, kleinen Kaufleuten und Beamten. Die zerrissen sich die Mäuler; wozu brauchen wir solch modernes Gehabe und Gewese, sagten sie, das geht gegen die Ruhe und Ordnung, begünstigt die Landstörzerei und düngt den Boden für den Bolschewismus. Wir sehen also, daß Kerkhoven von der einen Seite der Rückschrittlichkeit und von der andern gleichzeitig des Demagogentums geziehen wurde. Was hat überhaupt der Fremde in unserer Gegend zu suchen, äußerten sich etliche; wo kommt er her? Er soll wieder dorthin gehn, von wo er gekommen ist, wir haben selber unsere Doktoren, urchige Kerle darunter, was muß sich ihnen der chaiwe Schwab in den Pelz setzen?

Es kam so weit, daß ein Teil der Hausangestellten stutzig wurde und manche den Dienst verließen. Jeden Tag trafen anonyme Briefe mit der Post ein. Die Lieferanten drängten auf Bezahlung ihrer Rechnungen. Als dies ohne Zögern geschah, zogen sie beschämt ab. In dem »Boten für Stadt und Land«, einem vielgelesenen Provinzblättchen, erschienen von Zeit zu Zeit perfide kleine Schmähartikel oder angebliche Mitteilungen aus dem Publikum, in denen von der Seelenheilküche und Nervenakrobatik eines verstiegenen Aftermediziners die Rede war, vor dem man den gesunden Sinn des Volkes zu bewahren habe. Und eines Tages, in der dritten Oktoberwoche, schoß dieser famose Stadt- und Landbote seinen stärksten Giftpfeil ab, indem er verkündete, unter andern unliebsamen Zuzüglern befänden sich im Hause Seeblick auch ein bekannter bücherschreibender Herr samt Frau Gemahlin, gegen den, soviel man höre, in Berlin ein Prozeß wegen Bigamie anhängig sei. Der gedruckte Wisch wurde Alexander Herzog zugeschickt. Er beriet sich mit Kerkhoven. Man ging der Sache nach. Offenbar hatte Ganna Herzog durch einen ihrer Späher von dem Aufenthalt Alexanders und Bettinas Wind bekommen. Daß sie die Zeitungsmeldung selbst lanciert hatte, war nicht anzunehmen, da sie ja dadurch auf die sogenannte Versöhnung mit Alexander, die zu erreichen sie neuerdings alle Hebel in Bewegung setzte, hätte verzichten müssen. Vermutlich hatte ein literarischer Neider, der seine Mißgefühle brieflich verspritzte, die Hand im Spiel. Alexander blieb gelassen. Doch um den frechen Angriff zu parieren, beauftragte er einen Züricher Advokaten, von der Redaktion förmlichen Widerruf zu fordern, widrigenfalls die Verleumdungsklage eingebracht würde. Woraufhin eine dürftige, aber sachlich zufriedenstellende Berichtigung erfolgte. Das hinderte aber nicht, daß die lichtscheuen Umtriebe gegen Seeblick ihren Fortgang nahmen. In der Nacht vom fünfundzwanzigsten auf den sechsundzwanzigsten Oktober wurden an der Schmalfront des Hauptgebäudes sämtliche Fenster im Erdgeschoß eingeschlagen und zwei Dutzend Rosenstöcke aus den Beeten gerissen.

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Es war die alte Geschichte vom »Volksfeind«, die sich erneuerte, die Erfahrung aller aufrichtigen Diener und Helfer der Menschheit. In einer großen Stadt wäre Kerkhoven vor Anfeindungen geschützt gewesen, die sich hier gegen seine Vereinzelung richteten. Er war eine zu überragende Persönlichkeit, um nicht durch sein Dasein und seine Sinnesrichtung allein den Haß der Unwissenden, den Widerstand der Masse herauszufordern. Hätte er sich auf die ärztliche Tätigkeit beschränkt, das bloße »Doktern«, niemand hätte ihm einen Stein in den Weg gelegt. Doch das Eingreifen ins Außerleibliche, die Einbeziehung von Kräften und Erscheinungen, die nach allgemeiner Ansicht mit seinem »Fach« nichts zu schaffen hatten, zum Beispiel die Sache mit der Hellseherin Thirriot, die so viel Aufsehen erregt hatte, war Anlaß genug, ihn zu verdächtigen. Moralisch-geistige Beeinflussung ist dem Arzt nicht verstattet, dazu hat ihm der Staat nicht das Diplom verliehen. Er hat bei seinem Leisten zu bleiben. Es nützt ihm nichts, wenn er aus der Überschreitung seiner Kompetenzen kein Geschäft macht. Die Öffentlichkeit duldet die Überschreitung nicht, ihre Wächter haben dafür eine so feine Witterung wie Jagdhunde für das Wild. Hätte er nur ein Geschäft daraus gemacht, das wäre ihm noch eher verziehen worden; Marktschreierei, Kurpfuscherei, Wunderheilerei mit Anpreisung und Erfolgsattesten: alles besser als die staats- und gesellschaftsfeindlich wirkende Bemühung um verlorene Existenzen, um allerlei Flüchtlingsvolk und Verschwörerpack, das den Landsässigen das Brot wegfraß. Da war Vorsicht am Platz und Mißtrauen Bürgerpflicht.

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Es lag nicht in Kerkhovens Charakter, mit verschränkten Armen dazustehn und sich mit Schmutz bewerfen zu lassen. Um die Ausstreuungen wegen der Jeanne Mallery zum Schweigen zu bringen, ersuchte er die Behörde, eine Kommission abzuordnen und die Patientin gerichtlich zu verhören. Dem wurde stattgegeben, zwei Funktionäre und ein Amtsarzt erschienen in Seeblick, besichtigten den Raum, den die Mallery innehatte, richteten eine Reihe von Fragen an sie und gaben die Antworten zu Protokoll. Die einwandfreie Pflege und Behandlung wurde dem Professor Kerkhoven in aller Form bestätigt. Den Gerichtsentscheid veröffentlichte er im Thurgauer Anzeiger, dem Konkurrenzunternehmen des Stadt- und Landboten. Er hatte nun aber nicht länger Lust, Jeanne Mallery in seinem Haus zu beherbergen, und legte ihr schonend nahe, zu ihren Verwandten in die Innerschweiz zu gehen. Er entschloß sich hierzu um so leichter, als sie von ihren krankhaften Zuständen fast gänzlich geheilt war. Die dauernde Trennung von Karl Imst hatte wohltätig auf sie eingewirkt. Sie gestand selbst, daß sie seitdem das Gefühl habe, sie könne wieder atmen. Dennoch hatte sie Angst vor der Welt draußen, und als ihr Kerkhoven das Quartier aufkündigte, drückte sie das Gesicht in die Hände und schluchzte. Hauptsächlich war es der Abschied von Marie, den sie nicht verwinden konnte; »was soll ich nur machen ohne die Frau Professor«, rief sie immer wieder, »es war ja schon ein Glück für mich, wenn ich sie nur sehen durfte.«

Eine vernünftige Regelung mußte auch in bezug auf Maries Kinderwerk getroffen werden. Kerkhoven schlug ihr vor, einheimische Hilfskräfte aufzunehmen. Dazu reichte der von Frau de Ruyters gestiftete Fonds gerade noch aus. Man gewann auf diese Weise nicht bloß besoldete Anhänger und Stimmungsmacher für die Sache, sondern steuerte auch dem wilden Zudrang und der Schwierigkeit, die unbändigen Horden zu beaufsichtigen. Marie wollte zuerst nichts davon wissen. Es war ein Verlust. Verlust an Freiheit, an schönem Übermut, Verzicht auf das Prinzip der Selbsterziehung und der Selbsteinfügung in eine Gemeinschaft. Es war nicht mehr das, was ihr vorschwebte. Es war Rückkehr zum Programm, Umkehr ins übliche. Indes beugte sie sich den guten Gründen Kerkhovens; »ich will ja nicht, daß du deine Idee preisgibst und gegen dein Gefühl handelst«, sagte er, »ich möchte nur verhüten, daß du dort scheiterst, wo du bei einiger Nachgiebigkeit gar nicht zu scheitern brauchst. Die Fanatiker nennen es Kompromiß, aber zeige mir ein fruchtbares Wirken ohne Kompromiß. Was bedeutet denn eigendich das Wort? Zugeständnis. Also etwas Loyales und Honettes. Gestehen wir der Welt das Recht auf ihre Form zu, und sie wird sich nicht starrsinnig weigern, sie zu verändern.« Marie sah es ein. Doch mitten in den Maßnahmen, die auf eine Umgestaltung der bisherigen Führung zielten, wurde eines Nachts von unbekannten Frevlern der neue Schulpavillon am Ende des Parks angezündet; man benachrichtigte die nächsten Feuerwehren, aber bevor noch eine von ihnen anlangte, war der ganze Holzbau niedergebrannt. Die polizeilichen Nachforschungen waren erfolglos. Obgleich begründeter Verdacht gegen mehrere Personen bestand, waren die Täter nicht zu fassen.

Der Brand hatte die Seeblick-Leute in große Aufregung versetzt. Kerkhoven war um vier Uhr morgens beim ersten Alarm des Gärtners erwacht. Notdürftig angekleidet eilte er auf den Brandplatz. Die Spritzvorrichtung versagte; der Schlauch war brüchig. Zum Unglück herrschte ein sturmartiger Wind; im Zeitraum einer Viertelstunde war der Dachstuhl eine einzige Fackel. Als Marie, Bettina, Aleid, Schwester Else, Alexander Herzog und einige aufgeschreckte Patienten herzueilten, stand Kerkhoven unbeweglich zwischen allerlei Gerät, Tischen, Stühlen, Schränken, die er und der Gärtner aus dem qualmerfüllten Innern des Gebäudes ins Freie geschafft hatten. Seine Hose war in Fetzen gerissen, das Haar und die Brauen waren angesengt. Merkwürdigerweise blieb er stumm, als sich Marie und die Herzogs mit erregten Fragen an ihn wandten. Die Hände auf die Hüften gestützt, das Gesicht rauchgeschwärzt, schaute er mit einem Ausdruck in die hochwirbelnde Flammensäule und den knisternden Funkenregen, als wäre das Weltenei geborsten und enthülle ihm das Geheimnis seines feurigen Kerns. Bettina konnte die Augen nicht von ihm lassen. Sie hatte das Gefühl, er selbst sei in eine Flamme verwandelt.

Am nämlichen Morgen ließen sich die beiden Herren bei ihm melden, von welchen bereits die Rede war. Sie kamen in einem eleganten, blauen Auto, stellten sich als Beauftragte eines Freundes vor; die Namen, unter denen sie sich einführten, waren vermutlich fingiert, der Auftrag (wie ebenfalls erwähnt worden ist) bestand darin, nach dem Verbleib der Brederodeschen Briefe zu forschen. Sie gebärdeten sich wie Kriminalbeamte. Sie hatten keinerlei Befugnis, konnten sie gar nicht haben, es war eine rein private Mission, die sie übernommen hatten, dennoch traten sie mit dünkelhafter Strenge und kalter Gemessenheit auf, als wären ihre Taschen mit Haftbefehlen nur so gespickt. Kerkhoven war außerordentlich höflich. Er hätte die Auskunft verweigern können. Er tat es nicht im Gefühl einer Würde, die ihm Winkelzüge und Vorsichtsmaßregeln in einer Sache verbot, wo die einfache Wahrheit den Beunruhigungen des verborgenen Auftraggebers ein Ende setzen mußte. In knappen Worten berichtete er, was mit den Briefen geschehen war. Die beiden sahen ihn ungläubig an. Der eine, blonde, zuckte die Achseln, der andere, brünette, ließ ein unverschämtes Hm hören. Darauf stellte der Blonde das Ansinnen an Kerkhoven, er möge mit seinem Ehrenwort bekräftigen, daß sich die Dinge tatsächlich so abgespielt hätten, wie er sie erzählt. Dies lehnte Kerkhoven freundlichen Tones ab. Die Herren erhoben sich. »Dann müssen wir uns weitere Schritte vorbehalten«, sagte der brünette Herr eisig. Kerkhoven schien es zu billigen. Die beiden klappten die Hacken zusammen, verbeugten sich steif und gingen.

Man hörte nichts mehr von ihnen, aber der Zwischenfall wirkte ungewöhnlich deprimierend auf Kerkhoven, er wußte kaum weshalb.

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Etwas wurde lahm in ihm. In manchen Stunden erlosch die Willensglut. Dann wurden auch die Menschen, die sich um ihn bewegten, zu grauen Schatten. Müdigkeit fiel ihn an, besonders in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Abend; da verkroch er sich in eine entlegene Kammer des Hauses und versuchte durch vollkommene seelische Konzentration die Organtätigkeit, die zu versagen drohte, wiederherzustellen. In der Nacht arbeitete er an seinem Werk. Es fehlte nur noch der krönende, letzte Teil, in welchem er mit allen Hilfsmitteln seiner Wissenschaft und Erfahrung die Brücke von der sinnlichen Welt des Wahns zur übersinnlichen des Glaubens schlug, von der Biologie und Physiologie in die Gewißheit der göttlichen Sphäre, von der Gehirnanatomie zur geisthaften Struktur eines obersten, herrschenden und schicksalsbestimmenden Wesens. In dem Schlußkapitel sprach er von Wirklichkeit und Zeit als Phänomene der transformatorischen Nervensubstanz, und indem er auch den Raumbegriff als funktionelle Projektion der den Tod wollenden Neuroglia betrachtete, gelangte er zu einem Unsterblichkeitsprinzip, das unmittelbar durch den Sieg über den Wahn einerseits, den über die Körpersubstanz (und damit den Tod) andererseits zur Wahrnehmung der Einheit von Seele und Leib und Schöpfer und Geschöpf führte, zu einer biologisch-religiösen Seins-Form.

Auf diese Stunden der äußersten Anspannung folgten immer ausgedehntere Perioden der Erschlaffung, Zustände des Verfalls, die er vor seiner nur allzu wachsamen Umgebung oft kaum mehr verbergen konnte, trotz einer Selbstbeherrschung, die studiert und geübt war wie die Rolle eines Komödianten. Während eines solchen Anfalls bat er einmal Bettina, sie möge ihre Geige holen und spielen. Froh, ihm einen Wunsch erfüllen zu können, zauderte Bettina keinen Augenblick. Dies wiederholte sich dann Tag für Tag. War es eine Laune, ein inneres Bedürfnis? Er hatte nie zuvor das Verlangen nach Musik geäußert. Möglich, daß es nicht Bettinas Spiel allein war, das eine so wohltätig lösende, fast heilkräftige Wirkung auf ihn ausübte, sondern mehr noch ihre Natur, die in ihrem Spiel mit großer Eindringlichkeit und Wahrheit hervortrat, der Schwung in ihr, die Gläubigkeit, die aus der Tiefe heraufquellende Heiterkeit. Wenn sie das Instrument ans Kinn setzte und mit dem Bogen über die Saiten strich, stand die leibhaftige Musik vor einem, voller Figur und rhythmischer Handlung, Bild und Klang verschmolzen. Sie war eine Meisterin der Improvisation; eine einfache heimatliche Weise verschwisterte sich mit einem Tanzmotiv, und beide schwebten selig empor, wie Lerchen in den Frühlingshimmel. Nichts war schwelgend und zerflossen, sie produzierte sich auch nicht, sie sang oder vielmehr es sang in ihr. Manchmal wurde auch Marie von den Tönen herbeigelockt; sie kauerte sich still in einen Winkel, hörte still zu, und wenn das Spiel zu Ende war, ging sie wieder fort.

Eines Tages spielte Bettina ein kleines Capriccio eigener Erfindung, ein reizendes Stück, das klang, als ob Elfengelächter die Traurigkeit eines vergeblich Werbenden verspottete. Als sie fertig war, schaute Kerkhoven eine Weile nachdenklich vor sich hin, dann sagte er: »Sie haben mir damit ziemlich viel über sich selber mitgeteilt. Sonderbar, Sie sind doch nicht gerade wortkarg, und doch hat man immer den Eindruck der Schweigsamkeit bei Ihnen. Sogar am meisten dann, wenn Sie lebhaft und angeregt sprechen; was Sie ja gern tun.« Bettina errötete ein wenig, antwortete aber nicht direkt, sondern ließ nur ein paar Worte über das »innere Schweigen« fallen, ein Ausdruck, der Kerkhoven gefiel. Er sagte, vieles sei Verrat und Selbstverrat, was wie Geständnis und anvertrautes Geheimnis wirke. Das geahnte Wissen voneinander genüge den heutigen Menschen nicht mehr, ein selbsthassender Trieb zwinge sie, sich und den andern aufzureißen. So habe Aleid vor einiger Zeit gegen Alexander ein schmerzliches Erlebnis ihrer Mutter preisgegeben, bei dem sie allerdings in Mitleidenschaft gezogen war; jedoch es dem Uneingeweihten zu enthüllen, davor hätte sie unter allen Umständen zurückscheuen müssen. Alexander wieder habe es vor Marie nicht verschweigen wollen, obgleich es vielleicht besser gewesen wäre zu schweigen; es habe Marie tief verstimmt, so daß sie seitdem das Beisammensein mit Aleid tunlichst vermieden habe.

»Als ich während des Kriegs in Polen war«, erzählte Kerkhoven, »brachte man eines Tages einen Mann zu mir, einen Juden, der in der ganzen Gegend unter dem Namen Schloime, der Schweigende, bekannt war. Er hatte vor vielen Jahren eine schöne junge Person zur Frau genommen, es war eine Liebesheirat, die beiden lebten sehr gut miteinander. Trotzdem kam es häufig zu Streitigkeiten, der Mann war krankhaft jähzornig, und einmal verwünschte er sie in seiner besinnungslosen Wut mit dem Ausruf: Das Feuer soll dich verbrennen! Kurz darauf brannte in der Nacht das Haus nieder, und die Frau fand in den Flammen den Tod. Die Gewissensbisse trieben den Mann zum Rabbi, er beichtete ihm seine Sünde und fragte, was er tun müsse, um die Schuld wiedergutzumachen. Der Rabbi sagte: Wenn deine Zunge gefehlt hat, mußt du sie strafen, enthalte dich von nun an aller Rede. Und von dem Tag an, achtundzwanzig Jahre lang, hatte der Mann geschwiegen. Nicht ein einziges Wort ist mehr über seine Lippen gekommen. Seine zwei Söhne hatten ihn durch List in meine Ordination gelockt, sie hofften, ich könnte ihn durch irgendein Zaubermittel sein Gelöbnis vergessen machen, aber als er vor mir stand, lächelte er nur in abgründiger Weisheit, und mir war, als könne eher er mir helfen als ich ihm ...«

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An einem Donnerstag in der zweiten Novemberwoche wurde Kerkhoven dringend nach Basel berufen. Es handelte sich um eine traumatische Gehirnblutung bei einem noch jungen Mann, einem Privatdozenten an der Universität. Dieser, seit langem mit Kerkhoven bekannt und Bewunderer seiner wissenschaftlichen Arbeiten, beherbergte zufällig einen deutschen Gast bei sich, den Chef eines Verlagshauses für medizinische Literatur, namentlich aller Spezifika über Nervenheilkunde. Es fügte sich, daß Kerkhoven mit ihm ins Gespräch kam und ihn beiläufig fragte, ob er sich für den Druck seines Werkes interessiere und zu welchen Bedingungen er das Buch übernehmen würde. Die finanzielle Lage Kerkhovens hatte sich in den letzten Monaten beträchtlich verschlechtert, mit einer Honorarzahlung von sechs- bis achttausend Mark glaubte er rechnen zu dürfen, am Fünfzehnten war eine Hypothekarschuld fällig, das Geld auf andere Weise flüssigzumachen, sah er keinen Weg. Der Verleger erklärte sich ohne Zaudern bereit; das Kerkhovensche Buch wurde in Fachkreisen schon lange mit Spannung erwartet, einzelne Fragmente, die in Zeitschriften veröffentlicht worden waren, hatten Aufsehen erregt, und das Angebot des deutschen Herrn, der Betrag sollte sofort nach Unterschrift des Kontraktes gezahlt werden, entsprach ungefähr der Summe, die Kerkhoven hatte fordern wollen. Es sei am besten, die Sache noch heute ins reine zu bringen, schlug er Kerkhoven vor, morgen trete er eine Reise nach Südfrankreich an und sei in den nächsten Wochen schwer zu erreichen; wenn er das Manuskript zur Abschätzung des Umfangs und der Bogenzahl für eine Stunde haben könne, stehe dem sofortigen Abschluß des Geschäfts nicht im Wege. Kerkhoven fiel ein Stein vom Herzen, er hatte auf eine so rasche Erledigung nicht zu hoffen gewagt, die einzige Schwierigkeit war, wie er noch heute das Manuskript herbeischaffen sollte; es selbst zu holen war, abgesehen von der physischen Anstrengung, nicht möglich, da er den Tag über in der Nähe des Patienten bleiben mußte, ein vertrauenswürdiger Bote war nicht gleich aufzutreiben, so ließ er sich mit Seeblick verbinden und fragte Marie, nachdem er ihr mit ein paar Worten den Sachverhalt erklärt hatte, ob sie ihm nicht die Liebe erweisen und mit dem Manuskript nach Basel kommen wolle; es liege in der Mittellade seines Schreibtischs; besondere Vorbereitungen seien ja für die dreistündige Bahnfahrt nicht vonnöten.

Unglücklicherweise lag Marie an diesem Tag mit einer schweren Migräne im Bett. Kerkhoven wußte es nicht, da er schon um sieben Uhr früh das Haus verlassen hatte. Sie sagte: »Ich kann nicht, Lieber, ich lieg' im finstern Zimmer und kann mich nicht rühren, ich will Bettina Herzog bitten, sie wird es sicher mit Vergnügen tun, um zwölf geht der Zug, und um halb vier hast du das Manuskript auf jeden Fall.« Als sie abgeläutet hatte, schickte sie ihr Mädchen in den Pavillon hinüber. Zweites Verhängnis: Bettina war mit Helmut über den See nach Radolfzell gefahren, um den schönen Tag auszunützen. Marie überlegte. Aleid kam nicht in Betracht; sie war nicht verläßlich, und Marie wollte sie um nichts bitten. Die Schwester Wys-Wiggers war unabkömmlich. So blieb nur Alexander Herzog; daß er zu Hause war, hatte ihr das Mädchen mitgeteilt. Die Frage war nur: Durfte sie sich getrauen, eine so große Gefälligkeit von ihm zu fordern? Doch sie hatte keine Wahl; daß Joseph das Manuskript noch am Nachmittag erhielt, war wichtig, auch sie wurde ja dadurch von einer Sorgenlast befreit; sie selber war nicht einmal imstande, den Kopf aus den Kissen zu erheben, geschweige denn eine Reise zu machen; sie entschloß sich demnach zum Unvermeidlichen, schickte abermals in die Herzogsche Wohnung und ließ Alexander zu sich bitten. Er folgte dem Mädchen auf dem Fuß. Er trat in den verdunkelten Raum und fragte ängstlich, was ihr fehle. Sie beruhigte ihn mit mühselig erzwungenem Lächeln. Er stand am Fußende des Bettes und sah sie an, voll stummer Verehrung und hilflosem Mitgefühl. Sie konnte nur ganz leise sprechen. Als sie ihm unter vielem Stocken und vielen Entschuldigungen auseinandergesetzt hatte, worum es sich handle, daß es ein unaufschiebbarer Dienst sei, den sie und Joseph von ihm erbäten, und sie niemand andern habe, fiel er ihr fast ungestüm in die Rede und sagte, darüber sei kein Wort zu verlieren, wenn sie von einer Dienstleistung spreche, beschäme sie ihn, er wäre ohnehin an einem der nächsten Tage nach Basel gefahren, um einen Freund zu besuchen, sie möge das Manuskript verpacken lassen und es ihm hinüberschicken, Haus und Straße, wo er es Joseph auszuhändigen habe, werde er sich notieren ... Eine halbe Stunde später saß er im Zug. Halten wir diese ebenso kleinlichen wie verwickelten Umstände zusammen, so stellt sich der Verlust der Kerkhovenschen Handschrift als eine geradezu diabolische Fügung dar. Um so mehr, als Alexander Herzog im alltäglichen Leben sonst keineswegs zerstreut oder geistesabwesend war. Im Gegenteil, er pflegte Aufträge, mit denen man ihn betraute, mit einer fast pedantischen Genauigkeit auszuführen, derart, daß er während dieser Zeit kaum an etwas anderes denken konnte und unter einem übertriebenen Gefühl von Verantwortung litt. Oft war es vorgekommen, wenn er mit Bettina in einer Stadt weilte, daß sie ihn ersucht hatte, mehrere Einkäufe für sie zu besorgen. Er schrieb dann alles auf einen Zettel, aber das verlieh ihm durchaus noch keine Sicherheit; er mußte beim Gehen beständig in die Tasche greifen und sich überzeugen, ob der Zettel noch vorhanden war. Und hier hatte er ja nicht einen Zettel oder sonst einen leicht verlierbaren Gegenstand zu verwahren, sondern ein vier bis fünf Pfund schweres, ziemlich umfangreiches Paket, dessen Inhalt er kannte, von dessen Unersetzlichkeit er wußte, hatte er doch vor kurzem, nach dem nächtlichen Brand, Kerkhoven ernstliche Vorwürfe gemacht, weil dieser eine Arbeit von solchem Ausmaß und solcher Bedeutung nicht mechanisch vervielfältigen ließ; er hatte es als Leichtsinn bezeichnet, aber Kerkhoven hatte gelacht und das Shakespeare-Wort zitiert: It is a special providence in the fall of a sparrow; wenn ein Sperling seine besondere Vorsehung habe, warum nicht das Werk eines Lebens? Er konnte damals nicht ahnen, daß dieses Werk durch eine Häufung aberwitziger Zufälle ihm für immer entrissen werden sollte, um im Nichts zu verschwinden.

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Wie es zugegangen war, daran konnte sich Alexander bei seiner begreiflichen Verstörung später kaum mehr erinnern. In Rheinfelden mußte er umsteigen. Ein paar Stationen vorher, in Stein, er saß in einem Durchgangswagen dritter Klasse, stieg ein altes Ehepaar ein, beide waren blind; und ein weißer Pudel, den sie an der Leine hielten, war ihr Führer. Schon an der nächsten Haltestelle verließen sie den Zug wieder. Alexander war ihnen beim Aussteigen behilflich, aber die Art, wie der Hund zu erkennen gab, daß er der allein berufene Helfer sei und seinen Beistand gleichsam höflich ablehnte, die menschenhafte Klugheit, die aus seinen Augen strahlte, das machte einen so faszinierenden Eindruck auf Alexander, daß er das Bild nicht mehr los wurde und es in seiner Vorstellung einen legendären Glanz annahm. Er malte sich das Leben der zwei Menschen aus und begleitete sie im Geist in ihr Heim, das ihnen unsichtbar war und in dem sie nur mit den Augen des Hundes existierten. In diese Gedanken versponnen, verließ er in Rheinfelden den Wagen, überschritt das Geleise und wartete auf den Zug, der nach Basel fuhr. Der andere Zug war indes gegen Buchs weitergefahren. Plötzlich bemerkte er zu seinem Schrecken, daß er das Paket hatte liegenlassen. Gepreßten Herzens, seiner Sinne kaum mächtig, stürzte er sofort zum Stationsvorstand. Dieser beruhigte ihn gutmütig; hierzulande käme Verlorenes selten abhanden. Man telefonierte an die nächste Station. Dort wurde gesucht. Der Bescheid war niederschmetternd: Man hatte das Paket nicht gefunden. Alexander erkundigte sich verzweifelt, wie weit der Zug fahre. In Buchs werde er ausrangiert, wurde geantwortet. Indessen hatten sich Leute angesammelt, die die Tragweite des Verlusts instinktiv zu begreifen schienen, das Gebaren Alexanders war ja beredt genug, und dem Fassungslosen allerlei Ratschläge erteilten. Da er stumm, wie vernichtet, dastand, nahm sich eine Frau seiner an und telefonierte an das polizeiliche Fundbüro. Er überlegte wie im Fieber, was er tun solle. Er entschloß sich, ein Auto zu mieten und dem Zug nachzufahren. Zwei Minuten darauf saß er in einem Taxi. Er versprach dem Chauffeur zwanzig Franken Trinkgeld für möglichst schnelle Fahrt. Die Maschine tobte über die gewundenen Straßen. Er saß mit geballen Fäusten neben dem Lenker und verwünschte die Langsamkeit des Motors. Er dachte nicht, er fühlte nicht, die Zeit war Qual. Um halb fünf kamen sie in Buchs an. Der Zug stand auf einem toten Geleise. Er erkannte den Waggon, in dem er gesessen war, und ließ ihn aufsperren. Er erkannte auch das Abteil wieder: nichts. Er lief durch alle andern Abteile: nichts. Er fragte auf der Station: nichts. Er gab sein Nationale ab und ließ ein Protokoll aufnehmen mit der Verheißung eines Finderlohns von dreihundert Franken. Er telefonierte nach Rheinfelden zurück: nichts. Er rief sämtliche Zwischenstationen an: nichts. Er warf sich wieder ins Auto: nach Rheinfelden. Dort angekommen, es war schon am späten Abend, ließ er sich zu einer Druckerei fahren, der Leiter mußte erst aus dem Wirtshaus geholt werden, und setzte den Text eines Plakats auf, das unverzüglich gedruckt und am Morgen angeschlagen werden sollte. Es kostete eine Unsumme, aber Geld war nicht von Belang. Er ging noch zur Polizei und abermals auf die Eisenbahnstation: vergeblich. Um Mitternacht nahm er ein Zimmer in einem Gasthof, warf sich todmüde ins Bett, konnte aber kein Auge schließen. Er war vollkommen gebrochen.

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Im Hinblick auf die Unverwertbarkeit und die für den Finder, sofern er kein Analphabet war, leicht ersichtliche Rückerstattungsmöglichkeit war das spurlose Verschwinden einer umfangreichen wissenschaftlichen Handschrift nicht zu erklären. Denn, um es gleich festzustellen, alle weiteren Nachforschungen, Anzeigen, öffentlichen Verkündigungen hoher Belohnung, alle amtlichen und privaten Schritte zur Wiedererlangung des Manuskripts blieben gänzlich erfolglos; es war, als hätte sich das dickleibige Konvolut in seine Bestandteile aufgelöst oder wäre von einem närrischen Raubvogel davongetragen worden, der seine Jungen mit Papier füttern wollte. Es wurde angenommen, ein Bauer oder Tagelöhner oder ein ungebildeter Kleinhändler habe das herrenlose Paket liegen gesehen und mit nach Hause geschleppt; nachdem er sich vergewissert, daß es nur beschriebene Blätter waren, hatte er dem Fund keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt und ihn in einen Winkel verstaut oder gar ins Feuer geworfen. Letzteres war noch am wahrscheinlichsten; las er dann die Verlustanzeige in seiner Zeitung oder auf einem Plakat, so hatte er keine Veranlassung mehr, sich zu melden, und mußte Unannehmlichkeiten befürchten, wenn er es tat.

Den fieberhaften Bemühungen Alexander Herzogs im einzelnen nachzugehen, wollen wir uns ersparen. Er befand sich nicht einen Augenblick im Zweifel über die Schwere des Verlusts und die Größe seines Unglücks; etwas unermeßlich Kostbares war zerstört, nie wieder gutzumachender Schaden geschehen; für ihn lag es natürlich besonders nah, sich in den gleichartigen Fall zu versetzen; er sagte sich, er würde sicher verrückt vor Zorn und Kummer, wenn ihm so etwas zustieße. Wie er sich vor dem Freund verantworten, wie er ihm überhaupt unter die Augen treten sollte, davon hielt er seine Gedanken ab, es war nicht vorstellbar, es war das Entsetzen schlechthin. Auch in einem jungen Leben konnte man nicht hoffen, die Schuld jemals zu tilgen; und er war alt. Und wie tilgen? Wo gab es einen Gegenwert, einen Ausgleich? Die verzweifelte Energie, die er zunächst an den Tag legte, war vermutlich Flucht vor diesen Erwägungen. Vierundzwanzig Stunden lang kam er nicht zur Besinnung, gab auch keine Nachricht, weder nach Basel noch nach Seeblick. Dann wurde ihm die Feigheit solchen Verhaltens bewußt; man mußte in Sorge um ihn sein; wenn er seine Person zum Ziel der Angst machte, beging er neben allem andern noch eine grobe Täuschung, er schickte also an Bettina ein Telegramm, das bei allem Lakonismus an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Eine halbe Stunde danach, gegen acht Uhr abends, war er in Basel, fuhr in die Weidengasse beim St. Albanstor, Straße und Hausnummer waren ihm noch in Erinnerung, fragte nach Kerkhoven und wurde in das Bücherzimmer des kranken Hausherrn geführt; es dauerte keine drei Minuten, da trat Kerkhoven ein. Und eine Minute später wußte er es. Seit dem gestrigen Abend hatte er in zunehmender Nervosität gewartet, und jeder Anruf in Seeblick hatte nicht nur seine eigene Besorgnis, sondern auch die der Frauen dort vermehrt.

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Einen Augenblick wurde seine Stirn ziegelrot, dann nahm sie eine kalkige Färbung an. Er tastete nach der Lehne eines Stuhls und setzte sich. Es sollte den Eindruck einer willkürlichen Bewegung machen, war aber keine. Er hustete. Er zog das Taschentuch und wischte den Mund ab. Dann erhob er sich wieder, als wolle er beweisen, daß er sehr wohl imstande sei zu gehen, schritt langsam zur Tür und sah nach, ob sie eingeklinkt war. Hier war das Mechanische der Handlung schon offenkundig. Sie wurde ausgeführt, um Zeit zu gewinnen. Aber er sagte noch immer nichts. An der Tür stehend, strich er sich über die Wangen. Er war den ganzen Tag über am Krankenbett gesessen und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich zu rasieren. Die grauen Bartstoppeln knisterten leise unter der Berührung der Hand. »Sie sind ja vollkommen fertig, lieber Freund«, kam es endlich von seinen Lippen. »Ich will veranlassen, daß man in Seeblick erfährt, daß Sie da sind. Aber Sie müssen ruhen. Und morgen ... Man wird sehen, was zu tun ist ...« Was irgend getan werden konnte, sei getan worden, sagte Alexander mit erloschener Stimme. Er zählte alles auf, von der tollen Fahrt nach Buchs angefangen bis zu der Plakatierung und der Ausschickung besoldeter Sucher. Kerkhoven ging schwerfällig zwischen Klavier und Fenster hin und her. Als ein eigentümlich verträumtes, ganz undefinierbares Lächeln auf seinen Lippen erschien, sah ihn Alexander angstvoll-gespannt an. »Ist es sicher, daß Sie keine Abschrift besitzen?« stotterte er. – »Das wollen wir vorerst nicht erörtern«, fiel ihm Kerkhoven fast schroff ins Wort; »es führt zu nichts. Man muß auf den Sinn kommen. Es muß einen Sinn haben. So daß man sagen könnte: Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Ungefähr. In meiner Weise. In der mir angemessenen Weise.« Er zupfte an seinem Kinnbart. Dann fragte er: »Fühlen Sie sich imstande, mit mir nach Hause zu fahren? Ja? Ich glaube, es ist am besten so. Einen Zug haben wir nicht mehr, aber man stellt mir hier ein Auto zur Verfügung. Ich warte nur noch ab, bis man den Patienten geholt hat. Er soll in die Klinik. In einer Stunde bin ich bereit. Legen Sie sich so lange auf das Sofa. Nehmen Sie das da« (er zog eine Glasröhre aus der Tasche und reichte Alexander zwei weiße Tabletten); »es riegelt die Gedanken ab. Sie müssen sich nicht weiter grämen. Im übrigen bin ich überzeugt, das Paket kommt wieder zum Vorschein; fest überzeugt. Ein kleiner Schabernack, den uns das Schicksal spielt. Also Kopf hoch. Und Ruhe ...« Er nickte Alexander zu und ging hinaus. Draußen verschwand das freundliche Lächeln von seinem Gesicht. Er war nicht nur überzeugt, daß das Manuskript nicht wieder in seinen Besitz gelangen würde, sondern wußte mit Bestimmtheit, daß es für immer verloren war. Und damit galt es sich einzurichten.

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Es war ein kleiner Austro-Daimler, der vor dem Haus stand. Ohne Chauffeur. Kerkhoven lenkte ihn selbst. Am nächsten Vormittag sollte der Wagen in Seeblick abgeholt werden. Das schweigende Nebeneinandersitzen während der nächtlichen Fahrt war gut für beide. Alexander war noch ein wenig benommen von den Tabletten. Er starrte hypnotisiert in das Scheinwerferlicht auf der Straße. Ihm war, ab ströme das Licht aus dem Innern Kerkhovens, und mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, wurde es auch in ihm heller. Was für eine geheimnisvolle Kraft, die von diesem Mann ausging! Sie erinnerte an die Wärme vulkanischer Erde oder an die Rindenwärme eines mächtigen Baums, der noch Strahlen aussendet, auch wenn ihn die Sonne längst nicht mehr trifft.

Als sie etwa noch fünf Kilometer von Seeblick entfernt waren, stoppte Kerkhoven die Maschine vor einem Gasthaus. Er kannte den Wirt. Er klopfte an eines der Fenster, und als der Mann schlaftrunken erschien, bat er ihn, den Wagen in die Garage stellen zu dürfen. Alexander wunderte sich. Die Erklärung Kerkhovens, er wolle so spät in der Nacht das Haus nicht durch Autolärm aufschrecken, klang nicht recht glaubwürdig. Er hätte ja den Wagen in einem abgelegenen Teil des Parks stehen lassen können. Erst ein paar Tage später teilte ihm Kerkhoven den wahren Grund mit. »Ich wollte eine Stunde lang mit Ihnen in der Dunkelheit gehen«, sagte er; »ohne zu reden. In der Nacht zu wandern, das reinigt das Gemüt. Da spricht die Natur so eindringlich wie niemals am Tage. Ich mußte die Probe mit Ihnen machen; und mit mir. Famos, wie Sie es gespürt haben. Daß Sie ganz still waren. Dadurch ist die Trübung zwischen uns beseitigt worden. Wissen Sie nicht, wie hart wir miteinander gerungen haben, als wir so schweigend durch die Finsternis gingen?«

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Marie faltete nur stumm die Hände, als Kerkhoven ihr das Geschehene mitteilte. Da Kerkhoven hinlänglich Zeit gehabt hatte, sich zu fassen, ließ sie sich von seiner Ruhe täuschen. Aber es war etwas in seinen Augen, was sie bange machte, und gewisse zerfahrene Gesten, die er hatte, flößten ihr Schrecken ein. Sie erkannte, daß er sich mit übermenschlicher Gewalt zusammennahm. Wenn er doch den Tisch und das Geschirr zerschlüge, dachte sie, wenn er doch zu schreien begänne und uns allesamt aus dem Haus jagte; statt dessen geht er herum wie mit einem Knebel im Hals und mit Bleikugeln an den Füßen. Und immer der perltröpfige Schweiß auf der Stirn und daß er mit der Zungenspitze die Lippen näßte –, was war das, was bedeutete es? Um ein Maß dafür zu gewinnen, was er empfinden mußte, stellte sie sich vor, ein Kind sei ihr gestohlen worden. Gestohlen und getötet. Sie schauderte. Er erriet ihren Gedanken. Vor ihr stehend, legte er die Hand auf ihr Haar, bog ihren Kopf zurück, fing ihren Blick und sagte: »Überschätzen wir das kleine Malheur nicht. Was nicht da ist, Werk oder Mensch, wird nicht entbehrt. Alles Existierende betrügt uns durch seinen Schein von Notwendigkeit. Die lebendige Welt ist ein Bauch mit einem ungeheuren Verdauungsapparat. So oder so tragen wir zur Ernährung bei. Glaubst du, jede Neunte Symphonie und jede erlösende Erkenntnis tritt ans Licht? Es genügt, wenn sie entstehen. Das andere ist eine Fügung für sich. Der Auftrag, der mir abgenommen wird, fällt einfach dem zu, der nach mir kommt. Es geht nichts verloren. Nur in meinem egoistischen Gefühl geht es verloren. Das muß man verwinden. Na, und was die Geldkalamität betrifft, darüber lassen wir uns doch keine grauen Haare wachsen, du und ich. Wär' noch schöner!«

Sie riß seine Hände an ihren Mund und küßte sie abwechselnd, viele Male.

Aber da war noch Alexander Herzog, da war noch Bettina. Bei Alexanders Veranlagung mußte man schlimmer Wirkungen gewärtig sein. Er fühlte sich wahrscheinlich wie ein Aussätziger. Und Bettina, so phantasievoll wie leidenschaftlich in ihrem inneren Anteil, stand plötzlich, so sah es Marie, in einem seltsamen Konflikt zwischen dem Gatten, den sie schuldig finden mußte, obwohl sie mit ihm litt, und dem Freund, dem solches Unglück widerfahren war eben durch seine vertrauende Freundschaft für sie und Alexander. Aus dieser Verwirrung gab es schier keinen Ausweg. Schon bei ihrem ersten Gespräch mit den beiden glaubte Marie wahrzunehmen, daß eine Kluft zwischen ihnen entstanden war, eine von keinem eingestandene Entfremdung, von Alexander dumpf, von Bettina klar gespürt; war es doch, als ob sie eine unsichtbare Waage vor sich hingestreckt hielte, in deren Schalen zwei Seelen lagen, die sie stumm versunken gegeneinander abwog. Auf welche Schale sie den Blick richten würde, die war die schwerere, die würde niedersinken, darum hielt sie auch, furchtsam und ahnungsvoll, die Augen geschlossen. Dieses Bild hatte Marie deutlich vor sich, und sie wandte sich erschrocken ab, weil es unheilvoll und unendlich schmerzlich war.

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Zweiundzwanzig Hefte, engbeschrieben mit Notizen; ein fast kniehoher Stoß Blätter mit Entwürfen, Formulierungen und Zeichnungen; das war das von Kerkhoven in Jahren zusammengetragene Material. Es war auf dem Schreibtisch aufgeschichtet. Da Alexander darauf gedrungen hatte, es zu sehen, zeigte er es ihm. »Bettina sagt mir, Sie dächten an eine neue Niederschrift«, begann Alexander schüchtern; »auch Marie ... Zu ihr haben Sie sogar von zwei bis drei Monaten gesprochen, wenn Sie täglich vier Stunden diktieren könnten ... Stimmt das?« – Kerkhoven sah ihn mit einem schnellen, schiefen Blick an wie jemand, der mit heimlicher Überraschung feststellt, daß sich in einer jämmerlich konstruierten Falle unerwarteterweise eine Maus gefangen hat. In der Tat hatte er den beiden Frauen eingeredet, das Buch ließe sich bei beharrlichem Fleiß und nach sorgfältiger Ordnung der vorhanhandenen Skizzen leichterdings noch einmal schreiben. Als ob er noch so viel Zeit zu leben hätte; denn an die »zwei bis drei Monate« hatten auch Marie und Bettina nicht geglaubt. Nur dieser törichte Mann glaubte daran, dieser Dichter; löschte das Wissen von Joseph Kerkhovens Sterben in sich aus, weil es ihn tröstete, wenn er es vergaß; nahm an, er, der die Einmaligkeit der Entflammungen kannte, die Unwiederholbarkeit von Gedankenfolgen und Wortprägungen, die nur unter der bestimmten Leuchtstärke des augenblicklichen Innenerlebnisses Form und Gestalt gewinnen, nahm an, daß man sich bloß hinzusetzen brauche und, wie ein Schüler seine Strafarbeit, das Pensum repetieren könne! Er lächelte und sagte: »Jaja; ich denke, es wird gehen. Es kostet einen Entschluß ... Immerhin, möglich ist es.« Diese großmütige Lüge beglückte Alexander Herzog. Es fehlte nicht viel, und er hätte in seiner Freude Kerkhoven umarmt.

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Nur die inständigen Bitten Maries hatten Kerkhoven bewogen, Lili Meeven aufzunehmen. Sie war eine Nichte von Frau de Ruyters und mit einem Amsterdamer Edelsteinhändler verheiratet. Frau de Ruyters hatte an Marie einen ausführlichen Brief geschrieben. Der dortige Nervenarzt hatte der Familie empfohlen, die Kranke zu Kerkhoven zu schicken; in Holland hatte Kerkhoven einen Ruf wie nirgends sonst, auch unter Fachkollegen. Man sprach dort von ihm wie von einem Apostel. Er hatte sich zuerst geweigert, die Behandlung zu übernehmen, zumal sich ein klares Krankheitsbild aus dem Brief nicht erkennen ließ. Er war in diesen Tagen seiner selbst nicht sicher. Seine wissenschaftliche Neugier war erloschen. Nach neuen Erfahrungen hatte er kein Verlangen. Alle sogenannte Heilung wurde immer fragwürdiger. Da hatte er nun diese Mannheimer Schauspielerin, die Kokainistin, mit opfervoller Bemühung von ihrer Leibes- und Geistesvergiftung befreit. Zu welchem Ende? Damit sie wieder in schlechten Stücken auftreten konnte, um in einem Jahr rückfällig zu werden? Das Gift hatte er ihr entziehen können, das tiefgewurzelte Bewußtsein von der Hohlheit ihres Daseins hatte er ihr nicht wegnehmen können. Und daran lag's. Es gibt Heilungen, bei denen die Krankheit nur einen Leichnam zurückläßt, und der Arzt hat nichts getan, als daß er die Gesellschaft lebender Gespenster um einen wandelnden Toten bereichert hat. Trotz alledem konnte keine einzige Seele, die verworfenste, die unnützeste, nicht mit ihrem lechzenden Anspruch auf Leben abgewiesen werden; der Arzt, der sich dessen unterfing, vergriff sich an den göttlichen Richtmaßen. In diesem Widerstreit wäre Kerkhoven zugrunde gegangen, hätte er nicht schon die Wegscheide überschritten gehabt, an der das Problem von Leben und Tod für ihn wesenlos geworden war.

So erklärte er sich also bereit, es mit Lili Meeven zu versuchen. Er bereute den Entschluß nicht. Es war ein anderes Interesse als das rein ärztliche, das sie in ihm erweckte. Hier wiederholte sich am lebendigen Objekt, was er an einer gespiegelten Figur erfahren hatte, also wirklich und augenfällig, nicht bildlich und mittelbar. Und so kam er auf den seltsamen Gedanken einer seelischen Homöopathie. Alexander Herzog konnte nicht im Zweifel sein über das Doppelgänger-Phänomen, das ihm hier gegenüberstand. Es war die Probe zu machen, ob die »Venichtigung« gelungen war oder ob noch unaufgelöste Reste des zerstörenden Erlebnisses als Trauma vorhanden waren. Es ging nicht nur um Alexander allein, es ging auch um Bettina, denn gebieterischer für sie als für ihn stellte sich an diesem Punkt die Frage nach Sein oder Nichtsein ihrer Ehe; Entfaltung oder Untergang ihrer Person.

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Von einer Pflegerin begleitet, kam Lili Meeven an. Sie war eine verblühte Vierzigerin mit ungemein lebhaften Gesichtszügen, die an ihren guten Tagen noch eine mädchenhafte Frische besaßen. Ihr strähniges blauschwarzes Haar war ungepflegt und hing wirr über die Stirn, bis zu den großen stumpfschwarzen Augen herab. Sie war zierlich von Gestalt und sprach mit einer rauhen Männerstimme. Das Absonderlichste an ihr war ihre Kleidung, die an eine Heilsarmeeschwester erinnerte. Alles war zerdrückt, fadenscheinig, geschmacklos und ostentativ vernachlässigt. Gattin eines vermögenden Mannes und reich dotiert, tat sie, als ob sie nicht die Mittel hätte, sich ein Paar Handschuhe zu kaufen.

Nur in der Unordnung schien sie sich wohl zu fühlen. Als die Pflegerin ihre Kleider, Wäsche, Schuhe im Schrank und in den Kommodeladen untergebracht hatte, riß sie alles wieder heraus, weil sie ein Paar alte Pantoffeln nicht fand, und warf die Sachen zornig-achtlos auf das Bett und die Stühle. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit Schreiben. Sie hatte Stöße von Tagebüchern; jeden dritten Tag war ein Heft vollgeschrieben. Außerdem schrieb sie zahllose Briefe, einmal fünfzehn auf einen Sitz. Kraft seiner ärztlichen Befugnis kontrollierte Kerkhoven die Korrespondenz, bevor sie der Post übergeben wurde. Alles was sie schrieb, hatte Hand und Fuß, ja, es war im einzelnen voller Scharfsinn. Die stilistische Gewandtheit und Ausdrucksfähigkeit waren bemerkenswert. In den Briefen an ihren Gatten wechselte Zärtlichkeit mit verbissener Gehässigkeit. Auf leidenschaftliche Liebesergüsse folgten die bittersten Vorwürfe, daß er sie ihrer Ideale beraubt und ihr Leben ruiniert habe. Begründet waren die Anklagen nicht. Doch aus den Gesprächen mit ihr erfuhr Kerkhoven, daß sie sich für eine geborene Tänzerin hielt; der Mann war nach ihrer Ansicht schuld daran, daß ihr die künstlerische Karriere verschlossen geblieben war. Dabei hatte sie niemals im Leben getanzt noch das Tanzen erlernt; sie sprach sich nur das Genie zu und phantasierte von den Triumphen, die sie ohne die Ränke gewisser Leute und ohne die Bosheit des Schicksals geerntet hätte.

Wenn sie diesem Traum eine Weile nachgehangen hatte, zog sie sich splitternackt aus und hüpfte auf lächerliche Weise im Zimmer herum. Die Anwesenheit von Frauen genierte sie nicht, sonst war sie prüde wie eine Methodistin. Und zu diesen Übungen sang sie mit hohler Stimme, die langsam anschwoll und in alle Räume des Hauses drang, eigentümlich feierliche Gesänge, geistlichen Liedern ähnlich.

Eine verwirrende Unruhe ging von ihr aus. Das düstere Geheul, das sie zu ihren Tanzexerzitien vollführte, war für alle, die es anhören mußten, eine Nervenfolter. Bat man sie, den Unfug einzustellen, so entrüstete sie sich und berief sich auf die Unsummen, die sie für ihren Aufenthalt bezahlte. Unablässig schmälte und zeterte sie, bald mit Schwester Else, weil das Essen nicht pünktlich auf den Tisch kam, weil der Tee zu dünn, die Schokolade zu dick, die Suppe zu heiß, der Braten zu kalt war, oder mit ihrer Gesellschafterin, von der sie sich bespitzelt wähnte. Eines Tages, als sie das ganze Zimmer nach ihrem Diamantring durchsucht hatte, der sich dann in der Schmutzwäsche in einem zerrissenen Strumpf fand, gab es sogar einen widerlichen Auftritt mit Diebstahlsbeschuldigung. Alle Frauen behandelte sie niederträchtig, besonders dienende, aber wenn Kerkhoven nur das Zimmer betrat, wußte sie sich vor Liebenswürdigkeit nicht zu lassen, und seit sie vernommen hatte, daß Alexander Herzog in Seeblick wohnte, lag sie Kerkhoven so lange in den Ohren, er möge sie mit ihm bekannt machen, bis er es ihr (nicht ohne Hintergedanken) versprach. Sie hielt sich nicht nur für fehlerlos, sondern für das Muster und die Krone aller Weiblichkeit. Frau de Ruyters hatte in ihrem Brief keinen Hehl daraus gemacht, daß sie ihren einzigen Sohn in Grund und Boden verzogen hatte; er war in ganz Amsterdam als Nichtsnutz und Herumtreiber verrufen, desungeachtet sprach sie von ihm wie von einem Ministeranwärter, schrieb ihm sehnsüchtige Episteln und schickte ihm heimlich Geld. Sie hatte nie unrecht, nach ihrer Meinung nie; sie konnte auch nicht unrecht haben, da ihr der Begriff des Rechtes völlig abging und ihr Verhältnis zur Umwelt von einer ungemessenen Selbstverherrlichung bestimmt wurde.

Alles dies war keineswegs Wahnsinn oder Geistesstörung. Bei jeglichem Tun hatte sie sich gerade noch so weit in der Gewalt, daß sie die Folgen übersehen konnte. Sie war außerordentlich verschlagen. Sie hatte die Schlauheit derer, die an der Grenze der Norm stehen und sich wohlweislich hüten, die Grenze zu überschreiten, weil sie genau wissen, daß sie dadurch zu Schaden kommen, entweder durch den Verlust ihrer Freiheit oder durch andere Zwangsmaßnahmen. In diesem Betracht lag einfach eine Charakterentartung vor. Eine solche kann nicht »geheilt« werden, und dieses Defekts wegen hatten sie auch ihre Verwandten nicht zu Kerkhoven geschickt. Ihr wirkliches Leiden bestand in einer Suggestions-Hysterie, und zwar in einem Ausmaß, wie sie Kerkhoven kaum je beobachtet hatte, bis zu motorischen Anfällen und den sogenannten großen Attacken mit Krämpfen, Spasmen, hysterischer Aphonie und Stigmatisierungen. Und seltsamerweise hatten die schweren Erscheinungen bei ihr mehr als bei jedem andern Kranken dieser Art einen stark hervortretenden Zug von Hexenhaftigkeit. Indem sie jede Krankheit, die sie sich einbildete, vollkommen täuschend nachzuahmen vermochte, ohne daß sie die Anzeichen kannte, einen Ausschlag, ein Ödem, eine Eiterung, eine Muskelentzündung mit einundvierzig Grad Fieber, eine Magenblutung, eine Lidgeschwulst, wurden diese körperlichen Bekundungen förmlich zu Lügen der Natur. Die Krankheit war augenscheinlich, und trotzdem war sie nur Schein. Sie wies alle Merkmale auf, durch die sie benennbar und nachweisbar wurde, und war gleichwohl, im wahrsten Sinn des Wortes, ein Hirngespinst. In früherer Zeit, vor einem halben Jahr noch, hätte Kerkhoven das Leiden behandelt, wie es ihm Kenntnis und Erkenntnis vorschrieben, da es sich ja dem Wesen nach von zahllosen ähnlichen Fällen, mit denen er sich zu beschäftigen hatte, nicht unterschied. Aber jetzt sah er durch das täuschende Gewebe, durch die Maschen zwischen Wollen und Erliegen, Qualsucht und Qualwonne, Blutszwang und Blutslist hindurch bis auf den Urgrund: bis in die hoffnungslose, gottverlassene Nacht auf der andern Seite, in der diese Lili und alle ihre Schicksalsschwestern vergeblich nach einem Lichtstrahl Ausschau hielten.

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Draußen herrschte Schneesturm. Kerkhoven saß beim Kaminfeuer, eine Decke auf den Knien, den Kopf auf den Arm gestützt. In die tiefe Stille drang von Zeit zu Zeit das langgezogene, hohle Geleier der Lili Meeven. Ein paar Sekunden lang war es deutlicher vernehmbar: Die Tür des Refektoriums war geöffnet worden. Es war Aleid, die eintrat und auf ihn zukam, kurzatmig, schweren Leibes. »Ich halt's nicht mehr aus, Onkel Joseph«, sagte sie, »die Person macht mich toll mit ihrem Geklön. Schaff sie fort, sonst tu' ich ihr was an, dem Scheusal.« – »Aber Mädelchen, Mädelchen«, begütigte sie Kerkhoven und streichelte ihre Wange, »was ist dir denn so arg dran? Denk, du bist in der Stadt, und die Autos hupen vor deinem Fenster. Du mußt nur nicht wollen, daß es dich quält. Bei solchen Anlässen ist immer der Wille der Fallstrick.« – Aleid erhob den Zeigefinger. »Hörst du«, raunte sie; »schauerlich. Und hat dir Schwester Else erzählt? Jede Nacht schreit sie. Im Schlaf. Es geht einem durch Mark und Bein. Es klingt, wie wenn ein Schwein abgestochen wird. Ist denn so jemand noch ein menschliches Wesen, Onkel Joseph?« – »Ohne Zweifel, Kind. Sie selbst hält sich sogar für ein bevorzugtes.« – »Dann muß ich dir sagen, der Mensch ist mir ein Grauen. Ein Grauen ist er mir.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte sich. – Kerkhoven zog sie neben sich auf die Lehne des Sessels. »Hör mal zu, Aleid«, sagte er ernst, »du läßt dich zu sehr gehen. Du mußt dich zusammenraffen. Du hast eine heilige Pflicht jetzt.« – »Heilige Pflicht?« echote Aleid und starrte ihn mit verzweifelt lachender Miene an. »Kommst du mir auch mit der Betschwesterweise, du?« – »Betschwesterweise? Wie dumm, Aleid. Verbock dich doch nicht. Warum willst du, daß ich dich bedauern soll, da ich doch allen Grund habe, dich zu bewundern?« Sie war erstaunt. Schweigend blickte sie auf seine riesige Hand, die auf ihrer winzigen ruhte. – »Wie lange noch, glaubst du?« fragte er, vertraulich wie eine Frau die andere. – Sie zuckte die Achseln. – »Meiner Schätzung nach kann es sich nur noch um Tage handeln«, fuhr er fort; »willst du es empfangen, wie ein Wärter einen Zuchthäusler empfängt? Zum Mensch-Sein geb' ich dir noch Zeit, zum Mutter-Sein nicht.« – Sie erbebte vor der plötzlichen Strenge seines Tons. Dann kam wieder der rabiate Trotz über sie. Mit Daumen und Zeigefinger der Rechten drehte sie den goldenen Ring an Kerkhovens Hand und stieß dunkelstimmig hervor: »Rede du nur. Ich schwör' dir, ich erwürg's. Wie manche Dienstboten, wenn sie auf dem Klosett entbinden. Du wirst mich nicht dran hindern, bild dir das nicht ein. Ein Kind, das auf so was hin zur Welt kommt ... auf diese Welt ... eine Verruchtheit, es leben zu lassen. Hättest du mir nur beizeiten geholfen. Du warst meine einzige Hoffnung. Aber ihr kennt alle kein Erbarmen.« – Kerkhoven packte sie bei den Schultern und zwang sie so, ihn anzuschauen. »Gut, wenn du's erwürgt hast, will ich dir helfen«, sagte er ruhig und hielt dem brennenden Blick der Smaragdaugen stand, so lange er sich in seinen bohrte.

Sie erhob sich und schlich mit katzenhaftem Gang davon ...

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Die unvermeidliche Begegnung mit Lili Meeven rief in Alexander Herzog dieselbe Empfindung hervor, die man hat, wenn man sich an einen schweren Traum erinnert, der viele Tage, vielleicht sogar Wochen zurückliegt, und man vergeblich bemüht ist, sich seinen Inhalt zu vergegenwärtigen. Sonderbar genug, daß eine Ähnlichkeit, die zum Beispiel Bettina vom ersten Augenblick an aufgefallen war und auf die sie sofort mit stürmischer Abneigung reagierte, ihm zunächst gar nicht bewußt wurde. Die Frau war ihm nicht gerade sympathisch; ihre heftige und indiskrete Art zu fragen war ihm entschieden unangenehm; aber da sie wie viele Damen ihrer Gesellschaftsklasse mit dem üblichen Rüstzeug literarischer Bildung versehen war und keine Gelegenheit vorübergehen ließ, ohne ihm zu beteuern, wie sehr sie ihn als Schriftsteller verehrte, sah er über ihre abstoßenden Eigenschaften hinweg, ja er spürte sie nicht einmal. Doch nach und nach wurden ihm ihre Besuche lästig; ihre schöngeistigen Gespräche fielen ihm auf die Nerven; die Familiengeschichten, die sie ihm erzählte, langweilten ihn; die Selbstberäucherung, die sie ihrer Person zollte, verdroß ihn; die naive Schamlosigkeit, mit der sie Intimitäten aus ihrer Ehe ausbreitete, erregte seinen Widerwillen; der flatternde Blick, der bald eine ziellose Gier, bald eine animalische Traurigkeit, bald eine verworrene Schwärmerei verriet, wurde ihm ebenso zur Pein wie ihre hemmungslose Schwatzsucht und der Mangel jeglicher Genauigkeit und Verläßlichkeit in der Rede. Aber noch immer tastete er sich unsicher gegen ihr Bild vor, wie wenn hinter diesem Bild ein anderes stünde, das er kannte und vergessen hatte. Von ihren krankhaften Zuständen wußte er da noch nichts; sie verbarg sie sorgfältig vor ihm; er wirkte geradezu als Hemmung; wenn sie in ihre Ekstasen verfiel, brauchte Kerkhoven nur von Alexander zu sprechen, und sie erschrak wie bei einer Beschwörung und nahm sich zusammen. Es war außerordentlich lehrreich für Kerkhoven; es hatte etwas von der Erdbeziehung zwischen Isothermen; obwohl er Bettina vorher darauf aufmerksam gemacht hatte, daß etwas dergleichen geschehen könne, hatte er mit einer eigentlichen Heilwirkung nicht gerechnet. Großartiges Verfahren der Natur: Sie schliff einem entarteten Typ die Schärfen ab, um bei dem Gegentyp den Magnetismus auszulösen, der unter veränderten Verhältnissen, mit einem verwandten weiblichen Partner, schon einmal in Erscheinung getreten war. »Das sind eben die Gesetze, nach denen wir uns mischen«, sagte Kerkhoven, als er mit Bettina darüber sprach: »Auch Gott muß sich die Regeln vereinfachen, durch die er das Getriebe in Ordnung hält.«

Und Alexander suchte wie mit einer Binde vor den Augen. Eines Tages schickte ihm Lili Meeven einen kurzen Brief. Sie entschuldigte ihr Nichtkommen (er hatte ihr Kommen gar nicht gewünscht) und bat um ein bestimmtes Buch. Während er die Zeilen las, stutzte er. Die Schrift; woher kannte er die Schrift? Bettina schaute ihm über die Schulter und las mit. »Findest du es nicht merkwürdig«, fragte er; »auch den Namenn ... Meevenn ... Sogar der Name äfft mich ... Meeven ...« Er schlug mit den Knöcheln auf das Briefblatt in seiner Hand und lachte plötzlich. Schüttelte den Kopf und lachte. So sah das von außen aus! Lili Meeven! So sah es aus, wenn es ein vergessener Traum geworden war! So harmlos das Gefahrvolle, so klein das Monströse, so ehern in der Kette drin das Wahnhafte! Der Schmerz eines Erlebnisses kann also von einem abfallen, wenn es aus dem Blut herausgestoßen und wie Treibholz unter anderm Treibholz im Strom des Lebens weiterschwimmt! Das muß man wissen, das muß man erfahren, daran muß man glauben! Und während ihm diese Gedanken glühend durch den Kopf schössen, drehte er sich zu Bettina um, drückte seine Hände an ihre Schläfen und küßte ihren Mund, ihr Kinn, ihre Augen, ihre Stirn, ihre Haare, wieder, immer wieder ...

»Jetzt ist Ihre Zeit gekommen«, sagte Kerkhoven, als sie ihm zart andeutend von dieser seltsamen Szene erzählte: »Sie brauchen sich nur nicht zu sträuben, es vollendet sich von selbst, wenn Sie nur den Sinn richtig verstehen. Sagen Sie doch, haben Sie ihn je so heiter gesehen so ... so befreundet mit seinem Schicksal, so reif für Bettina? Ja, wahrhaftig, das ist es, reif für Bettina, und Bettina darf nicht faul sein, sie muß ernten, die Scheune füllen, das Glück einbringen, tapfer sein, klug sein, umsichtig sein, Bettina sein! Die Gottschwörerin! Das bedeutet ja Ihr Name, falls Sie es nicht wissen sollten: die Gottschwörerin. Ich habe mich eigens vergewissert.« Bettina schaute ihn maßlos verwundert an. So hatte sie ihn nie gesehen, solche Worte nie von ihm gehört. Sie standen an der Parkgrenze, unter den Birken, mitten im Schnee. Sie senkte die Augen, ließ sie über die weiße Fläche gleiten, erhob sie wieder zu ihm und sagte leise: »Lieber, lieber Meister.« – Er fuhr zusammen. »Wieso Meister ?« fragte er verdutzt. »So hat mich einer genannt, bei dem bin ich übel gefahren mit der Meisterschaft ...« – »Bei mir sind Sie gut gefahren damit«, antwortete Bettina mit einem gleichsam entfernten Lächeln, »Sie haben ja mein Leben gemeistert.«

Er beugte sich nieder und berührte mit den Lippen ihren Scheitel. Es war eine Liebkosung, die sie zeitlebens nicht vergaß. Und nachher ging sie ins Haus und trat in Alexanders Zimmer. Er saß am Schreibtisch, sie näherte sich ihm unhörbar, legte den Arm um seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich liebe dich. Ich liebe dich ...«

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Es war höchst eigentümlich: Seit dem Verlust des Manuskripts, mit demselben Tag fast, hatten die Feindseligkeiten gegen Seeblick aufgehört. Wie mit einem Schlag, wie auf Befehl. Und nicht nur das; es kamen Leute aus der Gegend, Frauen, Familienväter, junge Arbeitslose, die von allerlei kleinen Übeln geheilt werden wollten, Geschwüren, Verdauungsstörungen, Bleichsucht, Rheumatismus, Gallenbeschwerden und so weiter. Täglich erschienen sie zu Dutzenden im Sprechzimmer und warteten geduldig, bis sie vorgelassen wurden. Es gemahnte Kerkhoven an die Anfänge seiner Praxis. Aber wenn er damals, als junger Arzt, freudlos und handwerksmäßig die Heilung dieser uninteressanten Leiden betrieben hatte, der höheren Berufung gewärtig, so empfand er sie jetzt durchaus als das Richtige und Würdige, vielleicht sogar als das dem Sinn des Arztseins am meisten Entsprechende. Es war die Rückkehr zum Einfachen; Aufhebung vielfacher kleiner Not und Gefahr und Verhütung größerer; es lag mehr Liebesdienst und -lohn darin als in der Behandlung jener komplizierten Fälle, bei denen einem der ganze Reichtum des Wissens nicht hinweghalf über den Zweifel an der Wissenschaft, geschweige denn, daß sich das ewig verhüllte Geheimnis der Natur erschloß, trotz allem Belauern, Vergleichen, Experimentieren und Messen, trotz aller Kunst und Intuition. Hier konnte er fühlen und befühlen und auch wirklich helfen. Er hatte vollständig vergessen, was für eine ungeheure Sache es war, körperlichen Schmerz zu lindern oder gar ihn zum Verschwinden zu bringen. Er hatte vergessen, wie dankbar die Augen eines Kindes strahlen können, wenn man ihm eine blutende Wunde verbindet; wie ergreifend das Vertrauen einer Mutter war, wenn sie ihren bis auf die Knochen abgezehrten Säugling brachte; wie tief die Erkenntlichkeit eines mit Brandwunden Bedeckten, wenn man ihm Erleichterung von seiner Qual verschaffte. Und das war möglich; es war weder schwierig noch problematisch; man war dann nichts weiter als ein Sanitätssoldat in dem Dauerkrieg, in welchem das Volk mit seinen Lebensplagen liegt. Im Volk aber ist jede Krankheit, mag sie noch so schrecklich sein, etwas viel Wahreres, ja Elementareres als in den oberen Schichten, für deren Leiden der Körper oft genug nur Vorwand ist. Kerkhoven wollte sich den neuen Anforderungen nicht entziehen, obgleich er den bisherigen häufig nicht mehr zu genügen vermochte, dem beständigen und täglich noch wachsenden Zustrom von Hilfsbedürftigen und Ratsuchenden aus aller Herren Ländern. An manchen Tagen überstieg die rein physische Leistung seine Kräfte; er brach zusammen, freilich so, daß es niemand merkte, wie ein müder Hund in seine Hütte kriecht, bevor er sich ausstreckt. Die morsch gewordenen Stützen gaben nach. Um sie zum Aushalten zu zwingen, gab es nur das eine Mittel: dem Todeswillen des Blutes die Todesverneinung der Seele entgegenzusetzen, insofern nämlich der Tod sich anmaßte, gegen den Willen und die Bereitschaft der Seele in ihre innere Sternenbahn einzubrechen; insofern ihm überhaupt eine andere Wirklichkeit zukam als die auf dem Seinswahn beruhende.

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Das Zusammentreffen des Verlusts seiner Lebensarbeit mit dem Umschwung der öffentlichen Meinung konnte natürlich Zufall sein. Aber an solche Zufälle glaubte Kerkhoven nicht. Daß die äußere Welt, die Welt der Tatsachen, der Greifbarkeiten und Sichtbarkeiten, den Einflüssen der »inneren Sternenbahn« unterlag, war ihm nicht im mindesten zweifelhaft. Das Schicksal, diese unerforschliche Verbindung von Kollektivgeschehen und Einzelbewegung, funktionierte im Großen und im Kleinen wie ein gewichteausgleichendes Räderwerk, und seine moralischen wie seine sinnlichen Wirkungen zielen immerdar darauf ab, die Gleichlage zwischen allem Tun und Leiden herzustellen. Kein Mensch könnte existieren ohne die ungewußten Entschädigungen, die ihm durch das geheimnisvolle Ineinandergreifen jener organisierten Lebensmächte gewährt werden.

Dies wußte er tief. Dennoch hatte er den Schmerz um den Verlust nicht verwunden. Er hätte ihn eher tragen können, wäre nur das Weberschiffchen noch seinen alten Gang gelaufen; aber der Faden wurde dünn und dünner; der Vorrat ging zu Ende. Und niemand durfte es wissen. Schlimm genug, daß es Alexander Herzog wußte; was war ihm eingefallen, sich einem Mann zu eröffnen, den eine so innige Freundschaft mit Marie verband. Er hatte Stunden, da er sein eigenes Gefühl für Alexander Herzog unterdrückte, von der Furcht gequält, dieser könne ihn an Marie verraten. Wenn Marie erfuhr, daß er, Joseph, wissend den Tod in sich trug, war das Unglück nicht zu ermessen. Es war dasselbe, wie wenn von zwei Bergsteigern, die an einer steilen Wand aneinandergeseilt sind, der untere stürzt und den oberen mit sich reißt. Er hatte sie ja erst noch hinaufzuführen; das letzte, allerletzte Stück war noch zu erklimmen; sein Tod und der Gipfel oben mußten in ihrem Geist zu eins verschmelzen; es durfte ihr nicht zur Katastrophe werden, es mußte Vollendung sein; keine Veränderung der Substanz, nur eine der Berührung. Er hatte noch nicht die Zeit gehabt, sie vorzubereiten; sie war noch nicht so weit über der Erde wie er; ihr schwindelte noch vor dem Abgrund, sie war noch von der vermeintlichen Tragik des Todes umschattet. Es gab aber keine andere Vorbereitung als den schweigenden Aufstieg an der steilen Wand.

Eines Abends nahm er Alexander beiseite und bat ihn nochmals um das feierliche Gelöbnis seiner Verschwiegenheit. »Sie wissen ja, was ich meine«, fügte er hinzu. – »Daß sie es zum zweitenmal von mir fordern, Joseph, zeigt mir erst, wie schwer ich mich gegen Sie vergangen habe«, antwortete Alexander Herzog. – Der Rückschluß war unerwartet für Kerkhoven, obschon er eine große Kraft und Zartheit der Empfindung bekundete. »Ich leugne nicht den Zusammenhang«, sagte er; »was hilft alles Reden, Sie haben in der Tat unschuldig eine Schuld auf sich geladen. Vielleicht nicht einmal so ganz unschuldig. Vielleicht ... Na, lassen wir es lieber. Doch merken Sie wohl, lieber Freund, einziger Freund, möchte ich sogar sagen, denn außer Ihnen habe ich keinen mehr: Es ist nichts geschehen, nichts zwischen uns, nicht das geringste, wenn ... wenn Sie Ihre ganze Phantasie- und Menschenmacht aufbieten, um in mir und meinem Tod eine Stufe zu sehen.« – »Eine Stufe wozu?« fragte Alexander erschüttert. – Kerkhoven lächelte. »Diese Frage habe ich nicht von Ihnen erwartet«, versetzte er.

153

In der Nacht darauf sprach er mit Marie von dem, was er die Todesfiktion nannte, den Wahn vom Tod. Er saß an ihrem Bett, um, wie gewöhnlich vor dem Schlafengehen, noch eine halbe Stunde mit ihr zu plaudern. Sie hatte ihre Verwunderung geäußert, daß sich Lili Meeven bei ihren verrückten Nackttänzen niemals erkälte, obgleich sie alle Fenster während ihres Gehüpfes aufreiße. »Jede andere bekäme eine Lungenentzündung oder eine schwere Angina; sie bleibt heil. Aber wenn sie sich die Lungenentzündung und die Angina einbildet, hat sie sie. Denkt man darüber nach, so wird man selber verrückt. Was schützt sie im einen Fall und macht sie im andern wehrlos?« – »Schwer zu sagen, Marie. Die Idee schützt den Menschen. Sogar die fixe Idee. Aber du hast ganz recht. Jede Hysterie enthält ein metaphysisches Problem. Hab' ich dir einmal erzählt, was mir in Java mit einem jungen deutschen Geometer passiert ist? Dieser Mann hatte eine unsinnige Furcht vor Schlangen. Eines Tages kommt er zu mir, totenbleich, am ganzen Körper zitternd, eine Giftschlange habe ihn in den Fuß gebissen. Er verlangt, ich solle ihm sofort den Fuß amputieren. Ich sehe nach, kein Biß, keine Wunde, keine Rötung oder Schwellung, nichts. Der Mann bleibt bei seiner Behauptung: Wenn man ihm den Fuß nicht abnehme, müsse er sterben. Er war außer sich vor Angst, aber ich mußte ihn natürlich fortschicken. Am andern Morgen war er tot. Er war unter allen Symptomen der Vergiftung gestorben. Die Obduktion ergab nicht die Spur eines Toxins im Blut. Es war alles Einbildung. Auch der Tod, wenn man will. Und doch starb er wirklich.« – »Man kann also jedes Leiden und jeden Schmerz aus dem Nichts hervorzaubern?« – »Ja, der Mensch ist zu allem fähig. Seine Möglichkeiten sind ohne Grenzen. Wenn ich das so ausspreche, ist es ein Wort, nichts weiter; man kann es glauben und auch wieder nicht glauben; erbring' ich dann den Augenschein dafür, so flüchtet der Geist sofort in den Aberglauben. Er hat eine solche Angst vor der Wahrheit, auch vor der augenscheinlichen, wie jener Geometer vor den Schlangen. Und siehst du, Marie, genaugenommen ist der Tod auch nichts anderes als die Angst vor der Wahrheit. An sich selbst hat er keine Wahrheit. Ich meine, vor Gott hat er keine. Und wir müssen doch zur Wahrheit im Sinn Gottes vordringen. Versenkst du dich mit aller deiner Kraft in dich selbst, so weißt du auf einmal: Es gibt keinen Tod. Mit derselben Sicherheit, mit der ich weiß: Das Plasma ist kein Stoff, sondern nur eine Organisation.«

Marie sah ihn lange an. »Und das Sterben?« fragte sie. – »Das Sterben ist ein Produktionsakt wie die Zeugung. Der Ring muß sich doch irgendwo schließen. Wenn ein Stern in die Sonne stürzt, hört er dann auf? Die Sterne nähren sich von Sternen, die Seelen nähren sich von anderen Seelen. Die Idee zu allen Formen steckt schon in den Urnebeln und Ätherschwingungen, warum sollte der ewige Kreislauf bei meinem mikroskopischen Ich haltmachen? Es ist unbegreiflich, ja; alles ist unbegreiflich, auch daß die Flamme brennt, ist unbegreiflich. Man muß es nur klar und streng durchdenken. Man muß es so lange durchdenken, bis das Wunder kein Wunder mehr ist, sondern ein naturnotwendiger Weg. Jedes Wunder hört auf, eins zu sein, wenn ich damit lebe und atme, wie könnt' ich sonst über das Wunder Joseph Kerkhoven, über das Ich-Wunder jeden Tag stumpfsinnig zur Tagesordnung übergehen? Aber ich bin müde, gute Nacht, Marie.« – »Gute Nacht, Joseph.«

Und Marie lag da und sann und sann, seltsam heiter und entkettet.

154

Vier Todesträume Alexander Herzogs, die er für Kerkhoven aus seinem Merkbuch herausgeschrieben.

Der erste: Ich weiß Bettina mit J.K. im Theater. Es treibt mich ebenfalls hin, und damit sie bei meinem Erscheinen nicht ärgerlich wird, will ich ihr sagen, daß ich eine Eisenbahnfahrt machen muß. Im Theater ist kein Platz mehr für mich, der Direktor gibt mir den Schlüssel zu seiner Loge, ich habe nur eine Hausjacke an und ein Hemd ohne Kragen. Zwischen mir und der Bühne ist ein freier Platz, mindestens fünfhundert Meter breit. Auf diesem Platz drängt sich ein wütender Pöbelhaufen, und in dessen Mitte sehe ich Bettina, die mich mit verzweifelt gerungenen Händen um Hilfe anfleht. Der Direktor lacht mich aus und sagt: Das gehört zum Stück, es ist die Regie. Ich bestehe darauf, meinen Smoking zu holen, aber als ich die Loge verlassen will, steht J.K. vor mir und sagt ruhig: Es gibt kein Hinauskommen, du mußt sterben ...

Der zweite: Ich bin in einer Versammlung, einer Art Reichstag, aber es ist ein kleiner, schmaler Saal. Ich bin im Frack, habe jedoch einen Panamastrohhut auf dem Kopf. Den Vorsitz führt Bismarck, er entrüstet sich über den Panamahut und weist mich auf die Galerie. Ein Redner beginnt zu sprechen, er liest seine Rede von einem schmutzigen Fetzen Papier ab, und als er fertig ist, dreht er die elektrische Stehlampe vor sich aus und stirbt im selben Augenblick. Da wirft Bismarck sein gewaltiges weißes Haupt, als wäre er geköpft, vor sich hin auf den Tisch, und während ich die großartiggrauenhafte Agonie an diesem Haupt beobachte, ist mein Gedanke: Das ist die Strafe für seinen Zorn wegen des Panamahutes ...

Der dritte: Gewitter. Ich sehe Blitze wie violette Löcher in einer Wand, die sich gräßlich schnell öffnen und schließen. Ich werde umgeworfen, das heißt, ich krümme mich zu Boden, drücke die Fäuste in den Bauch und habe die Empfindung, daß ich tot bin. Zu meinem Erstaunen konstatiere ich, daß mich der Tod nicht schmerzt, ja, daß er nicht einmal mein Bewußtsein ausgelöscht hat. Und um mir das selbst zu beweisen, spiele ich Ganna eine Komposition Bettinas auf dem Klavier vor, mache aber so viele Fehler, daß mich Ganna fortwährend verbessern muß, wobei zu meinem Ärger aus dem schönen Adagio ein ordinärer Walzer wird. Daran ist nur das Gewitter schuld, geht es mir durch den Kopf, und ich schmeiße den Klavierdeckel zu ...

Der vierte: Ich bin mit Bettina allein. Sie legt sich zu Bett. Ich sitze an ihrem Bett. Ein fremder Mensch kommt herein. Er stört uns, aber wir können ihn aus irgendwelchen Gründen nicht fortschicken. Er ist ziemlich groß und elegant, hat aber den Hemdkragen offen und ist ohne Rock. Obwohl Bettina, als er endlich geht, todmüde ist, entschließt sie sich, noch in eine Gesellschaft zu gehen. (Sie will also nicht mit mir allein sein.) Kaum ist sie angezogen, im Abendkleid und mit ihrem Schmuck, legt sie sich wieder hin und schläft ein. Ich lege mich auch hin, aber sie kehrt mir den Rücken zu. Ich warte und warte. Ich halte einen Regenschirm über uns beide und sehe, daß der Raum zwischen uns voller Glasscherben ist, so, wie ein Bachbett voller Kiesel. Ich stehe auf und laufe fort. Ich renne über Schienen und Geleise. Helmut läuft vor mir her. Wir kommen zum Bahnhof. Ich begegne Ferry. Ich frage: Wo ist der Koffer? Er deutet auf einen Dienstmann. Ich bin wütend, daß er den leeren Koffer von einem Dienstmann tragen läßt. (Woher weiß ich, daß der Koffer leer ist?) Der Zug sieht aus wie die Kommandobrücke eines Schiffes. Ich finde mein Abteil und den Koffer nicht. Das Menschengedränge wird immer beängstigender. Ich höre Bettina mit markerschütternder Stimme nach Helmut schreien. Der Rauch der Lokomotive dringt mir in die Lungen, ich muß ersticken. Über die Bedeutung dieses Traums habe ich lange und schmerzlich gebrütet, ohne auf den Sinn zu kommen. Er hat etwas beispiellos Finsteres an sich; vielleicht, weil die einzelnen Vorgänge so banal und nur im Zusammenhang gespenstisch wirken.

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»Aus welcher Zeit stammen diese Träume?« fragte Kerkhoven, als sie am Abend im Refektorium saßen. – »Alle aus dem letzten halben Jahr«, erwiderte Alexander. – »Bei dem Traum vom Theater ist das ohne weiteres ersichtlich«, warf Kerkhoven ein wenig spöttisch hin; »aber was mich interessiert: Was war der Antrieb, sie nochmals aufzuschreiben und aneinanderzureihen?« – »Das kann ich Ihnen genau sagen. Weil meine Träume seit kurzem einen ganz andern Charakter haben.« – »So? Welchen denn?« – »Es ist auffallend ... Natürlich sind die hier nur eine Auswahl ... Ich wollte es mir selbst demonstrieren ... früher: Auseinandersetzung, Selbstzweifel, Sich-bedroht-Fühlen, Sich-zur-Wehr-Setzen, Angst, Angst, Angst; jetzt: als ob ich aus dem Gefängnis entlassen wäre ...« – »Und was für Träume sind es jetzt? Mit Deutung, nicht wahr, wollen wir uns nicht abgeben. Es ist eine zu gefährliche Sache. Es steckt zuviel Afterweisheit in der Deutung. Zuviel Eitelkeit der Kombination, zuviel Anmaßung. Kein Mensch, gelehrt oder ungelehrt, kann einen Traum bis zu seinen Quellen verfolgen, und die sich's einbilden, haben keine Ahnung von den Quellen. Aber Sie wollten mir erzählen ... worin besteht die Veränderung? Der Vergleich mit dem Gefängnis ist mir zu allgemein ...« – Statt zu antworten stellte Alexander Herzog eine Frage: »Haben Sie schon einmal über das Wesen der Botschaft nachgedacht? Das ist es nämlich. Ich bekomme fortwährend Botschaften ...« – Kerkhoven spielte den Verständnislosen. »Botschaften? Ei! Welche, woher?« – Alexander durchschaute das Spiel und lächelte. »Wozu das Examen, Joseph? Die Botschaften gehen doch von Ihnen aus. Jeder Traum enthält eine. Wenn ich an den denke, der ich war, ehe ich Sie kannte, und der ich heute bin ... Wie soll ich's erklären ... Es ist, als hätte ich vorher nur durch Rauschgifte gelebt ... ohne Eros gewissermaßen ... Verstehen Sie? Ohne Eros ...« – »Nicht nur gewissermaßen, Alexander. Es war tatsächlich so.« – »Kennen Sie die Geschichte von Johann Tauler, dem Mystiker, und dem Gottesfreund?« fuhr Alexander Herzog fort. »Der eigentliche Name des Gottesfreundes ist nie bekannt geworden. Er hieß schlechtweg der Gottesfreund vom Oberland. Er kam zu Tauler nach Straßburg in der Absicht, etwas Rat bei ihm zu schaffen. Er hörte ihn predigen, und als ihn Tauler fragte, der hielt ihn nämlich für seinen Jünger, wie ihm die Predigt gefallen habe, antwortete er kühn, er wolle keineswegs Taulers Lehre antasten, die Lehre, daß man, um zur Gemeinschaft mit Gott zu gelangen, alle sinnlichen und begrifflichen Vorstellungen von Gott durchbrechen, auch das Wohlgefallen des Geistes daran überwinden müsse; nein, das sei schön und wahr; was ihm seine Worte unschmackhaft mache, das sei die sittliche Verfassung seiner Seele. Die Predigt habe ihm den Eindruck gemacht, als sei es ihm mehr um die eigene als um Gottes Ehre zu tun, als habe er die Last, die er den Seelen auflege, selbst noch nicht angerührt. Und er forderte von Tauler, daß er alles Predigen aufgeben solle, auch seine Tätigkeit im Kloster, auch seine Studien und nur seinen eigenen Mangel an Liebe zum Gegenstand seiner Betrachtungen mache. Das tat Tauler, und er wurde der Spott der Klosterbrüder und aller Menschen, mit denen er Umgang gehabt, ja, man behandelte ihn wie einen Irrsinnigen. Er hätte diese Schule der Selbstverleugnung nicht bestehen können, wenn ihm der Gottesfreund nicht von Zeit zu Zeit tröstende und aufrichtende Botschaften geschickt hätte, nicht geschriebene oder gesprochene, sondern stumme, man könnte sagen geisterhafte. Und als ihm nach Jahr und Tag die Botschaft wurde, er solle wieder predigen, nachdem er durch Gottes Gnade das Licht empfangen habe, überkam ihn auf der Kanzel ein Weinen, das er nicht zu stillen vermochte, so daß er von neuem zum Gespött der Menschen wurde. Aber allmählich gelangte er dann doch zur Harmonie mit seinem geschaffenen Grund, wie er sich ausdrückt. Und denken Sie, auch er spricht, wörtlich, von der »Vernichtigung« des Menschen gegenüber der Gottheit und der Vernichtigung des Bösen und der Vernichtigung des Todes. Vor nunmehr sechshundert Jahren! Von ihm ist ja gesagt worden, er hätte mit seiner feurigen Zunge die Erde angezündet. Nur, weil er die Botschaft erhalten hat ...«

Alexander schwieg, auch Kerkhoven fand es nicht notwendig zu reden. Das Knistern des Holzes im Kamin und vor den Fenstern das leise Knacken der Zweige unter der Schneelast machte die Stille förmlich lebendig.

156

Zur selben Zeit lag Aleid unten in Wehen. Marie, Schwester Else und die Hebamme waren bei ihr. »Du mußt schreien, Liebling«, sagte Marie, »schrei, so laut du kannst, das wird dir helfen.« Aber Aleid biß mit solcher Gewalt die Zähne zusammen, daß sich ihr ganzes Gesicht verzerrte und die Augen zu Schlitzen wurden. Sie weigerte sich zu schreien. Sie hatte sich vorgenommen, nicht zu schreien. Es dauerte bereits sieben Stunden, das Fürchterliche; es war, als ob die Eingeweide langsam in Streifen gerissen würden. »Laßt mich sterben«, ächzte sie, »warum laßt ihr mich nicht sterben? Schlagt mich tot ... Ich will nicht, ich will nicht ...« Von Zeit zu Zeit war Kerkhoven hereingekommen, hatte ein paar Worte mit der Hebamme gewechselt, war ans Bett getreten und hatte der Kreißenden die Hand auf die Stirn gelegt, was sie zu beruhigen schien. Ein rasender, irrer Blick zuckte zu dem Mann empor, dann verkrampften sich die Lider von neuem zu Schlitzen. Gegen elf Uhr verließ Marie schluchzend das Zimmer und ging zu Bettina, die im Raum nebenan saß. »Ich kann's nicht mehr mit ansehen«, rief sie aus, streckte die Arme mit geballten Fäusten starr von sich und wäre hingestürzt, wenn Bettina nicht eilends aufgesprungen und sie gestützt hätte.

Auf einmal ein Schrei, ein einziger Schrei, wie eine Stichflamme, die in die Nacht zischt, unerträglich, eine drei Sekunden lange Ewigkeit lang. Beide Frauen lehnten zitternd aneinander. Dann war es still. Sie lauschten; es war still. Dann ein kleines absonderliches Krähen. Die alte Hebamme öffnete die Tür. »Gelobt sei Jesus Christus«, sagte sie, »es ist überstanden.« Schwester Else, Marie und Bettina falteten unwillkürlich die Hände. Kerkhoven kam vom Refektorium herunter. Alexander Herzog blieb im Flur stehen. Drinnen lag mit weiten Augen die junge Mutter, zwischen ihren Armen eingewickelt das Wesen, das sie geboren hatte. Kerkhoven nahm ihre Hand. »Laß mich sehen, Onkel Joseph«, hauchte sie. Er hob es sorglich auf und zeigte es ihr. »Ist es das«, flüsterte sie, »und lebt? Sag, lebt es wirklich?« – »Es lebt mit allem, was es an sich hat«, sagte Kerkhoven freundlich. – Die Smaragdaugen füllten sich mit einem unbeschreiblichen Glanz. – »Du mußt es als eine Gnade ansehen, Aleid«, sagte Kerkhoven; »fühlst du, daß es die Gnade ist?« – »Ja ... ich fühl's ...«, war die Antwort, »ich fühl's ...«


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