Jakob Wassermann
Alexander in Babylon
Jakob Wassermann

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Achtes Kapitel

Die Chaldäer

An einem goldschimmernden Tage zogen sie durch die Pforten der großen medischen Mauer, die das babylonische Land gegen Norden abschloß, aber schon zu verfallen begann. Nun tauchte Dorf auf Dorf empor in der Ruhe der Wohlhabenheit und des Friedens. Kanäle durchschnitten die Ebene nach allen Richtungen, in milchigem Blau lag der Himmel auf ihrem stillen Spiegel, glitzernd und schmal verloren sie sich in die Fernen. An den Ufern erhoben sich schwarz und ungefügig die Schöpfmaschinen, die Felder standen hochbehalmt, in den Palmenhainen lasen Frauen und Kinder die Datteln auf.

Am Ende des fünften Tages sahen sie den Euphratstrom, wie er sein grünes Wasser lautlos durch die Ebene trug, und die Häuser von Kis, eines kleinen mauerlosen Städtchens, und rings im Bogen und am Ufer entlang gegen Süden lagerte das große Heer.

Durch Boten von der Ankunft Alexanders benachrichtigt, zog ihm Ptolemäos entgegen. Viele Söldner schlossen sich freiwillig an. Ihre Ungeduld, nach Babylon zu gelangen, war kaum zu zähmen. Sie redeten, träumten, phantasierten von nichts andrem. Viele hatten ihre Sklaven vorausgeschickt, um wegen der Quartiere Kundschaft einzuziehen, einige waren bei Nacht heimlich nach Babylon entflohen.

Ptolemäos berichtete, daß die Chaldaer ihm hätten sagen lassen, er möge Alexander vor dem Einzug in Babylon warnen. Alexander möge die Stadt meiden, nichts Gutes stehe ihm dort bevor.

Alexander stutzte. Er sah mit einem finstern Blick ins Weite. Die Finger der rechten Hand spielten in der Mähne des Pferdes. »Die Chaldäer wollen die Einkünfte des Beltempels weiter genießen, und meine Anwesenheit ist ihnen unbequem«, erwiderte er endlich. »Seit sechs Jahren weigern sie sich, mit dem Wiederaufbau zu beginnen, umgehen listig meine Befehle, und nicht einmal der Schutt ist berührt, weil sie das Geld nicht herausgeben wollen. Das ist der wahre Grund ihrer Warnung. Verächtlich sind mir solche Propheten.«

Im Lager angekommen, beschloß Alexander, ungeachtet der vorgerückten Abendstunde, die Gesandtschaft der Karthager zu empfangen. Vielleicht fürchtete er die Schlaflosigkeit, oder er wollte seinen Geist durch äußeren Pomp betäuben. Kurz vor Mitternacht kamen die erstaunten Gesandten zum großen Zelt der Audienzen. Alexander, in morgenländischer Kleidung mit der Tiara, Gewand und Gürtel mit Edelsteinen und Perlen beladen, saß inmitten eines Kranzes von Fackeln. Sein unbewegliches Gesicht ruhte maskenhaft über der Versammlung. Der älteste Gesandte trat vor, kreuzte die Arme über der Brust, kniete nieder und beugte den Rumpf, bis er mit der Stirn den Teppich berührte. Seine Gefährten schlössen vor Scham die Augen.

Da erschallte ein spöttisches Gelächter.

Erschrocken fuhren alle zusammen. Der Karthager erhob sich halb. Alexander schnellte von seinem Sitz empor.

»Wer hat gelacht?« fragte er mit heiserer Stimme.

Keine Antwort. Ein schwacher Wind wehte durch die offenen Türen, strich über die Fackelbrände und streute aus jedem eine Anzahl Funken wie kleine feurige Blumen zur Erde.

Langsam stieg Alexander die Stufen der Estrade hinab. Mit verzehrendem Blick schaute er zuerst nach rechts, dann nach links. Die Wache senkte die Speere, die Gesandten wichen scheu zurück. Sein Aussehen war entsetzlich. Der Mund war voll Schaum. Er atmete rasch und laut wie ein wassersuchender Hund.

»Wer hat gelacht?« fragte er noch einmal flüsternd; seine Augen verdrehten sich konvulsivisch.

Die Reihen der makedonischen Edlen an der Rückwand des Zeltes bewegten sich, und zögernd, so weiß im Gesicht wie ein Aussätziger, trat Arrhidäos in die schmale Gasse.

Unfähig, den fliegenden Atem zu beherrschen, starrte ihn Alexander an. »Warum?« fragte er endlich leise. »Warum lachst du?«

Arrhidäos' Blick suchte zu entkommen. Dann entgegnete er, und ein Zittern durchlief seine Gestalt: »Ich lache, weil du, Alexander, ein Hellene, Schüler der Akademie, ein Mensch wie wir alle, dich anbeten läßt wie ein asiatisches Götzenbild.«

Alexander ging einen Schritt vor, packte Arrhidäos bei den Haaren, riß seinen Kopf so stark nach abwärts, als ob er ihn von den Schultern zerren wollte, und schlug ihn mit aller Gewalt dreimal gegen den Pfosten des Zeltes.

Der Gezüchtigte richtete sich langsam auf. Er sah aus wie eine Leiche. Sein Auge schillerte fahl. Nicht Haß allein, Scham oder Schmerz lag darin, sondern unermeßliches, unvergeßliches Grauen.

Ruhig unterhielt sich Alexander mit den befangenen Gesandten, dankte für die Geschenke und verließ bald darauf das Zelt.

Am andern Morgen kam Apollodor, der militärische Kommandant von Babylon, ins Lager und wurde zu Alexander geführt. Nachdem er seinen Bericht über die Truppen abgelegt hatte, erzählte er mit selbstgefälliger Weitschweifigkeit, er habe von den Weissagungen der Chaldäer gehört; er habe seinen Bruder Peithagoras, den Wahrsager, gebeten, über Alexanders Schicksal heimlich die Opfer zu beschauen. Das habe Peithagoras getan, und die Leber des Opfertieres sei ohne Lappen gewesen.

Alexander schwieg. Der Mann gefiel ihm nicht. Er hatte etwas Hinterhältiges, etwas ungeschickt Heuchlerisches an sich. Mit bitterem Mißtrauen sah ihn Alexander an, als wolle er sagen: Wozu deine übertriebene Sorge? Welche Belohnung erwartest du? Er befahl, daß man Peithagoras rufe. Der Wahrsager kam, blaß wie das schlechte Gewissen. Er wand sich hin und her unter den Fragen und gestand endlich zu, daß die Leber des Tieres ohne Kopf gewesen sei. »Warum hast du es verheimlicht?« fragte Alexander. Er habe dem Opfer nicht getraut, antwortete der Wahrsager. »Aber Hephästions Tod hast du zuvor gewußt«, mischte sich Apollodor eifrig ein, der um jeden Preis die Rolle von Alexanders ängstlichem Freund fortsetzen wollte.

Jetzt sprang Alexander auf. »Opfere gleich!« befahl er.

Peithagoras wählte einen jungen wilden Esel. Zwei Sklaven zerrten das widerstrebende Tier zu einem Altar aus Backsteinen. Mit einem geschickten Axthieb tötete es der Wahrsager und schnitt den Bauch auf. Die Begleiter Apol- lodors traten neugierig hinzu, als die mit Räuchereien vermischte Flamme emporloderte und prasselnd die Gallen empfing. Während Peithagoras die Eingeweide betrachtete und die schwarze Leber kaum zu zeigen wagte, stand Apollodor mit dem Leibwächter Lysimachos etwas abseits, und sie flüsterten zusammen. »Seid ihr schon einig?« fuhr Alexander sie mit finster zusammengezogenen Brauen an. »Was habt ihr beschlossen? Nach welchen Provinzen gelüstet euch? Ist euch Babylon zu klein? Laßt uns feilschen, vielleicht geb ich Ägypten dazu. Seht nur, das Feuer qualmt und duckt sich, ein schlechtes Zeichen, nicht wahr? Aber mit den Göttern, die ihr erkennt und fürchtet, getrau ich mich's noch aufzunehmen.« Er stieß mit dem Fuß den Haufen der Gedärme beiseite, daß das Blut den Umstehenden ins Gesicht spritzte.

Da kam der Mundschenk Jollas aus einer Zeltgasse gelaufen. »Die Chaldäer kommen!« schrie er.

Alexander machte eine heftige Handbewegung und schüttelte leidenschaftlich den Kopf. »Sie sollen kommen«, sagte er, »morgen zieht das Heer nach Babylon.«

Das Jubelgeschrei der in der Nähe befindlichen Soldaten antwortete ihm. Mit Windeseile verbreitete sich die Nachricht.

Zwischen den königlichen Zelten tauchte eine Schar von merkwürdigen Gestalten auf. Es waren sieben alte Männer mit langen Barten. Sie ritten seitlings auf weißen Eseln, die mit Henna gefärbt waren und rote Schwänze und rote Ohren hatten. Sie trugen baumwollne Unterkleider und weiße Oberkleider. Ihre Gesichter zeigten einen steinernen Ernst. Der Ausdruck ihrer Augen glich dem von Leuten, die sich monatelang in der Finsternis aufgehalten haben; es waren blicklose Augen. Die olivenfarbne Haut über Gesicht, Hals und Händen war dürr, eingeschrumpft und ledern. Sie hatten untereinander eine so auffallende, halb lächerliche, halb grauenhafte Ähnlichkeit, nicht als ob sie Brüder, sondern als ob sie die siebenfachen Schatten eines einzigen, ehemals lebendigen Menschen wären.

Es waren die Obersten der Chaldäer von Borsippa.

Die Sonne lag schwer und heiß auf dem Gras, im rötlichen Sand der Straße, glitzerte im Wasser der Kanäle, auf den gläsernen Flügeln der Insekten, rann, von flüchtigen Blätterschatten der Palmen bewegt, über die weißen, roten und blauen Dächer der Zelte.

Die Chaldäer glitten von den Tieren herab und näherten sich zu Fuß. Auch ihr unhörbarer Gang hatte etwas Schattenhaftes. Dicht vor Alexander warfen sie sich gleichzeitig zur Erde, mit dem ganzen Körper und mit ausgestreckten Armen. Dann erhob sich einer, und seine gelblichen Augensterne belebten sich nicht, während er sprach. »Der große Hundsstern war verhüllt in dieser Nacht. Kehre um, Alexander.«

Der zweite richtete sich auf und sagte: »Möge sich das Verhängnis verziehen, möge es wieder hell um mich werden, ich komme als Bote des Herrn, als Bote des mächtigen Herrn. Kehre um, Alexander.«

»Asien ist groß«, sagte der dritte. »Lege dein Haupt anderswohin, aus reinen Gefäßen trinke reines Wasser, geh nicht auf den Pfad, wo man im Finstern wandelt.«

Alexanders Augen schlössen sich, als ob die Wucht des Nachdenkens die Lider gewaltsam herabzöge. Er wagte dem geheimnisvollen Wesen der Chaldäer nicht zu mißtrauen, obwohl er sich belogen und betrogen erschien, obwohl er allen zu mißtrauen begann, allen menschlichen Gesichtern. Ihm war, als stehe er in einer Gewitterwolke und dürfe sich nicht bewegen, um nicht den Blitz aufzustören. Schauer auf Schauer rieselte über seinen Nacken. Während eines Gedankens Kürze dachte er an Umkehr und daß er nicht mehr zurückkonnte. Die er hergeführt, drängten ihn weiter, nichts vermochte sie zu hemmen, ihr Wille hatte die Gewalt einer Wasserflut. Aber ihm dünkte es unmöglich, die Ereignisse rollen, die Umstände mächtig werden zu lassen, zu einem Knecht der Gelegenheit herabzusinken, hin und her zu irren zwischen Zufall und Augenblicksgunst, die Gefahr schon an ihren Schatten zu messen, Einsatz und Gewinn aneinander abzuwägen und statt Herr über die Dinge zu sein, in gemeiner Furcht ihren Lauf zu erklügeln.

Unwillkürlich reckte er sich auf; er befahl, die Chaldäer gefangenzusetzen.

Sehr erschrocken, wagten die Soldaten nicht, den Befehl auszuführen.

Er wiederholte seine Worte. Die Söldner umringten die sieben Priester. Ein höchst sonderbares Lächeln schwebte um den Mund des Ältesten; keiner von ihnen zeigte Unwillen oder Angst.

Am Abend zog Alexander das makedonische Kleid an, setzte die Purpurmütze auf und bog die breite Krempe weit ins Gesicht; er wollte durchs Lager gehen und ungestört bleiben. Er nahm seinen Lieblingshund Perita mit, ein indisches Windspiel.

Die meisten Zelte waren schon abgebrochen. Von den herausgerissenen Stangen war das Erdreich aufgewühlt, und Sand war zu Haufen geschüttet, auf denen die Asche der Küchenfeuer lag. Der Boden war besät von Dattelkernen, Knochen, Speiseresten und weggeworfenem Tand. Der Abend war mild. In der schwarzblauen Höhe zogen weißliche und im Westen goldgelbe Wolken dahin, langsam wie führerlose Kähne.

Lässig schritt Alexander durch die Gruppen der hingelagerten Söldner. Einige spielten Würfel, andere das Städtespiel, andere sangen. Viele saßen beim Essen vor großen dreifüßigen Pfannen, in denen riesige Stücke gekochten Fleisches schwammen. Ein dicker gefräßiger Bursche hatte einen mit Sardellen gefüllten Korb zwischen den Knien und stopfte die Fische mit beiden Händen in den Mund. Er lud seine Freunde ein, mitzuhalten, aber sie trauten sich nicht, sie fürchteten die syrische Göttin, die den Sardellenesser mit Abzehrung der Leber heimsucht.

Bei einer thessalischen Abteilung entstand Streit. Schreiend und mit blanken Schwertern drangen sie aufeinander ein. Nicht wie sonst trat Alexander hinzu, um Ordnung und Recht zu schaffen, achtlos ging er vorbei, ging durch das Gewühl kreischender Weiber. Asiatinnen und griechische Dirnen hockten auf der Erde und warteten auf Käufer ihres Leibes. An dunkleren Orten, im Schatten der Gebüsche sah man Paare, die sich umschlungen hielten.

Auf einmal war es still um Alexander geworden. Rings auf der bloßen Erde lagen lauter Schläfer. Nicht Männer, nicht Soldaten; es waren die zurückgebliebenen Kinder der heimgezogenen Veteranen. Manche Mütter saßen, da es noch früh in der Nacht war, aufrecht neben den Schlummernden. Was mochten sie sinnen? Welches Antlitz mochte ihnen die Zukunft zeigen, welche Hoffnung nährte wohl ihr Herz?

Zu Hunderten lagen sie da, auf Stroh und trocknes Gras gebettet, vom Säugling bis zu dem Alter, wo die nächtlichen Träume schon durch einen Strahl der Vernunft beleuchtet werden. Die Luft schien bewegt durch ihren unschuldigen Atem. Eine Erinnerung glomm in Alexander empor und wurde hell, als der Gedanke sie berührte.

Er ließ sich auf eine abgebrochene Baumwurzel nieder, rief Perita und streichelte das seidige Fell des Hundes. Und er dachte an den Inder Kondanyo, der einst – so war es ihm gegenwärtig - mitten durch das flammende Abendrot gezogen war und den Kindern der Wüstengefallenen Schutz erfleht hatte. Noch hörte er das Wort: Süß ist die Einsamkeit! Und er schüttelte den Kopf und dachte: Bitter, bitter ist die Einsamkeit. Warum war also keine Wahrheit im seligen Glanz jenes Angesichts?

Zur selben Stunde starb in Babylon Kondanyo, müde vom Anblick der menschlichen Geschäfte, satt und übersatt des unvollkommenen Lebens, den freiwilligen selbstgewählten Tod auf dem Scheiterhaufen.

Als Alexander in die Fackel- und Feuerhelle des Lagers zurückgekehrt war, blieb er vor einem großen Zelt stehen und horchte auf den herausschallenden Lärm. Er trat hinein. Etwa fünfzig seiner Freunde waren zum Gelage versammelt. Es hatte etwas Traumhaftes für Alexander, sie alle so zu sehen; er hatte die Empfindung: so wird es nirgends und niemals wieder sein auf dem Erdenrund, und doch glaubte er, daß seine Seele es schon einmal so qualvoll erlebt habe wie jetzt, vielleicht auf ihrer Wanderung durch einen früheren Leib.

Ein peinliches Schweigen entstand, als die Zecher Alexander gewahrten. Seine grübelnde Miene, sein bohrender Blick, das Zucken des scharlachnen Mundes in dem bleichen Gesicht raubten ihnen die Unbefangenheit. Deutlicher als je spürten sie die Macht, die er über sie hatte, die Demütigung, die ihnen seine bloße Gegenwart auferlegte, das Wunderbare, ja Erschreckende seiner Person.

Er nahm auf einem Ruhelager Platz, grüßte mit hastigem Lächeln und verlangte zu trinken. Es fanden sich Schmeichler und Schwätzer und schöne Knaben um ihn zusammen. Zwei schmarotzende Literaten stritten, ob er zweihundert oder dreihundert Jahre alt werden würde. Er trank viel, begann zu sprechen, aber seine Worte waren leblos. Er bat Eumenes, zu den Chaldäern zu gehen, die in einem dachlosen Zelte gefangen saßen. Sie sollten in dieser Nacht wohl auf den Lauf und das Antlitz der Gestirne achten, ließ ihnen Alexander sagen, und kein günstiges Zeichen sollten sie vergessen. Also in die Sterne setzest du deine Sicherheit? schien das ernste Auge von Eumenes zu fragen.

Die Chaldäer saßen schweigend auf dem Teppich ihres Zeltes. Die Hände gefaltet, die gelben Gesichter von keiner Regung des Innern beseelt, blinzelten sie bald matt vor sich hin, bald hinauf in den Himmel. Die Nacht war kühl und wurde kalt, das Getöse des Lagers verrauschte. Mit jeder neuen Nachtwache trat ein anderer in die Mitte des Raums. Der Palmstab wurde gerichtet, die Wasseruhr lief ihren Gang. Wolken zogen über den Himmel wie lange schwarze Mäntel. Der Königsstern lohte dunkelrot wie ein Blutstropfen.

Aber noch andre Dinge als das Werden und Ineinandergreifen der kleinen Menschenschicksale wußten die Chaldäer vom Firmament zu lesen. Sie ahnten glühende Welten dort oben, sie ahnten im zwiegespaltenen Bogen der Milchstraße, dem Abbild von Euphrat und Tigris, mehr als den blassen Nebelstreif, den das Auge sah. Sie verfolgten Bewegung um Bewegung, und das Tote ward lebendig, das Kleine ungeheuer. In mancher Nacht konnten sie die drückende Fessel des Irdischen abstreifen, ohne die Erde zu verlassen, die Maske des Aberglaubens fortwerfen, und ihr Herz, erfüllt von der Weltenstille des Sternenraumes, fürchtete nicht mehr die niedern Dämonen, denen sie zu Babylon willig dienten.

Am Morgen gaben sie Alexanders Boten die Auskunft, er möge nicht in Babylon einziehen, zum wenigsten möge er warten, bis der Monat Ululu vorüber sei. Wolle er aber dennoch den Gestirnen Trotz bieten, so möge er beim Einzug gegen Morgen schauen, durch das Tor des Westens gehen und im Haus des glänzenden Berges beten, im Tempel der Göttin Gula.

Eine Stunde nach Sonnenaufgang stand kein Zelt mehr außer den königlichen. An hundert Punkten zugleich ertönten die Trompetensignale. Die Erde dröhnte unter der Bewegung der Menschen- und Tiermassen. Eine unabsehbare Wolke feinen grauen Staubes zog sich längs der ganzen Straße gegen Babylon hin. Die vordersten Abteilungen verloren sich schon klein wie Insektenschwärme unter dem blaßblauen Horizont. Die Kanäle dampften.

Nur die berittene Leibschar, die den Tagesdienst hatte, wartete noch auf den Befehl zum Aufbruch, und erst tief am Nachmittag kam die ersehnte Weisung. Alle Arme griffen gierig zu. Die Tücher wurden gefaltet, die Stangen aufgepackt, die Bänke, Sessel, Ruhelager, Kissen, Teppiche verladen. Alexander stieg zu Pferd, Lysimachos, Leonnatos und Seleukos ritten an seinen Seiten, dahinter Peithagoras und ein zweiter Wahrsager, dann die Söldner und zuletzt auf ihren gefärbten Eseln, noch immer sorgfältig bewacht, die sieben Chaldäer.

Alexander wandte sich ab von der Straße, die das Heer gezogen war, und schlug die Richtung gegen den Euphrat ein. Einige glaubten, er wolle drüben in der Steppe jagen, sie reckten die Hälse und spähten nach dem schweifenden Getier.

Ruhevoll floß der mächtige Strom zwischen den flachen Ufern. Das dunkelgrüne, kaum gewellte Wasser ähnelte einem straff gespannten, faltenlosen Tuch. Selten gurgelte ein Strudel, selten sprang ein Fisch in die Höhe. Etwas Erhabenes lag im Bild der Landschaft, Frieden atmete die Welt.

Alexander hielt sein Pferd an und schaute, mit der Rechten die Augen beschirmend, in die unendliche Ebene jenseits des Flusses. Am Rand des Himmels waren Kamele sichtbar, bei der stumpfen Beleuchtung anzusehen wie ferne Bergrücken. Es war irgendeine Karawane von Kaufleuten.

In lautlosem Schweigen ging es am Ufer entlang. Der Himmel hatte sich bewölkt, der Boden verlor sein üppiges Aussehen und wurde kahl und karg. Weit hinein ins Wasser wuchs das hohe Schilfrohr, das von wilden Enten wimmelte. Als die Dämmerung nahte, kamen sie zu einem armseligen Dorf. Alexander ließ die vorhandenen Flöße zusammentreiben und setzte mit seinen Leuten über den Strom, um am rechten Ufer weiterzuziehen.

Jetzt ahnte Peithagoras alles. Er kannte die Landschaft, er hatte drei Jahre in Babylon gelebt, er wußte, wohin dieser Weg führte. Lange kämpfte er mit sich selbst, ob er reden solle, dann siegte der Trieb des Besserwissens, er lenkte sein Pferd neben das Alexanders und sagte: »Du willst nach dem Rat der Chaldäer vom Westen aus in die Stadt. Doch vor uns liegen ungeheure Sümpfe, Alexander. Keine Straße führt hindurch, kein Fahrzeug ist dort zu sehen, keine Menschenwohnung. Der ganze Westen der Stadt ist von Sümpfen umgeben.«

Alexander zuckte zusammen. Mit raubtierartig funkelnden Augen betrachtete er den unglücklichen Warner.

»Kümmere dich um dein Lügengeschäft«, stieß er hervor. »Fort, du betrügerischer Schwätzer, oder ich lasse dir die Zunge aus dem Halse reißen, damit du dich nicht mehr unterstehst, das Schicksal herauszufordern, indem du es künden willst.«

Alle sahen, wie Alexander zitterte, wie seine Stimme in rätselhaftem Schmerz erstickte, wie seine weitgeöffneten Augen Blicke sendeten, die vor einem Luftbild zu erschaudern und wieder zurückzufliehen schienen in das Innere der Seele, und sie begannen sich zu fürchten wie Peithagoras selbst, der mit schlotternden Knien an seinen Platz ritt.

Der Zug stockte. Man vernahm einen langgedehnten Schrei. Man sah sich um, flüsterte, fragte; die Pferde spitzten die Ohren und wurden unruhig.

Einer der Chaldäer hatte sich nach Westen gewendet und deutete in die Sonne, die untergehend zwischen Himmel und Erde stand. Der Anblick war auffallend; die Scheibe war so hoch wie die Stirnseite eines Palastes; sie hatte eine fahlrote Färbung, ähnlich gebranntem Ton, sie war so von Dünsten umzittert, daß sie auf und nieder zu schwanken schien; an ihren Rändern flackerten kleine Flämmchen und entzündeten die wie Tücher darüber flatternden schwarzen Wolken.

Ängstlich und verschüchtert blickten die Söldner auf Alexander. Er hatte das Auge unbewegt auf den Sonnenball geheftet, und als nun die Erde sich öffnete wie ein Maul und die Sonne in sich hineinfraß, da erbebten seine Lippen von einem daseinsgierigen, grausamen Lächeln. In seinem verfinsterten Herzen beschloß er den Tod dieser Chaldäer, die um das Licht der Zukunft standen und es zu verlöschen trachteten.

Kaum war die Dunkelheit eingebrochen, so fing es an zu regnen. Die durch den Luxus des Lagerlebens verwöhnten Söldner waren besorgt, wo sie die Nacht verbringen sollten. Die Dunkelheit verwandelte sich in eine sternenlose Finsternis. Einförmig klang das dumpfe Getrappel der Pferde, vermischt mit dem zufälligen Klirren der Schwerter. Das Rauschen des Stromes war wie ein unaufhörlicher schwacher Gesang.

Gleichmäßig rieselnd fiel der Regen. Die Pferde wurden müde auf dem durchweichten Boden. Nun verließ die Truppe das Ufer; da sie die Stadt im Osten haben wollte, mußte sie im weiten Bogen gegen Westen ziehen.

Es erschallte ein Gebrüll, das in dieser Stunde und Stimmung alle mit Entsetzen erfüllte. Der Sumpflöwe war es, der im Röhricht haust. Einige Pferde bäumten sich und wieherten angstvoll. Alexander ließ das Zeichen zum Halten geben. Es waren keine Pflöcke mitgenommen worden, und die schaudernden Tiere, die mit Gewalt verhindert werden mußten, in die Nacht hinauszustürmen, konnten nicht festgebunden werden. Peithagoras vermutete die Sümpfe in unmittelbarer Nähe. Dreißig der Beherztesten scharten sich zusammen, um hinzugehen und mit ihren Schwertern Schilfrohr abzuschneiden. Nicht lange darauf kehrten sie bepackt zurück, und nun galt es, Feuer zu machen, denn das Gebrüll wurde immer drohender.

Das Rohr war naß und wollte nicht brennen. Erstickender Rauch qualmte empor. Ununterbrochen schallte das gellende Angstgewieher der Pferde, beantwortet von dem majestätischen Aufbrüllen der wilden Tiere.

Die Wachen wurden abgelöst. Die meisten Söldner versuchten, in ihre Decken gewickelt, zu schlafen. Viele aber blieben mit offenen Augen geheimnisvoll erregt liegen. Sie spürten dunkel das Besondere und Bedeutungsvolle dieser Nacht, als hätte, was in der Natur gärt und kocht, sich ihren aufgewühlten Sinnen verraten. Sie sahen, wie Alexander das endlich emporgeflammte Feuer umschritt. Groß stand die behelmte Gestalt im schwarzen Rahmen der Nacht. Die Regenperlen fielen rot und lautlos ringsum in den Feuerkreis. Er rief drei Leute von der Söldnerwache heran und erteilte ihnen einen Befehl. Sie zauderten, sie zitterten, sie schwiegen, ihre Blicke flohen einander. Doch nur ein Wort Alexanders, nur eine Bewegung, und sie gingen, um zu gehorchen.

Bald darauf entstand am einen Ende des Lagers ein kurzer Tumult. Seleukos und Leonnatos liefen kreidebleich zu Alexander. Was sie berichten wollten, blieb ihnen bei seinem Anblick in der Kehle stecken. Er lächelte.

Der Morgen erwachte und tauchte die Stirn in die gelblich glänzenden Wasser der Sümpfe. Da, ein hundert-, aberhundertfacher Freudenruf, tieftönend, lang hallend: Babylon! Babylon! Und wieder: Babylon! Babylon!

Undeutlich noch im grauen Licht, doch ergreifend durch die bloße Wirklichkeit, sahen sie die Mauern der ersehnten Stadt.

Die Chaldäer erblickten die Heimat nicht mehr. Auf der nassen Erde rann das Blut von ihren Leichen; »sieben sind sie, sieben sind sie«.

Die Frühnebel schwankten empor. Alexander schaute hinüber. Er sah eine Menge von Raben über die Stadtmauer fliehen. Sie kamen gegen die Sümpfe zu und fingen auf einmal an, miteinander zu streiten. Nach kurzem Kampf stürzten zehn oder zwölf tot in das aufspritzende Wasser, und die übrigen flogen mit wildem Gekrächze weiter.


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