Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 17

Ann Perryman hatte nicht zum erstenmal Briefe für Mark geschrieben. Er haßte die Arbeit, konnte aber eine Stenotypistin nicht anstellen.

Ann hatte sich während ihrer erzwungenen Untätigkeit sogar über diese Beschäftigung gefreut. Mark hatte ihr einen großen Teil der Korrespondenz übergeben, der harmlosere Geschäftsvorgänge betraf. Er hatte seine Laufbahn als Schmuggler zweifelhafter Artikel begonnen und gut daran verdient. Erst in neuerer Zeit hatte sich daraus der Handel mit Rauschgift entwickelt. Aber nun war Mark durch seine Erfolge ein wenig fahrlässig geworden.

Er selbst war der erste, der das erkannte. Er gab sich keinen Illusionen hin; er wußte, daß die Polizei ihre Nachforschungen mit unendlicher Geduld fortsetzte und daß buchstäblich das Netz um ihn gewoben wurde. Man war offenbar gar nicht darauf bedacht, ihm eine Falle zu stellen und ihn zu fangen, aber er wußte genau, daß er im Augenblick schon nahezu wie ein Gefangener behandelt wurde. Er hatte seinen Paß zur Erneuerung eingesandt und daraufhin die kurze Mitteilung erhalten, daß ihm das Dokument wegen gewisser Unklarheiten erst mit einiger Verspätung zugesandt werden könne. An und für sich war das für Mark kein großes Unglück, denn er besaß noch mehrere andere Pässe auf verschiedene Namen. Aber dieser Vorfall zeigte ihm, daß ein Versuch von seiner Seite, England zu verlassen, die schwersten Folgen für ihn hätte.

Ann Perryman wurde mit der Zeit eine immer größere Gefahr – er mußte sich von ihr befreien.

Und doch fühlte Mark keinen Haß gegen die Frau, deren Leben er aufs Spiel setzen wollte. Böswilligkeit gegen Ann hatte ihn nicht zu dem Plan getrieben, den er so kaltblütig überlegte. Sie war für ihn nur eine Schachfigur, die er opferte, um Vorteile zu gewinnen. Die Leidenschaft für Ann, die damals so plötzlich in ihm aufflammte, war längst wieder erloschen.

Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in einen Umschlag, den er mit großer Sorgfalt an »Inspektor Bradley, Scotland Yard« adressierte. Dann fuhr er in einem Taxi nach West End und warf den Brief auf dem Postamt von Charing Cross in den Kasten.

Es war kaum eine halbe Stunde vergangen, seitdem Ann den Brief geschrieben hatte. Sie wollte sich eben zum Ausgehen umziehen, als plötzlich das Telefon läutete. Sie war sehr verwundert, als sie Tisers Stimme hörte. Er hatte sie früher nur ein einziges Mal angerufen. Wie gewöhnlich sprach er aufgeregt und unverständlich, so daß sie ihn bitten mußte, seine Worte zu wiederholen.

»... nach Bristol. Wollen Sie so liebenswürdig sein und Mark sagen, daß ich den ersten Zug versäumt habe, daß ich aber morgen gegen Mittag fahren werde. Ich habe vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Legen Sie ein gutes Wort für mich ein, Sie wissen doch, daß Mark so schrecklich leicht aufbraust.«

»Wußte er denn, daß Sie nach Bristol fahren wollen?«

»Aber selbstverständlich – er hat mir doch den Auftrag dazu gegeben«, erwiderte Tiser nervös. »Ich versprach ihm, mit dem ersten Zug zu fahren ...«

»Kommen Sie heute abend zurück?« unterbrach sie ihn.

»Nein, erst morgen abend – ich wollte so gern heute zurückkommen, aber Mark ... nun ja, Sie kennen ihn doch. Gibt es irgend etwas Neues? Ich bin so niedergeschlagen, meine Nerven sind am Ende. Könnten Sie nicht einmal mit Mr. Bradley sprechen und ihn davon überzeugen, daß das Versorgungsheim eine ganz harmlose Sache ist? Die Polizei verfolgt diese armen, unglücklichen Leute in der letzten Zeit mit einem Haß, den ich überhaupt nicht mehr verstehen kann. Auch dieser Sedeman macht uns viel zu schaffen. Manchmal kommt mir der Gedanke, daß er tatsächlich ein Polizeispitzel ist. Wollen Sie Mark meine Bestellung ausrichten?«

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er schon eingehängt. Ann setzte sich an ihren Schreibtisch und dachte angestrengt nach. Mark wußte also, daß Tiser verreisen wollte und an diesem Abend nicht in London sein würde. Warum hatte er sie dann diese Mitteilung schreiben lassen – und warum vor allem hatte er diesen unmöglichen Tiser mit »Mein lieber Freund« angeredet? Sie wußte, daß die Beziehungen zwischen den beiden gespannt waren; außerdem machte Mark keine unnötigen Komplimente.

Es fiel ihr auch ein, daß Mark noch niemals an Tiser geschrieben hatte. Und wenn er überhaupt schrieb, warum vereinbarte er dann eine Zusammenkunft im Hydepark? Für die Polizei war es doch kein Geheimnis, daß Tiser häufig zu Mark kam und mit ihm in Verbindung stand.

Ann grübelte lange Zeit über diesen Fall nach, aber schließlich faßte sie einen Entschluß und ging in die andere Wohnung hinüber. Mark war nicht zu Hause, wie ihr der Diener sagte. Sie trat in das Wohnzimmer ein. Auf dem Schreibtisch lagen Briefpapier und Umschläge; aus dem Papierkorb schaute ein zerrissener Umschlag hervor. Sie zog ihn heraus und las in Marks Handschrift das Wort »Inspektor« darauf. Mark hatte ihn anscheinend nicht benutzt, weil ein Klecks darauf gekommen war.

Verwirrt schaute sie auf das Kuvert, und plötzlich fand sie die richtige Lösung. Er hatte den Brief, den sie geschrieben hatte, an Inspektor Bradley geschickt! Sie versuchte verzweifelt, sich jedes Wort ins Gedächtnis zurückzurufen, aber sie hatte der Mitteilung so wenig Beachtung geschenkt, daß sie nur noch den allgemeinen Inhalt wußte. Bradley würde ihre Handschrift wiedererkennen, sie hatte ja schon mehrere Briefe mit ihm gewechselt. Sicher würde er zu der bezeichneten Stelle kommen, da er doch annehmen mußte, daß sie ihm etwas mitzuteilen hatte. Aber warum wollte Mark ihn dorthin bringen? Ein Schauer überlief sie bei diesem Gedanken.

Als sie in ihre Wohnung zurückkam, klingelte das Telefon wieder. Tiser meldete sich, und seine Stimme klang schrill vor Angst.

»Sind Sie es, meine liebe Miss Perryman? Ich fahre nicht nach Bristol – mein Gedächtnis ist einfach fürchterlich in der letzten Zeit. Ich habe mich eben daran erinnert, daß Mark mir heute einen Brief schicken wollte – und zwar einen sehr wichtigen.«

Ein schwaches Lächeln spielte um Anns Lippen.

»Wann haben Sie sich denn daran erinnert«, fragte sie. »Er ist doch nicht etwa selbst ...«, noch rechtzeitig hielt sie inne.

»Erst vor ein paar Minuten. Sie brauchen Mark auch nichts davon zu sagen. Ich werde einen anderen Mann schicken.«

Sie lächelte immer noch ein wenig bitter, als sie den Hörer einhing. Mark mußte in der Herberge gewesen sein, um sich zu erkundigen, ob Tiser abgereist war. Er hatte dann von ihm erfahren, daß er mit ihr telefoniert hatte. Auf diese Weise ließ sich Tisers Aufregung erklären.

Die Gefahr, in der sie selbst schwebte, kam ihr nicht zum Bewußtsein. Sie dachte überhaupt nicht daran, daß ihr Brief im Besitz des ermordeten oder schwerverletzten Bradley ein erdrückend belastendes Zeugnis gegen sie sein mußte. Sie sah im Augenblick nur die Gefahr, die Bradley drohte, und ließ sich in ihrer großen Sorge mit Scotland Yard verbinden.

Aber Bradley war nicht anwesend; sie konnte nur mit seinem Sekretär sprechen.

»Wollen Sie ihm bitte bestellen, daß er mich anrufen möchte, sobald er zurückkommt?« Sie gab ihre Adresse und Nummer an.

»Es ist gut, Miss Perryman, ich werde Ihren Auftrag ausrichten.«

Es war schon Nachmittag, als ihr zum Bewußtsein kam, daß sie seit dem Frühstück noch nichts zu sich genommen hatte, und sie bereitete sich selbst ein einfaches Mittagessen. Sie hatte ihr Dienstmädchen bereits entlassen und versah ihren Haushalt selbst. Die beiden letzten Tage hatte sie nach einer neuen Wohnung gesucht, denn es stand nun bei ihr fest, daß sie mit Mark McGill und seinen Leuten brechen mußte.

Sie besaß noch etwas bares Geld. Mark hatte sie gut bezahlt, aber sie hatte keine großen Ersparnisse zurückgelegt. Sie konnte ja ihren früheren Beruf wieder ausüben. An jenem Abend, an dem Li Yoseph in Marks Wohnung aufgetaucht war, hatte sie einen Brief an ihre alte Schule in Auteuil geschrieben und angefragt, ob sie dort wieder eine Stellung haben könne. Man hatte ihr auch geantwortet; aber der Direktor war auf einer Ferienreise nach Südfrankreich, und sie mußte warten, bis er zurückkam und ihr Bescheid gab.

Es wurde vier Uhr – Bradley hatte sich noch nicht gemeldet. Um sechs Uhr rief sie Scotland Yard noch einmal an, konnte aber weder Bradley noch seinen Sekretär erreichen. Der Inspektor war anscheinend im Büro gewesen, um seine Briefe zu holen. Sie fragte, wo er jetzt zu treffen sei, aber das konnte oder wollte man ihr nicht mitteilen. Sie erhielt nur zur Antwort, daß Bradley einige Minuten in seinem Zimmer gewesen sei. Ihre Botschaft war ihm wohl nicht übermittelt worden.

Die Stunden vergingen, und Ann wurde immer besorgter.

Um halb elf zog sie Mantel und Hut an und verließ die Wohnung. Auf der Treppe begegnete sie Mark.

»Wo wollen Sie denn hingehen?« fragte er erstaunt.

»Ich möchte noch einen kleinen Spaziergang machen.«

»Ich werde Sie begleiten«, bot er ihr an.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich möchte gern allein sein, Mark«, antwortete sie.

Ihre offensichtlich gute Stimmung täuschte ihn, und die Tatsache, daß sie um diese Zeit ausgegangen war, konnte seinen eigenen Plan nur unterstützen.

»Sehen Sie aber zu, daß Ihnen nichts passiert«, sagte er in guter Laune.

Viertel vor elf erreichte Ann Queen's Gate. Als sie an das Parktor kam, hörte sie das Hupen eines Krankenautos, und ihre Unruhe wuchs.

Sie sah die Gestalt eines Mannes – es war der Parkwächter. Er kam langsam auf sie zu und betrachtete sie argwöhnisch.

»Hat es hier – eben einen Unfall gegeben?« fragte sie leise.

»Ja, Miss, in der Nähe des Marble Arch wurde ein Mann niedergeschlagen. Aber ich glaube kaum, daß er schwer verletzt worden ist.«

Sie nickte nur dankbar, denn sie war so aufgeregt, daß sie im Augenblick nicht sprechen konnte. Dann überquerte sie die Straße.

Es war nur ein Fußgänger zu sehen. Er ging vorüber und sah sie von der Seite an. Wahrscheinlich hätte er sie angesprochen, wenn sie sich nicht hastig abgewandt hätte und weitergegangen wäre.

Von welcher Seite mochte Bradley wohl kommen? Und woher drohte das Unheil? Gefahr war im Anzug – davon war sie überzeugt.

Ein Polizist kam aus der Dunkelheit auf sie zu. Bei seinem Anblick fühlte sie sich sehr erleichtert und war nicht einmal böse darüber, daß er sie ansprach und ausfragte.

»Sie sollten eigentlich nicht um diese Zeit hier allein im Park sein, Miss.«

»Ich erwarte – einen Freund«, erwiderte sie heiser.

Sie fühlte, daß er sie durchdringend anschaute und konnte vermuten, was er von ihr dachte.

Aber plötzlich kam ihr ein guter Gedanke.

»Ich warte hier auf Detektivinspektor Bradley von Scotland Yard«, sagte sie etwas atemlos.

Ihre Worte machten Eindruck auf den Mann.

»Ach so – das ist natürlich etwas anderes.«

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie bei mir blieben, bis er kommt. Ich – ich möchte ihn warnen. Ich fürchte, daß ein Angriff auf ihn geplant ist.«

Der Polizist betrachtete sie etwas näher.

»Ich habe Sie doch schon gesehen – sind Sie nicht die junge Dame, die vor einigen Wochen angeklagt war? Ich war damals zufällig auch in einer anderen Sache als Zeuge vorgeladen. Sind Sie nicht Miss Perryman?«

»Ja.«

Er sah von ihr zu dem Parktor und schien unentschlossen zu sein.

»Weiß Mr. Bradley, daß Sie kommen wollen?«

»Ja – ich nehme es an.«

In diesem Augenblick trat ein Mensch durch das Tor, und sie eilte ihm entgegen.

»Sie wollten mich sprechen«, fragte Bradley schnell. »Was gibt es denn? Ich habe Ihren Brief erst um halb elf bekommen, als ich zurückkam. Ich habe Sie angerufen, aber Sie waren schon fortgegangen.«

Er entdeckte den Polizisten.

»Was will der Mann?«

Sie erklärte ihm ein wenig zusammenhanglos, warum sie gekommen war. »Ich bat ihn, bei mir zu bleiben. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Hilfe nötig«, sagte sie schließlich.

»Sie haben also den Brief nicht an mich geschickt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»War es McGill?«

Diese Frage beunruhigte sie. Bis dahin hatte sie nicht daran gedacht, daß sie durch ihre Handlungsweise Mark sehr schaden konnte, was durchaus nicht in ihrer Absicht lag.

»Ich weiß nur, daß ich die Mitteilung geschrieben habe. Und dann kam mir plötzlich der Gedanke, Sie könnten annehmen, ich hätte den Brief an Sie gerichtet.«

»Das habe ich auch wirklich getan«, sagte er lächelnd.

Er sah sich auf der verlassenen Straße nach beiden Seiten um.

»Sergeant, gehen Sie dort hinunter und halten Sie sich bereit, mir zu helfen, wenn es nötig ist. Sie wissen, wer ich bin?«

»Ja, ich kenne Sie, Inspektor Bradley.«

»Gut!« Der Detektiv lächelte. »Ich weiß zwar noch nicht, wie Sie mir helfen könnten ... doch, suchen Sie einmal die Gegend hinter meinem Rücken ab, und sehen Sie zu, ob nicht jemand im Grase liegt.«

Der Polizist verschwand.

»Was soll ich nun mit Ihnen anfangen, Miss Perryman?«

»Glauben Sie, daß Gefahr besteht?«

»Ja, davon bin ich überzeugt. McGill wußte natürlich, daß ich Ihre Handschrift wiedererkennen würde – und er wußte auch, wie ich zu Ihnen stehe, Ann.«

Sie ging nicht auf seine Worte ein.

»Soll ich fortgehen?« fragte sie. »Vielleicht kann ich noch einen anderen Polizisten zu Ihrer Unterstützung finden?«

In diesem Augenblick schlug eine Kirchenuhr in der Nähe elf.

»Ich fürchte, es ist zu spät dazu«, sagte Bradley.

Er faßte in seine Hüfttasche und zog eine Pistole heraus. Als er sich nach links umsah, bemerkte er die abgeblendeten Lichter eines Autos, das auf der Mitte der Straße fuhr, in Richtung des Tors, Von dorther mußte die Gefahr kommen. Er rief laut nach dem Polizisten, wandte sich dann zu Ann, ergriff sie am Arm und zog sie halb über das niedrige Gitter, das den Rasen vom Fußpfad trennte.

»Legen Sie sich ganz flach auf den Boden!« befahl er.

Im nächsten Augenblick lag sie schon auf dem Boden und fühlte den feuchten Tau in ihrem Gesicht. Sie konnte den Wagen sehen. Er fuhr jetzt mit erhöhter Geschwindigkeit und lenkte plötzlich zu der Stelle, wo Bradley stand.

Dann fielen kurz hintereinander drei oder vier Schüsse. Ann hörte das Pfeifen und Heulen der Geschosse, die dicht über sie hinwegflogen und sich hinter ihr in die Erde bohrten. Signalpfeifen schrillten, und der Wagen verschwand aus ihrem Gesichtskreis.

Jetzt schoß Bradley. Leute eilten herbei.

»Stehen Sie auf und gehen Sie nach Haus!« rief Bradley Ann zu.

Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, war er verschwunden.

Überall ertönten Alarmsignale. Als Ann über die Straße eilte, lief sie dem Parkwächter gerade entgegen. Er berichtete über den Vorfall.

»Der Wagen fuhr wie der Blitz durch das Tor, beinahe wäre er von einem großen Autobus über den Haufen gerannt worden ... Haben Sie gesehen, wie sie geschossen haben?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wo ist Mr. Bradley?«

»War das der Mann, der hinter den Leuten her war? Er ist in ein Auto gesprungen und verfolgte sie.«

In demselben Augenblick kam auch der Polizist, mit dem sie vorher gesprochen hatte, atemlos und aufgeregt an.

»Jemand hat vom Wagen aus auf ihn geschossen – wo waren Sie denn, Miss?«

Sie sagte ihm, daß sie im Gras gelegen habe.

Der Beamte erinnerte sich plötzlich an seine Pflicht.

»Es tut mir leid, aber ich muß Ihren Namen und Ihre Adresse notieren.« Er schien sich wohler zu fühlen, nachdem er ihre Angaben in ein großes Notizbuch eingetragen hatte. Aber er wußte nicht genau, ob er sie nun gehen lassen durfte. Schließlich überredete ihn aber Ann, und er ließ sie nach Hause zurückkehren. Fast eine Stunde lang saß sie in einem Sessel und versuchte, das Chaos ihrer Gedanken zu ordnen.

Die Glocke an der Haustür schlug an. Ann erschrak. Das mußte Mark sein – sie würde ihm alles sagen müssen ...

Aber es war Bradley. Bei seinem Anblick fühlte sie so große Erleichterung, daß sie hätte weinen können.

»Das war ein alter Trick, den sie schon vorher angewandt haben«, sagte er, als er in ihr Zimmer trat. »Nur hatten sie diesmal das Auto innen gepanzert. Wir fanden den Wagen in Pimlico, dort haben sie ihn stehenlassen. Von den Leuten war natürlich nichts mehr zu sehen. Das ganze Innere war mit Eisenplatten ausgeschlagen. Diese Kerle nahmen kein Risiko auf sich.« Er sah sie einen Augenblick merkwürdig an. »Da ich nicht dabei ums Leben gekommen bin – werden Sie auch nicht verhaftet werden.«

Sie starrte ihn fassungslos an.

»Verhaftet? Warum wollte man mich denn verhaften?«

»Sehen Sie denn nicht ein, daß meine Kollegen im Falle meines Todes oder einer schweren Verletzung zunächst einmal nach einer Erklärung dafür gesucht hätten, daß ich mich zu dieser späten Stunde dort aufgehalten habe? Sie hätten Ihren Brief gefunden und Sie leicht als Schreiberin identifizieren können, da ich dummerweise mit Bleistift das Wort ›Ann‹ als Unterschrift daruntersetzte.«

Er las Entsetzen und Schrecken in ihren Augen.

»Aber das war doch nicht seine Absicht!« rief sie erregt. »Das hat er sicherlich nicht gewollt – ich meine, Mark wollte mich doch sicherlich nicht in einen solchen Verdacht bringen.«

Er antwortete nicht gleich.

»Sie glauben doch auch nicht, daß er es wollte?«

»Das werde ich noch in Erfahrung bringen. Vermutlich möchten Sie nicht gern in dieser Sache vor Gericht erscheinen? Ich werde Ihren Namen heraushalten, so gut ich kann.«

Er ging hinüber und klingelte bei Mark. Ann lauschte mit klopfendem Herzen hinter ihrer geschlossenen Wohnungstür und hörte, daß Marks Diener erklärte, sein Herr sei seit zehn Uhr ausgegangen. Bradley klopfte wieder leise an ihrer Tür, und sie öffnete ihm sofort.

»McGill war im Craley-Restaurant. Er kam zurück, um seinem Diener das zu sagen. Er muß kurz nach Ihnen weggegangen sein. Und er ist bestimmt zur Zeit der Schießerei in diesem Lokal gewesen, darauf möchte ich schwören. Er ist ganz groß darin, einwandfreie Alibis für sich zu beschaffen.«

»Von den Tätern hat man gar keine Spur?«

»Nein, wir wissen nur, daß der Wagen in Highbury gestohlen wurde. Die Eisenplatten im Inneren können die Leute natürlich irgendwo besorgt haben. – Gute Nacht, Ann.«

Er nahm ihre Hand in die seine und hielt sie einen Augenblick.

»Was soll nun aber mit Ihnen werden?«

»Ich hatte die Absicht, nach Paris zurückzugehen, wenn ich kann.« Dann fragte sie ihn plötzlich unvermittelt: »Haben Sie eigentlich Li Yoseph gesehen?«

»Ja. Er geht morgen wieder nach Lady's Stairs. Sie werden einen guten Freund in ihm haben, wenn Sie wieder in Schwierigkeiten kommen sollten.«

»Li Yoseph ein guter Freund? Ich dachte, er wäre ...«

»Er hatte zwölf Monate Zeit, sich von seinen bösen Gewohnheiten zu befreien«, erwiderte er lächelnd. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie ihm auf alle Fälle trauen können. Sie fürchten sich doch nicht vor ihm?«

»Das haben Sie mich schon früher gefragt.«

Er beugte sich plötzlich zu ihr nieder, als ob es so sein müsse, und sie fühlte seine Lippen einen Augenblick auf ihrer Wange.

»Gute Nacht, Ann«, sagte er dann und klopfte ihr freundlich auf den Arm.

Sie blieb noch eine Weile stehen, ohne sich zu rühren. Ihr Atem ging etwas schneller, und sie versuchte, sich über ihre Gefühle klarzuwerden. Eines stand jedenfalls fest: Sie war ihm wegen des Kusses nicht böse.

Bradley hatte nur zu recht. Als er in das Restaurant kam, in dem sich Mark zur Zeit des Überfalls aufgehalten hatte, erfuhr er, daß McGill erst vor einer Viertelstunde gegangen war. Um elf Uhr hatte er den Besitzer des Lokals darauf aufmerksam gemacht, daß die Uhr im Restaurant fünf Minuten nachginge.

Bradley wußte, daß Tiser mit dem Mittagszug nach Bristol gefahren war. Man hatte ihn in London beobachtet, und seine Ankunft in Bristol war von dort gemeldet worden. Wegen der Abwesenheit Tisers wurde die Ausführung von Bradleys Plan verschoben. Er verließ sich ganz besonders auf diesen durch Trunk und Rauschgift heruntergekommenen Menschen, der ihm den Hauptbeweis für Marks Schuld liefern sollte.

Die Fliegende Kolonne war in dieser Nacht sehr tätig; in unregelmäßigen Zwischenräumen und von den entferntesten Plätzen kamen ihre Meldungen. Das Haus Mr. Larings war durchsucht worden, und in einem Nebengebäude hatte man genügend Kokain gefunden, um seine Verhaftung zu rechtfertigen.


 << zurück weiter >>