Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Ednas Wirtin öffnete die Tür und führte sie ins Wohnzimmer. Dort war ein kleines Feuer im Kamin angezündet worden, das den Raum sehr behaglich machte, denn an dem Abend war es empfindlich kalt.

Edna las das Telegramm. Mr. Garcia war nicht ins Hotel zurückgekehrt. Vielleicht war er nach Deutschland gereist und hatte bereits seine ›Vendina‹ wiedergefunden.

Lange Zeit saß sie vor dem Feuer und ließ im Geist noch einmal alles an sich vorüberziehen, was sich im Laufe des Tages zugetragen hatte.

Sie war todmüde, als sie sich um elf Uhr niederlegte, und fiel sofort in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, daß sie über weite Pampas ritt. Ein großer Hund mit einem häßlichen, gelben Gesicht lief ihr nach und schnappte nach ihren Füßen.

Plötzlich wachte sie auf. Sie knipste das Licht an. Es war halb drei. Als sie ein schwaches Geräusch im Nebenzimmer hörte, richtete sie sich im Bett auf und lauschte. Ein Stuhl mußte auf dem Fußboden bewegt worden sein. Sie überlegte. Es konnte noch nicht halb drei sein, die Uhr mußte falsch gehen. Sie sah sich nach ihrer Handtasche um, in die sie ihre kleine brillantenbesetzte Uhr gesteckt hatte, konnte sie aber nicht finden. Schließlich erinnerte sie sich, daß sie sie auf dem Tisch im Wohnzimmer zurückgelassen hatte, schlüpfte in Pantoffeln und Morgenrock und ging zur Tür. Im selben Augenblick hörte sie nebenan eilige Schritte, und als sie die Tür öffnete, wurde die gegenüberliegende Tür zugeschlagen. Vorsichtig und ängstlich ging Edna ins Wohnzimmer und knipste auch hier das Licht an. Ihre Handtasche lag dort, wo sie sie zurückgelassen hatte, aber jemand hatte sie geöffnet und den Inhalt auf den Tisch gestreut. Edna sah die brillantengeschmückte Uhr, die der Dieb anscheinend übersehen hatte.

Sie glaubte schon, daß der Einbrecher nichts mitgenommen hätte, aber dann besann sie sich, daß sie das Telegramm aus London in die Handtasche gesteckt hatte. Es war verschwunden. Sie sah zwar den Umschlag, aber er war leer.

Sie ging zur Tür, die auf den Flur führte, und schloß sie ab. Das Feuer im Kamin war fast ausgegangen, und sie brachte es wieder zum Brennen, indem sie von dem Holz auflegte, das für den nächsten Morgen vorgesehen war. Dann setzte sie sich. Sie war nun vollkommen wach geworden und dachte über dieses merkwürdige Vorkommnis nach.

Träumte sie noch? Hatte sie sich alles nur eingebildet? Aber plötzlich sah sie etwas unter dem Tisch liegen; sie bückte sich und hob es auf. Es war der abgetragene Wildlederhandschuh eines Mannes.

Dann war es also doch kein Traum! Sie zuckte die Schultern. Doncaster war ja wahrscheinlich das Ziel vieler Diebe in diesen Tagen. Aber warum sollte ein Dieb so unvernünftig sein und eine brillantenbesetzte Uhr zurücklassen, die fast zweihundert Pfund wert war? Auch ein mit Saphiren verziertes Zigarettenetui hatte sie in ihrer Handtasche, das mindestens hundert Pfund gekostet hatte. Warum stahl der Mann nur ein Telegramm aus ihrer Handtasche?

Bei seinem Einbruch war er nicht gestört worden. Er hatte reichlich Zeit gehabt, den Inhalt der Handtasche auszuräumen und durchzusehen. Geld und Schmuckstücke mitzunehmen hätte ihn nicht viel Zeit gekostet.

Die Wärme des Kaminfeuers machte sie aufs neue müde, und sie ging wieder zu Bett.

Als sie am nächsten Morgen gebadet und eine Tasse heißen Tee getrunken hatte, war sie in anderer Stimmung. Sie hätte über dieses merkwürdige Erlebnis in der Nacht lachen können.

Luke sprach bei ihr vor, während sie noch beim Frühstück war, und nahm ihre Einladung an, ihr dabei Gesellschaft zu leisten.

Sie erzählte ihm, was sich zugetragen hatte, und er war wenig erfreut über ihren Bericht.

»Können Sie sich darauf besinnen, was genau in dem Telegramm stand?«

Sie wiederholte den kurzen Text Wort für Wort.

»Es ist aber doch erstaunlich, daß der Einbrecher weder das Geld noch, die Uhr genommen hat. Wohnt sonst noch jemand hier im Haus? Ein anderer Mieter?«

Sie erinnerte sich an den jungen Mann, der so plötzlich erschienen war.

Luke ging hinunter zu der Wirtin und fragte sie.

Fünf Minuten später kehrte er zurück und berichtete, daß der Mann früh am Morgen das Haus verlassen habe, obwohl er der Inhaberin des Hauses für vier Tage Miete bezahlt hatte.

»Um sechs Uhr fünfundvierzig geht bereits ein Zug nach London, und den hat Mr. Pilcher sicher benützt.«

»Pilcher?«

Er nickte. »Die Wirtin hat ihn genau beschrieben, und danach habe ich ihn erkannt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er es war.«

»Meinen Sie, der Mann, der hier in mein Wohnzimmer eingedrungen ist –«

»Es war kein anderer als Pilcher. Er hatte die vorderen Zimmer und war noch wach, als Sie gestern abend nach Hause kamen. Durch das Fenster muß er gesehen haben, daß Sie ein Telegramm erhielten. Wenn der Bote früher gekommen wäre, hätte er es natürlich schon vor Ihnen gelesen, und Ihnen wäre die unangenehme Überraschung in der Nacht erspart geblieben. Ich habe sogar den Eindruck, daß er auf den Telegrafenboten wartete.«

»Warum hat er das aber getan? Es stand doch gar nichts drin. Hätte er mich darum gebeten, so hätte ich es ihm sogar gegeben.«

»Ich möchte nur wissen, warum Rustem diese eilige Reise von London im Auto hierher machte«, sagte Luke, ohne vom Teller aufzusehen. »Er konnte doch nicht die Absicht haben, seinen Angestellten hier im Hause logieren zu lassen, denn er wußte gar nicht, wo Sie wohnten. Und außerdem hätte Pilcher ja auch mit der Bahn nach Doncaster fahren können. Und dann ist es mir schleierhaft, warum sie nach London zurückgefahren sind. Auf keinen Fall, um ihre Gewinne zu zählen, denn Trigger ist ja noch hier. Er hat im Hotel das Zimmer neben mir, und weder in seinem Koffer noch in seiner Aktentasche oder in seinen Taschen hat er etwas, das mir als Anhaltspunkt dienen könnte.«

»Woher wissen Sie das?« fragte sie.

»Nun, er ist ein angenehmer Mitmensch, der viel und gern ißt und nachher tief schläft. – Wohin ist denn Mr. Garcia gefahren?« fragte er plötzlich.

Sie erzählte ihm alles, was sie wußte.

»Wahrscheinlich ist er nach Deutschland gereist. Er hatte solche Sehnsucht nach ›Vendina‹, seitdem er hier in England ankam«, fügte sie hinzu.

»War denn ›Vendina‹ wirklich ein so ausgezeichnetes Pferd?«

Sie sprach von ›Vendina‹ ebenso begeistert wie Garcia.

»Meiner Meinung nach hat sie nie an einem Rennen teilgenommen, aber sowohl Mr. Garcia als auch der Trainer haben mir gesagt, daß es das beste Vollblut war, das jemals in Südamerika auf die Welt kam. Die Deutschen haben eine ungeheure Summe dafür gezahlt. Zehntausend Pfund. Mein Onkel sagte immer, es sei das schönste Fohlen gewesen, das er jemals gesehen habe, und der arme Mr. Garcia war schrecklich vernarrt in das Tier. Er duldete nicht, daß es mit der Peitsche angetrieben wurde, deshalb ist es auch nie zum Rennen trainiert worden. Alberto Garcia vertrug es nicht, wenn Pferde scharf angefaßt wurden. Aus diesem Grund ist er auch niemals zu einem Rennen gegangen.«

Es war Ednas Absicht, an diesem Morgen nach London zurückzukehren.

»Versprechen Sie mir eins«, bat er. »Gehen Sie nicht allein nach Longhall.«

Ihre Lippen zuckten.

»Ich will nicht gerade theatralisch werden, ich bitte Sie nur als Ihr Freund. Außerdem sollen Sie mir noch einen großen Gefallen tun. Wollen Sie mich in Scotland Yard anläuten? Ich bin morgen in der Stadt, und wenn Sie Ihren Landsitz besichtigen wollen, möchte ich Sie begleiten.«

»Stehe ich denn unter Polizeiaufsicht?« fragte sie lächelnd.

»In gewisser Weise, ja. Sie sind im Augenblick nicht von einer besonderen Gefahr bedroht, deshalb brauchen Sie eigentlich keinen dringenden Schutz, aber ich möchte doch einen Mann mitbringen, der das Haus erst einmal säubern soll. Er ist Spezialist in diesen Dingen, und vielleicht können wir beide zusammen Ihnen helfen. Wegen Ihrer Rückreise nach London möchte ich Ihnen doch den Rat geben, sich noch das Hauptrennen anzusehen. Das Saint-Leger ist eins der größten Rennen des ganzen Jahres, und Sie wissen jetzt genug über die Gepflogenheiten auf dem Rennplatz, daß Sie sich auch ohne mich dort zurechtfinden. Ich werde dafür sorgen, daß Sie ein reserviertes Abteil nach London haben, und vielleicht fahre ich selbst mit Ihnen dorthin zurück.«

»Sie könnten wenigstens erst fragen, ob es mir angenehm ist, daß Sie mit mir fahren. Aber ich habe schon gesehen, daß Sie sich nicht an das Konventionelle halten. Nun gut, ich werde mir das Saint-Leger ansehen. Dann kann ich Mr. Garcia davon erzählen.«

*

Die Menschenmenge, die am Nachmittag auf dem Rennplatz zusammenströmte, war die größte, die Edna jemals gesehen hatte. Es war ein schöner Tag, und ganz England schien hierhergekommen zu sein. Die Erregung war noch weit größer als am vorigen Tag. Edna hatte einen sehr schönen, freien Blick von der Tribüne aus. Luke konnte nicht zu ihr heraufkommen; er sah sich das Rennen von unten an. Das seltene Ereignis trat ein, daß ein Außenseiter mit einer Quote von fünfzig zu eins gewann. Luke ging gerade auf die Tribüne zu, um Edna zu treffen, als ihn jemand am Arm berührte. Er drehte sich um; ein kleiner Mann grinste ihn freundlich an, allem Anschein nach ein früherer Jockei, der aber ziemlich abgerissen aussah.

»Können Sie sich noch an mich erinnern, Mr. Luke? Ich bin Punch Markham.«

Luke kannte den Mann sehr gut, der wegen Betruges einmal zu drei Monaten verurteilt worden war.

»Ich bin jetzt ganz ehrlich geworden, Mr. Luke, aber ich muß sagen, dabei kommt man auf den Hund. – Ein Herr, bei dem ich früher in Stellung war, hat mir in Erinnerung an alte Zeiten eine Freikarte für die Rennen geschenkt. Er hat nicht vergessen, daß ich früher eins der besten Pferde zum Sieg geritten habe. Ist eigentlich der alte Goodie hier? Ich habe mich schon auf dem ganzen Rennplatz nach ihm umgetan. Den wollte ich nämlich um ein Pfund anpumpen – ich darf wohl sagen, daß ich dazu berechtigt bin.«

»Kann ich vielleicht erfahren, weshalb Sie das glauben? Ist Ihnen der berühmte Trainer irgendwie zu so großem Dank verpflichtet?«

Luke hoffte, etwas Neues, Interessantes über den Mann zu erfahren, mit dem er sich so intensiv beschäftigte.

»Berühmter Trainer! Hat sich was!« entgegnete der kleine Mann zornig. »Ich könnte ihm noch viel beibringen! Mit Löwen und Tigern kann er umgehen, aber Pferde trainieren – nein, davon hat er keinen blassen Dunst! Allerdings muß ich zugeben, daß er direkt Wunder gewirkt hat an dem Fohlen, das ich ihm verkaufte. Es ist das Blandford-Fohlen gewesen, Mr. Luke. Sie kennen es doch? Neulich hat es ein Rennen in Stockholm gewonnen.«

Luke wollte sich nicht lange aufhalten lassen; er griff in die Tasche und holte einen Zehnshillingschein heraus.

»Ich weiß, daß ich das zum Fenster hinauswerfe, Punch, denn Sie jagen ja doch alles durch die Gurgel.«

»Nein – ich schwöre Ihnen, jetzt trinke ich überhaupt nicht mehr! Das kann ich mir nicht leisten. Ich bin froh, wenn ich zu essen habe. Mr. Luke, Sie sind immer gut zu mir gewesen. Ich sage immer, daß die von der Polizei nicht alle schwarze Schafe sind. Es gibt auch viele gute Burschen darunter, wenn man näher mit ihnen bekannt wird.«

Luke blieb nicht stehen, um diese Lobreden anzuhören. Er hatte Edna Gray gesehen, die von der Tribüne herunterstieg, und er ging zu ihr.

»Es war ein wunderbares Rennen! Trigger hätte sich gefreut, wenn das eine Transaktion von ihm gewesen wäre – es kommt selten genug vor, daß ein Pferd mit einer Quote von fünfzig zu eins gewinnt.–Ich bin jetzt bereit, Sie nach London zu begleiten. Wir haben einen schönen Schnellzug von Leeds nach London. Er hält in Doncaster, und ich habe ein Abteil für uns reserviert.«

»Wer war denn der kleine Mann, mit dem Sie gesprochen haben?«

Sie war schon so gut Freund mit ihm, daß sie derartige neugierige Fragen ohne weiteres stellen konnte.

Auf dem Weg zum Bahnhof erzählte er ihr kurz die Geschichte von Punch Markham, der früher ein guter Jockei und erfolgreicher Trainer gewesen war, aber zu viele Freunde gehabt hatte. Eines Tages hatte die Rennbehörde herausgefunden, daß er sich an einer Schiebung beteiligt hatte. Er wurde vorgeladen, und die Lizenz wurde ihm für immer entzogen. Von da an verdiente er sich seinen Lebensunterhalt durch Pferdehandel. Außerdem verstand er, gut mit Rennpferden umzugehen, und wußte, wie man sie vor dem Rennen behandeln mußte. Er war auch in einige der größten Schwindelaffären bei den Rennen verwickelt gewesen, aber er spielte nur eine untergeordnete Rolle dabei. Im allgemeinen trauten ihm selbst die Leute nicht, die seine Dienste in Anspruch nahmen.


 << zurück weiter >>