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2

An diesem Sonntagmorgen hatte ein Polizist, der am Stadtrand von London in der Nähe von Slough seine Runde machte, einen Fuß aus dem Gras ragen sehen. Dort hätte eigentlich kein Fuß sein dürfen, in diesem unebenen Feld, durch das ein längst trockengelegter Bewässerungskanal lief. Der Polizist öffnete ein Gatter, wobei ihm Reifenspuren auffielen, die auf das Feld hinausführten. Er sah auch, daß die Kette, die das Gatter mit einem Pfosten verbunden hatte, abgerissen war.

Er ging durch das feuchte Gras bis zu dem Graben. Er fand dort einen Mann. Dieser trug nur Unterwäsche und Socken, und ein Blick auf sein Gesicht genügte.

Nach einigen Minuten kam ein Polizist auf dem Fahrrad vorbei. Er wurde sofort zum Revier geschickt.

Ein Polizeiarzt kam mit dem Krankenwagen, und die Leiche wurde fortgeschafft. Kaum eine Stunde später hatte Scotland Yard die Bearbeitung des Falles übernommen.

Für die Ermittlungen gab es kaum Anhaltspunkte. An der Kleidung des Mannes waren nicht einmal Wäschereizeichen festzustellen. Die Kriminalbeamten empfanden es als merkwürdig, daß die Unterwäsche aus sehr teurer Seide hergestellt war, obwohl der Tote offensichtlich körperliche Arbeit geleistet hatte, was allein schon an seinen Händen abzulesen war.

Auch die Überprüfung der Reifenspuren führte zu keinem Ergebnis. Es hatte sich um einen großen Wagen gehandelt, und die Leiche war vermutlich zwischen zwei und vier Uhr morgens auf das Feld gebracht worden.

Mr. Reeder war sich, als ihm die Tatsachen mitgeteilt worden waren, über eines sofort im klaren. Der Besitzer des Wagens mußte genau gewußt haben, was er tat. Er schien sowohl den Bewässerungsgraben als auch das mit einer Kette verschlossene Gatter gekannt zu haben.

Das Feld gehörte einer kleinen Firma, die Bauernhöfe und Grundstücke aufkaufte – der Land Improvement Corporation, mit einem Büro in der Stadt.

Es wurde dunkel, als Mr. Reeder seine persönlichen Ermittlungen beendete.

»Und jetzt möchte ich gern den Toten sehen.«

Sie führten ihn in den Raum, wo der Ermordete lag, und der diensthabende Inspektor berichtete über die ärztlichen Feststellungen.

»Er bekam einen gewaltigen Schlag auf den Schädel. Andere Verletzungszeichen sind nicht erkennbar, aber der Arzt meint, daß der Schädelbruch sofort den Tod herbeigeführt hat. Wahrscheinlich hat eine Eisenstange oder etwas Ähnliches Verwendung gefunden.«

Mr. Reeder sagte nichts. Er verließ den Raum und wartete, bis die Tür abgesperrt worden war.

»Wenn wir ihn nur identifizieren könnten –« begann der Inspektor.

»Ich kann ihn identifizieren«, sagte Mr. Reeder ruhig. »Er heißt Buckingham und war früher Konstabler bei der Londoner Polizei.«

Zwei Stunden später studierte Mr. Reeder im Büro des Inspektors in Scotland Yard die Personalakte Buckinghams. Sie war nicht besonders erfreulich. Buckingham hatte zwölf Jahre bei der Londoner Polizei gedient. Sechsmal war er wegen disziplinlosen Verhaltens verwarnt worden, und einmal hätte man ihn beinahe entlassen. Er war häufig betrunken angetroffen worden, und hatte sich schließlich von einem Verhafteten bestechen lassen. Dann hatte er seine Entlassung beantragt, um eine Stellung in der Provinz anzutreten. Einzelheiten darüber waren nicht bekannt. Die Unterlagen enthielten lediglich seine letzte Anschrift.

Reeder fuhr selbst zum Stadtteil Southwark, wo Buckinghams Frau in einer Arbeitersiedlung wohnte. Er teilte ihr den Tod ihres Mannes mit. Sie nahm die Nachricht gelassen auf.

»Ich habe ihn schon seit drei oder vier Jahren nicht mehr gesehen«, erklärte sie. »Die einzige Unterstützung, die er mir je geschickt hat, waren fünf Pfund am letzten Weihnachtsfest, und das hätte ich auch nicht bekommen, wenn ich ihm nicht auf der Straße mit einem Mädchen begegnet wäre und Skandal gemacht hätte.«

Mr. Reeder erkundigte sich, wo ihr Mann zuletzt beschäftigt gewesen sei. Sie konnte darüber jedoch keine Auskunft geben.

»Er war mir ein sehr schlechter Mann. Er ist tot, und ich will nichts gegen ihn sagen. Aber trauern will ich nicht um ihn. Er hat mich dreimal verlassen, und einmal hat er mir sogar ein Auge blaugeschlagen. Das rechte«, fügte sie hinzu.

Mr. Reeder fragte sich, warum die Tatsache, daß es sich um das rechte Auge gehandelt hatte, größere Entrüstung verursachte, aber er stellte in dieser Richtung keine weiteren Ermittlungen an.

Die Frau konnte ihm lediglich berichten, daß ihr Mann eine Stellung in der Provinz angenommen hatte, daß er viel Geld verdiente und beim letzten Zusammentreffen elegant gekleidet gewesen sei.

»Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, und er sah aus, als hätte er ein Vermögen geerbt. Sonst hätte ich ihn nicht um Geld gebeten.«

Soviel ihr bekannt war, hatte er keine Freunde.

»Sie wissen auch nicht, in welcher Gegend des Landes er gearbeitet hat? Haben Sie eine Ahnung, von welchem Bahnhof er kam?« fragte Mr. Reeder.

Sie überlegte eine Weile. »Ja, vom Bahnhof Charing Cross. Mein Bruder hat ihn vor zwei Jahren dort getroffen.«

Mr. Reeder kehrte zum Yard zurück, um mit den anderen Beamten zu sprechen. Er erfuhr, daß man auch dort nicht weitergekommen war. Es gab noch eine Frau in London, die ihm weiterhelfen konnte: die ›intellektuelle‹ Dame mit dem blassen Gesicht, mit ihrer Vorliebe für klassische Musik und scharfe Getränke.

Am nächsten Morgen ging er zum Konzertsaal und erkundigte sich bei dem Saaldiener. Er hatte Glück. Die junge Dame war bekannt. Sie hieß Miss Letzfeld und war dem Saaldiener vor allem deswegen im Gedächtnis geblieben, weil sie einmal einen Beschwerdebrief an die Direktion gerichtet hatte. Der Brief wurde gefunden und damit auch die Anschrift: Breddleston Mews in der Nähe des Cavendish Square.

Mr. Reeder fuhr sofort dorthin. Nachdem er mehrmals an die Tür geklopft hatte, hörte er Schritte auf der Treppe. Das junge Mädchen, blasser noch als sonst, öffnete.

Zu seiner Überraschung erkannte sie ihn.

»Sie heißen Reeder, nicht wahr? Hat Billy Sie mir nicht vorgestellt – in der Queens Hall? Sie sind Detektiv, nicht wahr?« Sie sah ihn scharf an. »Ist irgend etwas passiert?«

»Kann ich 'raufkommen?« fragte er.

Sie stieg vor ihm die schmale, steile Treppe hinauf.

Das Zimmer, in das sie ihn führte, war mit teuren Möbeln angefüllt, denen aber der Mangel an Pflege anzumerken war. Auf einem Tisch standen die Reste einer Mahlzeit. Auf einem Stuhl lag Unterwäsche, die sie schnell entfernte.

»Ich möchte Ihnen gleich sagen, Mr. Reeder«, erklärte sie, »daß ich überhaupt nichts weiß, wenn etwas passiert sein sollte. Billy war sehr nett zu mir, aber er geht einem auf die Nerven. Ich weiß nicht, woher er sein Geld hat, und ich habe ihn auch nie gefragt.«

Mr. Reeder hatte die unangenehme Pflicht, ihr von dem Schicksal Buckinghams zu berichten. Wieder mußte er feststellen, daß die Wirkung ausblieb. Sie war schockiert, aber persönlich nicht berührt.

»Das ist furchtbar, nicht wahr?« sagte sie atemlos. »Billy war ein netter Kerl, wenn auch nicht besonders intelligent. Ich habe ihn nur von Zeit zu Zeit getroffen, alle vierzehn Tage einmal, gelegentlich auch wöchentlich.«

»Wo stammt er her?« fragte Reeder.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Er hat mir nie etwas erzählt. Er hat in der Provinz für einen sehr reichen Mann gearbeitet. Ich weiß nicht einmal, wo das war.«

»Hatte er viel Geld?«

»Billy? Ja, er hatte immer genug Geld und konnte sich ein angenehmes Leben leisten. Irgendwo in der Stadt besaß er ein Büro. Anscheinend hatte er etwas mit Grundstücken zu tun. Das hat er mir zwar auch nicht selbst erzählt, aber ich sah ein Telegramm, das er hier liegenließ. Es war an eine Sowieso-Land-Corporation gerichtet –«

»Die Land Development Corporation?« fragte Mr. Reeder schnell. »Können Sie sich an die Anschrift erinnern?«

Sie war ihrer Sache nicht sicher, glaubte aber, das Büro müsse irgendwo in der City sein.

Von Buckinghams persönlicher Habe befand sich nichts in der Wohnung, außer einer vor etwa einem Jahr aufgenommenen Photographie. Mr. Reeder nahm das Bild mit und fuhr in die City.

Die Land Development Corporation hatte ihr Büro in einem der großen Geschäftshäuser in der Nähe des Mansion House. Es bestand aus drei Zimmern, in denen ein Angestellter und eine Stenotypistin arbeiteten, und einem kleinen, einfach eingerichteten Raum, den der Geschäftsführer bei seinen nur gelegentlichen Besuchen benützte.

Eine Stunde lang stellte Mr. Reeder Fragen an die beiden Angestellten, und als er nach Scotland Yard zurückkam, standen so viele Tatsachen zu seiner Verfügung, die sich teils widersprachen, teils überhaupt nicht miteinander vereinbar waren, daß er Schwierigkeiten hatte, ein vernünftiges Bild zu gewinnen.

Er verfaßte folgenden knappen Bericht:

›In Sachen William Buckingham.

Ermittlungen bei der Land Development Corporation. Die genannte Firma wurde vor zwei Jahren handelsgerichtlich eingetragen. Sie weist ein Kapital von tausend Pfund und Obligationen im Wert von dreihunderttausend Pfund auf. Als Direktoren fungieren der Angestellte, die Stenotypistin und ein William Buck, bei dem es sich sehr wahrscheinlich um William Buckingham handelt. Das Bankguthaben beträgt dreizehnhundert Pfund. Die Firma besitzt eine große Anzahl von Grundstücken in Südengland, die offensichtlich in der Absicht erworben wurden, Siedlungen zu bauen. Eine beträchtliche Anzahl der Grundstücke wurde weiterverkauft. Mr. Buck war unzweifelhaft Buckingham. Er kam sehr selten ins Büro und unterzeichnete dort nur Schecks. Erhebliche Beträge wurden auf die Bank einbezahlt und wieder abgehoben. Eine oberflächliche Überprüfung der Unterlagen ließ erkennen, daß es sich um echte Geschäftsvorgänge handelte. Eine genauere, allerdings auch nicht vollständige Überprüfung ergibt beträchtliche Lücken in der Buchführung. Das Feld, in der die Leiche Buckinghams aufgefunden wurde, gehört ebenfalls der Firma, und Buckingham muß die dortige Gegend sehr gut gekannt haben, obwohl bemerkenswert ist, daß er sich dort kürzlich zweimal während der Nacht aufgehalten hat...‹

*

Am nächsten Morgen erschien das Bild Buckinghams in allen Londoner Zeitungen. Bis zum Nachmittag rührte sich nichts.

Mr. Reeder saß in seinem Büro und studierte Akten über Kokainschmuggel, als der Bote eine Visitenkarte hereinbrachte. ›Major Digby Olbude‹ stand darauf und in der linken unteren Ecke ›Lane Leonard Vermögensverwaltung, Sevenways Castle, Kent‹.

Mr. Reeder lehnte sich in seinen Sessel zurück, fingerte an seinem Pincenez herum und las die Karte noch einmal.

»Bitten Sie Major Olbude herauf«, sagte er.

Major Olbude war groß und weißhaarig. Er sah blühend aus und sprach ein wenig geziert.

»Ich bin wegen eines gewissen Buckingham zu Ihnen gekommen. Sie leiten doch die Ermittlungen?«

Mr. Reeder neigte den Kopf. Er dachte gar nicht daran, diesen interessanten Besucher an den eigentlich zuständigen Kriminalbeamten weiterzuleiten.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Major Olbude?«

Er stand auf und zog einen Stuhl für seinen Besucher heran; Major Olbude schob zur Schonung seiner Bügelfalten die Hosenbeine etwas hoch und setzte sich.

»Ich habe das Bild in der Morgenzeitung gesehen – das heißt, meine Nichte machte mich darauf aufmerksam –, und ich fuhr sofort hierher, weil ich es für meine und überhaupt die Pflicht eines jeden guten Staatsbürgers halte, die Polizei bei ihrer Arbeit zu unterstützen.«

»Sehr erfreulich«, murmelte Mr. Reeder.

»Buckingham stand in meinen Diensten. Er war einer der Wächter der Schatzkammer von Sevenway Castle, wie die Bezeichnung im Volksmund lautet.«

Wieder nickte Mr. Reeder, als sei ihm das alles genau bekannt.

»Wie ich schon sagte, liest meine Nichte die Zeitungen. Eine Angewohnheit, zu der ich mich nicht entschließen kann, weil in diesem Zeitalter der Sensationen die Presse einem geistig interessierten Menschen nichts zu bieten hat. Buckingham war bei dem verstorbenen Mr. Lane Leonard angestellt gewesen, und nach Mr. Lane Leonards Ableben nahm ich als Mr. Lane Leonards Schwager und alleiniger Vermögensverwalter den Mann in meine Dienste. Ich darf vielleicht noch erwähnen, daß Mr. Lane Leonard, wie allgemein bekannt ist, ganz plötzlich an einem Herzinfarkt starb und ein beträchtliches Vermögen hinterließ, das zu achtzig Prozent aus Barren bestand.«

»Aus Gold?« fragte Mr. Reeder überrascht.

Major Olbude neigte den Kopf. »Mein Schwager war in dieser Hinsicht sehr sonderbar. Er hat sein Vermögen durch Spekulation erworben und befürchtet nun, daß es seinen Nachkömmlingen – unglücklicherweise hat er nur eine Tochter – auf dieselbe Weise unter den Händen zerrinnen würde. Außerdem setzte er kein Vertrauen in Wertpapiere. Er mißtraute allen Banken, und daraus ergab sich, daß er zu seinen Lebzeiten Gold im Wert von über eineinhalb Millionen Pfund erwarb. Die Barren wurden und werden noch in einer Kammer aufbewahrt, die er eigens innerhalb der Schloßmauern errichten ließ. Zur Bewachung stellte er eine Mannschaft von ehemaligen Polizisten an, die abwechselnd Tag und Nacht Dienst tun. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, Mr. Reeder, daß mein Schwager auf diese Weise seine Tochter um ein ganz beträchtliches Einkommen brachte, da fünf Prozent Zinsen von eineinhalb Millionen Pfund pro Jahr fünfundsiebzigtausend Pfund ausmachen. In zehn Jahren ergibt sich ein Betrag von einer dreiviertel Million, so daß mein Mündel auf Grund der Bestimmungen des Testaments nahezu vierhunderttausend Pfund verliert. Der gleiche Betrag entgeht praktisch dem Staat.«

»Äußerst bedauerlich«, meinte Reeder und schüttelte trauernd den Kopf, als erschüttere ihn der Gedanke an das leer ausgegangene Finanzamt aufs tiefste.

»Ein weiteres Kapital ist in hochwertigen Regierungspapieren angelegt«, fuhr Major Olbude fort, »von deren Ertrag meine Nichte und ich leben. Selbstverständlich macht mir die Aufsicht über ein derart großes Vermögen ständig schwere Sorgen – vor zwei Jahren bestellte ich deswegen einen völlig neuen Tresor, dessen Bau mit großen Kosten verbunden war.« Er machte eine Pause.

»Und Buckingham?« erkundigte sich Mr. Reeder sanft.

»Darauf komme ich noch zu sprechen«, erklärte der Major würdevoll. »Er war einer der angestellten Wächter. Insgesamt sind es sieben. Jeder hat eine eigene Wohnung, und nach den von mir erlassenen Richtlinien sollen diese Männer nur dann zusammentreffen, wenn sie sich ablösen. In der Praxis betätigt die diensthabende Wache eine Klingel in der Wohnung des Ablösenden, der sofort die Schatzkammer aufsucht und nach Überprüfung seiner Person eingelassen wird. Buckingham hätte Samstagnacht um sechs Uhr seinen Dienst antreten sollen. Der diensttuende Wächter läutete wie gewöhnlich, aber Buckingham erschien nicht. Nach einer Stunde setzte sich der Wächter telefonisch mit mir in Verbindung – zwischen meinem Arbeitszimmer und der Schatzkammer wurde eine Telefonleitung gelegt –, und ich machte mich sofort auf die Suche nach Buckingham. Sein Zimmer war leer, und ich beauftragte einen Ersatzmann, seinen Platz einzunehmen.«

»Seitdem haben Sie Buckingham nicht mehr gesehen?«

Major Olbude schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Weder gesehen noch etwas von ihm gehört.«

»Welches Gehalt erhielt Buckingham?«

»Zehn Pfund pro Woche sowie freie Station. Alle Wächter wurden durch die Schloßküche versorgt.«

»Hatte er Vermögen?«

»Keineswegs«, erklärte der andere nachdrücklich.

»Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, daß er in großem Umfang mit Grundstücken spekuliert hatte?« fragte Mr. Reeder.

Major Olbude erhob sich. »Ich wäre überrascht und entsetzt«, meinte er.

»Gibt es eine Möglichkeit, daß er Zugang zu der – äh – Schatzkammer selbst erlangen konnte?«

»Nein, Sir«, sagte Olbude, »auf gar keinen Fall. Der einzige Zugang führte durch die Tür, zu der ich den Schlüssel besitze. Die Wände bestellen aus vierzig Zentimeter dickem Beton, der mit Stahlplatten verkleidet ist. Die Schlösser sind diebessicher.«

»Und das Fundament?« meinte Mr. Reeder.

»Zweieinhalb Meter massiver Beton. Völlig ausgeschlossen.«

Mr. Reeder rieb sein Kinn und starrte auf den Schreibtisch.

»Betreten Sie die – äh – Schatzkammer oft?«

»Jawohl, Sir, am Ersten jedes Monats. Mit anderen Worten, am letzten Freitag befand ich mich in der Schatzkammer.«

»Und nichts war verändert worden?«

»Nichts«, sagte Olbude nachdrücklich.

»Ich nehme an, daß sich die Barren in Stahlkästen befinden?«

»In großen Glasbehältern. Das war einer von Mr. Lane Leonards exzentrischen Einfällen. Es sind etwa sechshundert Stück, von denen jeder Gold im Werte von fünfundzwanzigtausend Pfund enthält. Man kann auf einen Blick erkennen, ob sich jemand daran zu schaffen gemacht hat. Die Behälter sind hermetisch verschlossen und versiegelt. Sie stehen auf verstärkten Betonregalen in acht Reihen nebeneinander, und zwar an drei Seiten der Schatzkammer.

In jeder Reihe befinden sich fünfundsiebzig Behälter. Ich muß noch hinzufügen, daß die Schatzkammer aus zwei Gebäuden besteht: der inneren Kammer, in der das Gold aufbewahrt wird, und einem zweiten, davon getrennten Gebäude. Das äußere Bauwerk enthält eine kleine Wohnküche, mit Tischen, Stühlen und den nötigen Bequemlichkeiten für die Wache. Daran schließt sich ein Vorraum, der ebenfalls durch eine Stahltür abgeschlossen ist. Davor befindet sich ein Eisengitter, über dem ein Scheinwerfer angebracht ist, der dem diensthabenden Wächter gestattet, seine Ablösung genau zu überprüfen und sicherzustellen, daß es sich dabei um den Richtigen handelt.«

»Erstaunlich«, sagte Mr. Reeder. »Können Sie mir sonst noch etwas über Buckingham sagen?«

Mr. Olbude zögerte. »Nein, außer, daß er häufiger nach London fuhr als die anderen Wächter. Dafür trage allerdings ich die Verantwortung. Ich ließ ihm größere Freiheit, weil er der dienstälteste Wächter war.«

»Erstaunlich«, wiederholte Mr. Reeder. »Ich möchte gern nach – äh – Sevenways Castle fahren und mir die Wohnung Buckinghams ansehen«, meinte er. »Es wird auch nötig sein, seine Habe zu durchsuchen. Hatte er Freunde?«

Olbude nickte. »Ja, ich glaube ein Mädchen in London. Ich kenne es nicht. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mr. Reeder, ich glaube, daß er verheiratet war, obwohl er nie von seiner Frau sprach. Aber was meinten Sie vorhin, als Sie von seinem Vermögen sprachen? Das ist mir völlig neu.«

*

J. G. Reeder kratzte sich am Kinn und zögerte. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich zu der Feststellung berechtigt bin, daß er eine Grundstücksfirma leitete, aber nachdem seine Angestellten ihn nach der Photographie identifiziert haben –«

Er erzählte von der Land Development Corporation, und Major Olbude, der gespannt zugehört hatte, sagte schließlich: »Dann wurde er also auf einem seiner eigenen Grundstücke gefunden? Merkwürdig. – Ich fürchte, daß ich Ihnen nicht weiter behilflich sein kann«, sagte er, als er Hut und Stock nahm, »aber ich stehe Ihnen natürlich jederzeit zur Verfügung, wenn Sie Fragen zu stellen haben. Ich notiere meine Telefonnummer auf die Visitenkarte, und Sie können mich jederzeit anrufen.«

Er nahm einen Bleistift und schrieb ein paar Zahlen auf seine Karte, während Mr. Reeder ihn interessiert beobachtete.

Er begleitete seinen Gast die Treppe hinunter und kam gerade rechtzeitig, um Zeuge eines merkwürdigen Vorfalls zu werden. Am Randstein war ein Rolls Royce geparkt, daneben standen drei Personen. Das Mädchen erkannte er sofort. Larry drehte ihm zwar den Rücken zu, aber es fiel Mr. Reeder nicht schwer, ihn zu identifizieren. Die dritte Person war offensichtlich der Chauffeur, der den Wagen steuerte. Sein Gesicht war gerötet und er fuchtelte wild mit den Händen herum. Mr. Reeder hörte ihn sagen: »Sie haben kein Recht, die junge Dame anzusprechen, und wenn Sie etwas zu sagen haben, dann bitte in Englisch, damit ich Sie verstehen kann.«

Major Olbude beschleunigte seine Schritte, trat zu der Gruppe und herrschte den Chauffeur an: »Warum machen Sie eine Szene?«

Larry O'Ryan hatte sich entfernt, was Mr. Reeder überraschte, weil Larry aus unangenehmen Situationen niemals den Rückzug antrat.

Mr. Reeder folgte Major Olbude, dem nichts anderes übrigblieb, als ihn vorzustellen. »Das ist meine Nichte, Miss Lane Leonard«, meinte er.

Selbst Mr. Reeder mußte zugeben, daß sie außergewöhnlich schön war.

Auffallend war die Blässe ihres Gesichts. »Was ist denn los, meine Liebe?« fragte der Major.

»Ich habe einen Bekannten getroffen – den Mann, der mich vor einem Unfall bewahrt hat«, erklärte sie stockend. »Ich habe mit ihm französisch gesprochen.«

»Er kann recht gut Englisch«, knurrte der unsympathisch wirkende Chauffeur.

»Halten Sie den Mund! – War das alles, meine Liebe?«

Sie nickte.

»Du hast dich doch wohl bedankt? Ich erinnere mich, daß du sagtest, bisher nicht die Gelegenheit zum Dank gefunden zu haben. Er ging weg, bevor du etwas sagen konntest. Und der Vorfall ereignete sich in Whitehall?«

»Ja«, erwiderte sie.

Mr. Reeder spürte, daß sie ihn durchdringend ansah. Er bemerkte auch, daß ihre behandschuhte Hand zitterte.

Major Olbude drehte sich um und schüttelte ihm die Hand. »Wir werden uns ja sicher wiedersehen, Mr. Reeder«, sagte er.

Er wandte sich abrupt um, half dem Mädchen in den Fond, und der Wagen fuhr davon. Reeder sah sich nach Larry um, bemerkte ihn in einem Hausgang, mit dem Rücken zur Straße.

Als der Wagen verschwunden war, kam Larry auf ihn zu.

»Entschuldigung«, sagte er, »aber ich wollte mit Ihnen sprechen.«

Seine Augen blitzten und er schien erregt zu sein.

»Sie haben die junge Dame kennengelernt?«

»Ja. Sehr interessant, nicht wahr?«

»Warum haben Sie sich nicht gleich dem Onkel vorstellen lassen?«

»Ziemlich peinlich – er sieht übrigens recht gut aus. Vielleicht schlug mir das Gewissen. Dieser Chauffeur ...« Er lächelte nicht. »Ich frage mich, ob er im Krieg gewesen ist? Sicher nicht. Er ist noch nie so knapp davongekommen wie heute. Hatten Sie schon einmal den Wunsch, jemanden umzubringen?«

»Warum haben Sie französisch gesprochen?«

»Das ist meine Lieblingssprache«, erwiderte Larry schnell. »Außerdem sieht sie aus wie eine Pariserin.«

Mr. Reeder sah ihn fragend an. »Warum tun Sie so geheimnisvoll?« fragte er.

»Tu ich das?« Larry lachte. »Ich möchte wissen, ob er's getan hat.«

»Ob er was getan hat?« fragte Mr. Reeder, aber Larry stellte eine neue Frage.

»Werden Sie eigentlich hinfahren? Hatte er übrigens diesen Buckingham bei sich angestellt?«

»Was wissen Sie über Buckingham?« fragte Mr. Reeder langsam.

»Es steht heute morgen alles in der Zeitung.«

»Kennen Sie ihn denn?«

Larry schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe sein Bild gesehen – ein Durchschnittsgesicht. Ist das Leben nicht großartig, Mr. Reeder?«

Es begann zu regnen. Mr. Reeder wurde sich der Tatsache bewußt, daß er barhäuptig war.

»Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte er. »Ich will das Risiko eingehen, von meinen Vorgesetzten – äh – gerügt zu werden.«

Larry zögerte.

*

»Na gut«, sagte er schließlich und stieg hinter Mr. Reeder die Treppe hinauf.

J. G. Reeder schloß die Tür und deutete auf einen Stuhl.

»Warum die Aufregung?« fragte er. »Was ist los?«

Larry lehnte sich in seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Ich habe das Gefühl, daß ich ein ausgemachter Trottel bin, weil ich Sie nicht völlig ins Vertrauen ziehe, aber das gibt ein Abenteuer, Mr. Reeder, das großartigste Abenteuer, das man sich denken kann. Ich möchte Sie nur eines fragen: Trug der Major eine Brille, als er auf die Straße herauskam?«

Mr. Reeder nickte. »Ich kann mich nicht erinnern, daß er sie abgenommen hatte.«

Larry runzelte die Stirn und biß sich auf die Unterlippe. »Ich werde Ihnen etwas sagen. Erinnern Sie sich, daß ich die junge Dame vor dem Auto in Sicherheit brachte? Es war unmittelbar unten vor diesem Büro, nicht wahr? Sie hatte eben ihr eigenes Auto verlassen und wollte – nun, wohin wollte sie wohl gehen? Hierher, zu Ihnen. Das hat sie mir zwar nicht gesagt, aber ich bin felsenfest davon überzeugt. Und der Chauffeur war hinter ihr her. Damals begriff ich es nicht ganz, aber jetzt ist es mir völlig klar. Am Tag vor diesem Ereignis war in der Zeitung ein Artikel über Sie erschienen – entsinnen Sie sich?«

Mr. Reeder wurde rot. »Das war eine ziemlich dumme äh – schlecht informierte – äh –«

»Genau. Der Artikel war ziemlich schmeichelhaft. Aber ich begriff natürlich, daß die junge Dame deswegen zu Ihnen wollte. Dieser irregeleitete und schlecht informierte Artikelverfasser behauptete, Sie seien der größte Detektiv unserer Zeit oder so etwas Ähnliches. Wahrscheinlich stimmt es nicht, obwohl ich Ihnen natürlich sehr zu Dank verpflichtet bin. Die junge Dame hatte den Artikel gelesen, herausgefunden, wo sich Ihr Büro befindet, und – jedenfalls möchte sie mit Ihnen sprechen. Das hat sie gesagt.«

»Sie will mich sprechen?« sagte Mr. Reeder ungläubig.

Larry nickte. »Ist es nicht erstaunlich? Ich habe kaum eine Minute mit ihr gesprochen, und schon bedeutet sie mir alles.« Er stand auf und begann aufgeregt im Zimmer hin und her zu gehen. »Mir, Mr. Reeder, einem Gauner, einem Einbrecher, einem Mann, der absichtlich den Unterschied zwischen Dein und Mein beseitigt hat! Aber sie ist eineinhalb Millionen Pfund wert und völlig unerreichbar. Ich könnte sie niemals bitten, meine Frau zu werden. Aber wenn sie von mir verlangen würde, ich sollte von der Westminster Bridge aus in die Themse springen, würde ich es tun!«

Mr. Reeder starrte ihn an. »Das klingt ja beinahe, als hätten Sie die junge Dame sehr gern«, sagte er.

»Beinahe«, sagte Larry wild.

Er blieb plötzlich stehen und deutete mit dem Finger auf Mr. Reeder. »Ich werde nicht von der Westminster Bridge aus hineinspringen, ich werde etwas viel, viel Besseres tun, und wenn es mir gelingt, ist es der entscheidende Schritt meines Lebens.«

»Wenn Sie sich vielleicht hinsetzen wollten«, meinte Mr. Reeder milde, »und etwas weniger geheimnisvoll tun würden, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«

Larry schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muß mir selbst helfen. Wann fahren Sie zum Sevenways Castle?«

»Sie hat Ihnen gesagt, daß sie dort wohnt, nicht wahr?« fragte Mr. Reeder.

»Wann fahren Sie?«

J. G. zögerte. »Morgen – wahrscheinlich morgen nachmittag.«

Er überlegte einen Augenblick, dann meinte er: »Sie kennen Buckingham nicht?«

»Nein«, sagte Larry. »Ich habe ihn natürlich als den Kerl erkannt, der sich in der Queen's Hall an Sie heranmachte. Ein seltsames Zusammentreffen, nicht wahr?«

Er ging zur Tür und öffnete sie. »Ich gehe jetzt, Mr. Reeder, wenn Sie mich entschuldigen. Vielleicht besuche ich Sie heute abend. Haben Sie übrigens mit dem amerikanischen Aktienmarkt zu tun?«

»Ich spekuliere nie«, erklärte Reeder spröde. »Ich glaube nicht, daß ich in meinem Leben jemals irgendein Wertpapier gekauft habe, und ich werde es auch in Zukunft nicht tun. Allerdings lese ich die Zeitung, aus der sich ersehen läßt, daß die Preise sinken.«

»Und wie!« sagte Larry rätselhaft.

Das alles war ein bißchen verwirrend. Sein Hinweis auf den Aktienmarkt interessierte Mr. Reeder so sehr, daß er am Abend die Börsennotierungen studierte. In der Wallstreet sanken die Preise; es gab Panikverkäufe und Voraussagen über einen völligen Zusammenbruch. Mr. Reeder konnte nur darüber staunen, daß Larry in seiner Leidenschaft an derart nüchterne Dinge dachte.

Am Nachmittag hatte Mr. Reeder sehr viel zu tun. Nachforschungen bei gewissen Banken, die Lektüre von Berichten und so weiter. Es war beinahe neun Uhr, bevor er nach Hause kam, und er war so müde, daß er eingeschlafen war, bevor er sich die Decke richtig über die Schultern gezogen hatte.


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