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Die Privatsekretärin

Der Redner kannte die London and Southern Bank, weil er dort selbst ein kleines Konto hatte. Auch Mr. Baide, den Direktor der Piccadilly-Filiale, kannte er dem Aussehen nach, denn er hatte selbst einmal eine Zeitlang eine verhältnismäßig billige Wohnung in der St. James Street gehabt. Der Hauseigentümer kam ihm mit der Miete entgegen, da er die Anwesenheit eines so hohen Polizeibeamten für ein sicheres Abschreckungsmittel gegen Einbrecher hielt.

Wenn Mr. Rater morgens zuweilen am Fenster saß und seine Pfeife rauchte, sah er häufig Mr. Baide, der langsam die St. James Street nach Piccadilly zu ging. Der Bankmann hatte den Zylinder etwas in den Nacken geschoben und trug Sommer und Winter den Mantel offen. Er sah gewöhnlich nachdenklich aus, und der Redner hielt ihn für einen Philosophen.

Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Chefinspektor Rater gerade von der London and Southern Bank zu Hilfe gerufen wurde, als er sich um Mr. Joseph Purdew kümmerte, der früher wegen Betrugs und Vertrauensbruchs eine Strafe im Dartmoor-Gefängnis abgesessen hatte. Jetzt war der Mann Inhaber einer Firma, und Mr. Rater interessierte sich dafür, wie es augenblicklich mit seiner Ehrlichkeit stand. Joe Purdew hatte schöne Büroräume in einer vornehmen Straße im Westen Londons und betrieb dort das Geschäft eines Buchmachers und Kommissionsagenten. Pekuniär ging es ihm gut.

Joe schien sich über den Besuch des Chefinspektors nicht allzusehr zu freuen. Die äußere Herzlichkeit, mit der er ihn begrüßte, täuschte den Redner in keiner Weise.

»Aber treten Sie doch bitte näher, Mr. Rater. Darf ich Ihnen vielleicht ein Glas Wein anbieten?«

Joe war von untersetzter Gestalt und hatte eine etwas rote Gesichtsfarbe. Er lief hierhin und dorthin und gackerte wie eine alte Henne. Schließlich machte er die Mahagonitür sorgfältig zu, die zu dem äußeren Büro führte.

»Sonderbar, daß Sie heute zu mir kommen. Vor ein paar Tagen hatte ich die Absicht, Ihnen zu schreiben.«

»Was für einen Schwindel hatten Sie denn vor?« fragte Rater und machte eine abwehrende Handbewegung, als Joe Purdew eine Weinflasche aus dem Schrank holen wollte.

Joe strahlte.

»Aber Mr. Rater, das ist durchaus kein Schwindel. Ich betreibe ein anständiges Geschäft. Vierhundert der bestsituierten Leute Londons sind meine Kunden. Ich mache etwa tausend Pfund wöchentlich Verdienst. Sie sind alle etwas dumm, diese Leute, aber es ist doch schließlich kein Verbrechen, durch die Dummheit anderer Menschen Geld zu verdienen! Es geht bei mir absolut ehrlich zu, Mr. Rater. Mit den früheren Gewohnheiten habe ich vollständig gebrochen«, erklärte Joe mit tugendhaftem Gesicht. »Ich freue mich, daß ich ruhig in meinem Haus in Bayswater wohnen kann und nicht fürchten muß, daß jeden Augenblick ein Schutzmann kommt, mir auf die Schulter klopft und mich zur nächsten Polizeiwache mitnimmt. Wissen Sie noch, wie Sie mich damals in Southampton verhafteten? Aber Gott weiß, ich trage es Ihnen nicht nach.«

Mr. Rater hatte keinen besonderen Grund für seinen Besuch. Er hatte nur von Joes neuester Beschäftigung gehört und wollte sich einmal bei ihm umsehen.

Als er die Tür zum äußeren Büro öffnete, wäre er beinahe mit einer Dame zusammengestoßen, die gerade eintreten wollte. Sie war groß und stattlich, hatte kastanienbraunes Haar und verstand es ausgezeichnet, sich dezent zu schminken. Da sie außerdem sehr gut gekleidet war, vermutete der Redner, daß sie zu den »vierhundert bestsituierten Leuten Londons« gehörte, die Joe zu seinen Kunden zählte.

Gleichzeitig hatte er den Eindruck, daß er sie schon irgendwo gesehen haben mußte. Das Gedächtnis spielte ihm einen Streich; denn die Erinnerung an sie war mit einer zerbrochenen Glasscheibe verbunden.

Er trat zur Seite, um ihr Platz zu machen, und sie rauschte majestätisch an ihm vorüber.

Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, wurde ihm der erste Bericht über den Betrug bei der London and Southern Bank überreicht, der zwar zwei Folioseiten füllte, aber merkwürdig wenig Greifbares enthielt. Der Sachverhalt bestand darin, daß ein Scheck über fünfunddreißigtausend Pfund vorgezeigt und ausgezahlt worden war. Später hatte man festgestellt, daß die Unterschrift gefälscht war.

Mr. Baide kam in das äußere Geschäftszimmer, um Mr. Rater zu empfangen. Er sah sehr bekümmert und versorgt aus. Sein graumeliertes Haar war etwas zerwühlt, und sein müder Blick sprach von einer schlaflosen Nacht.

Die Piccadilly-Filiale der London and Southern Bank war erst kürzlich renoviert worden und bot das Letzte an luxuriöser Vornehmheit. Der Chefinspektor fühlte sich in diesen schönen Räumen wohl.

Mr. Baide führte ihn zu seinem Privatbüro, schloß vorsichtig die Tür und schob dann einen Stuhl für seinen Besucher an den Schreibtisch.

»Es ist eine direkt katastrophale Angelegenheit«, sagte er bedrückt. »Fünfunddreißig Jahre bin ich nun bei der Bank, aber noch niemals ist mir eine Fälschung vorgekommen.«

»Da haben Sie ja Glück gehabt«, meinte der Redner.

Er interessierte sich nicht für die Lebensgeschichte des Mannes, er wollte nur die Tatsachen über den gefälschten Scheck von fünfunddreißigtausend Pfund erfahren. Es stellte sich heraus, daß der Scheck von jemand präsentiert worden war, den niemand gesehen hatte. Der Kassierer hatte ihn nicht ausgezahlt, und die Eintragung in den Büchern war von einem Clerk vorgenommen worden, den keiner kannte ...

»Von Mr. Gillans Sekretär erhielten wir die erste Nachricht, daß etwas nicht in Ordnung sei. Er kam zu mir, zeigte mir das Kassabuch und sagte, daß keine Eintragung über fünfunddreißigtausend Pfund darin stände. Wir haben eine Eintragung – allerdings in einer fremden Handschrift. Sehen Sie her.«

Er öffnete ein Kontobuch und deutete auf eine Zeile:

Offener Scheck über £ 35 000.-

»Nach langem Suchen haben wir schließlich auch den Scheck gefunden, der versehentlich falsch abgelegt war. Er ist zweifellos gefälscht. Hier ist er.«

Bei diesen Worten reichte er dem Detektiv ein Formular. Mr. Rater betrachtete es, roch daran, hielt es gegen das Licht und legte es schließlich wieder vorsichtig auf den Schreibtisch.

»Stammt es aus Mr. Gillans Scheckbüchern? Sicher haben Sie doch ein Verzeichnis der Hefte, die Sie Ihren Kunden aushändigen?«

Mr. Baide nickte.

»Ja, es war der vorletzte Scheck aus einem der Hefte, die wir Mr. Gillan vor einem Monat schickten. Wir übersenden ihm gewöhnlich zehn Hefte zu je hundert Formularen für das halbe Jahr. Mr. Gillan ist ein sehr reicher Börsenmakler am Grosvenor Square und hat sein Privat- und Geschäftskonto bei uns.«

Der Redner prüfte das kleine Blatt noch einmal. Über dem Namen der Bank standen in kleinen Buchstaben die Worte »Konto Thomas L. Gillan«, und in der linken Ecke war der Scheck mit den beiden Buchstaben C. E. gegengezeichnet.

»Wer ist denn C. E.?«

Mr. Baide lächelte schwach.

»Die beiden Buchstaben stehen für die Zahl fünfunddreißigtausend. A bedeutet zum Beispiel eintausend, B zweitausend und so weiter. Das ist ein zur Kontrolle vereinbarter Geheimcode.«

»Wer kennt ihn? Selbstverständlich sind Sie eingeweiht – aber wer sonst noch?«

»Es war nur eine Verabredung zwischen Mr. Gillan und mir selbst. Alle großen Schecks mußten mir vorgelegt werden, damit ich sie prüfen kann. Das Merkwürdige ist aber, daß mir dieser Scheck nicht vorgelegt wurde. Meine Privatsekretärin meinte noch heute morgen, daß ich den Betrug sicher erkannt hätte.«

»Wer ist denn Ihre Privatsekretärin?«

»Ich kann sie ja einmal kommen lassen.«

Mr. Baide drückte auf eine Klingel, und ein paar Sekunden später trat Miss Helen Lyne ein.

Sie war etwas über mittelgroß und sehr schlank. Das dunkle Haar trug sie zurückgekämmt, und die Hornbrille stand ihr vorzüglich. Der Redner hielt sie für etwa vierundzwanzig. Sie sah sehr intelligent und befähigt aus, trat ruhig und selbstbewußt auf und begegnete dem Blick des Detektivs, ohne die geringste Befangenheit zu zeigen.

Mr. Rater begrüßte sie mit einem Kopfnicken.

»Kennen Sie diesen Code?« fragte er dann ohne weitere Einleitung und zeigte auf die beiden großen Buchstaben in der Ecke des Schecks.

Einen Augenblick runzelte sie die Stirn.

»Ach, meinen Sie den Code, den Mr. Gillan für seine Schecks benützt? Ja, der ist mir bekannt.«

Mr. Baide machte ein erstauntes Gesicht.

»Ich habe Ihnen aber doch niemals etwas davon gesagt«, erwiderte er.

Sie lächelte leicht.

»Nein, aber die Sache ist doch so furchtbar einfach, daß ich sehr bald dahinterkam.«

»Der Scheck wurde nicht in Mr. Baides Abwesenheit vorgelegt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich habe ihn niemals vorher zu sehen bekommen.«

Der Redner stellte noch einige Fragen an sie. Unwillkürlich hatte er den Eindruck, daß sie sich in gewisser Weise über ihn lustig machte, und wurde ärgerlich. Schließlich entließ er sie und wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann ging er langsam und leise nach und öffnete schnell. Aber die Sekretärin war nicht zu sehen.

»Wann haben Sie diese Dame engagiert?«

Mr. Baide seufzte.

»Sie ist sehr tüchtig, aber ich komme nicht besonders gut mit ihr aus. Vor sechs Monaten wurde sie mir von der Generaldirektion zugewiesen. Ich kann mich allerdings nicht über sie beschweren. Sie ist fleißig und macht öfter Überstunden.«

»Wo bewahren Sie denn Ihre Schlüssel auf?«

Baide führte ihn zu einem Safe, der in die Wand eingelassen war.

»Hier.« Er zeigte auf eine Reihe von ungefähr zwanzig Schlüsseln der verschiedensten Größen, die an Stahlhaken hingen.

»Kann Miss Lyne diesen Safe öffnen?«

»Für gewöhnlich nicht. Ein- oder zweimal habe ich sie geschickt, um einen Schlüssel zu holen. Ich vertraue ihr selbstverständlich in jeder Weise.«

Später vernahm der Redner noch den stellvertretenden Direktor, den Buchhalter und den Kassier, aber am Ende war er ebenso klug wie vorher.

»Der Betrug kann nur von einem Angestellten der Bank begangen worden sein, der Zutritt zu den Büchern hat und auch zu Ihrem Safe«, sagte er zu Mr. Baide, als er ging.

Dieser sah ihn gespannt an, aber wenn er hoffte, daß ihm der Redner seine Ansicht über den Fall mitteilen würde, täuschte er sich sehr.

Mr. Rater ging nach Scotland Yard zurück und teilte seinem Chef alle Einzelheiten mit, die er festgestellt hatte.

»Ach, der Scheck mit Gillans Unterschrift war gefälscht? Das ist merkwürdig. Einen Tag vor der Vorzeigung wurde nämlich Mr. Gillan fälschlicherweise totgesagt. Er sollte bei einem Flugzeugabsturz in Kent getötet worden sein. Aber offenbar handelte es sich um eine Verwechslung.«

Der Redner sah ihn nachdenklich an, schwieg aber.

Als er am nächsten Morgen wieder zur Bank ging, erfuhr er, daß Mr. Baide nicht erschienen war. Der Mann hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten, und es ging ihm anscheinend sehr schlecht.

»Nun, Sie können mir sicher auch behilflich sein«, wandte sich der Redner an Mr. Wynne, den stellvertretenden Direktor. »Lassen Sie mir doch eine Liste Ihrer Kunden zusammenstellen, die in den letzten zwölf Monaten gestorben sind –«

Er hörte einen unterdrückten Ausruf hinter sich und drehte sich schnell um.

Miss Lyne war geräuschlos eingetreten und starrte ihn verwundert an. Dann sagte sie etwas, das ihr der Redner nicht verzeihen konnte.

»Wie klug von Ihnen!«

Er sah sie noch sprachlos an und wußte nicht, was er auf diese vorlaute Äußerung erwidern sollte, als ein Angestellter hereinkam.

»Mrs. Luben-Kellner wünscht Sie zu sprechen«, wandte er sich an Mr. Wynne.

Der Name war dem Redner bekannt. Mrs. Luben-Kellner besaß einen Rennstall und hatte einen ganz bestimmten Ruf in der Sportwelt. Ihre Pferde hatten jedoch nur wenig Erfolg, und man hielt ihren Rennstall für einen der schlechtesten in England, obwohl sie große Summen für die Tiere ausgegeben hatte. Nach allgemeiner Ansicht rührten die Mißerfolge davon her, daß sie die Pferde selbst trainierte. Sie war der einzige weibliche Trainer Englands und sehr stolz auf diese Tatsache.

Der Bankmann sah den Chefinspektor zweifelnd an.

»Ich müßte die Dame eigentlich empfangen.«

»Soll ich herausgehen?«

»Nein, das Gespräch ist wohl kaum privat. Wenn Sie nichts dagegen haben, bitte ich sie hier herein.«

Der Redner schüttelte den Kopf. Er hatte niemals etwas dagegen, mit Leuten zusammenzukommen.

Die Dame trat ein, und Mr. Rater war nicht wenig erstaunt, als er dieselbe Frau erkannte, die er vor kurzer Zeit in Joe Purdews Büro getroffen hatte. Das Erkennen war gegenseitig. Sie warf dem Redner einen schnellen Blick zu, und als sie sprach, klang ihre Stimme ein wenig heiser.

»Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber – wo ist denn Mr. Baide?«

»Er fühlt sich nicht wohl«, entgegnete sein Stellvertreter. »Aber ich kann ebenso alles erledigen, was Sie wünschen.«

Sie sah wieder zu dem Redner hinüber und zögerte.

»Ich möchte die Sache aber mit Ihnen allein und nicht in Gegenwart von Fremden besprechen«, erwiderte sie etwas anmaßend. Ihre Stimme klang hart und gewöhnlich, und in ihrer Erregung zeigte sie, daß ihre Bildung und ihre guten Manieren nur angelernt waren.

Es blieb dem Chefinspektor nichts anderes übrig, als das Büro zu verlassen. Seltsamerweise mußte er bei ihrem Anblick aufs neue an eine zerbrochene Glasscheibe denken.

Nach einer Weile kam Mr. Wynne heraus, ging in Mr. Baides Büro und kehrte dann wieder zu der Dame zurück. Mr. Rater wartete, bis sie gegangen war.

»Wer ist denn das?« fragte er dann.

Mr. Wynne zuckte die Schultern. Er wußte nur, daß sie ein großes Einkommen besaß. Mehr konnte oder wollte er nicht über sie sagen, und Bankiers sind im allgemeinen – besonders Detektiven gegenüber – sehr zurückhaltend mit ihren Angaben über Kunden.

»Sie kam nicht, um etwas Geschäftliches mit mir zu besprechen, sondern um ein Notizbuch zu holen, das sie gestern in Mr. Baides Büro liegenließ.«

Der Redner hatte die Wartezeit dazu benützt, sich etwas eingehender mit der Sekretärin zu beschäftigen. Neue Tatsachen hatte er dabei allerdings nicht ans Licht bringen können. Nachdem er sich von Mr. Wynne verabschiedet hatte, trat er noch einmal bei ihr ein. Sie saß an ihrem Schreibmaschinentisch und hörte ihn nicht, da er die Tür geräuschlos öffnete. Als er sie anredete, schrak sie zusammen und schloß schnell das kleine Notizbuch, in dem sie gelesen hatte. Ihre Bewegung war so hastig, daß er Argwohn schöpfte.

»Was wollten Sie denn eigentlich vorhin mit Ihrer Bemerkung ›Wie klug von Ihnen!‹ sagen?«

Sie wandte sich in ihrem Drehstuhl um und sah ihm offen ins Gesicht. Zu seinem größten Unbehagen glaubte er wieder ein spöttisches Lächeln in ihren Zügen zu bemerken.

»Ich hatte eben die Überzeugung, daß Sie sehr scharfsinnig und geschickt handelten. Sie sind doch Mr. Rater?«

Er nickte.

»Jemand hat mir einmal erzählt, daß Sie sehr schweigsam wären, aber hier bei uns haben Sie eigentlich ziemlich viel geredet.«

Mr. Rater wurde plötzlich rot und war ärgerlich auf sich und auf sie.

»Bisher haben zwei Leute versucht, mich hinters Licht zu führen, und nur einer von ihnen ist dem Galgen entkommen!«

Sie lächelte freundlich.

»Dann gehe ich wahrscheinlich schlechten Zeiten entgegen! Es tut mir leid, Mr. Rater. Ich habe eben nur im Scherz gesprochen. Aber es war wirklich ein sehr kluger Gedanke von Ihnen. Sie haben sich sicher auch überlegt, daß bei einem Todesfall weniger Lärm über einen gefälschten Scheck gemacht wird, als wenn der Betreffende noch höchst lebendig ist und sich selbst um die Sache kümmern kann. Alle Leute glaubten doch, daß Mr. Gillan bei dem Flugzeugunglück umgekommen war. Aber er lebt noch und macht nun einen Mordsspektakel, wenn Sie diesen wenig damenhaften Ausdruck gestatten.«

Der Redner betrachtete sie mit einem sonderbaren Blick.

»Wie klug von Ihnen!« entgegnete er dann. »Sie wissen so viel, daß ich Sie eigentlich mit mir nach Scotland Yard nehmen möchte, um mich einmal gründlich mit Ihnen über den Fall auszusprechen!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das wäre nur Zeitverschwendung. Aber ich kann Ihren Standpunkt sehr gut verstehen. Warten Sie, ich will Ihnen einmal etwas zeigen.«

Sie zog die oberste Schublade ihres kleinen Schreibtisches auf und nahm ein ledergebundenes Notizbuch heraus. Sie blätterte schnell darin und deutete dann auf eine Seite, die ganz mit Zahlen beschrieben war. Er bemerkte, daß die letzte Eintragung »£ 35 000.–« lautete.

»Das ist das Notizbuch, das Mrs. Luben-Keller hier liegenließ... Ich habe gesagt, daß ich es nicht gesehen hätte.«

Der Redner nahm es ihr aus der Hand und steckte es ein.

»Sehr interessant. Aber nun möchte ich Ihnen auch ein paar recht merkwürdige Tatsachen mitteilen. Kennen Sie einen Joe Purdew?«

Zu seinem größten Erstaunen nickte sie.

»Er ist doch ein sehr gerissener Buchmacher?«

»Sehr gerissen!« antwortete sie trocken.

»Und außerdem ein niederträchtiger Charakter. Eine junge Dame geht jeden Abend zu ihm. Ihr Haar ist nicht so glattgekämmt wie das Ihre, und sie trägt auch keine Hornbrille.«

»Vielleicht tut sie das nur in seinem Büro. Sie ist bestimmt kurzsichtig«, erwiderte sie ruhig.

»Sie nennt sich aber nicht Miss Lyne, sondern Miss Larner, wenn ich mich nicht sehr irre.«

Sie lächelte.

»Sie sind wirklich klug«, sagte sie anerkennend.

»Es ist doch nichts Besonderes daran, daß ich Sie beobachtet habe. Aber nun erzählen Sie mir bitte, warum und weshalb Sie abends zu diesem offenkundigen Verbrecher gehen.«

Das Lächeln verschwand aus ihren Zügen.

»Ich führe seine Bücher. Er braucht nicht viel für meine Arbeit zu zahlen, und er hat es schließlich aufgegeben, Annäherungsversuche zu machen – das war zuerst eine recht unangenehme Geschichte.«

»Ist Mrs. Kellner eine Kundin von ihm?«

Sie nickte.

»Seine beste Kundin!«

»Ich kann sie nicht verstehen, und mich selbst begreife ich auch nicht. Sooft ich sie sehe, muß ich an zerbrochenes Glas denken –«

»Von einem Bilderrahmen?« meinte Miss Lyne.

Er sah sie verblüfft an, reichte ihr impulsiv die Hand und drückte sie herzlich.

»Wo wohnt sie?«

»In Pentley, Berkshire, wenn Sie sie besuchen wollen.«

»Ist sie verheiratet?«

»Ja. Sie ist auch beinahe ehrlich«, sagte sie ernst, »aber sie hat diese dumme Eitelkeit mit ihren Pferden – sie ist davon überzeugt, daß sie etwas vom Rennsport versteht. Ich habe den Eindruck, daß sie das Opfer ihres ersten Mannes geworden ist. Haben Sie einmal gesehen, wie ihr zweiter Mann in die Stadt kommt? Er fährt in einem großen Luxusauto, steigt aber jedesmal bei dem Denkmal im Green Park aus und geht den Rest des Wegs zu Fuß –«

Der Redner winkte ihr zu schweigen. Es war ihm peinlich, wenn ihm andere Leute über den Kopf wuchsen. Und diese Miss Lyne wußte wirklich zuviel.

*

Eine gute Stunde von London entfernt liegt ein kleines Dorf am Fuß der Birkshire-Hügel. In der Nähe der Ortschaft steht ein großes, rotes Haus, umgeben von einem schönen Garten. Der Redner fuhr mit seinem Auto nicht am Eingang vor, er machte es vielmehr wie der zweite Mann von Mrs. Kellner und näherte sich dem Gebäude zu Fuß. Von einem Gebüsch aus beobachtete er, daß die Tür weit offenstand, ging in die Diele, ohne zu klingeln, und lauschte.

Er hörte Stimmen in einem Zimmer jenseits der Treppe, schlich sich leise in die Nähe der Tür und horchte. Er schien sich wenig darum zu kümmern, was geschehen würde, wenn Dienstboten kämen und ihn beobachteten.

Mrs. Luben-Kellner konnte sehr ausfallend und heftig werden:

»... nun sitzt du hier herum und machst ein böses Gesicht, statt ins Büro zu gehen und dich dort zu zeigen ..., was soll nun dieser Polizeimensch davon denken ..., du wirst mich noch ruinieren! Daß du auch dieses verdammte Notizbuch im Büro liegenlassen mußtest, damit alle Leute es lesen können! Mr. Purdew sagt, daß er auch noch in die Sache hineingezogen wird.«

Der Redner hörte ein undeutliches Stöhnen, dann sprach die Frau wieder mit schriller Stimme weiter.

»Wenn du tust, was Joe – Mr. Purdew sagt, dann geht alles gut. Vor allem mußt du morgen wieder ins Büro gehen ... niemand weiß etwas davon, und keinem wird auch nur im Traum einfallen, daß ausgerechnet du –«

In diesem Augenblick öffnete Mr. Rater die Tür. Mr. Baide saß zusammengesunken in einem großen Klubsessel, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben.

»Warum habe ich das bloß getan?« fragte er fassungslos. »Du bist an allem schuld, du hast mich dazu getrieben ... Ich hasse Pferde und Pferderennen ..., ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen, ich wünschte, ich könnte dich endlich loswerden!«

»Dazu kann ich Ihnen verhelfen«, erwiderte Rater.

Baide sprang entsetzt auf.

*

»Es tut mir sehr leid, daß ich diese vorlaute Äußerung tat«, sagte Miss Lyne etwas beschämt. »Aber Sie müssen doch bedenken, Mr. Rater, daß ich Sie als einen Eindringling betrachtete. Dobells Detektivagentur bearbeitet diesen Fall nun schon seit zwei Jahren, und Harry Dobell ist mein Bruder. Seit sechs Monaten bin ich in der Bank tätig. Die Generaldirektion der Bank war nämlich schon seit langer Zeit mißtrauisch. Sooft ein Kunde plötzlich starb, gab es mit den Testamentsvollstreckern Auseinandersetzungen über einen großen Scheck, der am Tag vor dem Tode des Betreffenden ausgestellt worden war. Ich glaube, daß das Purdews Idee war. Sie kennen Ihn doch schon lange? Sobald er von einem geeigneten Todesfall hörte, wurde ein Scheck gefälscht, und der arme alte Baide mußte die Auszahlung bewerkstelligen. Manchmal kam es vor, daß kein Protest erhoben wurde, und die ganze Geschichte wäre wahrscheinlich nie ans Tageslicht gekommen, wenn nicht Mr. Gillan fälschlicherweise tot gemeldet worden wäre. Das Merkwürdigste ist aber, daß Mrs. Purdew alle Rennwetten bei ihrem Mann abschloß und obendrein noch erwartete, bei einem Gewinn ausgezahlt zu werden!«

Der Redner strich das Haar aus der Stirn zurück und lächelte etwas verlegen.

»Zu komisch, daß ich mich nicht gleich darauf besann! Ich habe ihr Bild doch in Joe Purdews Koffer gesehen, als ich ihn das letztemal in Southampton verhaftete!«

»Ich möchte überhaupt wissen, wie der arme Mr. Baide unter den Einfluß dieser Frau gekommen ist«, erwiderte Miss Lyne und schüttelte traurig den Kopf. »Er war so ein netter alter Herr. Welche Anklage erheben Sie denn gegen Mrs. Luben-Kellner?«

»Bigamie und Betrug.«

»Sie tut mir leid. Eigentlich ist sie schon gestraft genug. Das können Sie allerdings nicht verstehen, weil Mr. Purdew niemals versucht hat, Ihnen den Hof zu machen.«


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