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15
Die Erzählung des Doktors

Der General las das Telegramm von neuem; ungeachtet seines exzentrischen Wesens, war er ein kluger, verständiger Mann.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte er sich bedächtig. »Wo ist Gilbert? Und wo hat er die Depesche aufgegeben?«

Er nahm das Telegrammformular zur Hand und prüfte es; die Depesche war am Hauptpostamt in London um 6.35 Uhr nachmittags abgegangen.

Die Dinerzeit des Generals entsprach der des Frühstücks; es war ein Viertel nach neun Uhr, als der Gong Edith Standerton aus ihrem Zimmer zum Abendessen rief.

Sie machte sich große Sorgen und konnte den Zusammenhang der Juwelenfrage nicht begreifen. Was hatte Gilbert zu dieser Nachricht veranlaßt? Hätte sie mehr über die Geschehnisse des vorausgegangenen Nachmittags gewußt, so hätte sie sich wohl eher darüber gewundert, wie er überhaupt imstande war, die Botschaft abzusenden.

Der General nahm die Warnung ernst, doch nicht so ernst, daß er sich zur Aufbewahrung der Juwelen an einem andern Ort bestimmen ließ. Die Anschaffung des Tresors war wirklich nötig gewesen; denn außer dem Silberschrank des Hausverwalters, der kaum als sicherer Ort angesprochen werden konnte, hatte es bisher keinen zuverlässigen Platz für Wertsachen gegeben.

Nachdem er die Juwelen im Tresor nochmals nachgesehen und die Tür wieder gut verschlossen hatte, ließ er einen Diener im Bibliothekzimmer mit der strengen Anweisung zurück, keinesfalls ohne Befehl seines Herrn den Raum zu verlassen.

Als Edith herabkam, fand sie den neu angekommenen Gast vor, der sie mit einem freundlich traulichen Lächeln begrüßte.

»Wie geht es Ihnen, Herr Doktor?« sagte sie. »Es ist noch gar nicht lange her, daß ich sie bei Mutter kennen gelernt habe. Erinnern Sie sich meiner noch?«

»Ich erinnere mich Ihrer sehr gut,« erwiderte Dr. Barclay-Seymour.

Er war ein großer, hagerer Mann mit einem dünnen eisengrauen Bart und einer hohen Stirne.

In seiner etwas zerstreuten Art machte er den für andre nicht sehr schmeichelhaften Eindruck, als habe er über gewichtigere Dinge nachzudenken als über das Gespräch, das man mit ihm führte. Er war vielleicht der berühmteste unter den Provinzärzten. Er ließ sich herbei, so weit aus seinem Schneckenhaus zu treten, um Edith und ihre Mutter als alte Bekannte anzuerkennen. Frau Cathcart war mit den Barclays, mit denen sie zusammen aufgewachsen war, eng befreundet gewesen.

»Ihre Mutter ist eine prächtige Frau,« sagte Dr. Barclay-Seymour, als er die junge Frau zu Tisch führte, »eine schätzenswerte Frau.«

Edith konnte nur mit größter Mühe der Versuchung widerstehn, die Frage zu stellen, inwiefern. Es wäre unverzeihlich von ihr gewesen, hätte sie es getan; aber niemals lag einem Menschenkind ein Wort so zitternd auf der Zunge wie ihr diese Frage.

Der Verlauf des Diners litt ein wenig unter der unbestreitbaren Nervosität des Generals Sir John Standerton, so daß keine recht behagliche Stimmung aufkam. Zweimal während des Essens schickte er einen der drei servierenden Diener hinaus, um, wie er sich ausdrückte, bei dem Posten vor Gewehr nachzufragen. Bis jetzt hatte sich noch nichts Verdächtiges ereignet.

»Ich weiß nicht, was ich aus dieser Juwelengeschichte machen soll. Ich hoffe, Gilbert hält mich nicht zum Narren,« sagte er.

Er wandte sich freundlich, wenn auch düstern Blicks, an Edith.

»Hat er in der letzten Zeit Neigungen zum Witzbold entwickelt?«

Edith mußte lächeln.

»Es gibt kaum eine Bezeichnung, die weniger auf Gilbert paßt als das Wort ›Witzbold‹,« entgegnete sie.

»Aber ist es nicht recht sonderbar, daß er diese Nachricht geschickt hat?« fuhr der General verdrießlich fort. »Ich weiß nicht recht, was ich anfangen soll. Ich könnte ja einen Schutzmann anfordern, aber die hiesigen Polizisten sind ganz schauderhafte Idioten. Ich habe nicht übel Lust, mein Nachtlager in der Bibliothek aufzuschlagen und selbst die Nacht dort zu verbringen.«

Er erwärmte sich ordentlich für den Gedanken, obwohl er ein Lebensalter erreicht hatte, wo das Nächtigen in einem andern als dem gewohnten Raum eine Art von Heldentum darstellt.

Nach dem Diner begab man sich in das Empfangszimmer.

Der General verriet große Unruhe; und auch Edith, obgleich sie anscheinend ohne jede Aufregung Klavier spielte und ein kleines französisches Liebeslied sang, war nicht weniger nervös als der General.

»Ich werde euch sagen, was wir tun,« sagte Sir John plötzlich, »wir werden uns in die Bibliothek verziehn. Es ist ein nettes, gemütliches Zimmer, falls Sie, meine Liebe, nichts dagegen haben, wenn wir rauchen.«

Es war ein ausgezeichneter Vorschlag, auf den sie mit großem Vergnügen eingingen. Als sie mit Sir John die Treppe hinaufstieg, machte sie eine Bemerkung darüber, daß sie die einzige Dame der kleinen Gesellschaft sei.

Er blickte sich hastig um.

»Einen Arzt habe ich schon immer als eine passende Garde für jede Dame betrachtet,« sagte er kichernd – es schien ihm Spaß zu machen.

Nachher spann er diese witzige Bemerkung noch weiter aus, indem er sich laut über alte Weiber in allen Berufen äußerte, bis er in dieser Unterhaltung durch das Erscheinen des Doktors und Jack Frankforts gestört wurde.

Die Bibliothek, ein großer Raum, zeichnete sich besonders dadurch aus, daß sie keine weiteren Beweisstücke für Sir Johns literarischen Geschmack enthielt, als eine Anzahl von Bänden der ›Britischen Enzyklopädie‹ und ein Büchergestell voll ›Ruffs Führer für die Rennbahn‹.

Es war ein angenehmer eichengetäfelter Raum mit großen Fensternischen, die, wie Sir John erklärte, auf eine Terrasse hinausführten – eine treffliche Begründung für seine Befürchtungen.

»Zieh die Vorhänge zu, William,« sagte Sir John zu dem wartenden Diener, »und dann kannst du verschwinden. Sorg dafür, daß der Kaffee hierhereingebracht wird.«

Der Mann zog die schweren Samtvorhänge über die großen Nischen, stellte der jungen Frau einen Stuhl zurecht und zog sich zurück.

»Verzeihen Sie,« sagte Sir John.

Er ging zu dem Geldschrank hinüber und öffnete ihn wieder. Die Prüfung des Etuis ergab, daß alles in Ordnung war.

»Ah,« atmete er auf – es war ein Seufzer unendlicher Erleichterung.

»Diese Depesche von Gilbert geht mir auf die Nerven,« entschuldigte er sich selbst gereizt. »Warum, zum Teufel, hat er depeschiert? Gehört er vielleicht zu der Sorte von Leuten, die telegraphieren, um sich die Mühe, einen Briefumschlag zuzukleben, zu ersparen?«

Edith schüttelte den Kopf.

»Ich tappe ebenso im Dunkeln wie Sie,« sagte sie, »aber ich kann Ihnen versichern, daß Gilbert kein Mensch ist, der unnötig Alarm schlägt.«

»Wie kommen Sie mit ihm aus?« fragte er.

Die junge Frau errötete leicht.

»Ich komme sehr gut mit ihm aus,« sagte sie und bemühte sich, das Gespräch auf etwas andres zu bringen. Aber es war eine allgemein bekannte Tatsache, daß es noch keiner menschlichen Seele je gelungen war, Sir John von einem Verhör, das er sich vorgenommen hatte, abzubringen.

»Glücklich, und was dazu gehört?« fragte er.

Edith nickte nur und schaute unverwandt auf die Wand hinter dem Kopf des Generals.

»Ich nehme an, Sie lieben ihn, he?«

Edith war das Gespräch peinlich, ebenso anscheinend den beiden Männern, aber Sir John stand nicht allein mit seiner Meinung da, daß Ärzte wenig Sinn für Anstand und Rechtsanwälte keine Ahnung von Schicklichkeit haben. Eine weitere Fortsetzung blieb ihnen durch das Hereinbringen des Kaffees erspart, und die junge Frau war dankbar dafür.

»Ich möchte Sie hier behalten, bis Gilbert Sie abholen kommt,« sagte der alte Herr plötzlich. »Ich nehme an, Sie wissen, aber wahrscheinlich wissen Sie es nicht, daß Sie die erste Ihres Geschlechts sind, die ich je in meinem Haus geduldet habe.«

Sie mußte lachen.

»Es ist Tatsache,« sagte er ernsthaft. »Wissen Sie, ich kann mit Frauen nichts anfangen; sie können sich nicht klarmachen, daß ich zwar ein reizbarer alter Knabe, aber in Wirklichkeit ein harmloser Mensch bin, und ich bin ein reizbarer alter Knabe,« gestand er zu. »Nicht, daß sie unverschämt oder grob zu mir sind, aber ich kann ihre sanften Duldermienen nicht ertragen. Wenn eine Dame zu mir sagt, ich soll mich zum Teufel scheren, so weiß ich, woran ich bin. Ich will die ungeschminkte volle Wahrheit ohne Theater. Ich nehme meine Medizin lieber ohne Zucker.«

Der Doktor lachte.

»Sie unterscheiden sich darin von den meisten Leuten, Sir John. Ich kenne Menschen, die ziemlich empfindlich gegen die nackte Wahrheit sind.«

»Um so größere Narren sind sie,« sagte Sir John.

»Das möchte ich nicht gerade sagen,« erwiderte der Doktor nachdenklich. »Ich habe eher Sympathie für einen Mann, der sich nicht gerne die ganze Bitternis einer Tatsache wie einen tüchtigen Backstein an den Kopf schmeißen läßt; immerhin kann es manchmal von Vorteil sein, die Wahrheit zu wissen und sich so eine Menge unnützen Kummer zu ersparen,« fügte er etwas schwermütig hinzu. Er schien eine unangenehme Gedankenkette aufgerollt zu haben. »Ich werde Ihnen ein außergewöhnliches Beispiel geben,« fuhr er in seiner gewöhnlichen bedächtigen Art fort.

»Was war das?« fragte der General plötzlich.

»Ich glaube, es war ein Geräusch in der Diele,« sagte Edith.

»Und ich glaubte, es sei ein Fenster,« brummte der General, ziemlich beschämt darüber, daß man vielleicht sein Zusammenfahren bemerkt hätte.

»Erzählen Sie Ihre Geschichte weiter, Doktor.«

»Vor einigen Monaten,« fing Doktor Seymour wieder an, »kam ein junger Mann zu mir. Er gehörte den besseren Kreisen an und war offenbar kein Bewohner von Leeds, jedenfalls war er mir nicht bekannt. Hinterher fand ich heraus, daß er aus London gekommen war, um mich zu Rate zu ziehn. Er hatte ein wenig mit den Zähnen, einem schartigen Backenzahn, zu tun gehabt, eine ganz alltägliche Sache, und hatte sich im Mundinnern eine kleine Wunde geritzt. Anscheinend beunruhigte es ihn, um so mehr, als er entdeckte, daß die winzige Kratzwunde nicht heilen wollte. Wie die meisten von uns, hatte er eine schreckliche Angst vor Krebs.« Er senkte seine Stimme, wie es die Ärzte oft machen, wenn sie von dieser schrecklichsten aller Krankheiten sprechen. »Er wollte nicht zu seinem Hausarzt gehn; ich glaube aber, in Wirklichkeit hatte er gar keinen. Er kam also zu mir, und ich untersuchte ihn. Mir schien es gleich sehr zweifelhaft, daß ihm das geringste fehle, aber ich schnitt ein winziges Teilchen der Membrane zur mikroskopischen Untersuchung heraus.«

Die junge Frau schauderte.

»Verzeihen Sie,« sagte der Doktor hastig, »sonst kommt in der Geschichte nichts Gruseliges mehr vor, falls Sie nicht glauben – . Jedenfalls,« fuhr er fort, »versprach ich ihm, Mitteilung über das Ergebnis meiner Untersuchung zukommen zu lassen, und bat ihn zu diesem Zweck um seine Adresse. Er lehnte es jedoch ab. Er war sehr, sehr nervös. ›Ich weiß, ich bin ein moralischer Feigling‹ sagte er, ›aber irgendwie möchte ich nicht gerne die nackte Wahrheit in nüchterner Sprache erfahren; wenn jedoch meine Befürchtung zutrifft, habe ich den Wunsch, die Nachricht soll mir auf eine Weise gebracht werden, die mich am wenigsten verletzt‹.«

»Und die war?« fragte Sir John gegen seinen Willen interessiert.

Der Doktor holte tief Atem.

»Es scheint,« sagte er, »daß er so etwas wie ein Musiker war,« – Edith richtete sich erregt auf, krampfte die Hände zusammen und starrte mit gespanntem Gesicht auf den Doktor – »er war etwas wie ein Musiker, das heißt, er liebte Musik sehr. Und seine Art der Nachrichtenübermittlung war einzigartig, ich habe nie zuvor in meinem Leben etwas Derartiges gehört. Er gab mir zwei Karten und einen Briefumschlag mit Adresse, der Adresse eines alten Musikanten in London, den er begönnerte.«

Edith glaubte, das ganze Zimmer um sich tanzen zu sehn, doch sie hielt sich mit Mühe aufrecht. Ihr Gesicht war schneeweiß und ihre Hände hielten die Stuhllehne so krampfhaft umklammert, daß die Knöchel weiß schienen.

»Wie gesagt, sie waren an einen alten Freund von ihm adressiert und hatten beide den gleichen Wortlaut mit folgender Ausnahme. Die eine sagte im wesentlichen: »Sie werden an den und den Platz gehn und die ›Melodie in F-Dur‹ spielen, während die andre die gleiche Anweisung gab und sich nur insofern unterschied, daß er das ›Frühlingslied‹ spielen sollte; nun hier setzt die Tragödie ein.« Er hob den Finger. »Er gab mir die ›Melodie in F-Dur‹ an, um ihm die Botschaft zu übermitteln, daß er krebsleidend sei.«

Tiefes Schweigen herrschte, in dem nur das rasche Atmen der jungen Frau zu hören war.

»Und, und –?« flüsterte Edith.

»Und,« – der Doktor blickte sie mit seinen geistesabwesenden Augen an – »ich sandte die falsche Karte ab,« sagte er, »sandte sie ab und vernichtete die andre, bevor ich meinen Irrtum erkannte.«

»Dann hat er also keinen Krebs?« flüsterte die junge Frau.

»Nein, und ich kenne seine Adresse nicht und kann ihn nicht erreichen,« sagte Barclay-Seymour. »Es war in mancher Beziehung tragisch. Ich glaube, er wollte sich damals gerade verheiraten; denn er sagte mir ausdrücklich: ›Wenn es sich bewahrheitet und ich verheiratet bin, werde ich meine Frau in Armut zurücklassen‹, und er stellte eine sonderbare Frage an mich,« fügte der Doktor hinzu. »Er sagte nämlich: ›Sind Sie nicht der Ansicht, daß ein zum Tode Verdammter zu jeder Handlung berechtigt ist, sogar dazu, Verbrechen zu begehn, zum Schutze der Geliebten, die er zurückläßt?‹«

»Jetzt ist mir alles klar,« sagte Edith. Ihre Stimme klang hohl und wie aus weiter Ferne.

»Was war das?« sagte der General und sprang auf.

Diesmal gab es keinen Zweifel. Jack Frankfort sprang zu dem Vorhang, der die eine Nische bedeckte, und zog ihn beiseite. Da stand Gilbert Standerton, weiß wie ein Gespenst; seine Augen stierten ins Leere und die Hand an seinem Mund bebte.

»Die falsche Karte!« sagte er. »Mein Gott!«


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