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8

Weder Leslie noch Billy sprachen, und ich selbst zitterte heftig. Erst jetzt kam mir zum Bewußtsein, daß ich eine schwere Zeit durchgemacht hatte und den Erholungsurlaub wirklich dringend brauchte. Leslie riß das Löschpapier von der Schreibunterlage und legte es auf den Teppich, denn das Blut begann von der Tischplatte auf den Boden zu tropfen. Billington wandte sich an Mary Ferrera und nahm ihr den Revolver aus der Hand. Es war, als ob sie erst jetzt erwachte und die volle Wirklichkeit erfaßte. Zitternd klammerte sie sich an ihn.

»Er hat mich geküßt«, stöhnte sie, »er wollte mich festhalten ... ich drehte das Licht aus, um ihm auszuweichen. Schreien wollte ich nicht. Ich hoffte, ich könnte durch die Tür auf den Gang hinausschlüpfen, aber sie war verschlossen.«

»Ja, ja«, tröstete Billy sie. Er war so sorgsam mit ihr wie eine Mutter, streichelte und beruhigte sie und winkte mir dann.

»Bringen Sie Miss Mary fort. Gehen Sie mit ihr nach unten und besorgen Sie ein Taxi für sie.«

Ich zögerte nur einen Augenblick.

»Begleiten Sie sie nicht nach Hause«, warnte er. mich. »Setzen Sie sie nur in ein Auto und sagen Sie dem Chauffeur, daß er sie nach Brixton fahren soll. Dann kommen Sie zurück, ich brauche Sie hier dringend. Mary, nehmen Sie sich jetzt zusammen«, sagte er fast bittend und nahm ihr Gesicht in beide Hände.

Ich dachte schon, er würde sie küssen, aber er sah sie nur liebevoll an.

»Sie dürfen unter keinen Umständen sagen, was hier geschehen ist, haben Sie das verstanden? Sie sind überhaupt nicht hier gewesen. Keinem Menschen erzählen Sie, daß Sie heute abend in mein Büro kamen.«

»Aber – aber ...«, begann sie.

»Sie müssen alles tun, was ich Ihnen sage.«

»Ist er tot?« fragte sie leise. »Ich habe ihn nicht –«

»Nein, nein«, beruhigte er sie wieder. »Er ist nicht tot.«

Er glaubte zu lügen, aber er sprach die Wahrheit.

Ich brachte Mary nach unten und wartete auf dem letzten Treppenpodest, bis sie sich gesammelt hatte. Erst dann rief ich ein Taxi und versprach ihr, sie am nächsten Morgen aufzusuchen.

Ich selbst befand mich in einer entsetzlichen Lage. Ich war doch vor allem Polizeibeamter, und nun half ich einer Frau bei der Flucht, die allem Anschein nach einen Mann niedergeschossen hatte. Das durfte ich nicht einmal tun, wenn sie in Selbstverteidigung gehandelt hatte. Aber merkwürdigerweise war es mir im Augenblick fast gleichgültig, daß ich alle Diensteide brach, die ich jemals geschworen hatte. Dagegen war ich sehr besorgt um Billy, denn ich wußte, was er vorhatte. Als ich in das Zimmer zurückkam, war Leslie dabei, Dawkes' Kopfwunde mit einem Handtuch zu verbinden.

»Glücklicherweise ist er nicht tot«, sagte Billy, »aber sein Leben hängt an einem Haar. Ich glaube, die Kugel ist an seinem Schädel abgeglitten. Das eine Fenster ist vollständig zertrümmert.«

Mit vereinten Kräften trugen wir Dawkes zu einem Sofa und legten ihn dort nieder. Leslie hatte bereits mit einem Doktor telefoniert und einen Krankenwagen bestellt. Als wir den Verwundeten so gut als möglich gebettet hatten, trat Billy an den Schreibtisch, packte den Revolver, den er Miss Mary abgenommen hatte, sah sich um und ging zu dem Fenster, wo er am Vormittag die Öffnung in der Täfelung entdeckt hatte. Er machte die kleine Tür auf und warf die Waffe hinunter. Dann zog er seinen eigenen Browning aus einer Schreibtischschublade hervor.

»Was wollen Sie machen?« fragte ich.

»Das werden Sie gleich erfahren.«

Er ging schnell zum Kamin, richtete den Lauf der Pistole in die Feuerungsöffnung und gab einen Schuß ab. Putz und Stücke von Ziegelsteinen bröckelten herunter. Darauf trat er zu mir und reichte mir die Waffe.

»Sergeant Mont, als Sie die Treppe heraufkamen, hörten Sie, daß ein Schuß fiel, und als Sie ins Zimmer traten, fanden Sie Mr. Dawkes in sterbendem Zustand. Er war über den Schreibtisch gestürzt, und ich stand hier.« Bei den Worten ging er zur Tür. »Sie fragten mich, was geschehen sei, und ich erwiderte, daß ich einen Streit mit dem Mann hatte und ihn über den Haufen schoß.«

»Das werde ich nicht sagen!« protestierte ich heftig.

»Das wäre eine große Dummheit, ja eine Gemeinheit«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Eben kommt schon jemand die Treppe herauf. Wollen Sie mich jetzt verhaften oder wollen Sie vielleicht warten, bis Jennings auf der Bildfläche erscheint? Mont, um Himmels willen, tun Sie das, was ich Ihnen sage. Wir sind erledigt, wenn Sie nicht sofort handeln. Ich bin fest entschlossen, Mary aus dieser Sache herauszuhalten. Sie tun mir den größten Dienst, wenn Sie mir folgen.«

Was sollte ich tun? Es blieben mir nur ein paar Sekunden zur Entscheidung.

»Stabbat«, sagte ich mit lauter Stimme, »ich verhafte Sie unter dem Verdacht, auf Mr. Thomson Dawkes geschossen zu haben.«

Die Worte wollten mir kaum über die Lippen, aber ich zwang mich dazu, sie auszusprechen.

In diesem Augenblick kam Jennings zur Tür herein und erfaßte die Lage mit einem Blick.

»Wo ist das Mädchen?« fragte er schnell.

»Sie ist nicht gekommen«, entgegnete Billington.

Dann sah Jennings Dawkes auf dem Sofa liegen.

»Mein Gott, Sie haben ihn ja erschossen!« schrie er.

»Hoffentlich nicht, geschossen habe ich allerdings auf ihn.«

»Mont, wie weit sind Sie an der Geschichte beteiligt? Haben Sie etwas davon gesehen?« fragte Jennings rot vor Erregung.

»Ich habe Stabbat eben verhaftet«, erwiderte ich und fühlte nun doch eine gewisse Genugtuung, als ich Jennings Gesicht sah. Durch die Verhaftung hatte ich die Bearbeitung des Falls für mich gesichert oder wenigstens für einen Beamten meiner speziellen Abteilung. Jennings, der sein Leben lang im Büro gesessen hatte, wünschte sich schon seit langem einen Fall, der ihn in der Öffentlichkeit bekannt machte. Er sank förmlich in sich zusammen, als ihm klar wurde, welch großartige Gelegenheit ihm entgangen war.

Am nächsten Morgen erhielt ich einen Bericht vom Hospital. Dawkes hatte eine unruhige Nacht zugebracht und das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Die Untersuchung ergab, daß er eine schwere Gehirnerschütterung und wahrscheinlich auch einen Bruch des rechten Stirnbeins davongetragen hatte. Die Ärzte wollten ihn, wenn es notwendig sein sollte, noch am selben Vormittag operieren. Ich ging so früh wie möglich zur Bond Street und fand dort Leslie Jones, der unter Beaufsichtigung eines Polizisten das Büro aufräumte. Ich entließ den Beamten, sobald ich eintraf.

»Wir müssen das ganze Büro unter Verschluß nehmen. Niemand darf von jetzt ab hier hereingehen«, erklärte ich. »Und Sie werden als Zeuge auftreten müssen, Leslie.«

»Das weiß ich«, erwiderte er bedrückt. »Der arme Billy! Ich komme gerade von der Polizeistation in der Marlborough Street. Ich habe ihm das Frühstück hingebracht.«

»Wie geht es ihm denn?«

»Er hat glänzend geschlafen«, sagte Leslie kopfschüttelnd. »Das ist so ganz und gar Billy. Ich habe dem Gefängniswärter ein paar Schilling in die Hand gedrückt, damit ich ihn sprechen konnte. Ich erzählte, ich wäre sein Diener, und das stimmt ja auch in gewisser Weise.«

»Und wie haben Sie ihn angetroffen?«

»Ich fragte ihn, ob er gut geschlafen hätte, und darauf erwiderte er, daß er die ganze Nacht nicht aufgewacht sei. Er schimpfte sogar, weil ich ihm nicht gebratene Nieren brachte. ›Billy, das ist eine verteufelt schlimme Geschichte‹, sagte ich zu ihm. ›Wir werden ja sehen‹, war alles, was er darauf antwortete. – Glauben Sie, daß Dawkes sterben wird?« fragte Leslie schließlich noch ängstlich.

Ich schüttelte den Kopf.

»Der Bericht vom Hospital klang allerdings nicht sehr ermutigend.«

»Dem geschähe es nur recht, wenn er ins Gras beißen müßte. Er ist ein ganz gemeiner Kerl! Wenn ich daran denke, daß dieses Mädchen in der Gewalt eines solchen Mannes war, ein so hübsches, nettes Ding ...«

»Auch du, mein Sohn Brutus?« sagte ich vorwurfsvoll, und Leslie wurde rot.

Ich untersuchte das Büro genau. Vor allem wollte ich den wirklichen Hergang feststellen, da ich doch später bei der Verhandlung eine glaubhafte Geschichte erzählen mußte, ohne Billy oder Miss Mary bloßzustellen. Ich suchte mich selbst in die Lage von Miss Ferrera zu versetzen, stellte mich an den Platz, wo wir sie gefunden hatten und tat so, als ob ich die Waffe in Anschlag brächte. In Wirklichkeit hob ich nur die Hand und zeigte mit dem Finger, um die Schußrichtung anzugeben. Mir fiel dabei sofort auf, daß man von dieser Stelle aus unmöglich die untere Fensterscheibe zertrümmern konnte. Thomson Dawkes hatte doch am Schreibtisch gestanden, als der Schuß abgefeuert wurde, und die Kugel hatte ihn am Kopf getroffen. In diesem Fall hätte der Schuß durch eins der oberen Fenster gehen müssen.

Es war wenig glaubhaft, daß die Kugel von seinem Kopf abprallte und so weit abgelenkt wurde, daß sie eine der unteren Fensterscheiben durchschlug. Die zertrümmerte Scheibe lag niedriger als der Kopf von Dawkes.

Allem Anschein nach hatte es keinen Zweck, nach dem Geschoß zu suchen, das durch das Fenster geflogen war und wahrscheinlich ein Dach auf der anderen Seite der Straße getroffen hatte. Später schickte ich einige Beamte aus, die auf dem gegenüberliegenden Dachstuhl eine genaue Untersuchung anstellten, aber auch sie entdeckten das Geschoß nicht. Wahrscheinlich war die Kugel also gegen das Gesimse geschlagen, auf die Straße gefallen und am frühen Morgen von den Straßenkehrern weggefegt worden.

Vom Hospital hatte ich Nachricht bekommen, daß Mr. Dawkes außer der Schußwunde am Kopf auch Kratzwunden im Gesicht hatte. Diese Tatsache könnte ich mir verhältnismäßig leicht erklären. Wahrscheinlich war Dawkes mit dem Kopf auf das Gestell gefallen, in dem Billington Federhalter und Bleistifte liegen hatte.

Die Tür zum Korridor war noch verschlossen wie am Abend vorher. Ich zog den Schlüssel heraus, steckte ihn in die Tasche und suchte die neugestrichene Tür nach Fingerabdrücken ab. Irgendwie im geheimen hoffte ich, daß noch eine dritte Person in dem Zimmer gewesen war, die den Schuß abgefeuert und Dawkes niedergestreckt hatte.

Dann erinnerte ich mich plötzlich an George Briscoe. Er hatte ja gedroht, Billy zu ermorden. George Briscoe! Aber Miss Ferrera hatte ja den Schuß zugegeben – und hatten wir sie nicht mit dem Revolver in der Hand überrascht? Aber angenommen, sie und Briscoe, der sich irgendwie im Raum versteckt haben konnte, hätten zu gleicher Zeit geschossen. Es war eine geradezu phantastische Vermutung, aber auf jeden Fall mußte ich feststellen, wo sich Mr. Briscoe während der fraglichen Zeit aufgehalten hatte. Dabei kam mir ein günstiger Umstand zu Hilfe, auf den ich nicht gerechnet hatte. Mr. Briscoe befand sich nämlich in einer Zelle der Polizeistation in Cannon Row, und zwar seit drei Uhr vergangenen Nachmittags. Man hatte ihn wegen des Einbruchs bei dem Juwelier in der Regent Street verhaftet.

Unverzüglich ging ich dorthin und besuchte ihn in seiner Zelle. Aber es bestand nicht der geringste Zweifel, daß er das beste Alibi hatte, das er sich nur wünschen konnte.

»Wer hat Sie denn verhaftet? Ich hatte nichts damit zu tun.« Ich hielt es für gut, Billy zu entlasten.

Er nickte.

»Das weiß ich alles ganz gut, Mr. Mont. Wenn Sie wissen wollen, wer mich angezeigt hat, dann kann ich Ihnen nur sagen: Cherchez les femmes! Warum sind Sie denn eigentlich hergekommen?« fragte er schnell. »Ist etwas geschehen?«

»Nichts Besonderes. Wir haben nur Mr. Thomson Dawkes mit einem Kopfschuß in Stabbats Büro gefunden. Jemand hat ihn niedergeknallt. Ich habe nachher Stabbat verhaften müssen, weil er in Verdacht steht, der Täter zu sein.«

»Donnerwetter, das sind ja allerhand Neuigkeiten! Habe ich recht gehört, daß Billy Stabbat verhaftet ist? Das ist ja großartig! Hat er es denn wirklich getan?«

»Leider ja. Ich war sogar Augenzeuge.«

»Ist Dawkes tot?«

»Nein, aber es geht ihm sehr schlecht.«

»Hoffentlich krepiert er«, meinte George Briscoe. »Es würde mir den größten Spaß machen, wenn ich durch die Gitter meiner Zelle sehen könnte, wie Stabbat zum Galgen geführt wird.«

»Na, Sie haben ja fromme Wünsche!«

Ich verließ ihn und suchte Mary in Brixton auf. In ihrer Gesellschaft wollte ich mich allerdings nicht sehen lassen, denn ich dachte an die unangenehme Erfahrung, die wir in Elston gemacht hatten. Jennings konnte mich ja irgendwie überwachen lassen, wie Dawkes Billy hatte beobachten lassen. Als ich zu ihr kam, fand ich, daß sie sich von dem Schrecken einigermaßen erholt hatte. Sie hatte eben die kurzen Berichte in den Zeitungen durchgelesen und war aufs höchste beunruhigt. »Ich kann nicht zugeben, daß er dieses Opfer für mich bringt. Was hier steht, ist doch alles nicht wahr. Ich kann ja alles aufklären.«

»Deshalb bin ich doch gerade zu Ihnen gekommen. Sie müssen mir alle nötigen Angaben machen.«

»Ich versuche schon dauernd, mich genau auf alles zu besinnen.«

Sie ging erregt im Zimmer auf und ab. Diese unerschrockene Spielerin, die Tausende wagte und einem Mann wie Thomson Dawkes ruhig entgegentreten konnte, war vollständig durcheinander. Nicht weil sie selbst in einer schrecklichen Lage war, sondern weil dem Mann Gefahr drohte, den sie liebte.

»Ich versuche nachzudenken und mir alles wieder klarzumachen«, sagte sie verzweifelt und rang die Hände. »Als Sie mich mit Mr. Dawkes allein ließen, sprach er zuerst ruhig und freundlich mit mir, erklärte, daß er alles über mich herausbekommen hätte und sagte, das Geld, mit dem ich in Monte Carlo spielte, stamme aus der Bank. Eine Weile redete er dann ganz vernünftig über verschiedene Systeme, aber plötzlich kam er auf mich zu und riß mich an sich, bevor ich seine Absicht erkennen konnte.

›Sie können mein Schweigen leicht erkaufen, wenn Sie mich ein wenig liebhaben. Sie können so oft nach Monte Carlo reisen, als Sie es sich in Ihren kleinen hübschen Kopf setzen‹, sagte er;

Ich versuchte zu entkommen, aber er war stark – unheimlich stark. Ich sagte, ich würde schreien, aber er lachte mir nur ins Gesicht.

›So etwas Dummes werden Sie nicht tun‹, entgegnete er. ›Dazu kenne ich doch die jungen Mädchen zu genau. Nun, mein Liebling, was wollen Sie? Soll ich die Beamten hereinrufen, oder wollen Sie vernünftig sein?‹

Plötzlich gelang es mir, ihm auf den Fuß zu treten, und unwillkürlich ließ er mich los. Während des Kampfes war ich der Tür näher gekommen, die auf den Korridor und zur Treppe führte, und als er mich freigab, lief ich dorthin. Ich wollte sie öffnen, aber sie war verschlossen.

Er wollte mich gerade wieder packen, als ich den Schalter sah und das Licht ausdrehte. Es gelang mir, ihm zu entkommen, aber ich konnte nicht an ihm vorbei und das Büro erreichen, wo Mr. Stabbat wartete.«

»Warum haben Sie nicht um Hilfe gerufen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dawkes kannte mich ganz genau. Ich dachte, ich könnte entkommen, ohne großen Lärm zu schlagen, und vor allem, ohne Mr. Stabbat zu Hilfe zu rufen. Ich wußte genau, daß er entrüstet sein und eine furchtbare Szene machen würde, und das fürchtete ich am meisten. Dawkes muß mich gesehen haben, als ich am Fenster vorbeischleichen wollte, denn plötzlich eilte er auf mich zu. Ich hatte gerade noch Zeit, unter seinen Armen durchzuschlüpfen, bevor er sich am Schreibtisch stieß.

›Bleiben Sie stehen!‹ rief ich. ›Ich kann Sie deutlich sehen. Ich habe einen Revolver!‹ Dabei legte ich den Sicherheitshebel um. Ich habe die Waffe stets bei mir, wenn ich meine Reisen nach Frankreich mache. Wenn ich sie doch nur gestern abend nicht mitgenommen hätte!«

»Was geschah dann?«

»Er wurde furchtbar wütend. Ich konnte ihn deutlich vor dem Fenster sehen...« Sie schauderte. »Ich möchte nicht mehr an die Gemeinheiten denken, die er mir sagte. Ich hätte nie geglaubt, daß ein Mann wie er solche Dinge zu einer Frau sagen könnte. Was sich nachher ereignete, weiß ich kaum noch. Es drehte sich alles um mich, und ich hörte nur noch, wie er schrie:›Jetzt klingle ich Stabbat, der wird dafür sorgen, daß Sie ins Gefängnis kommen.‹ Dann muß ich die klare Besinnung verloren haben. Ich kann mich nur noch darauf besinnen, daß ein Schuß fiel und Dawkes schwer auf dem Schreibtisch aufschlug. Ich hatte den Revolver in der Hand und lehnte an der Wand. Gleich darauf kamen Sie in das Zimmer.«

»Ist das alles, was Sie wissen und worauf Sie sich besinnen können? Sie haben also nicht direkt nach ihm geschossen? Es kann ja doch wohl auch ein unglücklicher Zufall gewesen sein. Vielleicht ging der Schuß von selbst los.«

»Ich weiß nicht, was geschah«, erwiderte sie einfach. »Ich haßte ihn, und ich hätte ihn am liebsten ermordet. Auf dieses Gefühl besinne ich mich deutlich. Das ist alles, was ich weiß. – Wie geht es ihm?«

»Er hatte eine sehr unruhige Nacht, und die Ärzte werden ihn heute morgen operieren.«

Sie schaute erschreckt auf, aber dann zeigte sich ein verächtliches Lächeln auf ihrem Gesicht.

»Ich meine nicht Dawkes. Es kommt mir nicht darauf an, ob er lebt oder stirbt. Nein, wie geht es Mr. Stabbat? Was hält er von der ganzen Sache, und was soll daraus werden?«

Ich erzählte ihr alles, und ich glaubte, sie würde zusammenbrechen.

»Was, Sie haben ihn verhaftet – Sie!« Ihre Augen brannten. »Er hält Sie doch für seinen Freund, und Sie haben ihn wegen eines Verbrechens verhaftet, das er überhaupt nicht begangen hat, wie Sie genau wissen!«

»Wo wollen Sie hin?« fragte ich und faßte sie am Arm, als sie das Zimmer verlassen wollte.

»Ich gehe zur nächsten Polizeistation und berichte den wahren Sachverhalt.«

»Damit ruinieren Sie Billy nicht nur, sondern brechen ihm auch das Herz«, entgegnete ich ruhig. »Außerdem bringen Sie mich um meine Stellung! Sie dürfen nicht so planlos handeln. Billy hat das alles aus reiflicher Überlegung für Sie getan, weil es ihm leichter fällt als Ihnen, aus all den Schwierigkeiten herauszukommen. Vor allem will er Ihren Namen aus der Sache heraushalten – und auch den Ihres Onkels«, fügte ich hinzu.

Sie wurde bleich.

»Wußten Sie denn alles?« fragte sie schnell.

»Billy hat erfahren, daß Sie die Nichte von Sir Philip Frampton sind.«

Sie biß sich auf die Lippen und schien angestrengt nachzudenken.

»Wenn nun dieser Fall vor Gericht zur Verhandlung kommt, wie es ja unter allen Umständen geschehen muß, was wird dann aus Billy?«

Sie nannte ihn mit einer solchen Natürlichkeit beim Vornamen, daß es mir im Augenblick gar nicht auffiel.

»Er bekommt fünf, vielleicht auch sieben Jahre.«

»Fünf oder sieben Jahre?« wiederholte sie entsetzt. »Aber man kann ihm doch nichts anhaben. Das wäre grauenhaft, das wäre ein Verbrechen!«

Mary Ferrera zeigte sich anderen Frauen, die ich kannte, in diesem Augenblick überlegen. Die meisten hätten den Kopf verloren, aber sie faßte sich bald, wurde ruhiger und durchdachte den Fall vollkommen logisch. Und sie verstand auch mein Verhalten.

»Wenn sie ihn ins Gefängnis bringen«, erklärte sie schließlich so sachlich, als ob sie irgendeine Angelegenheit ihres Haushalts bespräche, »müssen wir ihn wieder herausholen.«

»Aber wie sollen wir das machen?« fragte ich bestürzt.

»Er muß eben entkommen. Das ist heutzutage ebenso leicht wie früher, ich möchte sagen, es ist noch einfacher... Was soll ich denn seiner Meinung nach jetzt tun?«

Ich erklärte es ihr. Zwar hatte ich mit Billy nicht darüber gesprochen, denn er hatte keine Zeit gehabt, mir irgendwelche Instruktionen zu geben oder seine Wünsche zu äußern. Ich ließ sie jedoch in dem Glauben, daß es sein Plan wäre, weil sie unbegrenztes Vertrauen zu ihm hatte.

»Sie haben doch einen Paß mit einem Dauer-Visum?«

Sie nickte, sah mich aber fragend an.

»Soll ich ins Ausland gehen?«

»Ja. Am besten wäre es, wenn Sie nach Südfrankreich reisten, bis die ganze Sache hier vorüber ist. Später können Sie zurückkommen, und dann überlegen wir alles weitere mit Leslie Jones.«

»Aber wie komme ich nach Monte Carlo?« fragte sie betreten.

Ich sah sie erstaunt an.

»Ich dachte, Sie könnten dorthin reisen, wann es Ihnen paßt?«

»Nein, ich reise nur dorthin, wenn ich geschickt werde.«

Sie war also nicht ihre eigene Herrin, sondern hatte diese abenteuerlichen Fahrten im Auftrag eines anderen unternommen, auf dessen Rechnung sie auch spielte.

»Dann müssen Sie es eben einrichten, daß Sie wieder hingeschickt werden. Vielleicht ist es besser, wenn Sie zu Ihrem Onkel gehen und ihm die ganze Geschichte erklären.«

»Nein, nein«, wehrte sie entschieden ab. »Das könnte ich nicht, das darf ich nicht tun. Ich werde sehen, daß ich einen anderen Ausweg finde.«

Ich wunderte mich, entschloß mich aber, Billy nichts von dieser Neuigkeit zu sagen.

In einer Beziehung konnte ich ihr helfen. Leslie Jones hatte mir dreihundert Pfund übergeben, die er aus Billys Geldschrank genommen hatte. Er bat mich, das Geld aufzubewahren, und nun bot ich es ihr an. Zu meinem größten Erstaunen nahm sie an. Allem Anschein nach wurde sie für ihre Dienste nicht gerade glänzend bezahlt. Sie entschied sich dafür, abzureisen und an der Riviera zu bleiben, bis ich ihr telegrafierte. Zunächst aber mußte sie nach Elston fahren.

Am gleichen Abend besuchte ich Billy in seiner Zelle und berichtete ihm, was geschehen war. Er war mir sehr dankbar.

»Sie wissen nicht, welche Last Sie von mir genommen haben, Mont. Ich folgte einer augenblicklichen Eingebung, als ich Ihnen vorschlug, mich als den Schuldigen zu verhaften. Dadurch kam der Fall in Ihre Hand, und das macht die ganze Sache leichter. Wie geht es Dawkes?«

»Die Operation ist gut gelungen, aber es wird noch viele Wochen dauern, bis er eine Zeugenaussage machen kann.«

Tatsächlich trat er auch erst zwei Monate später vor Gericht in den Zeugenstand. Sein Kopf war noch vollkommen verbunden. Er erzählte alles, worauf er sich besinnen konnte.

Während seiner langen Genesung hatte er reichlich Zeit zum Nachdenken gehabt. Billy hatte beim Verhör vor dem Polizeigericht einen umfassenden Bericht gegeben, wie und warum er Dawkes niedergeschossen habe, und dieselbe Geschichte wiederholte nun Dawkes. Ich glaube, er schämte sich wegen der traurigen Rolle, die er bei der ganzen Sache gespielt hatte. Er war sich auch bewußt, daß er sich Miss Ferrera gegenüber unmöglich benommen hatte. Auf jeden Fall wurde ihr Name bei der Gerichtsverhandlung nicht erwähnt. Dawkes nahm sogar die Schuld auf sich und erklärte, daß er Billy herausgefordert hätte.

Ich hoffte zuerst, daß seine Aussagen sich günstig auswirken würden, aber ich wurde furchtbar enttäuscht.

»Sie erhalten eine Zuchthausstrafe von sieben Jahren«, lautete das Urteil des Richters.

Billy verbeugte sich kurz vor dem Gerichtshof und ging in seine Zelle zurück.


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