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31

In den Zeitungen stand folgende Notiz:

 

Wie wir erfahren, hat Captain Hurley Brown, ein bekannter und erfolgreicher höherer Beamter von Scotland Yard, dem Chef der Kriminalpolizei seine Entlassung eingereicht, und zwar aus gesundheitlichen Gründen. Dadurch wird das Gerücht dementiert, das gestern abend in Fleet Street kursierte. Captain Hurley Brown wäre danach von einer Verbrecherbande ermordet worden, die vor einigen Jahren durch seine Tätigkeit hatte festgenommen werden können. Wie wir weiter erfahren, soll Mr. James B. Lettle, stellvertretender Polizeidirektor von Birmingham, aufgefordert werden, den freigewordenen Posten zu übernehmen.

 

Dr. Warden las es beim Frühstück und sah in einem anderen Teil der Zeitung eine Spalte, die in gewissem Sinn eine Ergänzung zu dieser Nachricht bildete. Der Bericht führte aus, daß die Staatsanwaltschaft angesichts des Geständnisses, welches man in der Tasche des Toten, am Leinpfad des Deptforder Flusses gefunden hatte, die Anklage gegen Frank Leamington und zwei weitere unter Mordverdacht inhaftierte Personen fallengelassen habe und daß die Betroffenen freigelassen würden.

Obwohl Weldrake und da Costa in ein strenges Kreuzverhör genommen worden waren, konnte man sie nicht in Widersprüche verwickeln, nachdem sie erst einmal die Notwendigkeit völliger Offenheit eingesehen hatten. Die genaueste Untersuchung ihrer Kleidungsstücke hatte keine Spuren von Blutflecken zutage gefördert, obgleich es feststand, daß sich der Mörder stark mit Blut besudelt haben mußte. Das Aufschneiden des Perlenkästchens und die Entdeckung der darunter befindlichen Juwelen hätten ein genügend plausibles Motiv abgegeben, daß da Costa die Tat begangen hatte. Aber man hatte keinen größeren Beweis gegen ihn in der Hand als etwa gegen Weldrake, der ja auch einen tiefen Groll gegen Louba hegte. Gegen alle beide zusammen waren aber noch weit weniger Beweise beizubringen als gegen Frank Leamington.

Dr. Warden las den Artikel noch einmal genau durch, und sein Gesicht wurde traurig. Hurley Brown war also zurückgetreten – hatte den Beruf, den er so liebte, aufgegeben. Er stellte mit einem Seufzer seine Tasse auf den Tisch und starrte abwesend auf das Papier. Würde das Glück, das Hurley Brown nun zuteil geworden war, wirklich die Entschädigung für ihn bedeuten, die er brauchte?

Warden überdachte nochmals die Ereignisse der letzten Woche. Jede Einzelheit stand klar vor ihm. Er entsann sich, wie er lächelnd mit Hurley Brown gesprochen hatte, als dieser so wütende Ausdrücke über Louba gebrauchte. Er fand, daß Hurley Brown ein wenig zu rachsüchtig war. Warden persönlich hatte Louba nicht gehaßt. Der Mann war für ihn ein ausgesprochener Sonderfall. Er hatte sich eigentlich nie durch ihn abgestoßen gefühlt.

Während er von seinem Stuhl aufstand, hörte er das Läuten der Klingel.

Das Mädchen kam herein.

»Wollen Sie Mr. Miller empfangen, Herr Doktor?«

»Miller – Loubas Diener? Er soll hereinkommen.«

Miller war aufgeregt, als er eintrat.

»Ich möchte mich entschuldigen, Herr Doktor, daß ich komme, aber, wie Sie sich denken können, muß ich mich jetzt nach einer andern Stellung umsehen. Ich hätte Sie gerne gefragt, ob nach Ihrer Meinung für einen Mann wie mich in Südamerika Aussichten bestehen?«

Der Doktor fuhr erschrocken vom Sitz auf.

»Südamerika? Das Allerschlechteste, was Sie sich aussuchen konnten«, sagte er. »Warum gehen Sie nicht auf den Kontinent? Oder warum wollen Sie England überhaupt verlassen? Sie haben doch keinen besonderen Grund dafür, wie?«

Miller war es offensichtlich unbehaglich zumute.

»Nein, Herr Doktor, keinen besonderen Grund. Das einzige ist – nun, nach dieser Mordsache wird mich niemand als Diener haben wollen.«

»Ich nahm an, Sie würden nach Bath gehen und dort eine Art Pension betreiben? Ist etwas vorgefallen, daß Sie Ihre Pläne ändern müssen, Miller?«

»Nichts, Herr Doktor.« Er zögerte. »Nur – ich möchte gerne aus diesem Land heraus. Ich würde das Ausland vorziehen.«

»Na, dann versuchen Sie's doch auf dem Kontinent, oder in einer britischen Kolonie, wenn Sie genug Geld haben.«

Der Doktor machte ihm ausführlich die Verhältnisse in Kanada und Südafrika klar, aber er merkte es Miller an, daß er sich nicht überzeugen lassen wollte. Nachdem er weg war, wunderte sich der Doktor darüber, daß er überhaupt vorgesprochen hatte. Erst als er nach Bow Street gerufen wurde, um seine Bürgschaft für Frank Leamingtons Haftentlassung zu hinterlegen, erfuhr er, was los war. Inspektor Trainor erwartete ihn draußen auf der Straße und erzählte, was sich ereignet hatte. Loubas Nachlaß war Treuhändern übergeben worden. Der tote Finanzmann hatte eine genaue Aufstellung aller seiner Geldgeschäfte hinterlassen, und es stellte sich heraus, daß er einen Tag vor seiner Ermordung von einer Bank einen größeren Betrag in Franken abgehoben hatte, und dieses Geld war nirgends in der Wohnung zu finden. Außerdem hatte Miller am Montag geheiratet.

»Ich möchte mir von ihm gerne erklären lassen, wie er dazu kam, sich in Cooks Reisebüro gestern einen Tausendfrankenschein wechseln zu lassen«, sagte der Detektiv. Jetzt verstand Dr. Warden alles.

Er ging die Stufen zum Polizeirevier hinauf. Beryl Martin begrüßte ihn freudig.

»Wie nett von Ihnen, Herr Doktor! Mr. Trainor war der Ansicht, Sie würden nichts dagegen haben, die notwendigen Garantien zu übernehmen.«

»Natürlich nicht!« sagte Dr. Warden herzlich. »Das bedeutet wohl, daß die Anklage gegen Frank Leamington fallengelassen wird?«

Trainor nickte. »Der Staatsanwalt will sich zwar noch etwas Zeit lassen, um den Fall nochmals eingehend zu studieren, aber er möchte nicht, daß Mr. Leamington eine Minute länger als notwendig in Haft bleibt.«

Dr. Wardens Bürgschaft wurde angenommen. Warden ließ das Brautpaar allein und zog den Inspektor beiseite.

»Haben Sie etwas von Brown gehört?«

»Nicht das geringste. Sie sahen wohl die Zeitungsnotiz. Er hat seine Entlassung eingereicht, und heute morgen ließ er durch einen Boten seine Papiere abholen. Er weigert sich, weitere Erklärungen abzugeben. Angeblich gibt er den Posten auf Anraten seines Arztes auf. Haben Sie ihm den Rat gegeben, Doktor?«

Dr. Warden gab nicht sofort Antwort. Dann sagte er:

»Ich war zwar sein Freund, aber nicht sein Arzt. Die Verantwortung für das Befinden meiner Freunde übernehme ich nicht gerne.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo er steckt?«

»Ich habe ihn seit damals nicht mehr gesehen, und er hat sich auch nicht mit mir in Verbindung gesetzt«, sagte Warden. »Hat Louba eigentlich ein großes Vermögen hinterlassen?«

Der andere schüttelte den Kopf.

»Im Gegenteil, er war hoffnungslos bankrott. Die Beamten, die seine Verhältnisse prüften, behaupten, daß er ins Gefängnis gekommen wäre, weil er seine Steuererklärungen fälschte und sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Kredite verschaffte. Tatsächlich stand er am Rand des Ruins.«

Dr. Warden starrte ihn ungläubig an.

»Stimmt das wirklich?«

»Ganz gewiß. Da Costa hat die Wahrheit gesagt, als er dies zu Protokoll gab. Louba schuldete nach allen Seiten Geld. Sogar Miller hat seinen Lohn monatelang nicht erhalten, und Loubas ganzes Eigentum war bis zum letzten Knopf verpfändet. Allerdings wissen wir, daß er an seinem Todestag eine große Summe von der Bank abhob und sich in Tausendfrankenscheinen auszahlen ließ. Dieses Geld ist spurlos verschwunden. Ferner wissen wir auch, daß Miller gestern fünf der Scheine wechselte – und deswegen möchte ich ihn außerordentlich gerne einiges fragen.«

Nachdem er diese überraschende Mitteilung gehört hatte, schloß sich John Warden den beiden jungen Leuten an. Frank dankte ihm, so herzlich er nur konnte.

»Inspektor Trainor sagte mir, daß Sie sich seit meiner Verhaftung fast ununterbrochen für mich eingesetzt haben, Doktor. Er teilte mir auch mit, daß Sie sogar mit dem Justizminister gesprochen hätten.«

Dr. Warden wurde rot.

»Na, ich kann doch nicht müßig dabeistehen und einem solchen Justizirrtum zusehen«, sagte er.

*

Um zehn Uhr abends klingelte es bei Dr. Warden, und seine Haushälterin meldete ihm zwei Besucher. Der Doktor glaubte, daß es sich um einen eiligen Krankheitsfall handelte und ging sofort in sein Sprechzimmer hinunter. Dort saß ein Mann auf der äußersten Ecke eines Stuhles, ein unrasierter, bleicher Mensch, dem das Elend in den Augen geschrieben stand. Eine blasse hübsche Frau hatte ihren Stuhl dicht neben seinen gerückt und hielt seine Hand umklammert. Beim Nähertreten erkannte Dr. Warden Miller.

»Ich bin gekommen, um mich der Polizei zu stellen, Herr Doktor«, sagte er mit heiserer Stimme. »Meine Frau ist der Ansicht, ich sollte es tun. Ich habe Mr. Louba bestohlen, aber bei Gott, ich habe niemals auch nur einen Schlag gegen ihn geführt.«

Ein telefonischer Anruf brachte Trainor und seinen Assistenten in einer Viertelstunde in die Wohnung Wardens.

»Hier ist das Geld, Herr Inspektor«, sagte Miller niedergeschlagen. »Wahrscheinlich muß ich jetzt ins Gefängnis ..., aber lieber das, als meiner Frau solchen Kummer bereiten.«

Dann erzählte Miller seine Geschichte.

»Was ich Ihnen jetzt sage, ist die Wahrheit. Es stimmt – ich habe zu Anfang sehr viel gelogen, aber es tut mir jetzt leid. Wenn so etwas passiert wie der Mord an Mr. Louba, dann ist es vielleicht verständlich, daß man davon ganz durcheinandergebracht wird. Vierzehn Jahre lang bin ich bei Mr. Louba angestellt gewesen. Er stellte mich ein, als er noch in einer ganz kleinen Wohnung in der Jermyn Street lebte – lange Zeit bevor er das Vermögen gemacht hatte, das er angeblich bei seinem Tod besaß. Sechs Monate im Jahr war er stets in London, die anderen sechs Monate irgendwo auf dem Kontinent. Mr. Warden wird sich der Wohnung in der Jermyn Street noch entsinnen, denn er besuchte uns dort ja öfters. Nach einigen Jahren kam Mr. Louba für immer nach England und baute hier zusammen mit einigen anderen reichen Leuten Braymore House – dort schlug er dann seinen ständigen Wohnsitz auf, und dort traf ich auch Charlie Berry zum erstenmal.

Ich kannte seinen Namen nicht und wußte auch nicht, was er für einen Beruf hatte, denn ich sah ihn sehr selten und traf ihn auch nie außerhalb der Wohnung. Auf jeden Fall weiß ich aber, daß er ein häufiger Besucher war, wenn man ihn auch nicht direkt einen Freund von Mr. Louba nennen konnte. Sein Benehmen war, soweit ich es beurteilen kann, eher das eines Angestellten als das eines Freundes. Louba pflegte ihn übrigens immer allein zu empfangen und machte ihm auch selbst die Tür auf, wenn er ging. Wahrscheinlich hat er Charlie verboten, mir über den Zweck seiner Besuche etwas zu sagen, denn als ich einmal versuchte, ihn darüber auszuhorchen, erklärte mir Charlie, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Am nächsten Tag machte mir Mr. Louba Vorhaltungen, weil ich meine Nase in die Sachen anderer Leute steckte. Er war sehr zornig, und ich hörte danach auf, neugierig zu sein; ich wollte kein Risiko eingehen.

Vor ungefähr neun oder zehn Jahren sah ich Charlie das letztemal. Ich glaube, es war einen Tag, nachdem ich mit Mr. Louba eine Auseinandersetzung wegen einer Dame gehabt hatte, die nicht fortkonnte, weil das Fenster zur Feuerleiter verklemmt war. Charlie war angezogen, als ob er die Welt auf den Kopf stellen wollte – man hätte ihn fast für einen Gentleman halten können. Das fiel mir auf, denn für gewöhnlich war Charlie mit seiner Kleidung nicht besonders wählerisch. Ich hatte im Gegenteil schon oft bemerkt, daß er geradezu schäbig aussah. Von dem Tag an bis zum Mittwoch vor dem Mord habe ich ihn dann nicht mehr gesehen. Über Mr. Loubas Privatangelegenheiten wußte ich stets sehr gut Bescheid – besser jedenfalls, als Louba annahm. Besonders was seine Geschäfte betraf, war ich immer gut informiert. Ich wußte beispielsweise, daß seine Unternehmungen nicht allzu erfolgreich verliefen. Immer größere Geldforderungen liefen ein, und eines Tages sah ich ihn vor einem Stapel Schiffsfahrplänen sitzen, und neben ihm lag ein Paß auf den Namen ›Goudelas‹ mit seiner Fotografie darin. Natürlich fing ich an, mir allerhand zusammenzureimen.

Ich weiß auch, daß er jede Woche Geld an verschiedene Leute absandte – er nannte sie mir gegenüber einmal seine Pensionäre. Auch diese Sendungen stellte er ein – die Rechnungen häuften sich in der Wohnung schon zu kleinen Bergen. Wochenlang erhielt ich meinen Lohn nicht, und da wurde mir denn doch ein wenig mulmig zumute. Wie ich schon sagte, traf ich dann am Mittwoch vor dem Mord Charlie. Er stand vor Braymore House. Es muß ungefähr acht Uhr gewesen sein, und ich war gerade unterwegs, um Mr. Louba die Nachmittagspost in den Elect Club zu bringen. Ich erkannte Charlie nicht wieder, bis er mich ansprach, wußte aber sofort, mit wem ich es zu tun hatte, als ich sein Gesicht sah. Er erzählte mir, daß er gerade aus dem Ausland zurückkomme und Louba sprechen wolle. Ich war natürlich schon wegen meiner Beobachtungen daran interessiert, möglichst viel über meinen Arbeitgeber zu erfahren. Wir gingen in eine Bar – dort war es auch, wo uns der kleine Herr, Mr. Weldrake, ansprach. Charlie sagte, daß es anscheinend schlecht um Louba stünde, und falls er kein ehrliches Spiel mit ihm treibe, wolle er ihm etwas einbrocken.

Wir tranken mehrere Gläser, und Charlie gelang es schließlich, mich davon zu überzeugen, daß man etwas unternehmen müsse, bevor Louba vollends erledigt sei. Meine Aufgabe bestand nun darin, Mr. Louba zu überwachen und festzustellen, ob er einmal eine größere Summe von der Bank abhob. Das war verhältnismäßig leicht, denn Mr. Louba verwahrte sein Scheckbuch in der rechten oberen Schublade seines Schreibtischs. Sobald sich ein größerer Geldbetrag im Haus befand, sollte ich Charlie ins Hotel telegrafieren: ›Florence ist angekommen.‹

Am Samstagmorgen ging Louba aus und kam kurz vor der Essenszeit wieder zurück. Das Mittagessen ließen wir uns immer aus dem Restaurant im Erdgeschoß heraufschicken. Um halb drei ging er wieder weg, und ich begann sein Zimmer zu untersuchen. Als erstes fand ich sein Scheckbuch. Er hatte zwölftausend Pfund abgehoben, und auf den Abschnitten stand ›Franken‹. Das Datum lautete auf Freitag, und ich konnte leicht erraten, daß er der Bank an diesem Tag die Schecks gegeben hatte, um ihr Zeit zu lassen, ausländische Währung dafür zu beschaffen.

Ich suchte nun fieberhaft nach den Scheinen und fand sie auch schließlich. Sie waren in der Schublade des kleinen Schreibsekretärs am Fenster. Nach meiner Schätzung mögen es ungefähr siebenhunderttausend Franken gewesen sein. Die Schublade hatte keinen Schlüssel. Sie war nur zu öffnen, wenn man zwei kleine Knöpfe zu beiden Seiten des Griffes gegeneinanderpreßte. Ich hätte das Geld ja nun sofort an mich nehmen können, aber dann wäre der Verdacht gleich auf mich gefallen, falls Mr. Louba nach seiner Rückkehr nachschaute.

Der Plan, den wir uns ausgedacht hatten, war folgender: Sobald Charlie mein Telegramm erhalten hatte, sollte er Louba aufsuchen; schon an der Tür würde ich ihm mitteilen, wo das Geld versteckt war. Er sollte es dann entweder sofort an sich nehmen, oder, wenn das nicht möglich war, später nochmals zurückkommen – und zwar über die Feuerleiter. Das Fenster würde ich schon vorher öffnen. Wir hatten uns auch über die Alarmklingel unterhalten, die aber nur funktioniert, wenn man die Leiter an der Feuertreppe herunterzieht. Ich sagte Charlie, daß im Garten eine Malerleiter stand, mit deren Hilfe man die Treppe hinaufkonnte, ohne die Alarmklingel in Tätigkeit zu setzen. Anschließend sollte ich Charlie in der Bar treffen, wo wir das Geld dann teilen wollten. Das gefiel mir eigentlich gar nicht, denn ich konnte mir an meinen fünf Fingern abzählen, daß er mich übers Ohr hauen würde. Dieser Gedanke bewog mich dann, selbst zu handeln.

Ich sandte also das Telegramm ab, und bald darauf kam Mr. Louba nach Hause. Er war gut gelaunt und erlaubte mir, abends auszugehen. Ich hatte meine Braut gebeten, mich in der Nähe von Braymore House zu erwarten, weil ich doch ein Alibi brauchte, falls das Geld etwa vermißt würde. Es hat mich zuvor allerhand Mühe gekostet, sie zum Kommen zu bewegen, da sie eigentlich nicht frei hatte.

Eine halbe Stunde, bevor Charlie erschien, war ich im Wohnzimmer; Mr. Louba nahm gerade ein Bad. Ich hatte ihn zuvor durch das Schlüsselloch beobachtet und gesehen, daß er direkt auf den Schreibsekretär zuging. Hier bot sich mir nun eine einmalige Gelegenheit. Ich wußte genau, daß ich von Charlie niemals meinen Anteil erhalten würde. Wenn ich das Geld jetzt wegnahm, konnte mir nichts mehr passieren, denn wenn der Verlust nach dem Weggang von Charlie entdeckt wurde, mußte ja der Verdacht auf ihn fallen. Ich suchte nach keinen Entschuldigungen für meine Person. Ich wollte stehlen – und das tat ich.

Nachdem ich die Schublade aufgezogen hatte, nahm ich eine Handvoll Banknoten heraus und stopfte sie in die Tasche. Um sicher zu sein, daß man das Geld nicht bei mir fand, nahm ich einen Umschlag, klebte eine Marke darauf und adressierte ihn an mich, und zwar an eine Adresse, wo ich die Möbel, die ich schon seit einem Jahr für unsere zukünftige Wohnung angeschafft hatte, aufbewahren ließ. Ich ging rasch zum Briefkasten und rannte dann zur Wohnung zurück. Ungefähr fünf Minuten, bevor Charlie ankam, war ich dort. Ich ließ ihn herein und flüsterte ihm zu, wo das Geld lag. Mr. Louba trat aus dem Zimmer und begrüßte Charlie, worauf ich weggehen wollte. Im selben Moment klingelte es, und Dr. Warden stand draußen. Fast wäre mir übel geworden, als ich ihn sah, denn ich wollte ja um jeden Preis schnell hinauskommen, da Charlie und Louba schon heftig miteinander stritten. Ich glaubte jetzt keinen Moment mehr daran, daß Charlie an das Geld herankommen konnte, ohne noch einmal zurückzukehren.

Nun, was daraufhin passierte, wissen Sie ja alles. Ich ging weg, sprach mit meiner Braut und unterhielt mich kurz mit dem Diener im ersten Stock. Danach ging ich wieder in die Wohnung. Nachdem Dr. Warden weg war, lauschte ich an der Tür. Man hörte nicht den geringsten Laut, aber das war nichts Außergewöhnliches, da Mr. Louba oft stundenlang in seinem Zimmer war, ohne nach mir zu rufen. Um zehn Uhr vierzig rührte sich noch immer nichts. Ich bekam Angst, daß etwas nicht stimmte, klopfte mehrmals an der Tür und öffnete sie dann. Sie wissen ja, was ich vorfand ... Als ich Loubas Leiche entdeckte, war ich zuerst vor Furcht fast außer mir. Dann ging ich ins Wohnzimmer und öffnete die Schreibtischschublade – sie war leer. Ohne mich weiter zu besinnen, rief ich nun sofort Dr. Warden an.

Das, meine Herren, ist die ganze Geschichte, soweit ich daran beteiligt bin. Ich suchte Dr. Warden auf, um wegen einer Auswanderung nach Südamerika seinen Rat zu erbitten. Dadurch hoffte ich, der Polizei zu entgehen.«

Der Doktor versuchte die weinende junge Frau zu trösten, nachdem ihr Mann abgeführt worden war. Er drückte ihr einige Geldscheine in die Hand und ließ sie durch seine Haushälterin zu ihrer Mutter bringen.

Während der Zeit, da Miller seine Gefängnisstrafe verbüßen mußte, bemühte sich Dr. Warden um dessen Privatangelegenheiten. Er stellte fest, daß sich Miller in den Jahren seiner Dienstzeit einen ganz ansehnlichen Betrag zusammengespart hatte. Es hätte wahrscheinlich einen Kampf mit den Behörden um den Besitz dieses Geldes gegeben, wenn man nicht den Hauptteil des Emil Louba gestohlenen Betrags unter Charles Berrys Sachen gefunden hätte.

»Die Geschichte ist jetzt vollständig«, sagte Trainor, als er den Doktor eines Tages in Whitehall traf. »Weldrake und da Costa wurden beide auf ihre eigene Kaution hin freigelassen, und die Sache mit Miller lenkt jeden Verdacht von ihnen und Leamington ab.«

»Sind Sie dessen sicher?« fragte Dr. Warden rasch.

»Nun, nach dem Gesetz unbedingt. Und ich glaube auch nicht, daß ein Funke Zweifel daran bestehen kann, daß Charles Berry der Mörder war. Das einzig Geheimnisvolle ist und bleibt die Frau – wo mag sie hingekommen sein?«

John Warden zuckte die Schultern.

»Was geht es uns an?« fragte er und brachte das Gespräch auf andere Dinge.

Es war Herbst, und Frank Leamington und Beryl verbrachten ihre Flitterwochen am Corner See. Es war ein wunderschöner Tag, der See lag tiefblau vor den beiden.

Frank lehnte faul im Heck des Bootes und schaute zu Beryl hinüber, die sich fröhlich in die Ruder legte.

»Liebste, manchmal ist mir immer noch, als müßte ich plötzlich aufwachen und wieder die nackten Wände meiner Untersuchungszelle in Bow Street sehen«, sagte er.

Sie schauderte ein wenig.

»So darfst du doch nicht reden – hier, wo es so schön ist! Was stand denn in dem Brief, den dir der Portier gab, als wir das Hotel verließen?«

Er angelte ihn aus der Tasche. Der Briefumschlag war mit der Maschine geschrieben und augenscheinlich in London umadressiert worden.

»Den Poststempel kann ich nicht genau erkennen. Die Marke ist brasilianisch.«

Er riß den Brief auf und zog einen dicken Pack engbeschriebener Bogen heraus. Nachdem er die ersten Worte gelesen hatte, sprang er so heftig auf die Füße, daß das Boot mächtig zu schaukeln anfing.

»Was ist denn los?« fragte sie besorgt.

»Nichts ... Warte, Beryl. Laß mich das hier erst zu Ende lesen.«

Sie blieb stumm sitzen und beobachtete sein gespanntes Gesicht, als er den wahren Bericht vom Tod Emil Loubas las.


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