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Der Selbstmörder

Preston Somerville stand auf dem Balkon vor seinem Hotelzimmer, als der Zug keuchend die letzte steile Biegung erklomm, um in die Station von Caux einzufahren. Er konnte von hier aus sehen, wie ein Herr und eine Dame ausstiegen. Auf dem runden, kleinen Eisentisch neben ihm lag ein Fernglas. Er nahm es zur Hand und stellte es auf den Bahnhof ein.

Ja, er hatte recht. Und er hatte die beiden auch an diesem Tag und mit demselben Zug erwartet. Von unten aus konnten sie ihn nicht erkennen. Die bunte Markise gab tiefen Schatten; außerdem lag das Hotel von der Station ziemlich weit entfernt. Er beobachtete, wie die beiden den gewundenen Fahrweg heraufstiegen. Ein Portier trug die Koffer. Hinter ihm ging gemütlich und langsam ein einzelner Herr; es war George Dixon, Somerville hatte ihn sofort erkannt.

Marie und ihr Begleiter kamen zu dem Hotel, in dem auch er logierte!

Sie hätten, wenn sie etwas mehr Takt besessen hätten, zum Palace- oder Grand-Hotel gehen oder auch eine der großen Pensionen nehmen können. Aber Templar hatte eben keine Ahnung von Umgangsformen.

Wieder sah Somerville durch das Fernglas.

Marie war stärker geworden; er konnte zwar ihr Haar nicht sehen, aber er bezweifelte, ob es noch die leuchtend goldblonde Farbe hatte wie vor siebzehn Jahren.

Templar war auch nicht mehr so schlank und elegant wie früher; im Gegenteil, er hatte ziemlich viel Fett angesetzt. Es war über ein Jahr her, daß er ihn nicht gesehen hatte.

Somerville zuckte die Schultern und sah nach dem Lac Leman hinüber, der sich in unglaublich tiefem Blau bis weit in die Ferne erstreckte. Ein prachtvolles Bild! Der Mont Grammont spiegelte sich mit seinem weißen Gipfel in der Fläche des Sees. Über Nacht hatte es geschneit, und der Dent du Midi war ebenfalls weiß bis zur Baumgrenze. Siebenhundert Meter unter ihm lag Territet. In der klaren Luft konnte man die Häuser und die Gebäude deutlich sehen; es lag wie eine kleine Stadt aus einem Spielzeugkasten mitten in der prachtvollen Umgebung grüner Gärten. Eine herrliche Gegend. Gerade in diesem kleinen Paradies wäre das Leben so schön gewesen, wenn nicht dieser furchtbare Schatten alles verdüstert hätte ...

Somerville ging in sein Zimmer zurück, schloß einen altmodischen Schrank auf und zog einen Lederkoffer vor, der schon viele Reisen mitgemacht hatte. Ruhig, ohne sich zu überhasten, öffnete er die beiden Schlösser und nahm dann eine kleine Ledertasche heraus, die ebenfalls aufgeschlossen werden mußte. Zwei Stöße Briefe und ein paar Fotos waren der ganze Inhalt. Ein blauer Briefumschlag lag obenauf. Seit vielen Jahren führte er diese Tasche mit sich. Notwendig war es nicht; im Gegenteil, es war eigentlich eine große Torheit. Langsam öffnete er den blauen Umschlag und nahm den Trauschein heraus, auf dem bestätigt wurde, daß Preston George Somerville eine Marie Clara Legrande geheiratet hatte. Das Datum lag siebzehn Jahre zurück. Warum ein Mann nun ausgerechnet den Beweis seiner Bigamie mit sich herumschleppte, war nicht zu erklären. Die letzten siebzehn Jahre waren eine furchtbare Zeit für ihn gewesen, und er wußte selbst nicht, warum er den Koffer immer bei sich hatte. Im Alter von achtzehn Jahren hatte er zum erstenmal geheiratet. Seine Ehe war nur kurz gewesen, es hatte zuviel Zerwürfnisse gegeben. Schließlich hatte seine Frau ihn verlassen, und dann war er Marie Legrande begegnet. Er hätte ihr damals ja die Wahrheit sagen können, und beinahe wäre es auch dazu gekommen, aber...

Er nahm den Trauschein und schloß ihn wieder in den Koffer. Die letzten siebzehn Jahre hatte er sich gewundert, daß er sich von diesen Briefen und Fotografien nicht trennen konnte. Die zweite Ehe hatte sein ganzes Leben zerstört und ihn entwurzelt, so daß er Dinge getan hatte, über die er selbst staunte.

Ein Klopfen riß ihn aus seinen Grübeleien.

»Herein!« rief er.

Als sich dann die Tür öffnete, schaute er auf und ging mit großen Schritten und ausgestreckten Händen George Dixon entgegen, um ihn herzlich zu begrüßen.

»Nun, dir scheint es aber gut zu gehen, Preston. Du siehst vorzüglich aus«, sagte der Rechtsanwalt und drückte die Hände des Freundes kräftig. »Woher wußtest du denn überhaupt, daß ich in der Schweiz bin? Als ich dein Telegramm erhielt, war ich wirklich erstaunt.«

»Ich habe es in der Zeitung gelesen. Man findet ja bekanntlich die Besucherlisten der Schweizer Kurorte darin, und zufällig entdeckte ich deinen Namen unter den Gästen in Interlaken.«

»Ich muß aber in drei Tagen wieder in London sein, alter Junge. Das bedeutet, daß ich diese herrliche Gegend entweder heute abend oder morgen früh verlassen muß.«

Somerville nickte langsam.

»Besser könnte es gar nicht sein. Das klingt zwar ein wenig unhöflich, aber du wirst es schon verstehen, wenn ich dir alles erkläre.«

»Was für Schmerzen und Unannehmlichkeiten hast du denn?« erkundigte sich der Rechtsanwalt. »Bevor du aber anfängst, mir alles zu erzählen, möchte ich dich fragen, ob du weißt, wer eben hier eingetroffen ist?«

Somerville nickte.

»Er saß im gleichen Zug wie ich«, fuhr Dixon fort. »Soll es zu einer – Verständigung kommen? Willst du die Sache aus der Welt schaffen?«

»Ja, sie muß endgültig geregelt werden.«

Somervilles Stimme klang ruhig und sanft, als ob er zu sich selbst spräche.

»Wenn ich dabei helfen könnte, dieses Ziel zu erreichen, bliebe ich auch eine ganze Woche hier. Dann kommt es mir gar nicht darauf an«, erwiderte Dixon herzlich. »Mein Lieber, es war tatsächlich der größte Unsinn, daß du diese Sache so viele Jahre ohne weiteres ertragen hast. Ich hätte schon vor zehn Jahren, als du mir zuerst davon erzähltest, alles in Ordnung bringen können. Du hättest mir nur Vollmacht zu geben brauchen.«

»Ich werde die Sache in Ordnung bringen – und zwar selbst.«

Dixon sah ihn neugierig und erstaunt an.

»Wie erfuhr eigentlich dieser Templar davon? Das hast du mir niemals richtig erklärt.«

Somerville füllte seine Pfeife, sah nach der blauweißen Bergen hinüber und ließ sich Zeit zur Antwort.

»Es gibt vieles, was ich dir früher nicht gesagt habe. Aber daß Templar in den Fall verwickelt ist, kann ich leicht erklären. Marie, meine zweite Frau, war damals Sängerin bei einer drittklassigen Operettengesellschaft. Die Truppe kam in die wilde Gegend, in die ich mich nach meiner ersten unglücklichen Ehe zurückgezogen hatte. Templar war ihr Manager in des Wortes vollster Bedeutung, vielleicht sogar mehr als das. Ich glaube, daß ich nicht ganz bei Sinnen war. Die Tatsache, daß ich so lange keine Frau gesehen hatte, ist die einzige Erklärung dafür, daß ich sofort auf Marie hereinfiel. Ich verliebte mich derartig in sie, daß es geradezu an Geisteskrankheit grenzte. Ich will mich nicht selbst entschuldigen, George. Zwei Wochen lang war ich nicht ganz zurechnungsfähig, nachdem ich Marie Legrande geheiratet hatte. Ob das ihr richtiger Name ist, mögen die Götter wissen. Ich fuhr damals mit ihr zur nächsten Stadt, schwor einen Meineid vor dem Standesbeamten und heiratete sie. Drei Monate später erfuhr sie durch Templar, daß ich schon einmal geheiratet hatte. Persönlich bin ich davon überzeugt, daß sie die Sache ohne weiteres hätte auf sich beruhen lassen. Unglücklicherweise war Templar anderer Ansicht, und es ist ja schließlich mein Pech, daß ich ein wohlhabender Mann bin. Seit der Zeit haben Templar und Marie immer zusammengesteckt. Immerhin halte ich Marie nicht für einen schlechten Charakter. Sie ist nur schwach und nachgiebig und möchte gern ein gutes Leben führen. Und seit der Zeit habe ich dann auch das nötige Geld hergeben müssen, damit Templar und sie bequem leben konnten. Ich habe wie in der Hölle gelebt.« Er zuckte die Schultern. »Aber ich will jetzt nicht obendrein noch theatralisch werden«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu. »Ich gab mich damit zufrieden, zu zahlen – und immer weiter zu zahlen – nur ...«

»Nun?« ermunterte ihn George.

Somerville erhob sich, trat auf den Balkon hinaus und hielt noch einmal nach den herrlichen Bergen Ausschau. Erst als er wieder ins Zimmer kam, antwortete er.

»Als meine erste Frau von mir fortging, hatte ich sechs Monate mit ihr zusammengelebt«, sagte er in sachlichem Ton. »Sieben oder acht Monate später, ein paar Wochen, nachdem ich Marie geheiratet hatte, erhielt ich von meiner ersten Frau einen Brief, in dem sie mich um eine Zusammenkunft und eine Unterredung bat. Dieser Brief fiel in Templars Hände, und dadurch wurde ihm die Tatsache bekannt, daß ich zwei Frauen geheiratet und Bigamie begangen hatte. Davon erfuhr ich aber erst später. Ich traf also meine erste Frau, und sie teilte mir mit, daß ich eine Tochter hätte.«

Als er die letzten Worte sprach, zitterte seine Stimme. Aus seiner Brieftasche nahm er eine Fotografie und reichte sie Dixon. Der Rechtsanwalt sah das freundlich lächelnde Gesicht eines ungewöhnlich schönen jungen Mädchens.

»Ist sie das?« fragte er erstaunt.

»Ja, das ist meine Tochter.«

»Aber ich habe ja nie erfahren, daß du eine Tochter hast«, erwiderte George atemlos.

»Das war eines der wenigen Geheimnisse, die ich für mich bewahrt habe«, sagte Somerville und legte das Bild wieder in die Brieftasche.

Einen Augenblick schaute er noch darauf, dann klappte er die Tasche zu und steckte sie wieder ein.

»Ja, dieses Geheimnis habe ich vor allen Leuten behütet. Das erklärt vor allem auch, daß ich die siebzehn Jahre so gut überstanden und nicht den Verstand verloren habe. Ich wußte sehr gut, daß ich kaum eine harte Strafe erhalten würde, wenn ich mich an die Gerichte wenden würde, um diesem Erpresser zu entgehen. Wahrscheinlich würde ich sogar Sympathie in der Öffentlichkeit gefunden haben. Es ist ja alles rein menschlich und läßt sich verstehen. Aber deshalb habe ich den Schritt nicht getan.« Er klopfte auf die Brieftasche. »Ich wußte ja nicht, wie das Mädchen diese Nachricht auffassen würde. Mit Rücksicht auf meine Tochter konnte ich in der ganzen Sache nichts unternehmen.«

»Weiß Templar von der Existenz deiner Tochter?«

Somerville nickte.

»Aus diesem Grund ist er ja drei Monate vor der üblichen Zeit gekommen. Erst vor einem Monat hat er davon erfahren. Meine Tochter ist auf der Schule in Cheltenham; sie beteiligte sich an der Theateraufführung bei einer Schulfeier und spielte so gut, daß ihr Name in den Kritiken besonders hervorgehoben wurde. Unglücklicherweise fügte ein Zeitungsmann noch hinzu, daß der Vater des jungen Mädchens Preston Somerville sei. Sie hatten mich schon vorher in der Hand, aber jetzt ist die Sache geradezu hoffnungslos, nachdem sie auch das noch wissen. Du kannst dir wohl denken, daß sie jetzt alle Hebel in Bewegung setzen, um mich gefügig zu machen.«

»Aber es muß doch eine andere Lösung geben, Preston! Es muß einfach möglich gemacht werden! Kannst du nicht deine Tochter für ein paar Monate nach Amerika schicken, meinetwegen auch für ein paar Jahre?«

Somerville brachte ihn durch eine müde Handbewegung zum Schweigen.

»Es gibt vielleicht mehrere Lösungen. Für eine habe ich mich entschieden und dich deshalb telegrafisch benachrichtigt. Es war ein glücklicher Augenblick, in dem ich deinen Namen in der Kurliste von Interlaken fand. Meine Angelegenheiten sind in bester Ordnung, aber ich wollte dir vor allem von der Existenz meiner Tochter erzählen, weil es eventuell für dich nötig werden wird, in Zukunft mein Vermögen zu verwalten.«

»Aber um Himmels willen!« rief George Dixon. »Du willst doch nicht diesen Ausweg wählen! Überlege dir das, Preston, das darf nicht sein! Du warst doch früher so klug, als wir zusammen in Oxford studierten. Erinnerst du dich nicht, daß wir damals einen Kriminalklub gründeten und alle großen Verbrechen genau besprachen und analysierten, die sich damals in der Welt zutrugen? Du warst doch immer der Tüchtigste von uns allen, du fandest jedesmal eine Lösung für all diese geheimnisvollen und dunklen Geschichten. Du hattest sogar selbst Kriminalgeschichten erfunden, geheimnisvoller und verwickelter, als sie in Wirklichkeit vorkommen. In all diesen Dingen bist du doch bewandert, und ich traue dir zu, daß du eine andere Lösung finden kannst, wenn du dich nur dazu aufraffst.«

Somerville war bisher ruhelos im Zimmer auf und ab gegangen. Nun blieb er stehen und sah George an.

»Merkwürdig, daß du mich gerade jetzt daran erinnerst. Wirklich sonderbar, denn ich sagte dir schon vorher, daß ich eine Lösung aus den allgemeinen Schwierigkeiten gefunden zu haben glaube.«

George sprang auf; seine Augen leuchteten.

»Ich wußte, daß es dir gelingen würde. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich mich darüber freue.«

»Ja, ich habe eine Lösung gefunden«, entgegnete der andere langsam. »Ich habe in der letzten Zeit einen Detektiv bezahlt, der die beiden genau beobachtet. Deshalb wußte ich auch, daß sie mich hier treffen wollten. Der Mann hat übrigens eine ganze Menge interessanter Tatsachen herausgebracht, aber nichts von alledem ist so wichtig wie –«

Somerville machte eine bedeutungsvolle Pause.

»Ja, was wolltest du sagen? Sprich doch!« drängte George Dixon ungeduldig.

»Nichts ist so wichtig wie die Tatsache, daß er in seiner rechten unteren Westentasche stets etwas bei sich trägt«, erwiderte Somerville mit besonderer Betonung.

»Was denn?« fragte der Anwalt neugierig.

»Das wirst du schon noch rechtzeitig erfahren. Diese Enthüllung möchte ich erst machen, wenn alles vorbei ist. In den Detektivromanen kommt die Aufklärung ja auch erst im letzten Kapitel.« Preston Somerville lächelte. »Aber darauf baue ich eben meinen Plan auf. Ich habe ein entsetzliches Leben geführt, weil mich dieser Mann ständig verfolgt hat.« Er war vollkommen ruhig und nicht so aufgeregt wie bei früheren Unterredungen mit seinem Rechtsanwalt, wenn er über das dunkle Kapitel seines Lebens sprach. »Die Frau ist auch ganz anders. Sie würde mir niemals Schwierigkeiten machen, dazu ist sie zu anständig.«

Somerville seufzte tief und schwer, dann wandte er sich plötzlich entschlossen und lebhaft an seinen Freund.

»George, ich möchte dir jetzt auseinandersetzen, was du für mich tun kannst, wenn mein Plan mißlingt ...«

*

In dem großen Doppelzimmer des Stern-Hotels saß Mr. Templar auf dem Rand des Bettes und sah Marie an. Die beiden waren als Ehepaar in die Fremdenliste eingetragen. Sie bückte sich über den offenen Koffer und packte zögernd und widerwillig Kleider und Wäsche aus.

»Du hast mir gesagt, daß wir nur einen Tag hiersein würden«, sagte sie unzufrieden.

»Das hängt ganz davon ab, Marie«, erwiderte Templar, ohne die Zigarre aus dem Munde zu nehmen. »Vielleicht dauert es auch länger, so daß wir uns telegrafisch Geld nachsenden lassen müssen.«

Ihre nächsten Worte zeigten, daß Somerville ihren Charakter richtig beurteilte.

»Warum läßt du ihn denn nicht in Ruhe?« fragte sie und drehte sich nach ihm um. Sie war selbst nach den vielen Jahren noch eine schöne Frau, obwohl das Goldblond ihrer Haare jetzt künstlich nachgefärbt war. »Der arme Mann! Wir haben ihn doch nun schon so oft und gründlich zur Ader gelassen und auch genug Geld zusammengebracht, Joe. Warum wollen wir nicht nach Hause zurückkehren? Wir könnten uns doch jetzt tatsächlich auf dem Land niederlassen und die große Farm kaufen, von der du schon so lang gesprochen hast!«

Mr. Templar lachte. Trotz seiner Korpulenz und seiner Eleganz hatte er etwas von einem Desperado an sich. Im übrigen aber sprach er ruhig und mit sanfter Stimme. Auch an ihm war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen – er hatte eine Glatze. Aber er schien viel Sinn für Humor zu haben, denn er lachte leicht und gern. Sein Gesicht hatte eine gesunde Farbe und wenig Falten, nur seine Augen traten etwas vor. Auf jeden Fall nahm er das Leben möglichst von der leichten Seite.

»Wenn ich immer das getan hätte, was du wolltest«, meinte er gutmütig, »dann hättest du im ganzen Jahr vielleicht zwanzig Wochen Engagement gehabt, die Woche zu fünf Pfund. Und ich hätte drittklassige Operettengesellschaften leiten müssen. Niemals wären wir in große Städte gekommen, immer hätten wir uns in kleinen Nestern herumgedrückt. Aber du siehst ja, wie weit du durch mich gekommen bist. Jetzt wohnen wir in einem erstklassigen Hotel in der schönsten Gegend der Schweiz. Ich verstehe überhaupt nicht, was du willst und warum du mir Vorwürfe machst. Seit Jahren hast du keine Not und kein Elend mehr kennengelernt, es ist uns doch stets gut gegangen.«

Sie machte sich wieder daran, die Koffer auszupacken.

»Es kommt ganz darauf an, was man unter einer schlechten Zeit versteht. Ich habe jedenfalls sehr viel Unruhe gehabt, und du auch, Joe«, erwiderte sie nach einer Weile und drehte sich zu ihm um. »Ich erinnere dich nur an die Zeiten, wo du glaubtest, daß Preston dich verfolgen würde – denkst du noch an den Abend in Paris? Damals hast du ihn mit einem Beamten von Scotland Yard durch das Café gehen sehen, in dem wir auch saßen.«

Er kniff die Augen zusammen.

»Ach, halt den Mund«, sagte er ärgerlich. »Was kann es auch für eine Strafe darauf geben? Höchstens Gefängnis – und darauf pfeife ich. So weit bringen sie mich nie. Ich habe wie ein Gentleman gelebt, und ich werde auch wie ein Gentleman sterben.« Unwillkürlich tastete er mit der Hand nach seiner rechten Westentasche. »Übrigens hast du recht, wenn du vorhin davon sprachst, daß wir eine Farm kaufen sollten«, meinte er dann. »Ich habe es mir schon lang überlegt, daß wir endlich einmal einen ruhigen Wohnsitz haben müssen. Wir wollen uns nur noch dies eine Mal Geld verschaffen, dann lassen wir ihn in Ruhe.«

Sie lachte bitter.

»Es ist nicht das erstemal, daß du das gesagt hast. Das kenne ich schon. Auf jeden Fall will ich ihn nicht sehen.«

»Das habe ich ja auch gar nicht von dir verlangt«, erklärte Templar in vorwurfsvollem Ton.

*

Erst am nächsten Morgen begegnete er seinem Opfer. Die beiden trafen sich auf der großen, breiten Hotelterrasse, von der aus man einen herrlichen Ausblick nach Territet hat.

Templar begann die Unterhaltung wie stets.

»Mr. Somerville, es tut mir unendlich leid, daß ich Sie wieder stören muß, aber es ist uns in der letzten Zeit nicht gut gegangen, und ich bin leider darauf angewiesen, wieder Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen.«

»Es wird Ihnen noch viel schlechter gehen«, unterbrach ihn Somerville. Seine Worte klangen gehässig und drohend. »Ich werde es noch erleben, daß sie in kaltem, nebligem Wetter eines Morgens in den Steinbrüchen von Dartmoor arbeiten. Nachdem ich soviel durchgemacht habe, würde es mir eine unendliche Genugtuung und Freude sein, nach Princetown zu fahren und Sie in Sträflingskleidern zu sehen.«

Templar war sprachlos. Das war nicht der Mann, den er früher gekannt hatte, der ruhige Mr. Somerville mit dem zynischen und harten Lächeln, der bezahlt hatte, ohne zu fragen oder den geringsten Widerstand zu leisten!

»Ich – ich ...«, stotterte er. »Was meinen Sie denn eigentlich? Es kann doch höchstens umgekehrt sein, Sie meinen wohl, ich könnte nach Dartmoor gehen, um Sie dort im Zuchthaus zu sehen?« Templar war so erregt, daß er verhältnismäßig laut sprach. »Nehmen wir an, ich gehe zur Staatsanwaltschaft und zeige Sie an, dann kommen Sie dorthin ... dann wird Ihre Tochter Sie auch dort sehen! Ja, das haben Sie wohl nicht erwartet – da horchen Sie auf, wenn ich Ihnen das sage! Nehmen wir an, daß ich sie hinbringe, damit sie ihren Vater sehen kann? Das ist natürlich ganz etwas anderes.«

Somervilles hageres Gesicht färbte sich rot, aber diese Herausforderung hatte einen unerwarteten Erfolg. Angelockt durch das laute Gespräch, war ein Kellner auf die Terrasse getreten, der sich einen Augenblick im Hintergrund aufhielt und einen interessierten Blick auf die beiden Gäste warf. Aber schließlich merkte er, daß man ihn dort nicht wünschte, und zog sich diskret zurück.

»Wieviel wollen Sie diesmal haben?« fragte Somerville vollkommen ruhig.

»Dreitausend«, entgegnete Templar, der sich selbst in Ärger hineingeredet hatte und infolgedessen kühner geworden war. »Das sind fünfundsiebzigtausend Schweizer Franken.«

Somerville trat an das Geländer der Terrasse, kreuzte die Arme und sah nach dem See hinunter. Templar glaubte, der Mann wäre vollständig zusammengebrochen, so daß er ihn ganz in der Hand hatte. Die Erwähnung der Tochter genügte anscheinend, ihn zu Kreuz kriechen zu lassen. Templar war überfroh, als er das entdeckte, und rechnete sich aus, daß er Somerville von jetzt ab um größere Summen erleichtern konnte. Im Augenblick dachte er gar nicht daran, sich ein Landgut zu kaufen.

Plötzlich sah sich Somerville um.

»Treffen Sie mich morgen nachmittag um drei Uhr in dem Tal Gorge du Chauderon.«

»Wo liegt denn das?« fragte Templar erstaunt. »Ich kenne die Gegend nicht so genau.«

»Sie gehen den Abhang nach Glion hinunter, wenden sich nach rechts, gehen durch die Stadt und kommen dann auf eine Straße, die nach Les Avanats führt. Dicht vor der Brücke, die sich über die Talschlucht zieht, finden Sie einen Fußweg nach der Schlucht und kommen an das Ufer des kleinen Flusses. Es ist ein schöner, ruhiger Platz, wo wir wahrscheinlich nicht gestört werden.«

»Aber warum wollen wir denn die Sache nicht hier abmachen? Ich könnte doch heute abend auf Ihr Hotelzimmer kommen ...«

»Sie bekommen Ihr Schandgeld in der Gorge du Chauderon oder überhaupt nicht«, entgegnete Somerville kurz. »Was ist denn mit Ihnen los, Templar? Für gewöhnlich sind Ihnen doch solche Kleinigkeiten gleichgültig. Für Sie ist es doch die Hauptsache, daß Sie das Geld einstecken können. Deshalb haben Sie doch im allgemeinen Angst davor, mich in einem Zimmer zu treffen, wo das Gespräch und die Übergabe des Geldes von einem Detektiv belauscht werden könnte. Das letztemal in London haben Sie mitten in der Nacht darauf bestanden, daß wir ans Themseufer gehen sollten.«

»Es gibt eine ganze Menge von Örtlichkeiten, wo wir uns treffen könnten«, brummte Templar. »Übrigens ...«

»Das ist der Ort, für den ich mich entschieden habe.«

Templar sah ihn argwöhnisch an.

»Ich sage Ihnen nur das eine, Mr. Somerville, ich lasse mich von Ihnen nicht übers Ohr hauen. Wenn Sie irgendwelche Tricks mit mir vorhaben – wenn Sie versuchen sollten ..., dann habe ich nicht das geringste Mitleid mit Ihnen – ich sage Ihnen, ich schieße Sie auf der Stelle nieder wie einen Hund!«

Somerville machte eine verächtliche Handbewegung und wandte sich ab.

»Also um drei Uhr morgen nachmittag.«

»Ich komme«, sagte Templar und biß die Zähne zusammen. »Aber wenn Sie den geringsten Versuch machen sollten ...«

Somerville wartete nicht länger. Mit großen Schritten ging er die Terrasse entlang, trat in die Hotelhalle und wandte sich zu dem Büro des Hoteldirektors.

Templar war ihm vorsichtig gefolgt. Er hatte seine Zweifel, und es war ihm nicht geheuer zumute. Zögernd setzte er sich in einen Sessel, von dem aus er die Tür des Hotelbüros übersehen konnte. Als die Zeit verging und Somerville immer noch nicht herauskam, wurde er nervös und unruhig. Nach zwanzig Minuten erschien Preston schließlich wieder im Türrahmen, sprach aber noch leise mit dem Hoteldirektor. Templar bemerkte, wie der Schweizer zu ihm hinüberschaute. Sein Blick war sonderbar. Templar wurde es heiß, er wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch, räusperte sich halb verlegen, halb schuldbewußt und erhob sich. Er versuchte sich in die Brust zu werfen und ging mit würdevollen Schritten zu seinem Zimmer, als ob er Somerville überhaupt nicht sähe.

Etwas zusammenhanglos und ungewöhnlich erregt erzählte er Marie die Geschichte mit allen Einzelheiten. Allem Anschein nach war er sehr nervös geworden. Dreimal hatte er sich schon aus der Whiskyflasche eingeschenkt, die er in seinem Koffer stets bei sich trug. Besonders ärgerte er sich über Marie, weil sie nicht im mindesten auf seine Worte einging.

»Mach doch wenigstens den Mund auf und sag etwas«, fuhr er sie an. »Ich möchte nur wissen, worauf er hinauswill! Was für einen Plan hat er sich ausgeheckt ...? So hat er mich noch niemals behandelt – ob er nicht genug Geld hat?«

Sie sah ihn offen an.

»Joe, soll ich dir wirklich einen Rat geben?«

»Ja, wenn es einer ist, den ich tatsächlich gebrauchen kann«, sagte er und kaute wütend am Ende seiner Zigarre.

»Mach, daß du von Caux fortkommst. Ich weiß zwar nicht viel von Preston, denn ich habe nicht lang genug mit ihm zusammengelebt, um seine Art genau zu verstehen, aber ich kann dir nur sagen, das ist ein ganz gerissener Kerl, und es ist gefährlich, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Für gewöhnlich verliert der seine Haltung nicht.«

Sie erhob sich plötzlich nervös und erregt.

»Ich gehe auf jeden Fall von hier fort.«

»So, du willst fort? Wohin? Das wirst du bleiben lassen«, erwiderte er scharf.

Sie wandte sich zu ihm um.

»Werde nur nicht grob zu mir, Joe. Dadurch änderst du auch nichts an der Sache. Ich fahre heute abend mit dem Nachtzug nach Paris zurück. Du kannst ja hierbleiben und die Sache zu Ende bringen, aber ich will nichts damit zu schaffen haben. Ich bin überhaupt nicht für Erpressungen. Du bist übrigens auch nicht der rechte Mann dazu; dir fehlt die nötige Festigkeit und eiserne Ruhe. Ich weiß ganz genau, warum du solche Angst bekommen hast und warum du so erregt bist. Das kommt nur daher, daß er etwas von Dartmoor zu dir gesagt hat.«

Mr. Templar blinzelte.

»Vielleicht ist es nicht einmal eine schlechte Idee, wenn du von hier weggehst«, meinte er nach einiger Zeit. »Es ist eigentlich kein Grund vorhanden, warum du hierbleiben müßtest. Aber wenn er irgendwie versuchen sollte ... man kann diesem Somerville nicht über den Weg trauen ... zum Donnerwetter, die Sache ist wirklich nicht so einfach!«

Er atmete schwer.

Am Abend brachte er sie zu dem letzten Zug, der aus den Bergen ins Tal fuhr, und sie war herzlich froh, daß sie Caux verlassen körnte. Einsilbig und wenig freundlich verabschiedete sie sich von ihm. Er ging auf sein Zimmer zurück und schlief, aber er konnte keine Ruhe finden und wurde von bösen, aufregenden Träumen gequält.

Am nächsten Morgen machte ihn ein Ereignis noch unruhiger und nervöser. Er hatte das Frühstück auf seinem Zimmer eingenommen, dann las er eine Stunde lang in den Zeitungen draußen auf der Hotelterrasse. Als er zurückkehrte, entdeckte er, daß der Zimmerkellner seinen Koffer ausgepackt hatte. Seine Kleider waren in den Schrank gehängt und sorgfältig gebürstet worden. Am meisten ärgerte ihn aber, daß der Kellner den großen Revolver herausgenommen hatte, der gewöhnlich zuunterst auf dem Boden seines Koffers versteckt war. Die etwas altmodische, große Waffe lag jetzt auf dem Frisiertisch.

»Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, meinen Koffer auszupacken?« fragte Templar ärgerlich.

Der erstaunte Kellner hob die Schultern fast bis zu den Ohren und lächelte.

»Ich dachte, daß es Ihnen angenehm sein würde. Ich mache es bei allen anderen Herrschaften auch so.«

»Ich habe Ihnen doch ausdrücklich erklärt, daß Sie meinen Koffer nicht anrühren sollen. Ich werde mich beim Hoteldirektor beschweren und dafür sorgen, daß Sie hinausgeworfen werden. So eine verdammte Frechheit ist mir doch noch nicht vorgekommen.«

Dem Kellner blieb nichts anderes übrig, als wieder die Schultern zu zucken und verbindlich zu lächeln, bevor er durch die Tür verschwand.

Templar nahm den Revolver von der Tischplatte und prüfte ihn genau. Er brauchte ihn auf jeden Fall. Wenn dieser verdammte Kerl ihn tatsächlich überlisten wollte, würde er sich schon zu wehren wissen. Er suchte in den Koffertaschen, nahm eine Schachtel Patronen heraus, lud die Waffe und steckte sie in die Tasche. Der Revolver war schwer, aber gerade das gab ihm eine gewisse Sicherheit, und die brauchte er heute ganz besonders. Warum hatte Somerville ihn wohl nach der Gorge du Chauderon bestellt? Der Name hatte etwas Unheimliches und Drohendes, und Templar schauderte.

Am Nachmittag machte er sich dann aber doch auf den Weg. Bis nach Glion fuhr er mit dem Zug, dann ging er den Weg hinunter bis zur Schlucht. Ohne weitere Schwierigkeit fand er den beschriebenen Fußpfad, der ziemlich steil war und sich zwischen Fichten und Lärchenbäumen hindurchwand. Große Felsblöcke lagen zu beiden Seiten. Ab und zu machte er halt, denn er hatte noch sehr viel Zeit. Von Somerville konnte er nichts sehen. Er erwartete, daß er mit dem anderen auf dem Weg zusammentreffen würde, aber Somerville war schon längst vor ihm gekommen. Er saß auf einem Felsblock auf einer Lichtung; der kleine Fluß schäumte an ihm vorüber.

Somerville wartete an diesem schönen Platz. Das dauernde Rauschen des Wassers übertönte das Zirpen der Grillen. Von seinem Sitz aus konnte er die nackten Felskegel des Jarman und die zerklüfteten Abhänge der nahen Berge sehen. Er hörte die zögernden Schritte seines Feindes und erhob sich von seinem Sitz.

Templar blieb sofort stehen, als er ihn sah. Plötzlich erwachten Mißtrauen und Furcht aufs neue in ihm.

»Kommen Sie doch näher. Wovor fürchten Sie sich denn?« rief Somerville.

Zögernd ging Templar weiter und sah sich nach links und nach rechts um, ob nicht irgendwo ein Zeuge versteckt wäre. Stets argwöhnte er, daß Somerville jemand verborgen hätte, der später bei Gericht gegen ihn auftreten könnte. Aber der Platz war vollkommen übersichtlich; nirgends gab es Gesträuch oder Unterholz, wo sich jemand hätte verstecken können.

»Setzen Sie sich auf den Felsblock, Templar«, sagte Somerville. »Wir wollen miteinander reden.«

»Das fällt mir gar nicht ein. Ich will nicht mit Ihnen verhandeln«, erwiderte Templar grob. »Ich bin nicht hergekommen, um hier ein Kaffeekränzchen abzuhalten – ich bin ...«

»Aber ich möchte es so haben«, erklärte Somerville freundlich. »Ich wollte Ihnen nämlich etwas erzählen.«

Templar kniff die Augenlider zusammen.

»Zunächst möchte ich einmal feststellen«, fuhr Somerville fort, »daß Sie am Ende Ihres Könnens sind, mein Freund.«

»Ach so, Sie wollen mich doch übers Ohr hauen?« Templar sah sich wieder nach allen Seiten um. »Sie glauben, Sie haben mich hier gefangen? Aber den Glauben will ich Ihnen schnell austreiben.«

»Ich habe Sie nicht nur gefangen, ich werde Sie auch umbringen.«

Templar sprang auf. Im selben Augenblick hatte er den Revolver aus der Tasche gezogen.

»Ach, deshalb haben Sie mich hergelockt?« rief er atemlos. »Nun, wenn es zur Schießerei kommt, bin ich Ihnen überlegen. Falls Sie sich rühren ...«

Er brach ab, weil ihm das Atmen schwer wurde. Somerville lachte verächtlich.

»Stecken Sie Ihr Schießeisen in die Tasche. Ich hoffte, daß Sie es mitbringen würden. Ich wiederhole nochmals, ich werde Sie umbringen. Seit siebzehn Jahren haben Sie mich gequält; Ihre Erpressungen waren der furchtbare Alpdruck, unter dem ich leben mußte. Sie dachten, ich fürchtete die Enthüllung für mich selbst. Nach der Entdeckung, die Sie plötzlich gemacht haben, wissen Sie nun, daß ich mich aus einem anderen Grund dazu entschloß, Ihre Forderungen zu erfüllen.«

»Wegen Ihrer Tochter. Das weiß ich sehr wohl«, unterbrach ihn Templar, der sich allmählich wieder gefaßt hatte.

»Ich wollte Ihnen nur in Erinnerung bringen, wieviel ich durchgemacht habe«, fuhr Somerville fort, »damit sie auch genau wissen, worum es sich handelt. Ich hoffe, daß Ihr Gewissen noch einmal wach wird, bevor Sie sterben müssen. Wenn Sie länger darüber nachdenken, werden Sie auch vollkommen verstehen, warum Sie den Tod verdient haben.«

Langsam ging er zu ihm hinüber. Templar richtete den Revolver auf seinen Gegner.

»Kommen Sie nur nicht in meine Nähe«, rief Templar heiser. »Ich schieße Sie nieder wie einen Hund!«

»Schießen Sie doch!«

Der herausfordernde Ton hätte wahrscheinlich jeden anderen derartig aufgebracht, daß er abgedrückt hätte. Aber Templar war feige.

»Schießen Sie doch! Was Sie auch tun, Ihr Schicksal ist besiegelt. Sie haben ja gar nicht den Mut, den Revolver abzudrücken ... Ihre Hand zittert ja ...«

Somerville kam näher und näher, während der andere die Waffe nicht ruhig halten konnte. Plötzlich stürzte er sich auf sein Opfer. Mit einer Hand wand er Templar den Revolver aus den Fingern. Die Waffe fiel ins Gras, dann folgte ein kurzer Kampf. Preston war schlank und sehnig, ein durchtrainierter Sportsmann, und gewann natürlich sofort die Oberhand. Templar wußte auch, daß er unterliegen mußte, und war daher vom ersten Augenblick an im Nachteil.

Er versuchte sich frei zu machen, aber dann fiel er mit dem Gesicht auf den rauhen Felsen und schlug sich die Backe auf. Somerville bückte sich, drehte Templar auf die andere Seite und sah befriedigt die Wunde im Gesicht seines Gegners.

»Großartig! Besser konnte es gar nicht kommen, selbst wenn ich es beabsichtigt hätte. Stehen Sie auf!«

Er hatte den Revolver aufgehoben und in die Tasche gesteckt.

Templar erhob sich unsicher.

»Dafür sollen Sic mir noch büßen!« stieß er zwischen den Zähnen hervor.

»Im Gegenteil, Ihnen wird es schlecht gehen. Deshalb sind Sie ja hier!«

Templar sah sich ängstlich und furchtsam um. Somerville lächelte.

»Ich werde Sie nicht hier töten«, sagte er dann langsam. »Tatsächlich werden Sie nach ein paar Minuten so schnell als möglich den Weg zurückeilen, den Sie gekommen sind. Ich habe mir überlegt, daß Sie den Rest Ihres Lebens in einem Schweizer Gefängnis zubringen sollen. Templar, Sie kommen in eine der hochgelegenen Strafanstalten, wo die Gefangenen weiter nichts sehen als graue Felswände und weiße Berggipfel, bis sie sterben. Dort graben die Sträflinge Tag für Tag und brechen Steine, bis jemand anders für sie ein Grab gräbt ...«

»Seien Sie still!«

Templars Stimme klang schrill.

»Nein, das dürfen Sie nicht«, fuhr er aufgeregt fort, »Sie wollen ... Sie wollen doch nicht ...« Somerville nickte.

»Doch, ich werde es tun!«

Er nahm Templars Revolver heraus und legte ihn auf den Felsen neben sich. Dann holte er einen großen Stoß Banknoten aus der Tasche. Templar sah, daß jede einen Wert von tausend Franken hatte. Was Somerville dann machte, ging über Templars Verstand. Der Mann nahm ein scharfes Taschenmesser und schnitt sich damit ins Handgelenk. Es war nur ein leichter, kleiner Schnitt, das Blut kam langsam aus der Wunde. Einen Augenblick wartete er, dann hob er den Revolver auf.

»Templar, kommen Sie hierher«, kommandierte er scharf.

Langsam gehorchte der andere. »Legen Sie Ihren Finger auf die Schnittwunde.«

»Was soll denn das heißen?«

»Wollen Sie wohl tun, was ich Ihnen eben gesagt habe?«

Zögernd kam Templar der Aufforderung nach.

»So, jetzt nehmen Sie die oberste Banknote in die Hand.«

»Aber hören Sie doch ...!« Im gleichen Augenblick fühlte Templar die Mündung des Revolvers zwischen seinen Rippen, und er faßte den Geldschein mit seinen blutigen Fingern an.

»Geben Sie mir den Schein«, befahl Somerville, nahm ihm die Note aus der Hand und betrachtete sie genau. »Ein ausgezeichneter Fingerabdruck. Die Beweiskette ist nun vollkommen geschlossen.«

Templar zitterte.

»Was haben Sie mit mir vor? Was hat denn all dieses dumme Zeug für einen Zweck? Mir machen Sie dadurch keine Angst! Glauben Sie mir, ich habe schon zuviel erlebt.«

»Die Beweiskette ist vollkommen geschlossen«, wiederholte Somerville triumphierend. »Also, hören Sie zu. Hier sind die einzelnen Glieder des Beweises gegen Sie. Zuerst haben Sie sich heute morgen in Gegenwart eines Kellners auf der Hotelterrasse mit mir gezankt – daß ich den Streit mit Ihnen begann, ist nebensächlich. Dann ging ich zum Direktor des Hotels und teilte ihm mit, daß Sie ein Verbrecher sind, der mich erpressen will.«

Templars Gesicht färbte sich dunkel.

»Dann gab ich dem Zimmerkellner den Auftrag – wir beide wohnen nämlich in derselben Etage«–, Ihren Koffer auszupacken, um Ihren Revolver eventuell später vor Gericht zu identifizieren. Der ist ja so schön herausgeputzt wie ein Weihnachtsbaum – mit Silber, Perlmutt und so weiter. Die Waffe wird der Mann nie vergessen. Nun habe ich Sie hier in der Gorge du Chauderon getroffen... Sie möchten wohl gern wissen, was jetzt passieren wird?«

Allmählich dämmerte Templar die Wahrheit. Er war in die Falle gegangen! Vor Schrecken konnte er nicht sprechen, er sah Somerville nur entsetzt an.

»Ja, und dann wird man mich hier tot auffinden«, fuhr Somerville langsam fort. »Ihr Revolver wird neben mir liegen, ein blutiger Fingerabdruck Ihrer Hand wird auf einer Banknote zu sehen sein, und Sie haben eine blutende Wunde im Gesicht ...«

»Nein, das ist unmöglich!« schrie Templar. »Das werden Sie nicht tun, Mr. Somerville! Um Himmels willen – nein, das dürfen Sie nicht ... Selbstmord ...!«

Templar konnte kaum noch zusammenhängend sprechen.

»Ja, Selbstmord!« wiederholte Somerville düster. »Ich habe es mir überlegt – Schritt für Schritt. Sie haben mir ja siebzehn Jahre Zeit gegeben, alles genau auszudenken, Sie Hund! Und wenn ich jetzt sterbe, dann habe ich wenigstens die Gewißheit, daß Sie mit mir zugrunde gehen. Man wird meine Leiche hier sicher finden – ich habe der Polizei in Les Planches geschrieben, daß ich Sie hier an dieser Stelle treffen würde, und um Polizeischutz gebeten. Heute nachmittag kommt der Brief an. Ich habe die Zeit genau danach eingeteilt.«

Er nahm das Paket Banknoten und hielt es Templar hin. »Nehmen Sie das Geld. Das wollten Sie doch von mir haben. Es ist die vereinbarte Summe. Nur den einen Geldschein behalte ich, den soll die Polizei in meiner Brieftasche finden –«

Templar schrie laut auf und schlug Somerville das Geld aus der Hand, so daß die Banknoten auf den Rasen flatterten.

Wie von Furien gepeitscht lief er davon, schluchzte und schrie wie ein furchtsames Kind. Er mußte wieder auf die Hauptstraße zurückkommen – er mußte einen Mann finden – einen Zeugen, mit dem er zu der Stelle zurückkommen konnte ... bevor ... bevor ... vor allem einen Zeugen – jemand, der Somerville noch lebend gesehen hatte ...

Als er die Straße fast erreicht hatte, blieb er wie angewurzelt stehen.

Die enge Schlucht hallte wider von einem Schuß. Mit offenem Mund wandte er sich um. Seine Gesichtsfarbe war aschgrau, und er konnte sich zunächst nicht rühren. Dann wollte er zurücklaufen, die Banknote mit dem blutigen Fingerabdruck und seinen Revolver an sich nehmen, aber er fuhr schaudernd zusammen.

Nein, den Toten konnte er nicht sehen. Er schrie auf und floh weiter und weiter. Als er die Straße erreichte, wäre er beinahe von einem Auto überfahren worden. Der Chauffeur sah ihn wütend an, noch im letzten Augenblick war es ihm gelungen, den Wagen zum Stehen zu bringen.

Templar riß sich zusammen. Er durfte hier nicht in solcher Verfassung herumlaufen. Was sollte der Mann nur von ihm denken! Er strich das Haar aus dem Gesicht und von der schweißtriefenden Stirn.

Dann erkannte er zu seiner Genugtuung, daß es ein Mietauto war.

»Fahren Sie mich nach Glion – zum Bahnhof!« stieß er unzusammenhängend hervor und taumelte auf den hinteren Sitz.

Nun überlegte er sich, daß er nach Territet fahren konnte; von dort ging die Drahtseilbahn alle zehn Minuten ab. Und von Territet aus konnte er ja über den See fahren oder mit der Eisenbahn weiterreisen. Nach Italien – aber das waren sieben Stunden Fahrt, und er mußte wahrscheinlich bis zum nächsten Morgen warten. Eher ging kein Zug. Oder nach Lausanne – oder – nein, er mußte mit dem Dampfer nach Evian fahren, Evian lag am französischen Ufer; die Fahrt nach der anderen Seite würde nicht viel mehr als eine Stunde dauern.

Er faßte sich und wurde wieder mutiger.

Als sie auf dem Bahnhof ankamen, bezahlte er den Chauffeur reichlich. Der Mann sah ihn neugierig an.

»Sie haben sich ja im Gesicht verletzt«, sagte er. »Und Sie haben auch Blut an der Hand.«

Templar kam plötzlich wieder der Kampf in der Schlucht zum Bewußtsein. Ohne ein Wort der Erklärung ging er zu dem Billettschalter und kaufte sich eine Fahrkarte. Der Zug wartete; Templar wurde nervös und sah zum Fenster hinaus. Was war los? Die Antwort auf diese Frage erhielt er, als die blauen Eisenbahnwagen des Zuges von Montreux in die Station einfuhren. Nur zwei Passagiere stiegen aus, und Templar biß sich auf die Lippen, um einen Schrei zu unterdrücken. Schweizer Gendarmen! Selbstverständlich! Das Polizeibüro war ja in Les Planches, auf halbem Weg zwischen Montreux und Glion. Er hatte zuerst das Gefühl, daß er sich in dem Wagen zusammenducken müßte, damit man ihn nicht sehen konnte. Aber dann biß er die Zähne zusammen und saß fest und steif auf seinem Sitz.

Die Polizisten sprachen mit dem Stationsvorsteher, traten dann aus der Station heraus und nahmen den Weg, den er mit dem Auto gekommen war. Eine Glocke läutete, und Templar hätte vor Freude weinen mögen, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte.

In Territet hatte er eine Viertelstunde Zeit, um auf den Dampfer nach Lausanne zu warten. Zu seinem Schrecken hatte er feststellen müssen, daß von hier aus kein Schiff direkt zu dem französischen Ufer hinüberfuhr, und in Ouchy entdeckte er, daß das letzte Schiff nach Evian bereits abgefahren war.

Es war spät geworden. Er aß in Lausanne hastig etwas zu Abend. Nun mußte er von hier aus mit der Eisenbahn weiterfahren. Valorbe lag ein paar Meilen entfernt, und als er sich auf der Station erkundigte, erfuhr er, daß um elf Uhr ein Zug nach Pontarlier abgehen werde – und Pontarlier war französisch. Er löste seine Fahrkarte und trat in einen düsteren Warteraum; hier suchte er sich die dunkelste Ecke aus und setzte sich nieder, um zu warten.

Er verstand und sprach französisch. Den ganzen Abend hatte er gelauscht, ob die Leute in Lausanne, auf der Station und am Seeufer nicht von dem schweren Verbrechen sprachen, das in der Gorge du Chauderon passiert war. In seiner Phantasie nahm die Sache immer größere Ausmaße an. Je länger es dauerte, desto mehr war er von dem einen Gedanken besessen: Alle Leute mußten um dieses Verbrechen wissen, das er nicht einmal begangen hatte!

Aber soviel Mühe er sich auch gab, er hörte kein Wort. Allerdings wußte er, daß die Schweizer Polizei alle Nachrichten dieser Art unterdrückte, um den Fremdenverkehr nicht zu stören.

Es war furchtbar, als er daran dachte, daß er ins Gefängnis kommen könnte ... Jahr für Jahr – ja, sein ganzes Leben sollte er in diesen trostlosen Verhältnissen zubringen ... Er wußte ja, daß in der Schweiz die Todesstrafe abgeschafft war.

Heftig schüttelte er sich.

»Nein – ins Gefängnis bringen sie mich nicht!«

Vor der Glastür des Warteraums stand ein Mann und beobachtete ihn durch das Fenster. Es war sehr schwer, Templar zu erkennen, denn er hatte seinen Platz sehr gut ausgewählt. Aber der Mann erkannte ihn doch, ging auf den Bahnsteig zurück und von dort aus zu dem Eingang des kleinen Stationsgebäudes, wo zwei Polizisten auf Posten standen.

»In dem Warteraum«, sagte er auf französisch, »sitzt der Mann. Vergessen Sie nicht, er heißt Templar.«

»Sie haben zu Protokoll gegeben, daß er Ihnen Ihr Gepäck genommen hat?« erwiderte der eine Polizist.

Der Mann nickte, und die Polizisten gingen zu dem Warteraum.

Templar hörte, wie sie die Tür öffneten, und richtete sich erschreckt in seinem Stuhl auf, als er die Leute in den Uniformen sah.

»Sind Sie Monsieur Templar?«

Er nickte.

»Ich verhafte sie ...«

Kurz vorher hatte Templar das Fläschchen aus seiner rechten Westentasche genommen und den Inhalt mit einem Zug geleert.

»Sie wollen mich ins Gefängnis bringen ... Nein – Gefängnis gibt es für mich nicht«, sagte er mit heiserer Stimme. »Erpressung, ja, das habe ich getan ... aber Mord – nein, das habe ich nicht ...«

Die beiden Polizisten packten ihn, als er vornüberfiel, und der eine ging auf den Bahnsteig hinaus, um den Mann zu suchen, der Templar angezeigt hatte.

Aber Somerville war längst verschwunden.

Eine Stunde später fuhr er in einem schnellen Motorboot nach Montreux zurück, und unterwegs warf er Templars Revolver mit dem perlmuttbeschlagenen Griff ins Wasser. Er hatte aus ihm nur einen Schuß in die Luft abgefeuert.

Es war ein Unglückstag für Templar, als Somervilles Detektiv feststellte, daß er stets ein Fläschchen Blausäure in seiner rechten Westentasche bei sich trug.


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