Edgar Wallace
Die Gräfin von Ascot
Edgar Wallace

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24

Ihr Herz setzte aus zu schlagen, als Marie in dem Raum hin und her ging, und als das Kleid des jungen Mädchens die Holzwand streifte, hätte die Frau beinahe laut aufgeschrien.

»Was gibt's denn?« fragte Mrs. Carawood, indem sie eine Ohnmacht niederkämpfte. »Ist etwas geschehen?«

Marie hatte ihre Handtasche hier im Zimmer liegengelassen. Das war sehr wichtig, denn die Billetts für die Nachtvorstellung lagen darin. Außerdem enthielt sie ihr Taschentuch, etwa zwanzig Pfund in Banknoten und vor allem einen Brief von John Morlay, den er ihr geschrieben hatte und den außer ihr wohl niemand verstehen konnte.

»Was ist denn das für ein Fläschchen, Nanny?« fragte sie und nahm die Medizinflasche vom Kamin.

»Stell es sofort wieder hin!« rief Mrs. Carawood. Es schien ihr furchtbar zu sein, daß Marie etwas mit den Fingern berührte, was in Joes Taschen gewesen war. »Es ist – es ist Medizin.«

Gehorsam stellte Marie es hin und drehte sich überrascht um.

»Bist du denn krank? Warum hast du mir das nicht gesagt?«

Mrs. Carawood war am Tisch niedergekniet. Sie hatte die kleine seidene Handtasche entdeckt, die dort am Boden lag.

»Hier ist die Tasche!« sagte sie und reichte sie ihr.

Marie sah Mrs. Carawood ein wenig ängstlich an.

»Ich bin durchaus nicht krank, Marie, es ist nur die Hitze. Vielleicht wird es mir wieder besser, wenn wir in Ascot sind.«

John war auch hereingekommen und sah sich ebenfalls erstaunt im Zimmer um. Irgend etwas stimmte hier nicht – was mochte es nur sein?

Mrs. Carawood sah totenbleich aus, und er entdeckte, was Marie entgangen war: die Teller und Schüsseln mit Brot und Käse, die auf dem Tisch standen.

»Ich – ich kann jetzt nicht sprechen. Ihr dürft euch nicht aufhalten, sonst wird es zu spät zur Vorstellung.«

Sie wußte, daß sie eine schlechte Schauspielerin war. Außerdem hatte sie beobachtet, daß John das Geschirr gesehen hatte.

»Können wir nicht jemanden holen, der Ihnen hilft, Mrs. Carawood?« fragte Morlay. »Wir dürfen Sie in dem Zustand doch nicht allein lassen.«

»Ich habe Herman hier im Haus – er ist noch nicht zu Bett gegangen«, log sie.

Schließlich gelang es ihr, die beiden fortzuschicken. Mit einem Seufzer der Erleichterung wandte sie sich um, als der Wagen endlich fortfuhr und das rote Schlußlicht kleiner und kleiner wurde. Joe kam hinter der Trennungswand hervor und sah seine Frau schweigend an.

»Das waren eine Dame und ein Herr, die ab und zu in meinem Laden kaufen, Joe«, erklärte sie verzweifelt.

Er ging auf sie zu und hielt ihr die Faust vors Gesicht. Seine Augen blitzten drohend.

»Belüge mich nicht!« fuhr er sie an. »Mit dem Mädchen bist du ja sehr vertraut.«

Sie gab sich die größte Mühe, ruhig zu sprechen.

»Nein, ich lüge nicht, Joe. Und wenn du die ganze Wahrheit wissen willst – es ist eine Gräfin . . .«

Er trat noch einen Schritt näher und riß sie hoch. Mit wütenden Blicken stierte er sie an, und ein triumphierendes Lächeln zeigte sich in seinen häßlichen Zügen. Er packte sie bei der Schulter und schüttelte sie wild hin und her.

»Soll ich dir sagen, wer diese feine junge Dame ist? Das ist unsere Tochter . . .!«

Wenn er sie nicht gehalten hätte, wäre sie umgefallen.

»Sag doch nicht solchen Unsinn, Joe«, sagte sie heiser.

Er schüttelte sie wieder heftig.

»Meinst du, ich hätte sie mir nicht genau angesehen?« schrie er sie an. »So hast du früher ausgesehen! Genau die Stimme hattest du. Es ist dein Lachen und deine ganze Haltung – jede Bewegung habe ich erkannt. Denkst du vielleicht, du könntest mich belügen? So habe ich während all dieser Jahre an dich gedacht, wie ich sie jetzt hier gesehen habe.«

Sie riß sich von ihm los.

»Du bist wahnsinnig. Wenn du dich nicht in acht nimmst, wirst du wegen übler Nachrede wieder ins Gefängnis gesteckt. Ihre Mutter war eine Gräfin!«

»Was sagst du da? Ich wäre verrückt? Wieviel hast du an dem Schwindel verdient? Warum hast du das überhaupt getan? Das muß ja ein feiner Handel gewesen sein!«

Sie kämpfte noch verzweifelt, aber sie wußte schon, daß es vergeblich war.

»Joe, dein Verstand hat gelitten, als sie dich freigelassen haben«, sagte sie atemlos. »Du mußt dir diese Ideen aus dem Kopf schlagen. Es kommen Hunderte von jungen Mädchen her, die ihre Kleider hier kaufen. Du wirst doch nicht etwa behaupten, daß sie alle deine Töchter sind.«


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