Edgar Wallace
Geheimagent Nr. 6
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8

Smith saß in der Halle des Hotels, las eine Abendzeitung und beobachtete unauffällig Mr. Ross, der aus dem Speisesaal kam und mit dem Fahrstuhl zum zweiten Stock hinauffuhr. Nach einiger Zeit folgte er ihm, ging in sein eigenes Zimmer und wartete, bis er das Knipsen des Lichtschalters hörte. Das war für ihn das Zeichen, daß sich Mr. Ross zurückgezogen hatte und daher an diesem Abend nicht mehr mit seinen Rechtsanwälten zusammenkommen würde. Smith verließ nun das Hotel und besuchte ein Theater, um sich zu zerstreuen.

Um halb zwölf kam er zurück. Ein Mann, der das Gebäude beobachtete, sah ihn und gab dem anderen Beamten ein Zeichen, der Smith den ganzen Abend gefolgt war. Die beiden verglichen ihre Aufzeichnungen. Vielleicht wußte Smith, daß er überwacht wurde, vielleicht auch nicht. Nach Halletts Warnung mußte er mit dieser Maßnahme eigentlich rechnen. Er ging auf sein Zimmer und legte sich sofort zu Bett. Als er sich gerade ausziehen wollte, hörte er ein leises Geräusch. Es war ihm, als ob die Tür im nächsten Zimmer geschlossen worden wäre. Er drehte das Licht aus, ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Aber obgleich er ziemlich lange lauschte, konnte er nichts hören.

Zimmer Nr. 40, das Mr. Ross bewohnte, bestand eigentlich aus drei zusammengezogenen Räumen: einem Schlafzimmer, einem Bad und einem Wohnzimmer. An der Korridortür des Wohnzimmers stand: Nummer 40a. Smith trat in den langen Gang hinaus, ging leise zu Nummer 40 und lauschte. Er konnte aber nicht den geringsten Laut hören. Dann schlich er zu der Tür von Nummer 40a, horchte angestrengt und vernahm nach einiger Zeit Stimmengemurmel.

Er ging bis zum Ende des Korridors, um zu sehen, ob Angestellte in der Nähe wären. Aber in dem vornehmen Bilton-Hotel verkehrten meist nur ältere Ehepaare, die frühzeitig schlafen gingen. Smith schlich wieder zurück und versuchte, die Tür von Nummer 40 zu öffnen. Zu seinem Erstaunen gab sie nach, und er trat ein. Er sagte sich, daß er seine Anwesenheit leicht erklären könnte, falls man ihn überraschte. Er war ein Neuling im Hotel und hatte sich eben in der Zimmernummer geirrt.

Ein Lichtschein auf dem Boden verriet ihm die Stelle, wo sich die Verbindungstür befand. Kühn schaltete er für eine Sekunde das Licht ein und entdeckte, daß das Zimmer leer und das Bett unberührt war, wie er erwartet hatte. Geräuschlos drehte er den Schalter wieder ab, schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer und lauschte an der Tür zu dem zweiten Raum. Zwei Leute sprachen dort miteinander. Die eine Stimme klang rauh und hart, die andere leise und sanft – die Stimme einer Frau. Und diese Stimme kam ihm bekannt vor, obwohl er kaum ein Wort verstehen konnte.

Er bückte sich und schaute durch das Schlüsselloch, konnte aber nur die Lehne eines Sessels sehen. Wieder lauschte er angestrengt und hörte nun einige Worte, die Ross mit erhobener Stimme sprach.

»Wenn sie tatsächlich auf dieser Erde leben, dann werden wir sie auch finden. Es ist doch merkwürdig, daß ich getäuscht worden sein soll . . .«

Dann drückte plötzlich höchst unerwartet eine Hand die Türklinke nieder, und Smith eilte davon. Er stand draußen auf dem Gang, ehe jemand das Schlafzimmer betreten haben konnte. Es blieb ihm keine Zeit, die Tür zu schließen. Deshalb ließ er sie angelehnt und schlüpfte in sein eigenes Zimmer zurück.

Geduldig wartete er hinter der Tür und lauschte, aber er hörte kein Geräusch. Nach fünf Minuten wagte er es, die Tür wieder zu öffnen. Nahezu eine halbe Stunde stand er im Dunkeln, dann kamen die beiden heraus. Er hörte, wie der Mann sagte: »Gute Nacht, mein Liebling« und die Frau küßte. Behutsam machte er die Tür etwas weiter auf. Draußen im Korridor brannten alle Lichter, so daß ein Irrtum vollkommen ausgeschlossen war.

Die Gestalt, die gleich darauf an seiner Tür vorbeikam, war nicht eine Dame, wie er erwartet hatte, sondern Ross selbst! Der alte Mann war also ausgegangen und hatte die Frau in seinem Zimmer zurückgelassen. Smith war sekundenlang so verwirrt und bestürzt, daß er sich nicht rühren konnte. Dann nahm er hastig seinen Hut und eilte den Korridor entlang, um den alten Mann einzuholen. Aber als er an der Treppe ankam, fuhr der Fahrstuhl bereits nach unten, und als er die Stufen hinunterraste, kam er gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Mr. Ross durch die Schwingtür hinausging. Draußen wartete ein Auto auf den Millionär. Er stieg ein, und der Wagen fuhr sofort ab.

Smith rief ein vorüberfahrendes Taxi an.

»Folgen Sie dem Wagen«, sagte er schnell.

Der Chauffeur hatte keine Schwierigkeiten, den Auftrag auszuführen, denn die Straßen waren leer. Die Fahrt ging die Regent Street hinauf zum Portland Place.

Dort hielt das Auto vor einem großen Haus. Der alte Herr stieg aus und schloß die Tür auf. Smith merkte sich die Nummer – 409. Von seinem eigenen Auto aus beobachtete er, daß der Wagen, in dem Mr. Ross gekommen war, nicht abfuhr. Er stieg aus, bezahlte den Chauffeur, trat in einen dunklen Hausflur und wartete.

Nach einer halben Stunde öffnete sich die Tür von Nr. 409, und eine junge Dame in langem, schwarzem Mantel kam heraus.

Smith schlüpfte aus seinem Versteck und eilte auf sie zu.

Sie ging schnell zu dem Wagen, aber im Licht einer Straßenlampe konnte er ihr Gesicht deutlich sehen. Es war Stephanie – Cäsars Tochter!

»Was ist mit dem alten Mr. Ross geschehen?« fragte sich Smith verwirrt, als er zum Hotel zurückkehrte. Aber er mußte sich zur Ruhe legen, ohne dieses Rätsel gelöst zu haben.

 

Am nächsten Morgen schickte ihm Cäsar in seinem befehlshaberischen Ton eine neue Nachricht, daß er ihn im Green-Park treffen sollte.

Es war ein heller, sonniger Tag, und Cäsar trug einen eleganten weißgrauen Anzug. Er winkte Smith, neben ihm auf einem Gartenstuhl Platz zu nehmen.

»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, Sie hierherkommen zu lassen, aber es ist verschiedenes passiert, und deshalb hielt ich es für ratsam, mit Ihnen zu sprechen. Ich wollte Ihnen sagen, wie Sie sich im Notfall mit mir in Verbindung setzen können.«

»Ich weiß, wie ich mit Ihnen in Verbindung kommen kann, ob es sich um einen Notfall handeln mag oder nicht«, erwiderte Smith ruhig. »Die Adresse ist Portland Place 409.«

Cäsar sah in scharf an.

»Woher wissen Sie das? Mein Name ist in keinem Adreßbuch zu finden.«

»Ich weiß es eben«, erklärte Smith leichthin.

»Sie sind mir gefolgt! Ich bin gestern abend ausgewesen«, sagte Cäsar vorwurfsvoll.

Smith lachte.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen niemals gefolgt bin. Ich wüßte auch gar nicht, wie ich Mr. Ross und Sie zu gleicher Zeit beobachten könnte.«

»Aber wie haben Sie es erfahren?«

»Lassen Sie mir doch auch meine kleinen Geheimnisse.«

»Sie sind mir also doch gefolgt«, entgegnete Cäsar und nickte. Dann sprach er nicht mehr über diesen Punkt. »Was halten Sie eigentlich von Ross?«

»Ein würdiger alter Herr. Er gefällt mir.«

Er erwähnte nicht, daß er gesehen hatte, wie Mr. Ross Cäsars Haustür öffnete. Das hatte noch Zeit.

»Sein Vermögen wird auf zehn bis zwanzig Millionen Pfund geschätzt«, sagte Valentine ernst. »Er hat keine Erben, und er hat auch kein Testament gemacht. Wenn er stirbt, fällt sein Eigentum an den Staat.«

Smith sah ihn erstaunt an.

»Woher wissen Sie denn das?«

»Das weiß ich eben. Es ist mein Geheimnis.«

Beide schwiegen eine Weile.

»Männer und Frauen arbeiten von morgens bis abends im Schweiß ihres Angesichts jahrein und jahraus«, fuhr Cäsar dann fort. »Und sie sind froh, wenn sie gerade soviel verdienen, daß sie leben und weiterarbeiten können. Ich strenge mich nicht an, weil ich genug Verstand besitze, und weil ich das menschliche Leben nicht unter demselben Gesichtswinkel betrachte wie die gewöhnlichen Leute. Das tun Sie auch nicht. Nun stellen Sie sich einmal vor, daß Mr. Ross ein paar Zeilen auf einen Bogen schriebe, seine Unterschrift darunter setzte und diese von einem Zimmermädchen und dem Kammerdiener beglaubigen ließe. Durch diese Zeilen könnten wir reiche Leute werden . . .«

»Sie meinen, wenn Mr. Ross ein Testament zu unseren Gunsten machte und dann das Zeitliche segnete?«

»Sie sind immer so direkt und geradezu«, entgegnete Cäsar und lachte leise. »Aber haben Sie nicht schon einmal darüber nachgedacht, wie leicht man Eigentum übertragen kann, wenn eine der beiden Parteien stirbt? Wenn wir beide in die Bank von England einbrechen wollten, hätten wir auch nach jahrelangen Vorbereitungen nicht die mindeste Aussicht auf Erfolg. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach würden wir gefaßt werden.«

Smith nickte.

»Und auch wenn wir einen kleinen Scheck fälschten, zum Beispiel auf den Namen von Mr. Ross, kämen wir nicht weit. Es wäre viel Arbeit damit verbunden, wir müßten viele tüchtige Leute täuschen, und schließlich würde es uns doch nicht ganz gelingen.«

»Das ist mir vollkommen klar.«

»Also ist es doch viel einfacher«, bemerkte Cäsar, »daß wir Mr. Ross dazu bringen, ein kurzes Testament zu schreiben.«

»Meiner Meinung nach wird das sehr schwer sein. Sie können eher seinen vorzeitigen Tod arrangieren, als ihn veranlassen, ein solches Dokument zu unterzeichnen.«

Cäsars Augen glänzten.

»Augenblicklich habe ich allerdings die Absicht, ihn daran zu hindern, ein solches Testament zugunsten von irgend jemand aufzustellen. Ich habe sogar den Wunsch, daß Mr. Ross stirbt, ohne sein Vermögen einer bestimmten Person zu vermachen.«

Smith sah ihn erstaunt an.

»Meinen Sie das wirklich? Sie sagten doch vorhin, daß sein Vermögen in diesem Fall in den Besitz des Staates übergeht?«

»Wenn er keine Erben hat. Vergessen Sie das nicht.«

»Aber hat er denn Erben? Er ist doch Junggeselle . . .«

»Nein, er ist Witwer. Er hatte ein Kind, das ihn verließ und später starb. Wenn dieses Kind noch lebte, würde er wahrscheinlich sein ganzes Vermögen einem Hundeasyl vermachen oder irgendeine andere Dummheit begehen.«

Langsam begriff Smith die Zusammenhänge.

»Wie alt würde seine Tochter sein, wenn sie noch lebte?«

»Siebenundvierzig«, erwiderte Cäsar schnell. »Drei Jahre jünger als ich.«

Cäsar war also fünfzig. Es gab Tage, an denen er so alt aussah, aber an diesem Morgen hätte man ihn für nicht älter als fünfunddreißig gehalten.

»Ja, siebenundvierzig würde sie jetzt sein. Sie lief von zu Hause weg, als sie etwas über zwanzig war, und heiratete einen umherziehenden Musiker. Der alte Mann machte daraufhin ein Testament, in dem er sein Vermögen einem Waisenhaus hinterlassen wollte. Seine Tochter enterbte er vollständig. Als er dann hörte, daß sie gestorben war, vernichtete er das Testament und hatte wohl die Absicht, ein neues anzufertigen. Sie sehen, ich bin über das Privatleben von Mr. Ross sehr gut informiert.«

»Und wenn sie nun nicht gestorben ist?«

Cäsar drehte sich hastig nach ihm um.

»Zum Teufel, was soll das heißen?«

Zum erstenmal sah Smith Bestürzung in den Zügen dieses Mannes.

»Und wenn sie nun nicht tot ist?« wiederholte er.

»In dem Fall würde sie das Vermögen erben – wenn er stirbt.«

»Würden Sie die Frau dann in der Öffentlichkeit zeigen?«

Cäsar schwieg.

»Würden Sie die Frau vor einem englischen Gericht auftreten lassen, so daß sie den Leuten von ihrer jahrelangen Gefangenschaft in einem abgelegenen französischen Schloß erzählen könnte . . .? Wie sie nur nachts draußen umhergehen durfte und außerdem noch an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt war?«

Cäsars Gesicht sah plötzlich eingefallen und müde aus, aber Smith fuhr erbarmungslos fort, denn er war entschlossen, Cäsar zum Aufdecken seiner Karten zu zwingen.

»Sie haben mir eben gesagt, daß die Tochter von Mr. Ross einen umherziehenden Musiker heiratete. Das halte ich für nicht ganz richtig. Meiner Meinung nach heiratete sie einen Mann, der wahrscheinlich ein hochbegabter Amateur war, die Musik aber nicht als Beruf ausübte. Wenn ich nicht sehr irre, hieß dieser Mann Welland.«

Cäsar sank mehr und mehr in sich zusammen, und Smith hatte momentan die Oberhand.

»Sie entdeckten ihre Verwandtschaft mit Ross und überredeten sie, mit Ihnen ins Ausland zu gehen und darauf zu warten, daß Welland sich von ihr scheiden lassen würde – aber das tat er nicht. Dann wurde die Frau unruhig, vielleicht ist ihr Kind gestorben. Aber jedenfalls blieb sie am Leben.«

Cäsar hatte sich wieder gefaßt; ein zynisches Lächeln spielte jetzt um seinen Mund.

»Sie sind tatsächlich ein erstaunlicher Kerl«, sagte er spöttisch. »Sie haben mir beinahe die ganze Wahrheit gesagt. Das Kind starb, und in der Zwischenzeit wurde Stephanie geboren. Es ist meine Absicht, Stephanie als die Erbin der Ross'schen Millionen zu präsentieren. Jetzt wissen Sie alles. Sicher haben Sie viel von dem, was Sie mir erzählten, nur vermutet. Sie sind viel schlauer und gerissener, als ich dachte. Hier können Sie ein großes Vermögen erwerben, wenn Sie mit mir zusammenarbeiten. Im anderen Fall . . .«

»Bringen Sie mich schnell und schmerzlos um die Ecke?« entgegnete Smith lachend. »Sehen Sie sich aber vor, daß mein Dolchmesser nicht schneller ist als Ihre Gifte.«

Er sah auf den Boden und entdeckte einen Brief.

»Haben Sie das fallen lassen?« fragte er, bückte sich und nahm das Kuvert auf. »Ihre Adresse steht darauf.«

Cäsar schüttelte den Kopf.

»Ich habe es nicht fallen lassen.« Er las die Anschrift: »Cäsar Valentine.«

Der Brief war mit Siegellack verschlossen. Cäsar riß ihn auf und runzelte die Stirn. Smith war nicht sicher, ob sich der Mann fürchtete; aber jedenfalls war Valentine aufs neue aus der Fassung gebracht.

»Woher mag der Brief nur gekommen sein?« fragte Cäsar schnell und sah sich um. Aber es war niemand in der Nähe zu entdecken.

Es waren nur ein paar Zeilen in großen Druckbuchstaben auf ein Blatt Papier geschrieben:

»Cäsar, auch Sie sind nur ein Mensch und müssen einmal sterben. Denken Sie daran.«

Die Unterschrift lautete: »Nummer Sechs.«

Smith las die Worte, aber Cäsar riß ihm das Papier aus der Hand, zerknitterte es und warf es mit einem Fluch fort.

»Wenn ich diesen Welland treffe, bevor er mich findet, dann kostet es ihn den Hals!«

»Nun, wir werden Welland wohl zuerst finden«, erwiderte Smith zuversichtlich und lachte.


 << zurück weiter >>