Edgar Wallace
Das geheimnisvolle Haus
Edgar Wallace

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2

»Meuchelmörder!«

Dieser Schrei schrillte durch die stille Nacht und weckte auch das Interesse und die Neugier eines Bewohners des Brakely Square, der noch wach war. Es war Mr. Gregory Farrington, der gewöhnlich an Schlaflosigkeit litt. Er hörte den Ruf, legte das Buch, in dem er gelesen hatte, stirnrunzelnd aus der Hand, erhob sich aus seinem Lehnstuhl, zog den Schlafrock dichter um seinen etwas behäbigen Körper und trat an das Fenster. Die Jalousien waren heruntergelassen, aber er steckte die Finger zwischen zwei Brettchen und bog sie so, daß er durchschauen konnte.

Die Fenster waren beschlagen, und die Straßenlaternen waren nur undeutlich und verschwommen zu sehen. Er rieb die Scheiben mit den Fingerspitzen klar.

Zwei Männer standen vor dem Haus, mitten auf dem einsamen Fahrdamm. Sie sprachen erregt miteinander. Mr. Farrington konnte selbst durch das geschlossene Fenster ihre harten Stimmen hören. An ihren heftigen Gesten erkannte er sie als Italiener.

Er sah, daß der eine seine Hand hob, um den anderen zu schlagen, und er sah das Blitzen eines Pistolenlaufes.

»Hm!« sagte Mr. Farrington.

Er war allein in seinem schönen Haus am Brakely Square. Der Hausmeister, die Köchin und ein Stubenmädchen, auch der Chauffeur waren zu einem Dienstbotenball gegangen. Die Stimme auf der Straße wurde lauter.

»Dieb!« hörte er plötzlich in französischer Sprache rufen. »Soll ich mich denn bestehlen lassen –« Den Rest konnte er nicht mehr verstehen.

Auf der anderen Seite des großen Platzes war ein Polizist erschienen. Mr. Farrington rieb die Glasscheibe energischer und schaute ängstlich nach dem Beamten. Dann ging er die Treppe hinunter, öffnete die Metallklappe seines Briefkastens und lauschte. Es war nicht schwer, alles zu verstehen, was sie sagten, obgleich sie jetzt leiser sprachen, denn sie standen am Fuß der Stufen, die zu der Haustür führten.

»Was willst du eigentlich?« fragte der eine auf französisch. »Es ist eine Belohnung ausgesetzt – da könnte man Geld verdienen, gewiß! Aber wenn man ihn selbst packt, kann man genug für zwanzig bekommen! Unglücklicherweise haben wir beide dieselbe Absicht, aber ich schwöre dir, daß ich dich nicht betrügen will –« Dann wurde seine Stimme ganz leise.

Mr. Farrington stand in der dunklen Eingangshalle, kaute an dem Ende seiner Zigarre und versuchte, die einzelnen Bruchstücke dieser Unterhaltung zusammenzusetzen. Die beiden Männer mußten Komplicen oder Helfershelfer von Montague Fallock sein, diesem Erpresser, nach dem die Polizei aller Länder Europas suchte. Und sicher hatten die beiden unabhängig voneinander den Plan gefaßt, ihn zu erpressen – oder ihn zu verraten.

Mr. T. B. Smith bewohnte ebenfalls ein Haus am Brakely Square. Er war ein hoher Beamter im Polizeipräsidium und sehr begierig darauf, Montague Fallock zu fassen. Mr. Farrington, der all dies genau wußte, war sich darüber klar, daß das wohl der Grund der eben gehörten Unterhaltung vor dem Tor seines schönen Hauses war.

»Ich sage dir ja gerade«, erklärte der zweite Mann jetzt ärgerlich, »daß ich alle Vorkehrungen getroffen habe, um Monsieur – aufzusuchen. Das mußt du mir glauben –«

»Dann wollen wir zusammen gehen«, erwiderte der andere bestimmt. »Ich traue niemandem, am allerwenigsten einem unzuverlässigen Neapolitaner –«

 

Der Polizist Habit hatte nichts von dem Streit gehört, wie aus der späteren Untersuchung hervorging. Er sagte ganz bestimmt aus: »Ich hörte nichts Außergewöhnliches.«

Aber plötzlich waren, kurz nacheinander, zwei Schüsse gefallen.

Sie waren unverkennbar aus einer oder zwei Browningpistolen abgefeuert worden. Dann schrillte eine Polizeipfeife auf, und der Schutzmann P. C. Habit eilte in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Er blies laut auf seiner eigenen Alarmpfeife.

Als er ankam, fand er drei Männer, von denen zwei tot auf dem Boden lagen. Der dritte war Mr. Farrington, der zitternd vor dem Eingang seines Hauses stand. Er hatte eine Alarmpfeife im Mund. Sein grauer Schlafrock flatterte im Wind.

Zehn Minuten später erschien Mr. T. B. Smith auf der Bildfläche. Bei seiner Ankunft hatte sich schon eine große Menschenmenge angesammelt, die Hälfte aller Schlafzimmerfenster am Brakely Square war von neugierigen, und sensationslüsternen Menschen besetzt, auch die Rettungswache war schon erschienen.

»Sie sind tot«, berichtete der Polizist.

T. B. Smith schaute auf die beiden Männer, die auf dem Boden lagen. Offensichtlich waren es Ausländer. Einer war sehr gut, fast vornehm gekleidet, der andere trug einen etwas abgenützten Kellnerfrack unter einem langen Ulster, der ihn vom Hals bis zu den Füßen einhüllte.

Die beiden Männer lagen beinahe Kopf an Kopf, der eine auf dem Gesicht, mit dem Rücken nach oben. Der Polizist hatte ihn in dieser Lage gefunden und hatte ihn wieder so hingelegt, nachdem er festgestellt hatte, daß menschliche Hilfe hier vergeblich war. Der andere lag zusammengekauert an seiner Seite.

Die Polizisten hielten die Menschenmenge in der nötigen Entfernung von dem Schauplatz, während der Chef der Geheimpolizei, Mr. T. B. Smith, eine genaue Untersuchung vornahm. Er fand eine Pistole auf dem Boden, eine andere unter dem zusammengekauerten Mann. Während dann die beiden Toten in den Wagen gebracht wurden, wandte er sich an Mr. Farrington.

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mit mir nach oben kommen«, bat der bestürzte Millionär, »ich will Ihnen gern alles erzählen, was ich weiß.«

Mr. T. B. Smith nahm einen besonderen Geruch wahr, als er in den Hausflur kam, sagte jedoch nichts darüber. Sein Geruchssinn war in einer außergewöhnlichen Weise entwickelt, aber er war ein taktvoller und verschwiegener Mann.

Er kannte Farrington – wer kannte ihn nicht! – als seinen Nachbarn und als einen Mann von ungewöhnlichem Reichtum.

»Ihre Tochter –«, begann er.

»Mein Mündel, meinen Sie wohl«, verbesserte ihn Mr. Farrington, als er alle Lichter in seinem Wohnzimmer eingeschaltet hatte. »Sie ist nicht zu Hause; sie bleibt die Nacht über bei meiner Freundin Lady Constance Dex – kennen Sie die Dame?«

Mr. Smith nickte.

»Ich kann Ihnen leider nur wenig Informationen geben«, erklärte Mr. Farrington. Er war bleich und zitterte. Seine Verfassung erschien ganz natürlich für einen guten Bürger, der das Gesetz achtete und Zeuge eines so entsetzlichen Mordes gewesen war. »Ich hörte Stimmen und ging zur Haustür hinunter – ich hatte die Absicht, einen Polizisten zu rufen –, dann hörte ich zwei Schüsse, die fast zu gleicher Zeit fielen; ich öffnete die Tür und sah die beiden Männer dort auf der Straße liegen, wie sie später auch von dem Polizisten gefunden wurden.«

»Worüber sprachen die beiden denn?«

Mr. Farrington zögerte.

»Ich hoffe, daß ich nicht als Zeuge bei der Verhandlung dieses Falles zugezogen werde?« Aber Mr. Smith gab ihm in dieser Hinsicht keine Hoffnung. »Sie sprachen über den allbekannten Montague Fallock – einer drohte, ihn bei der Polizei anzuzeigen.«

»Ja«, sagte Mr. Smith. Man konnte aus diesem »Ja« entnehmen, daß er die Zusammenhänge ahnte und verstand.

»Und wer war der dritte Mann?« fragte er plötzlich.

Auf Mr. Farringtons Gesicht kam und ging die Farbe.

»Der dritte Mann?« stammelte er.

»Ich meine den Mann, der die beiden erschossen hat. Es ist doch klar, daß sie von einer dritten Person getötet wurden. Man hat zwar zwei Pistolen gefunden, aber aus keiner von ihnen ist ein Schuß abgegeben worden. Das entnehme ich daraus, daß beide Waffen gesichert waren. Ebenso ist der Laternenpfahl, in dessen Nähe die beiden standen, durch ein Geschoß beschädigt worden, das keiner der Männer abgefeuert haben kann. Deshalb bin ich der Überzeugung, Mr. Farrington, daß noch ein dritter Mann zugegen war. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihr Haus durchsuche?«

Ein leichtes Lächeln zeigte sich jetzt auf dem Gesicht des Millionärs.

»Nicht das geringste. Wo wollen Sie mit Ihren Nachforschungen beginnen?«

»Im Erdgeschoß – in der Küche.«

Mr. Farrington führte den Detektiv die Treppe hinunter. Sie benützten die Dienertreppe, die in das Reich der abwesenden Köchin führte. Er drehte das elektrische Licht in dem Raum an, als sie eintraten.

Es war nichts zu entdecken, was darauf hingedeutet hätte, daß jemand hier eingedrungen war.

»Dies ist die Kellertür«, erklärte Mr. Farrington. »Hier ist die Speisekammer, und hier geht es zum Hofflur. Die Tür ist verschlossen.«

Mr. Smith drückte die Klinke nieder, die Tür öffnete sich leicht.

»Aber Sie sehen doch, daß sie nicht verschlossen ist«, sagte er und trat in den dunklen Gang.

»Das kann nur eine Nachlässigkeit des Hausmeisters sein«, erwiderte Mr. Farrington erstaunt. »Ich habe strengsten Befehl gegeben, alle Türen zu schließen. Wenn Sie weiter untersuchen, werden Sie finden, daß die Hoftür verriegelt und mit einer Kette versehen ist.«

Der Detektiv beleuchtete die Tür mit seiner Taschenlampe.

»Das scheint mir nicht der Fall zu sein – sie ist nur angelehnt.«

Mr. Farrington war außer sich.

»Nur angelehnt?« wiederholte er.

T. B. Smith trat auf den kleinen Hof hinaus. Man konnte von der Straße aus über eine kleine Treppe dorthin gelangen. Er ließ das Licht seiner Lampe über die Steinfliesen gehen. Plötzlich sah er etwas auf dem Boden glitzern, bückte sich und hob es auf. Es war eine kleine, mit einer Goldkapsel versehene Flasche, die offenbar aus der Handtasche einer Dame gefallen war. Er roch daran.

»Ja, das ist es«, sagte er dann.

»Was meinen Sie?« fragte Mr. Farrington argwöhnisch.

»Ich meine den Geruch, den ich in Ihrer Eingangshalle wahrnahm. Es ist ein besonderer Duft.« Wieder roch er an dem kleinen Fläschchen. »Gehört dieser Gegenstand Ihrem Mündel?«

Farrington schüttelte heftig den Kopf.

»Doris ist noch niemals in ihrem Leben hier gewesen«, sagte er. »Abgesehen davon kann sie Parfüms nicht leiden.«

Mr. Smith ließ das Fläschchen in seine Tasche gleiten.

Alle weiteren Nachforschungen ergaben kein Anzeichen für die Anwesenheit einer dritten Person, und T. B. Smith folgte Mr. Farrington in sein Arbeitszimmer.

»Was halten Sie von der ganzen Sache?« fragte Mr. Farrington.

Mr. Smith antwortete nicht gleich. Er ging erst zum Fenster und schaute hinaus. Die kleine Menschenmenge, die von den Schüssen angelockt worden war, hatte sich allmählich wieder zerstreut. Der Nebel, der schon den ganzen Abend hereinzubrechen drohte, hatte sich nun auch über den Platz verbreitet, und die Straßenlaternen erschienen nur undeutlich als große, gelbe Lichtkugeln in dem dichten Dunst.

»Ich glaube, daß ich nun endlich auf die Spur Montague Fallocks gekommen bin.«

Mr. Farrington schaute ihn mit offenem Munde an.

»Ist das Ihr Ernst?« fragte er ungläubig.

Der Detektiv nickte.

»Was halten Sie denn von der offenen Tür da unten – es muß doch irgendein Fremder hier gewesen sein!« rief Mr. Farrington. »Sie denken doch nicht etwa, daß Montague Fallock heute abend in diesem Hause war?«

Mr. Smith nickte wieder. Es trat ein kurzes Schweigen ein.

»Er hat einen Erpressungsversuch an mir verübt«, meinte Mr. Farrington, »aber ich glaube nicht –«

Der Detektiv klappte seinen Mantelkragen hoch.

»Ich habe noch eine unangenehme Aufgabe vor mir, ich muß diese unglücklichen toten Leute durchsuchen.«

Farrington schauderte. »Das ist schrecklich«, sagte er heiser.

Mr. Smith sah sich in dem schönen Zimmer um. Die silbernen Beschläge leuchteten matt in dem milden Licht abgeblendeter Kronleuchter. Kostbare Rosenholzpaneele bedeckten die Wände, ein kräftiges, wärmendes Feuer brannte in dem vergitterten Kamin. Der Boden war mit prachtvollen persischen Teppichen belegt. Wenige auserlesene Gemälde schmückten die Wände – jedes von ihnen hatte ein Vermögen gekostet.

Auf dem Schreibtisch stand eine große Fotografie in einem einfachen Silberrahmen. Es war das Bild einer schönen Frau in der Blüte ihres Lebens.

»Verzeihen Sie«, begann Mr. Smith und ging zu dem Schreibtisch hinüber. »Ist dies nicht . . .?«

»Es ist Lady Constance Dex«, erwiderte Mr. Farrington kurz. »Sie ist mit mir und meinem Mündel eng befreundet.«

»Ist sie augenblicklich in der Stadt?«

»Sie ist in Great Bradley. Ihr Bruder ist dort Pfarrer.«

»Great Bradley?« Mr. Smith runzelte die Stirn, als ob er sich an etwas erinnern wollte. »Liegt in dieser Gegend nicht das ›geheimnisvolle Haus‹?«

»Ich habe auch davon gehört«, entgegnete Mr. Farrington mit einem fast unmerklichen Lächeln.

»C. D.« sagte Mr. Smith halb zu sich selbst, als er zur Tür ging.

»Wie meinen Sie?«

»C. D. – das sind doch die Initialen von Lady Constance Dex.«

»Das stimmt – aber wie kommen Sie darauf?«

»Dieselben Buchstaben sind auch auf dem goldenen Verschluß des Parfümfläschchens eingraviert. Gute Nacht.«

Mr. Farrington blieb bestürzt und erschrocken zurück.

 


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