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Licht aus!

Erstes Kapitel.

Welcher Romreisende sollte den »Volksboten«, das berüchtigtste – scusate, Signori, das berühmteste Volksblatt Italiens nicht kennen?

Es ist ein gar netter Herr, dieser römische »Bote«, ganz das, was man einen »lieben Kerl« zu nennen pflegt. Dabei von einer Höflichkeit, einem Takt, einer Diskretion! Ja, und von einem Anstand, einer Haltung, einer Würde! Nur ein echter Römer, ein » Romano da Roma«, kann solchen Anstand, solche Haltung, solche Würde der staunenden Welt zeigen. Der klassische Faltenwurf der Antike drapiert die edle Gestalt, und jede Miene in dem erhabenen Antlitz sagt: »Seht mich an! Seht mich genau an! Seht, welch ein Mann ich bin! Vom Scheitel bis zur Sohle ein echter Römer! Dabei vom Kopf bis zur Zehe ein Galantuomo, ein Kavalier, ein Ehrenmann! Ja, und welcher Segen bin ich für das römische Volk! Ich bin sozusagen ein Volkssegen! Ihr müßt mich lesen: und sei es nur, um – für ein wahres Spottgeld, meiner beglückenden, segensvollen Eigenschaften euch teilhaftig zu machen! Bin ich doch die Hausbibel des römischen Volks. ...«

Wer den »römischen Boten« liest, ist demnach ein beglückter, ein gesegneter Mann! Und ein berühmter Mann ist, wessen Name im »römischen Boten« gedruckt zu lesen steht; denn er ist sofort eine populäre Persönlichkeit.

Gilt der römische »Volksbote« in vielen Häusern als Apostel des heiligen römischen Volksgeistes, so ersetzt der angenehme Herr zugleich ein Abonnement in einer Leihbibliothek für Hintertreppenromane. Das ist doch gewiß eine anerkennenswerte Vielseitigkeit.

Was der große Volksfreund auf politischem und sozialem Gebiete Erbauliches und Erstaunliches leistet, mit welcher Meisterschaft er das Volksgemüt zu erregen, aufzuwühlen, zu beschmutzen, zu vergiften versteht – dieser Kolossalleistung des »lieben Kerls«, der er seine immense Popularität verdankt, sei gelegentlich des folgenden kleinen römischen Genrebildes eben nur Erwähnung gethan. Hierbei handelt es sich nur darum, das Hochgefühl, den Stolz zu konstatieren, der den Busen jenes Glücklichen schwellt, dessen Name auf dem reinlichen, so viel Schmutz aufwühlenden, so viel Schmutz auswerfenden Papier in Druckerschwärze rühmend genannt wird.

Unsre drei dienenden Donnen, Viktoria, Dionisia und Carolina, sollten das Glück haben, ihre Namen in Roms populärstem Tageblättlein zu lesen, und zwar in keiner geringeren Eigenschaft als in der von Ballköniginnen von Frascatis Karnevalsfesten. Wie es geschah, daß die drei jungen Damen um das ruhmreichste Ereignis ihres Lebens gebracht wurden, will ich auf diesen Blättern berichten, lebhaft bedauernd, litterarisch unfähig zu sein, der klassischen Vortragsweise jenes edlen Journals auch nur im entferntesten nahezukommen.

Denn wenn in Rom ein armer Lebensüberdrüssiger in den Tiber springt oder irgendwer irgendwem einen etwas zu tief gehenden Dolchstoß versetzt, wenn eine Frau einer andern aus Eifersucht die Augen auskratzt oder ein anständig gekleideter Staatsbürger einem weniger gut kostümierten aus Versehen auf den Fuß tritt, wenn die Katze einer wohlbestellten römischen Bürgersfrau der Katze der ärmeren Nachbarin eine Wurstschale stiehlt oder irgendwo auf der Welt sonst irgend etwas geschieht, was das Volksgemüt zu erregen, zu empören, mit Neid, Wut, Haß zu erfüllen vermag, so erscheint über dieses Ereignis im »römischen Boten« sofort ein Roman, dessen Kapitelüberschriften allein genügen, um die Seele des Lesers mit ahnungsvollem Schauer zu erfüllen.

Aber obgleich es ein von vornherein aussichtsloses Bemühen wäre, mit dem »römischen Boten« um den Lorbeer zu ringen, möchte ich den schüchternen Versuch machen, eine bescheidene, sehr bescheidene Probe des Stils zu geben, in welchem der große Römer zu seinen andachtsvoll lauschenden Völkern spricht.

Also – nur einen Versuch!

Drei Frascatanerinnen

Sie waren jung und schön. Aber arm! Sie mußten dienen. Auch ihre Eltern waren Knechte derer, die satt wurden. Uebersatt. Natürlich war ihr Vater tot: Malaria! Ein Leben voll Leibeigenschaft, ein Tod durch Sumpffieber. Gewiß gab ihm sein Herr kein Chinin. Dieser Herr war sein Mörder.

Die Mutter der drei lebte noch. Merkwürdig! Sie hieß Rosa Principini. Man beachte die Bosheit des Schicksals, welches eine Sklavin der Reichen mit solchem Fürstennamen geboren werden ließ. Ja, eine Fürstin war sie! Eine Fürstin des Elends.

Sie diente einem Ehepaar. Es waren Fremde. Sie gehörten zu jenen modernen Barbaren, die in einem Lande leben, wo Bestechlichkeit und Betrug für Laster gelten; in einem Lande, wo die Leute empört sind, wenn man sie betrügt, wo sie sich sittlich entrüsten, wenn man seinen Vorteil wahrnimmt, wo sie jeglichen Mangel an Rechts- und Ehrgefühl gleich Korruption schimpfen.

Diese Leute haben Geld. Mehr als wir, die wir ein großes Kulturvolk sind! Mit ihrem vielen Gelde und ihrer großen Verachtung unsrer charakteristischen Eigenschaften kommen sie in unser schönes Land. Nun gut, sie kommen! Verachten mögen sie uns: sie sollen sich jedoch für ihre Verachtung von uns ihr Geld abnehmen lassen. Aber – sie halten ihren schnöden Mammon fest, diese elenden Tröpfe!

Rosa Principinis Herr

Er war Germane, Barbar. Mit seinen barbarischen Ansichten über Moralität lebte er mitten unter uns. Sein ewig tödlich verletztes germanisches Rechtsgefühl hatte ihn noch immer nicht umgebracht. Seine fanatische Liebe zu unsrem schönen Lande war sein Lebenselixir.

Er lächelte, wenn man uns moderne Italiener in seiner Gegenwart »große Kinder« nannte. Viktor Hehn und Ferdinand Gregorovius nannten uns auch »große Kinder«. Sie lächelten nicht! Und dieser Mensch lächelte! Wäre sein Lächeln vor Gericht gezogen worden, so hätte man ihn seines Lächelns wegen für Lebenszeit ins Bagno schicken müssen. In dem Lächeln dieses Menschen, wenn man uns »große Kinder« nannte, lag eine Beleidigung gegen die ewige Majestät unsres heiligen Volksgeistes.

Er war Schriftsteller. Einer von den Legionen und aber Legionen, die von uns sich nähren, an uns sich mästen, von uns fett werden. Und dann lächelte dieser Mensch!

Er bewohnte die Villa Falconieri. Was für ein Schriftsteller muß ein Mensch sein, der die Villa Falconieri bewohnen kann? Ein Dichter sicher nicht! Ein Dichter stirbt lieber Hungers, als die Villa Falconieri zu bewohnen, die teure Miete kostet. Ein Dichter kann keine teure Miete zahlen! Zumal kein deutscher Dichter. Dieser Mensch zahlt Miete. Also – ein Dichter war dieser Mensch nie.

Nur ein Skribent!

Verachten wir ihn!

Rosa Principini war in der Villa Falconieri seit zwei Decennien Dienerin. Ein gewisser Paul Heyse soll ihrer in einer seiner römischen Novellen erwähnt haben. Wir kennen diese Sachen nicht.

Sie diente dem Skribenten. Der Skribent rühmt von ihr, daß sie ihn während ihrer zwanzigjährigen Dienstzeit nicht um einen Soldino übervorteilt hätte.

Die Unglückliche!

So schwach an Thatkraft, so klein an Intelligenz, so nahe dem Idiotismus war ihr Geist durch die zwanzigjährige Knechtschaft geworden!

Drei Blumen

Es war Karneval. Auch in Frascati feierte man Fasching. Auch die Armut hüllte ihr Elend in bunte Flitter, band Masken vor ihr fieberbleiches Angesicht, erstickte ihre Seufzer unter Tamburingerassel, vergaß den Jammer ihres Daseins bei Mummenschanz und einem Glase Vermouth di Torino.

Die drei Töchter der Rosa Principini, welche mit der Mutter dem Fremden dienten, wurden von dessen Frau herausgeputzt, damit sie auch einmal wissen sollten, was Lebensfreude sei. Das geschah nicht aus Güte, sondern aus Berechnung, um sie die Kontraste des Daseins empfinden zu lassen und wie schön dieses – sein könnte.

Vittoria wurde in blutroten Mohn verwandelt; Dionisia ward eine weiße Rose; Carolina eine gelbe Narzisse. Welcher Hohn! Sie, die Dienenden sollten Blumen darstellen! Blumen waren ja auch die Lilien auf dem Felde, welche nicht säen und nicht ernten und dennoch ernährt werden.

Vittoria, der blutrote Mohn, war die feurigste; die blasse Rose Dionisia die schmachtendste; die gelbe Narzisse Carolina die anmutigste Mädchenblüte, Zusammen bildeten sie einen köstlichen Strauß von Jugend, Liebreiz und Unschuld.

Sie waren die Königinnen der Frascataner Karnevalsfeste. ...

 

Zweites Kapitel

Sie waren es – um in eigener Sprache weiterzureden, auch wirklich, unsre drei weiblichen dienenden Geister, die Töchter unsrer vortrefflichen Rosa. Meine Frau hatte die drei jungen Menschenkinder allerliebst angezogen, und wir hatten unsre helle Freude an ihrem Glück. Unter sicherem Schutz von Mutter und mehreren Gevatterinnen stiegen sie an den Tagen, wo in Frascati im Theatersaal des »Grand Hotel« Veglione, das heißt Maskenfest, war, aus unsrer hochgelegenen Villa Falconieri kostümiert und maskiert hinunter und genossen den Triumph, in ihren nagelneuen, farbenprächtigen Blütengewändern für Fremde gehalten zu werden, für Römerinnen, und zwar für »wirkliche« Damen. Ein Schwarm männlicher Masken umringte sofort die schlanken, blumenhaften Mädchengestalten und stritten sich um das Glück, sie zum Tanze zu führen und ihnen Eis und Sorbet zu offerieren, welche Gunst indessen keine einem ihrer unbekannten Bewunderer gewährte. Auf ihre Bitten hin kam ich eines Abends und sah mir von der Galerie aus das bunte fröhliche Getümmel an. Sogleich fand ich unsre drei Grazien heraus und hatte wieder einmal Gelegenheit, ganz verblüfft über die Haltung und Grandezza zu sein, mit welcher Mutter Natur diese glücklichen Kinder des Südens und der Sonne so verschwenderisch ausstattet. Bei uns drüben im rauhen, anmutlosen Norden hätte jedermann die drei für junge Damen aus der besten Gesellschaft gehalten. In den ihnen doch so ungewohnten Gewändern bewegten sie sich in dem strahlenden Festsaal unter den vielen Ballgästen mit größter Sicherheit, handhabten virtuos ihren Fächer und führten auf das unbefangenste mit ihren Tänzern Konversation.

Der größte Moment ihres Lebens war aber doch, als sie erfuhren, daß sie in den »römischen Boten« kommen sollten: mit vollem Namen, mit detailliertester Schilderung ihrer Kostüme, als Frascatis Ballköniginnen.

Mit strahlenden Gesichtern überbrachten sie uns die große Neuigkeit.

Wir teilten ihr Glück nach Möglichkeit, wunderten uns höchlichst und erkundigten uns, woher sie denn wüßten, daß sie schwarz auf weiß leibhaftig in den lieben prächtigen »Volksboten« kommen sollten?

»Er hat es uns selbst gesagt.«

»Welcher Er?«

»Nun, Gigi.«

»Welcher Gigi?«

»Gigi da Santis.«

»So, so! Gigi da Santis? Der hat es euch gesagt? Der!«

Der junge Mann, der den klangvollen Namen führte, war mir wohl bekannt. Er gehörte zu Frascatis jeunesse dorée, also zu jener angenehmen Gattung von Jünglingen, die den Lilien auf dem Felde gleichen: sie säen nicht und so weiter. ...

Weswegen der Himmel sie eigentlich nährt, blieb mir immer verschlossen; denn diese Menschenspezies verdiente, daß der Himmel sie nicht nährte, da sie selbst keinen Finger rühren und die nutzlosesten, schlechtesten, überflüssigsten Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sind, die der Himmel in seinem gerechten Zorn ausrotten und vertilgen sollte: die ganze Feldlilienart bis auf die Wurzel.

Und gerade unter Italiens leuchtendem Himmel, gerade auf Italiens sonnigen Fluren gedeihen sie so ausgezeichnet, daß sie das ganze schöne Land zu überwuchern drohen, giftiges Unkraut, welches im Lande eine Pest erzeugt.

Der junge Mann Namens Gigi da Santis war ein wahres Prachtexemplar von menschlicher Feldlilie, ein herrlich gewachsener, kräftiger, bildhübscher Bursch. Ohne einen Soldo in der Tasche zu haben, machte er es möglich, stets nach der letzten römischen Mode gekleidet zu gehen und tadellose Wäsche, nebst einer leuchtenden seidenen Krawatte zu tragen; machte er es möglich, vom späten Morgen bis in die tiefe Nacht hinein seine wunderhübsche, elegante Person entweder auf der Piazza oder auf der Passeggiata spazieren zu führen, mit ihr den Laden des Friseurs und Apothekers zu dekorieren, sie in sämtlichen Frascataner Kaffeehäusern, sowie den ersten Trattorien und Osterien zur Schau auszustellen. Ja! Und möglich machte es der soldolose, bildhübsche Herr Gigi da Santis, bei so reicher Thätigkeit noch Gelegenheit und Zeit zu finden, eine Frau zu nehmen; eine junge, allerliebste, bildhübsche Frau, noch dazu eine wahre Modedame, die – gleichfalls keinen Pfennig Vermögen besaß.

Gerade während des Karnevals verlebte Herr Gigi da Santis – er war selbstredend vom Scheitel bis zur Sohle ein »Galantuomo!« – die goldene Zeit der Flitterwochen, welcher Umstand ihn, den Vielseitigen, jedoch nicht hinderte, jedem hübschen jungen Mädchen, jeder reizenden jungen Frau auf das eindringlichste die Cour zu schneiden. Unsre drei Grazien schienen es dem Adonis von Frascati angethan zu haben. Er wich ihnen nicht von der Seite, was uns so wenig Vergnügen machte, als sähen wir auf unsern knospenhaften Blumen einen schimmernden Rosenkäfer, bekanntlich aller Blüten ärgsten Feind und Verderber.

Darum wiederholte ich in einem ganz besonderen Ton: »So, so! Gigi da Santis will euch in den ›römischen Boten‹ bringen?«

Eifrig ward mir erwidert: »Das will er! Er thäte es sonst nicht; aber weil wir gar so schön wären, will er's diesmal eigens für uns thun. Er hat in Rom beim ›römischen Boten‹ deshalb schon angefragt. Sie wollen in Rom genau unsern Namen wissen und sonst alles. Gigi wird alles von uns sagen. Dienstag beschreibt er uns von Kopf bis zu Füßen: noch dieselbe Nacht muß er uns nach Rom schicken, und Aschermittwoch früh sind wir schon gedruckt.«

Sie waren glückselig. Ich glaube, sie wünschten, der Karneval möchte schon heute nacht zu Ende sein, damit sie schon morgen früh gedruckt in dem geliebten »Boten« ständen. Endlich kam der letzte Faschingstag, der ein Frühlingstag war. Im Park der Villa Falconieri wurden die Bäume von dem wilden Goldregen durchleuchtet; der Laurustinus lag wie frischgefallener Schnee auf der in Lenzeswonne strahlenden Landschaft: unter unsern Steineichen erschienen die ersten blauen Anemonen, die ersten glühend roten Cyklamen, und die Höhen von Tusculum hüllten sich in den Purpur der Veilchenblüte, der eine wahre Wolke von Wohlgerüchen entströmte.

Ich war nachmittags nach Albano geritten, um den München von Palazuola einen Besuch zu machen, hatte mich an der traumhaften Stätte des alten Albalonga verspätet, so daß ich den Heimritt erst bei Anbruch der Dunkelheit antrat. Als ich Marino passierte, war es bereits tiefe Nacht.

Nur in Italien kann man solche Gegensätze erleben! Von einer sagenvollen Trümmerstätte, einem Boden, über dem der Geist der Weltgeschichte schwebt, wo jede Scholle von großen Ereignissen gedüngt ward, aus einer Einsamkeit, die Wildnis ist, nach einer halben Stunde scharfen Rittes in eine kleine grüne Bergstadt, die vom Getöse eines tollen Mummenschanzes ertönt, von Maskenschwärmen wimmelt.

Die engen Gassen, die mittelalterlichen Häuser, die schwache Straßenbeleuchtung, die phantastischen Gestalten – wenn ich an das große Felsengefilde von Albalonga dachte, das ich vor kürzester Frist durchritten hatte, hart am Rande eines Abgrunds hin, in dessen Tiefen die stygische Flut des Albanersees ruhte und über dem das Schweigen eines Kirchhofs lag, so erschien mir die plötzliche Verwandlung der Scene einem Traumbild gleich.

Ein wahrer Hexensabbath war's.

Froh, dem Höllenlärm entronnen und wieder auf der dunklen, einsamen Landstraße zu sein, gab ich meinem Pferde die Sporen. Ueber den laublosen Weingefilden stieg zu meiner Rechten die Pyramide des Berges Cavo auf, und unterhalb der entblätterten Vignen erstreckte sich zu meiner Linken unabsehbar die Campagna, auf der die Lichter Roms, gleich einem Schwarm von Irrwischen, einen spukhaften Tanz aufzuführen schienen, als feiere heute die ganze ungeheure Stadt den letzten Karnevalstag durch einen phantastischen Mummenschanz.

Moccoli! Moccoli! Ich mußte einer letzten Karnevalsnacht gedenken, in der ich, damals ein junger Ehemann, von Frascati nach Rom ritt, im Kopf und in allen Gliedern Malariafieber, das ich mir durch einen unvorsichtigen Trunk aus einer Zisterne geholt hatte. Es war wie ein Geisterritt! Vor mir, an der verödeten Landstraße, welche schnurgerade die hier völlig baum- und strauchlose Ebene durchzieht, glaubte ich eine hohe, dunkle Gestalt zu sehen, und meine bereits fiebernde Phantasie bildete sich ein, es sei ein Mörder, der am Wege auf mich lauere, und dem zu entrinnen unmöglich sei. Dabei wartete in Rom auf mich meine junge Frau, mit der ich in jener Nacht ein Fest besuchen wollte. Ich stellte mir vor, wie sie sich dafür schmückte und mich im Festkleide ungeduldig erwartete, indessen ich mit einer Todeswunde in der Brust auf der einsamen Landstraße lag.

Und fort und fort stand die hohe, dunkle Gestalt am Wege und lauerte auf mich. ...

Ich konnte sie nicht erreichen, und hin zu ihr mußte ich doch! Es war mir nun einmal beschieden, in der Campagna Roms durch Mörderhand zu sterben. Ich ritt und ritt und kam nicht hin. Zuletzt ward ich wie sinnlos. Ich trieb mein Pferd zu rasendem Galopp, um baldmöglichst meinem Schicksal zu verfallen, von der Qual der Erwartung erlöst zu sein.

Endlich war ich da, und siehe – es war eine junge Cypresse am Wege, der einzige Baum weit und breit!

Mit ausgebrochenem Fieber gelangte ich nach Rom, das von Masken wimmelte, von einem bacchischen Lärm durchtost, von zahllosen tanzenden Flämmlein erfüllt war.

Moccoli! Moccoli!

Der ganze Korso ein einziger Feuerstrom, aus dem zitternde, zuckende Lichter bis zu den Dächern der hohen Häuser aufsprühten, als stände ganz Rom in Flammen.

Moccoli! Moccoli!

Meine verwirrten Sinne ertrugen das Schauspiel nicht. Bewußtlos sank ich vom Pferde und wurde so meiner Frau ins Haus gebracht, die, wie ich mirs vorgestellt hatte, bereits festlich gekleidet, angstvoll meine Rückkehr erwartete. ...

Ich hatte mich in den Schauer jener Nacht so intensiv zurückgedacht, daß ich erschrak, als ich plötzlich einen Strom von zitternden Flämmlein aufsprühen, hin und her zucken und bis zu den hohen Hausdächern emporlohen sah, als ich gellendes Geschrei aus hundert Kehlen vernahm.

Moccoli! Moccoli!

Mühsam besann ich mich. ... Ich war in Frascati angelangt, es war letzter Karnevalstag, und die Frascataner brannten ihre Wachslichter ab.

Mein Pferd, durch das Gekreisch und den Flammenschauer scheu gemacht, drohte mit mir durchzugehen. Mit Mühe bändigte ich es. Zum Unglück mußte ich die ganze toll gewordene Stadt durchqueren. Ein Schwarm Masken drängte herbei, umringte mein Roß; sie ließen die Schellen ihrer Tamburins rasseln, ließen ihre Lichter sprühen und heulten: Moccoli! Moccoli!

Plötzlich ein Aufschrei; so gellend, so gräßlich, daß er alles Getöse übertönte und es auf einmal ringsum stille ward. Aber gleich darauf von neuem ein Schrei, etwas Entsetzliches meldend: Mord! Mord! Mord!

Vor mir her verbreitete sich der furchtbare Ruf. Er wälzte sich durch die Gassen, schien in Augenblicken die ganze Stadt zu durchbrausen, wurde schon nach kurzem von jedem Munde geschrieen: Mord! Mord! Mord!

In meiner nächsten Nähe war ein Mensch umgebracht worden! Fast wären die Hufe meines Pferdes über den blutigen Leichnam hinweggegangen.

 

Drittes Kapitel.

Der Ermordete war ein blutjunger Mensch, der einzige Sohn einer Witwe und deren Ernährer. Er hatte das ganze Jahr über besonders fleißig gearbeitet, um zum erstenmal in seinem Leben den Karneval mitzumachen, als Harlekin, dessen Kostüm das einfachste und zugleich das billigste war.

Jetzt lag der arme, lustige Tropf tot in seinem Blute.

Wer es gethan hatte? Niemand wußte es. Weswegen es geschehen war? Niemand ahnte es. Der junge Mensch besaß keinen Feind, keine Geliebte, also keinen Nebenbuhler. Mit niemand hatte er Streit gefühlt. Man vermochte sich keine Ursache zu denken, um deretwillen die That vollbracht worden war. Plötzlich hatte er in dem dichten Gewühl hinterrücks einen heftigen Stoß empfangen; plötzlich lag er da. ... Bei dem Tumult, der sogleich entstand, bemerkte man nicht einmal, ob jemand entfloh. Der Mörder mußte wohl ruhig geblieben sein, mußte mitgeschrieen haben: Mord! Mord! Mord!

Ohne einen Feind zu haben, ohne mit einem Menschen in Streit gekommen zu sein, hinterrücks erstochen. ...

Man hob den Toten auf und mußte ihn jetzt seiner ahnungslosen Mutter ins Haus bringen, seiner Mutter, die sich freute, daß ihr guter Sohn sich auch einmal ein Vergnügen gegönnt hatte. Noch dazu im Karneval!

Vier Harlekins trugen den blutigen Toten, ein Maskenschwarm drängte nach.

Aller Lärm war verstummt, alle Lichter waren ausgelöscht.

Unter den Kostümierten, die mitzogen, bemerkte ich unsre drei Blumen. Sie hatten die Masken abgenommen und waren sehr bleich.

In kurzer Entfernung von dem armseligen Hause, welches die Mutter mit ihrem Sohne bewohnte, machte der traurige Zug Halt. Einige Frauen waren vorausgelaufen. Wir warteten mit dem Toten auf der Straße. Noch war in dem Hause alles still; noch wußte es seine Mutter nicht.

Aber dann –

Jetzt wußte es seine Mutter.

 


 

Mir that das Herz weh um das arme junge Leben, welches auf solche bestialische Weise hingemetzelt worden war, ohne jeden Grund – wenn es für solche ruchlose That überhaupt einen Grund gab.

Unser ganzes Haus war durch das Ereignis der letzten Karnevalsnacht aufgeregt. Meine Frau begab sich hinunter nach Frascati, um selbst nach der Mutter des Toten zu sehen: die Leute der Tenuta steckten die Köpfe zusammen, und Rosas drei junge Töchter gingen mit bleichen Mienen umher.

Bereits früh am Morgen kam ein Wachtmeister der Karabinieri in die Villa, um mich über die Sache zu vernehmen. Vittoria meldete mir den Polizisten mit einem Gesicht, als wäre ein neues Unglück geschehen.

Ich wußte nichts, konnte also nichts aussagen. Noch immer hatte man keine Spur von dem Thäter. Nicht einmal ein Verdacht konnte gefaßt werden. Die That erschien immer rätselhafter.

Gegen Abend machte ich mit meiner Frau einen Spaziergang, der uns in die Nähe des Campo Santo brachte. Es war zwar Aschermittwoch, an welchem Tage die Frascataner, nachdem auch sie der Gottheit des Lebens geopfert, der Sitte gemäß die Gräber ihrer Toten besuchten. Trotzdem fiel mir auf, wie viele sich heute auf dem Wege zum Friedhof befanden. Ich weiß nicht mehr, wie es kam; genug, auch wir gingen die Straße, die unterhalb der heiteren Weinstadt zum Gottesacker führt.

Es war gut, daß ich das Grausige zuerst sah, meiner Frau also zurufen konnte, hinwegzuschauen, sogleich stehen zu bleiben und umzukehren! Der Anblick war schrecklich. Ein Schauspiel war's, wiederum nur in diesem Lande möglich.

Unmittelbar neben dem monumentalen Kirchhofsportal war der Gemordete aufgebahrt auf hohem Podest, in fast aufrechter Lage, bis zum halben Leibe entblößt, damit auf der Brust die Todeswunde zu sehen sei.

Zu beiden Seiten des Leichnams standen Karabinieri Wache, zu seinen Füßen kauerte die Mutter; und sämtliche Kirchhofsbesucher defilierten langsam, lautlos an der grausigen Gruppe vorüber.

Die Polizei hatte das schauerliche Schauspiel in der Annahme insceniert, der unbekannte Totschläger würde, dem machtvollen Drängen folgend, welches den Mörder zu dem Ermordeten zieht, gleichfalls kommen und sich vielleicht bei dem Anblick seines Opfers auf irgend eine Weise verraten. Bei dieser Gelegenheit sei anerkannt, welche große Psychologin die römische Polizei ist.

Teils erschüttert, teils empört machten wir uns auf den Heimweg, auf welchem wir dem neuen Korrespondenten des »römischen Boten«, dem edlen Gigi da Santis begegneten: bildhübsch, elegant, lustig, am Arme seine bildhübsche, elegante, lustige junge Frau. Er grüßte uns anmutig und schien geneigt, mit uns auf der Landstraße eine kleine, höfliche Konversation anzufangen. Da wir uns jedoch in einer Stimmung befanden, die eine Unterhaltung mit diesem reizenden Mitgliede der menschlichen Gesellschaft als wenig wünschenswert erscheinen ließ, gingen wir mit höflichem Gegengruß an dem jungen Manne vorüber. Aber der Bursche hatte sich durch seine hübsche Person mir wieder in Erinnerung gebracht, und zu Hause angelangt, erkundigte ich mich bei unsern Mädchen, ob sie denn eigentlich heute früh im »römischen Boten« erschienen waren? Ueber dem gräßlichen Erlebnis hatten wir selbst dieses große Ereignis vollkommen vergessen.

Die Antwort war: Nein!

Sie standen nicht im »Boten«. Ach nein!

»Ihr solltet aber doch heute hineinkommen?«

»Er that es eben nicht.«

»Euer hübscher Herr Gigi vergaß euch?«

»Nun, ja.«

»Gewiß war ihm die Arbeit zu groß?«

»O, nein.«

»Nein?«

»Das gerade nicht.«

»Weswegen brachte er euch also nicht hinein?«

»Wir wissen nicht.«

Sie sagten das so sonderbar, mit solchen verstörten Gesichtern, daß ich ganz böse wurde und mich durch die kindische Eitelkeit der jungen Geschöpfe, die es als Unglück empfanden, am Aschermittwoch nicht im »römischen Boten« zu stehen, ernstlich geärgert fühlte. Als ich dann anfing, ihnen meine Meinung zu sagen, begannen sie alle drei zu weinen und zu schreien, wie wenn ihnen das größte Leid zugefügt wäre.

»Ja, aber! Was ist mit euch?«

»O Madonna!«

»Was fehlt euch?«

Sie heulten und schrieen.

»Was habt ihr? ... Ich will es wissen!«

Aber sie heulten nur und schrieen.

»Jetzt habe ich die Sache satt. Sprecht!«

Sie sprachen aber nicht, sie heulten und schrieen. Ich mußte meine Frau zu meinem Beistand herbeirufen.

»Rede du mit den tollen Geschöpfen. Ich werde mit ihnen nicht fertig.«

Meine Frau redete also mit ihnen ... Nach langem eindringlichen Verhandeln und dem Aufwand von einer wahren Engelsgeduld bekam sie endlich aus ihnen heraus, daß es furchtbar sei, daß sie's nicht sagen dürften, daß sie sterben müßten, wenn sie's sagen würden.

»Was sagen?«

»O Madonna!«

»Wer thut euch ein Leids an, wenn ihr es uns sagt?«

»O Madonna!«

»Vor wem fürchtet ihr euch?«

Wiederum erst nach unendlichem Zureden erfuhren wir, daß sie sich vor dem hübschen Herrn Gigi fürchteten. Ganz entsetzlich fürchteten sie sich vor ihm!

»Vor eurem guten Freunde Gigi da Santis, der während des ganzen Karnevals euer eifrigster Tänzer und größter Verehrer war, der euch mit Namen und Kostümen in den »römischen Boten« bringen wollte – vor dem fürchtet ihr euch?«

»O Madonna!«

»Was thatet ihr ihm, daß ihr so vor ihm zittert?«

Aber sie blieben dabei: sie dürften und dürften es nicht sagen! Sie müßten sterben, wenn sie's sagen würden! Gigi würde sie umbringen, wie er ...

Ich rief aus: »Wie er wen umgebracht hat?«

Niemand! Niemand! Sie wüßten nicht, was sie sprächen. Sie wären krank, wären halb verrückt.

Ein entsetzlicher Verdacht reifte in mir. Aber es war gar zu unsinnig. Es war ja unmöglich! Gigi da Santis ein Mörder? Der bildhübsche, elegante, charmante Gigi ein gemeiner Totschläger? Um Himmels willen, warum? Etwa aus Eifersucht?

»Mädchen, jetzt hört!«

Sie heulten und schrieen.

»Ich rede mit euch! Und ich will, daß ihr still seid!«

Sie heulten und schrieen nicht mehr; sie schluchzten und stöhnten nur noch.

»Hat der arme Checco (so hieß der Ermordete) etwa auch viel mit euch getanzt?«

»Nein, nein! O Madonna, nein! Nicht viel!«

»Also getanzt hat er mit euch?«

»Nur einigemal.«

»Wollte er etwa mit euch tanzen, gerade als Gigi euch aufforderte?«

»Nein, nein, nein!«

Gott sei Dank! Eine Last fiel mir von der Seele: denn dann war es wirklich nicht möglich.

In diesem Augenblicke trat ein Karabiniere durch das Parkthor. Die Mädchen sahen ihn sogleich und benahmen sich, als käme der Mann, um sie zu holen. Ich ging dem Polizisten entgegen, ihm schon von weitem zurufend: ›Bringen Sie mir eine Nachricht?«

»Ja.«

»Ueber den Mörder?«

»Herr, ja.«

»Kennt man ihn?«

»Freilich.«

»Wer ist es?«

»Gigi da Santis.«

Die Mädchen schrieen laut auf und rangen die Hände, »Gigi da Santis! Ist das möglich? Täuscht man sich nicht? Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Wodurch erfuhr man's?«

»Er verriet sich selbst.«

»Beim Anblick des Ermordeten?«

»Am Kirchhof.«

»Also habt ihr ihn?«

»Leider nein.«

»Ihr ließet den Schuft entkommen?«

»Das Volk verhalf ihm zur Flucht.«

»Er lief in die Macchie?«

»Ins Molarathal.«

»Dann befindet er sich also in Sicherheit!«

Der Polizist zuckte gleichmütig die Achsel.

 

Viertes Kapitel

Für die Villa Falconieri war das ein schlimmer Tag. Unsre drei Grazien zerflossen in Thränen, vergingen vor Jammer und wurden überdies einem scharfen polizeilichen Verhör unterworfen.

Ja, ach ja, ja! Sie hatten gewußt, daß Gigi da Santis den armen guten Checco ermordet. Sie tanzten mit dem hübschen Herrn Gigi im Theatersaal des »Grand Hotel di Frascati«, tanzten mit ihm den ganzen Nachmittag über, bis auf den Straßen das Feuerspiel der Moccoli begann. In Begleitung ihres Kavaliers begaben sie sich hinaus. Alle vier hatten ihre brennenden Lichter und amüsierten sich königlich. Ich kam geritten, und gerade als mein Pferd bei ihnen und Gigi stand, blies ein Harlekin diesem die Kerze aus. Im nächsten Augenblick war der Mord vollbracht, nur von den drei Mädchen gesehen.

Eines armseligen Flämmleins willen gleich den Dolchstoß! »Bläst du mir das Licht aus, so verlösche ich dir ein andres: dein Lebenslicht!« Hätte ich die Sache nicht selbst erlebt, so würde ich sie nicht glauben.

Warum sie den Mörder nicht anzeigten?

Weil er ihnen im Gewühl zuraunte, er würde sie unfehlbar sofort umbringen, wenn sie nicht schwiegen.

Diesen Grund begriff sogar die römische Polizei. Sie kannte ihre Leute.

Als die vier vor der Mordthat miteinander auf den Korso gegangen waren, hatte Herr Gigi da Santis den Mädchen gesagt: »Sobald die Moccoli vorüber sind, gehe ich nach Hause und schreibe den Artikel für den ›römischen Boten‹.«

Aber inzwischen brachte er wegen eines ausgeblasenen Lichtes hinterrücks einen Menschen um: » Smorzatei moccoli!« »Licht aus!« Nach dieser glücklich verübten Heldenthat fühlte sich der hübsche Herr Gigi wohl doch nicht mehr in der Stimmung, einen Faschingsartikel zu schreiben.

 


 

Der arme gute Checco blieb tot und wurde begraben: der hübsche heldenhafte Herr Gigi blieb im Buschwald, woselbst er sich so sicher wie in einer uneinnehmbaren Festung befand. Das Frühlingswetter dauerte an, so daß es der Kerl überdies ganz behaglich hatte. Eine etwas frühzeitige unfreiwillige Villeggiatur! Das war alles. Nur die jähe Unterbrechung seines Honigmondes mochte ihm unangenehm sein.

Der ›römische Bote‹ brachte über den »Mord in Frascati« einen seiner spannendsten Sensationsromane, von dem ich mir die Titel einiger Abschnitte merkte:

»Licht aus!« »Die blutige weiße Rose« (unsre als Rose kostümierte Dionisia), »Der aufrechte Tote«, »Aus den Armen der Liebe«, »Des Mörders Geheimnis« ...

Es fiel uns auf, mit welcher Vorsicht, mit welcher Angst unsre Dienstleute Abend für Abend sämtliche Thüren des großen Hauses verriegelten und verschlossen, sämtliche Fenster mit Außen- und Innenläden versicherten. Nun bestanden die Thüren der Villa Falconieri aus dicken Eichenbohlen und waren mit geradezu gewaltigen eisernen Schiebern versehen. Ebenso waren die inneren Läden beschaffen, so daß wir im stande gewesen wären, eine Belagerung auszuhalten. Befragt, weshalb sie dieses Wesen trieben, gestanden sie zitternd und zagend, sie befürchteten einen nächtlichen Gast.

»Euren hübschen Herrn Gigi?«

»O Madonna!«

»Was könnte der Halunke von euch wollen?«

»O Madonna!«

»Heraus mit der Sprache!«

Und heraus kam es. ... Die Villa Falconieri lag von Frascati ziemlich entfernt, wurde von guten Freunden, eben den drei Blumen, bewohnt; Herr Gigi war in seinem Frühlingsaufenthalt vermutlich noch nicht genügend eingerichtet (was mit der Zeit schon geschehen würde), verspürte vielleicht Hunger: kurzum –

»Ihr meint also wirklich, der Schuft könnte in einer schönen Nacht bei uns anklopfen?«

»Er kommt bestimmt.«

»Um sich von euch Proviant zu holen?«

»Ganz bestimmt kommt er!«

»Und er bildet sich ganz bestimmt ein, ihr würdet ihm das Gewünschte geben?«

»Ach Herr!«

»Was ist?«

»Wenn Sie nicht böse sein wollten!«

»Worüber?«

»Wir müßten ihm geben.«

»Proviant?«

»Brot und Wein und vielleicht ...«

»Vielleicht auch einen Schinken, eine Salamiwurst, eine Mortadella di Bologna, einen Strachinokäse. Oder ißt er lieber Gorgonzola, euer Herr Gigi?«

»Auch etwas Fleisch, wenn Sie nicht böse sein wollten.«

»O gar nicht.«

»Danke, danke!«

»Und wenn ihr ihm nichts gebt?«

»O Madonna!«

»Nun?« »So thut er uns etwas an.«

»Ihr seid verdreht!«

»O Herr, Herr!«

Was sollten wir thun? Entweder dem Nichtswürdigen von unsrem guten Wein, unsrem delikaten Schinken, unsrer köstlichen Mortadella geben lassen; oder unsre treuen Leute der Gefahr aussetzen, von dem Buben ernstlich bedroht zu werden? Denn immer von neuem versicherten sie uns mit solcher Eindringlichkeit, solcher Ueberzeugung, solcher Todesangst: Der Mörder würde sich im Falle der Weigerung auf das schrecklichste an ihnen rächen, daß wir schließlich selbst Ernstliches zu fürchten begannen.

Gut! Der Mensch sollte in unsre Villa kommen; unsre Leute sollten ihn verproviantieren; aber – ich würde vorher der Polizei Anzeige erstatten. Die Polizei sollte Nacht für Nacht die Villa bewachen; dann würde sie des Mörders sicher habhaft werden.

Unsre Leute schrieen auf, als sähen sie Gigis Dolch bereits auf sich gezückt, und beschworen uns händeringend, in aller Heiligen Namen, sie und uns selbst nicht ins Verderben zu stürzen. Denn angenommen, die Karabinieri ergriffen ihn in der Villa und er würde verurteilt, so käme er eines Tages ja doch wieder frei und zwar vermutlich sehr bald! Und dann wäre von uns keiner seines Lebens auch nur eine Stunde mehr sicher.

Ich lachte höhnisch, ich ärgerte mich gründlich, ich begab mich hinunter nach Frascati, machte meine Meldung und erhielt den Bescheid: »Ihre Leute haben vollkommen recht. Wir raten Ihnen dringend, sich nicht in die Sache zu mischen. Sie sind ein Fremder, kennen hier den Volkscharakter nicht.«

Bald waren es zwanzig Jahre, daß wir in der Villa Falconieri zu Hause waren, und ich sollte den »Volkscharakter« nicht kennen?!

Zuerst fühlte ich mich tief gekränkt, alsdann ging ich in mich, und zuletzt gab ich den weisen Herren vollständig recht. Nein! Noch immer kannte ich das Volk nicht, unter dem ich jetzt bald zwanzig Jahre lebte.

Würde ich es je kennen lernen?

 


 

Der hübsche Herr Gigi war also in Villeggiatur, wurde von seinen Freunden genährt, nach Möglichkeit gut, befand sich also dem idyllischen Zustande der biblischen Lilien auf dem Felde in Wahrheit nahe.

Wir gehörten mit zu den Ernährern des allerliebsten jungen Mannes. Der schimpflichen Thatsache durfte in unsrem Hause keine Erwähnung geschehen, so daß wir niemals erfuhren, wie oft der famose Herr der Villa Falconieri einen Besuch abstattete. Ich versuchte, die ersten Nächte zu durchwachen, um als Wirt den späten Gast zu empfangen: allerdings wenig höflich mit dem Revolver in der Hand. Wenigstens meine ehrliche germanische Meinung wollte ich dem römischen Schuft sagen, ohne daß ich mir indessen über die Wirkung meiner Philippika, wenn sie auch »donnernd« ausfallen sollte, irgend welche Illusion machte. Zu meinem Kummer gelang es mir weder unter unsern Steineichen, noch beim Cypressenteich dem wundervollen Exemplar der Frascataner goldenen Jugend zu begegnen.

Dabei wußten wir, daß er häufig bei uns soupierte. Mußten wir nun gewahren, daß von einem übriggebliebenen Filetbraten, einem Indian oder einer Wildschweinskeule ein tüchtiges Stück fehlte, so dachte ich, vor Wut schier erstickend: »Das ließ sich der hübsche Herr Gigi wiederum schmecken!« Obendrein brieten wir alles am Spieß, so daß die saftigen kalten Braten dem Halunken wirklich herrlich munden konnten.

Er sollte es jedoch noch besser, viel besser bekommen.

 

Fünftes Kapitel

Den ganzen Sommer über führte Herr Gigi da Santis das fromme Lilienleben in den Buschwäldern des Monte Artemisio, hoch über dem wildschönen Molarathal, und den ganzen Sommer hielt es die Polizei für überflüssige Mühe, ernstlich nach dem entflohenen Mörder zu fahnden. Da, eines schönen Tages, sah ich den entzückenden Jüngling wieder.

Es geschah auf einem jener einsamen Ritte, vor denen der gute Pater Fra Checco mich warnte, und die ich allerdings häufig in nicht gefahrlosen Gegenden unternahm, hauptsächlich im Molarathal.

Dieses zieht sich hinter dem tuskulanischen Höhenzuge längs desselben hin, auf der andern Seite durch das albanische Waldgebirge begrenzt, ein einsames Hochthal, mit ungekannten köstlichen Wildnissen.

Einen großen Teil des weiten Thales nimmt eine Steppe ein, welche Ginsterwälder bedecken. Ich sage: Wälder! Denn die Stauden sind schlanke Stämme, und sie stehen so dicht beisammen, daß sie undurchdringlich sind. Gleich Bäumen wird in diesen Gegenden der Ginster jedes vierte Jahr gefällt. Er wird seines Laubes und seiner Aeste beraubt, zu hohen Meilern aufgeschichtet und zu Kohlen verbrannt. Bereits den zweiten Sommer nach seiner Vernichtung beginnt er wieder zu wachsen, und ist das nächste Jahr noch Buschwerk und Dickicht, um alsdann von neuem hoch und stark aufzuschießen.

Wo die im Molarathale wie in der Wildnis weidenden Pferde und Rinder sich keinen Weg bahnen können, thut dies die Axt. Schmale Pfade durchziehen nach allen Richtungen den meilenweiten Ginsterwald. Steht er in voller Blüte, so ist es, als führten die Stege tief in ein hochaufgehäuftes, unermeßliches, märchenhaftes Goldlager hinein; denn ringsum ist nichts anderes zu erblicken als goldige, glanzvolle Blütenmassen, die, über Roß und Reiter zusammenschlagend, strahlende Wölbungen bilden.

In einem solchen Blumentunnel befand ich mich eines Sommertags. Rechts goldige Mauern, links goldige Mauern, und der Weg dazwischen so schmal, daß mir die Blütenzweige ins Gesicht schlugen. Ein Umwenden war unmöglich.

Vor mir, mit seiner hübschen Person mir den Weg versperrend, plötzlich Herr Gigi! Und das in einer sehr wenig freundschaftlichen Pose: Die Büchse auf mich anlegend! Also genau so, wie ich meinerseits ihn gern bei mir zu Hause empfangen hätte. Mein erster Gedanke bei dieser unerwarteten Begegnung war: »Hat der Kerl sich unsere ausgezeichneten Spießbraten schmecken lassen und will dich hier sans facon vom Pferde schießen, wenn es dir nicht gelingt, auf anständige Manier von ihm loszukommen.«

Auf anständige Manier nannte ich bei mir selbst, dem Banditen nicht einen Soldo zu geben. Auch nicht einen! Höchstens eine Cigarre.

Ich hielt mein Pferd an, erstickte meine Wut und rief mit möglichst heller Stimme möglichst harmlos hinüber: »Herr Gigi! Guten Tag, Herr Gigi! Freue mich, Sie wieder zu sehen, Sie halten mich gewiß für eine fette Wachtel, da Sie hier auf Jagd zu sein scheinen. Leider bin ich kein Wildbret, sondern nur Sor Riccardo, der übrigens aufrichtigen Anteil an Ihnen nimmt. Wie geht es Ihnen? Ich finde, Sie sehen vortrefflich aus, die schöne Luft im Molarathal scheint Ihnen gut zu bekommen? ... Das trifft sich ja wirklich prächtig,! Warten Sie! Nun wollen wir gemütlich miteinander plaudern.«

Und wahrhaftig! Der Lump ließ sich verblüffen. Zwar behielt er seine Waffe immer noch unbehaglich schußbereit, zielte jetzt jedoch mehr nach meinem unteren, als nach meinem mir entschieden wertvolleren oberen Menschen.

Langsam ritt ich vor ... Ich ritt bis dicht zu ihm hin.

»Also, mein Lieber, wie befinden Sie sich?«

»Wie soll ich mich befinden?«

»Ganz und gar nicht schlecht, scheint mir.«

»So, so.«

»Gedenken Sie, sich noch längere Zeit im Molarathal aufzuhalten?«

»Vielleicht.«

»Es ist recht hübsch hier; so einsam ... Aber wollen Sie nicht eine Cigarre nehmen?«

Ich bot ihm höflich das Etui an.

»Bitte, sich nicht zu genieren.«

Er zauderte nämlich; doch hielt ich ihm das gefüllte Etui vor. Er sah mich unsicher an, schielte begehrlich auf die Cigarren, zauderte immer noch – nahm. Wahr und wahrhaftig, er nahm!

»Nehmen Sie sich doch gleich eine zweite oder dritte. Es ist gutes Kraut: Havanna-Virginia. So etwas raucht man in Frascati nicht. Und nun vollends im Molarathal! ... Sie haben hier wohl keine Langeweile?«

Er antwortete nicht, denn er war eifrig beschäftigt, seine Virginia in Brand zu bringen, hatte also seine Büchse abgesetzt.

Als sie brannte – es war schade um die gute Cigarre, plauderten wir weiter.

»Sie gehen gewiß viel auf Jagd?«

»Was soll man hier andres thun?«

Und er nahm eine zweite Havanna aus dem Etui, welches ich ihm immer noch hinhielt, nur eine zweite!

Der Lump war bescheiden.

Er war sogar höflich: denn bei dieser zweiten Cigarre, die er vorsichtig einsteckte, rückte er an seinem Hut. Ich sagte: »Sie sind gewiß ein vortrefflicher Schütze?«

»Danke. Ich glaube, ich treffe meinen Mann.«

Und Herr Gigi lächelte ... Er war wirklich ein verdammt hübscher Bursche! Selbst in seiner Verwahrlosung verdammt hübsch.

Voller Anerkennung erwiderte ich: »Ihr versteht freilich Euren Mann zu treffen! Sogar hinterrücks.«

»Wie er mir gerade zu stehen kommt.«

Er lächelte immer noch.

»Ja ja ... Apropos: unsere drei Mädchen haben Sie nun doch nicht in den ›römischen Boten‹ gebracht. Es war nicht ganz hübsch von Ihnen. Sie glauben nicht, wie sich die guten Dinger darauf freuten. Und nun haben Sie sie darum gebracht.«

»Es kann ja ein andermal geschehen.«

»Ein andermal?«

»Nun ja.«

»Wo?«

»Natürlich in Frascati.«

»Ach so! Sie denken daran, in Frascati wieder den Karneval mitzumachen?«

»Aber gewiß denke ich daran.«

»So, so, so.«

»Wundert Sie das?«

»Ganz und gar nicht ... Sagen Sie mir doch einmal, lieber Herr Gigi –«

»Was?«

»Warum versetzten Sie eigentlich dem armen, guten Checco den Dolchstoß?«

»O, warum ...«

»Noch dazu hinterrücks?«

»Er stand mir gerade so.«

»Der Grund läßt sich hören ... indessen, aus welchem Grunde stachen Sie ihn überhaupt? Selbst für solche Kleinigkeit muß der Mensch doch einen Grund haben. Und in Frascati zerbricht man sich über den Ihren vergeblich die Köpfe. Auch ich, gestehe ich Ihnen, vermag mir keinen zu denken. Da ich nun das unerwartete Vergnügen habe – bitte, es ist ganz auf meiner Seite! (Er hatte nämlich wieder an seinen Hut gegriffen.) ... Und es ist vollständig unerwartet, sonst hätte ich Ihnen entschieden etwas mitgebracht: einen gebratenen Kapaun, oder eine Mortadella, oder einen Schinken. Nun das nächste Mal!«

Er war immer noch mit seiner Cigarre beschäftigt, welche (zu meiner lebhaftesten Befriedigung!) nicht gut brennen wollte. Dadurch hatte ich Muße, ihn mir etwas besser anzusehen. ... Ja – selbst im Molarathal Zoll für Zoll der hübsche Herr Gigi! Trotzdem er unrasiert und etwas abgemagert war, eine wahre Prachtgestalt von einem jungen Römer. Dabei immer noch mit einer gewissen Eleganz gekleidet, die allerdings etwas schäbig geworden. Aber bei einem Jagdkostüm war das nur chic.

Seine Havanna brannte nun doch. Ich wiederholte meine Frage von vorhin: »Also weswegen stießen Sie gleich so tief zu? Etwas zu tief!«

Der hübsche Herr Gigi stand vor mir, ließ den Rauch seines guten Krauts in Ringen aufsteigen, schaute seinen hübschen Kunstwerken nach, schwieg, dampfte, schwieg immer noch, antwortete dann nachlässig: »Warum ich den Checco niederstieß? ...«

»Nun ja.«

»Eigentlich weiß ich es selbst nicht. Zu dumm, nicht wahr?«

Ich faßte fest den Zügel, fixierte den Kerl, sagte langsam, laut und möglichst nachdrücklich:

»Ich habe in meinem Leben von vielen großen Halunken gehört; aber von allen bist du doch der größte Schurke, Schade, jammerschade, daß für Schufte deinesgleichen in deinem schönen Vaterlande keine Galgen gebaut werden!«

Er stieß einen Fluch aus, griff nach seiner Büchse. Aber bevor er sie fassen und heben konnte, gab ich meinem Pferde die Sporen und – an ihm vorüber, daß er taumelte und in den Ginster gestoßen ward, jagte ich davon. Wenige Augenblicke darauf sauste die Kugel über mich hin.

Hoffentlich war ihm dabei seine Havanna-Virginia ausgegangen.

 

Sechstes Kapitel

Es wurde Winter. In unserm saalähnlichen hohen Zimmer hatten wir es, dank unsrer deutschen Oefen, behaglich warm, was wir in diesem Jahre in verstärktem Maße als Wohlthat empfanden, da es ein besonders kalter Winter war. Namentlich in den Nächten herrschte bei heftiger Tramontana eine sehr empfindliche Kälte. Nun bin ich leider ein gutmütiger Mensch, mit einem bedauernswerten Mangel an Bosheit. Trotzdem freute mich der bösartige Nordwind, freute mich die starke Kälte des netten, lieben, hübschen Herrn Gigi wegen, dessen ländliche Freuden denn doch entschieden etwas unbehaglich geworden waren. Ueber Tag mochte es noch angehen. Er konnte sich reichlich Bewegung machen, konnte eifrig jagen, fand wohl auch eine windgeschützte Stelle, wo er mittags Siesta halten konnte. Kurzum, während des Tages war es so übel nicht. Aber des Nachts! Höhlen gab es in jenen Gegenden nicht. An einem Feuer zu lagern, durfte denn doch etwas bedenklich sein. Zwar befand er sich sicher im Besitz einer warmen Decke, aber frieren würde er nachts trotzdem und das hoffentlich gehörig! Uebrigens wäre ich durchaus nicht erstaunt gewesen, wenn unsre Leute eines schönen Tages feierlichst erklärt hätten, sie müßten für ihren Freund eines unsrer herrlichen deutschen Federbetten haben, denn der liebe Herr habe es jetzt nachts im Freien zu kalt.

Wir wunderten uns vielmehr darüber, daß wir kein Plumeau herzugeben hatten. Besonders ich fühlte mich durch die Anspruchslosigkeit des reizenden Herrn ganz gerührt, bedenkend, daß er ja doch unser ganzes Bett hätte verlangen können!

Das Wetter wurde immer abscheulicher, mein Behagen in unsern warmen Zimmern, unter unsern weichen Federbetten immer größer, meine Freude über die schlechten Nächte des Herrn Gigi immer herzlicher. Eines nur störte mich in diesem menschenfreundlichen Vergnügen: Unsre Leute machten jetzt immer so eigentümliche Gesichter, wenn wir in ihrer Gegenwart von den schlechten Nächten ihres Freundes sprachen und wie das charmante Herrlein bei seinem winterlichen Landaufenthalt frieren müßte.

Sie schienen ihn gar nicht zu bedauern.

Das ärgerte mich nun. Und eines Tages, als sie über die nämliche Sache wieder so sonderbare Gesichter schnitten, warf ich ihnen ihre Gefühllosigkeit und ihren völligen Mangel an christlicher Nächstenliebe auf das nachdrücklichste vor: »Was soll das heißen? Euer Freund Gigi zittert draußen vor Frost, kann nachts umkommen vor Kälte, erbärmlich erfrieren, und ihr macht euch gar nichts daraus? Liebt ihr, undankbares Gesindel, den gefälligen jungen Mann nicht mehr, der euch in den ›römischen Boten‹ bringen wollte?«

Sie hielten meinen bitteren Hohn für heiligen Ernst und erwiderten mir, daß der Herr ihnen allerdings nicht sonderlich leid thäte. Am Tage müßte es jetzt freilich ›dort draußen‹ etwas hart für ihn sein; aber des Nachts gar nicht.

Entrüstet fuhr ich auf: »Weswegen dauert er euch nur über Tag? Weswegen nachts nicht noch viel mehr? Weswegen soll er es bei diesem Wetter, wo man keinen Hund auf die Straße jagen möchte, gerade des Nachts viel besser haben als über Tag?«

»O, wir meinten nur so.«

»Was meint ihr?«

»Nun, eben so.«

»Heraus mit der Sprache!«

»Da er jetzt ja doch für die Nacht ganz gut untergebracht ist.«

»Ganz gut untergebracht? Euer Freund? Draußen in der kalten wilden Macchie!«

»Da ist er ja doch nicht mehr.«

»Er ist dort nicht mehr? ... Ihr träumt wohl?«

»Wenigstens nicht mehr bei Nacht.«

»Also hat er jetzt ein warmes Nachtquartier?«

»Freilich.«

»Schon seit langem?«

»Seitdem es so kalt ist, der Arme.«

»Wo steckt er denn jetzt?«

»Wo sollte er jetzt wohl stecken ...«

»Ihr wißt es!«

»O ...«

»Also heraus mit der Sprache! Sogleich!«

»Er hat ja doch eine Frau.«

»Freilich hat er die. Was hilft's ihm?«

»Gerade einen Monat waren sie erst verheiratet,«

»Ich weiß. Gerade in den Flitterwochen mußte er sich von seiner jungen Frau trennen.«

»Nun also!«

»Was heißt das?«

»Nun weil es jetzt doch schon über ein halbes Jahr her ist ...«

»Daß er den guten armen Checco umgebracht hat?«

»Länger als ein halbes Jahr war er von seiner jungen Frau getrennt ...«

»Er, war?«

»... Und weil doch jetzt die Nächte so bitter kalt sind ...«

Ich begann zu begreifen ... Aber nein! Ich begriff es nicht – Nichts begriff ich! Was mir blitzschnell durch den Kopf ging, war ja nicht möglich. Einfach nicht möglich!

Ich schaute unsre Donnen an. Sie standen im Halbkreis um mich aufgereiht. Ihrer vier waren es: Rosa, die Mutter, unsre wackere prächtige Rosa, die sich eher einen Finger hätte abhauen lassen, als uns um einen Soldo zu betrügen, unsre alte Rosa, die mit jedem, der uns um einen Soldo betrügen wollte, einen Streit begann, als ob es sich um die Ehre einer ihrer Töchter handelte, sodann diese selbst: Vittoria, Dionisia, Carolina. Und alle vier machten die ernsthaftesten Gesichter. Also meinten sie es auch so. Was? Daß der Schuft, der entflohene Mörder, der gemeine Totschläger, jetzt nicht mehr des Nachts draußen im Buschwalde verweilte, sondern daß er jetzt ... seitdem es bitter kalt geworden war ...

Ich rief nicht, ich schrie: »Der Halunke kommt jetzt des Nachts nach Frascati? ... Ihr wißt es! Heraus mit der Sprache ...! Heraus, sag' ich euch!«

»Freilich kommt er jetzt des Nachts.«

»In seine Wohnung?«

»Freilich.«

»Zu seiner Frau?«

»Freilich.«

Nach Fassung ringend stieß ich hervor: »Nun ja! Es wäre ja wohl möglich, daß er sich einmal des Nachts einschlich, einmal!«

»O nein.«

»Nein?«

»Er kommt jede Nacht.«

»Jede Nacht?«

»Nun ja.«

»Und das wißt ihr ganz bestimmt?«

»Ganz bestimmt.«

»Natürlich wißt nur ihr das?«

»O nein.«

»Außer euch wüßten die Sache auch andre?«

»Gewiß.«

»Wer?«

»Alle wissen es.«

Ich war sprachlos.

 


 

Denn so war es! Wahr und wahrhaftig, es war so: ganz Frascati wußte, daß der junge Ehemann die bitter kalten Winternächte zu Hause verbrachte. Wenigstens behaupteten es unsre Leute, daß ganz Frascati es wüßte.

Nach Anbruch der Dunkelheit schlich der hübsche Herr Gigi hinein; in der Morgendämmerung hinaus. Da es bekanntlich im Winter sehr früh Nacht und sehr spät Tag wird, so konnte der zärtliche Gatte recht lange die Freuden seiner Häuslichkeit genießen, behaglich zu Abend speisen, gemütlich den Morgenkaffee schlürfen! Unsre Leute behaupteten sogar, daß er Abend für Abend seine Freunde bei sich sähe, also sozusagen Abend für Abend Empfang habe.

Und unsre Leute behaupteten noch etwas ganz andres. Zu ›ganz Frascati‹, welches von den nächtlichen Besuchen des geflohenen Mörders wissen sollte, gehörten auch gewisse Leute, die mit der Sache ganz besonders zu thun hatten.

Natürlich glaubte ich es nicht. Unmöglich konnte ich das glauben! Es war Lüge, Verleumdung. Ich wurde ganz erregt über die Lästerungen unsrer Dienstleute, denen nichts heilig war, selbst nicht ...

Mit feierlicher Stimme hielt ich ihnen ihr Unrecht vor, in so donnernden Worten, daß sie vollkommen verblüfft waren. Ich hielt es für Zerknirschung und war mit der Wirkung meines Ausbruchs sittlicher Entrüstung äußerst zufrieden. Wie schämte ich mich aber, als ich sehr bald erkennen mußte, daß sie meinem empörten germanischen Rechtsgefühl wieder einmal gänzlich verständnislos gegenüberstanden, daß sie mich wieder einmal einfach gar nicht begriffen hatten.

Diese Entdeckung zermalmte mich.

 

Siebentes Kapitel

Unmöglich war's!

Und doch mußte ich immerfort daran denken, mußte ich immerfort darüber grübeln, ob es vielleicht doch möglich wäre.

Und wenn, was dann?

Aber – es war eben nicht möglich!

Gott sei Dank, daß so etwas nicht möglich sein konnte!

Hätten jene gewissen Personen auch nur eine Ahnung davon, daß Herr Gigi da Santis Abend für Abend seine reizende junge Frau besuchte, so wäre der Mörder des armen guten Checco längst der richtenden und rächenden Gerechtigkeit überliefert worden, säße jetzt längst hinter Schloß und Riegel wohlverwahrt zu Rom in dem großen grauen Hause in der Villa Giulia. Nichts wäre leichter gewesen, als bei dieser Gelegenheit des Halunken sich zu bemächtigen.

Daß er – nach den Aussagen unsrer Leute – immer noch Abend für Abend kam, Morgen für Morgen ging, mußte als unumstößlicher Beweis dafür gelten, daß die Polizei von seinem Kommen und Gehen immer noch nichts ahnte.

Sollte man sie nicht benachrichtigen? Mußte man das nicht? Wenn ›alle‹ es wußten, ›alle‹ schwiegen, war es da nicht an mir, die Polizei mit der Sache bekannt zu machen? Sie würde mir dafür sicher dankbar sein. Aber ob dankbar oder nicht, jedenfalls war es meine verd..... Pflicht und Schuldigkeit, Anzeige zu erstatten, den Angeber zu machen.

Den Angeber ...

Das Wort hat gar solchen infamen Beigeschmack. Nichts erbärmlicher, nichts verächtlicher als ein Angeber! Jedoch in diesem Falle –

Meine Frau warnte mich: »Thu's nicht. Misch dich nicht hinein. Du bist kein italienischer Staatsbürger, hast daher keinerlei Verpflichtungen gegen das Land. Ich bitte dich, es zu unterlassen.«

Aber jetzt wurde ich böse. Voller Empörung rief ich: »Wie kannst du mir solchen Rat geben? Du willst mich zu einem Unrecht verleiten, zu einer unsittlichen Handlungsweise! Denn es ist unsittlich, zu schweigen. In diesem Falle ist es das! Du fängst an, ganz korrumpiert zu empfinden. Es ist schrecklich, dir dergleichen sagen zu müssen.«

Ich war außer mir. Meine Frau erwiderte kein Wort.

Natürlich war es jetzt entschieden: Ich wollte Anzeige erstatten – gleich am nächsten Tag! Seine Pflicht muß der Mensch erfüllen!

An dem Mittag des Tages, an welchem meine Frau mir solche schwere Kränkung zufügte, hatten wir Gäste. Es waren unsre alten Freunde, Frascataner Honoratioren. Lauter prächtige Menschen waren es! Dabei von einer Anmut in der Konversation, einer Liebenswürdigkeit, einer »Gentilezza«. ... Kam ich mir daneben doch jedesmal so recht wie ein Barbar und deutscher Bär vor; und jedesmal rechtete ich mit den Göttern, weil sie an meiner Wiege nicht die Grazien als Gevatterinnen stehen ließen.

Seit zwanzig Jahren hatten wir diese »Pranzi« wahrend unsres Aufenthaltes in der Villa regelmäßig einmal jeden Monat, und seit zwanzig Jahren war es fast bei jeder Mahlzeit das nämliche Menü, Erster Gang: Maccaroni mit Tomaten; zweiter Gang: mit Tomaten gedämpfte Hühner; dritter Gang: Filetbraten (am Spieß), womöglich mit Tomatensalat, und als süße Speise »Sabajone«. In ihrem hausfraulichen Ehrgeiz hatte meine Frau einigemal den Versuch gemacht, verschiedene »Petits Plats« und kompliziertere Gerichte in das ewige Einerlei dieser Speisekarte zu bringen; aber ein jeder dieser Versuche mußte als total mißglückt bezeichnet werden. Ja, er bedeutete für die Hausfrau ein regelmäßiges Fiasko! Unsre lieben Gäste nahmen aus Höflichkeit, eben aus Gentilezza, von den unbekannten Sachen, stocherten aus Gentilezza auf ihren Tellern herum, aber genossen trotz aller Höflichkeit kaum einen Bissen, so daß meine Frau schließlich reumütig zu den heimischen Genüssen sich bekehren mußte und davon jetzt schon seit langem nicht mehr abging. Maccaroni mit Tomaten, gedämpfte Hühner mit Tomaten, Lendenbraten und die bewußte goldgelbe Süßigkeit kannten unsre werten Gäste; und nur was sie kannten, ließen sie sich schmecken. Damit mußten wir zufrieden sein.

Heute nun fand sich unter unsrer Tischgemeinde ein Herr, der im Staate Italien eine wichtige Rolle spielte, eine große Würde bekleidete, die ich indessen aus guten Gründen nicht näher bezeichnen möchte. Man verzeihe mir also die Unhöflichkeit, ihn nicht vorzustellen. Genug, der Herr war, was man eine »Persönlichkeit« zu nennen pflegt. Gleich den übrigen hatte er sich's schmecken lassen; und gleich den übrigen befand er sich nun beim schwarzen Kaffee, einem Gläslein Cognac und einer Cigarre (Havanna-Virginia!) in bester Stimmung. Die Cigarre war also von der nämlichen Sorte, davon ich im Sommer bei jener Begegnung im Ginsterwalde dem hübschen Herrn Gigi offeriert hatte, und sie war wirklich ein gutes Kraut! Oft, ach so oft hatte ich bitter bereut, gerade auf jenem Spazierritt solchen anständigen Tabak und nicht die schändlichsten aller schändlichen Italiener bei mir geführt zu haben, die für den niederträchtigsten aller niederträchtigen römischen Halunken immer noch zu gut gewesen wären. Aber es war geschehen, und heute dampfte meine schöne Importierte ein Mann, dem ich sie als meinem Gast und einem Ehrenmann aus vollstem Herzen gönnte.

Wir saßen also äußerst behaglich beisammen, tranken, rauchten, plauderten, als meine Frau, die uns den Kaffee kredenzte, plötzlich in einer verblüffend harmlosen Weise den Namen Gigi da Santis aussprach; darum so verblüffend harmlos, weil eben jene Persönlichkeit, deren Inkognito ich streng bewahren möchte, mitten unter uns saß.

Ich starrte meine Frau an: Was fällt dir ein? Was bedeutet das? Wie kommst du dazu? Gerade du! ... Meine Frau erwiderte meinen stieren Blick auf die unschuldigste Weise: O, ich weiß schon, warum ich es mir einfallen lasse. Sei nur ruhig, du wirst gleich selbst sehen. Dabei lächelte sie mich noch an.

Meine Augen von dem lächelnden Antlitz meiner Gattin abwendend, schaute ich steif der ungenannten Persönlichkeit ins Gesicht. Was würde sie sagen, nachdem plötzlich jener Name genannt ward, wie würde sie sich dabei benehmen, welches Gesicht dazu machen?

Auch durchaus harmlos, auch lächelnd!

Meine Frau meinte so ganz obenhin: »Man hat den Kerl also noch immer nicht?«

Guter Gott! Sie redete direkt die Persönlichkeit an, die ja doch als Ehrengast an unserm Tische saß!

Auf das höflichste, auf das harmloseste, wurde meinem kühnen Weibe erwidert: »Nein, Gnädigste, man hat ihn noch immer nicht,«

Darauf meine lächelnde Frau: »Ach, ja so! Der Mensch steckt ja wohl noch immer im Buschwald?«

Darauf die Persönlichkeit, gleichfalls lächelnd: »Mitunter, nicht immer.«

»Inwiefern mitunter?«

»O, inwiefern ...«

»Sie meinen doch nicht, daß er sich von Zeit zu Zeit aus der Macchia hervorwagte?«

»Aber ich bitte Sie! Bei der Kälte!«

»Wir haben allerdings starke Tramontana.«

»Schauderhaft!«

»Wo, glauben Sie, könnte der Verbrecher sich aufhalten?«

»Wo?«

»Verzeihen Sie. Das weiß man natürlich nicht. Denn wüßte man's –«

Auf das harmloseste lächelnd, unterbrach die Persönlichkeit meine vielfragende Frau: »Mitunter soll da Santis sich ganz in der Nähe befinden.«

Ich wandte keinen Blick von ihrem Gesicht (dem der Persönlichkeit!), ich bohrte meine Augen in die ihren. Es war jedoch ein unendlich harmloser, heiterer, lächelnder Blick, mit welchem sie meiner Frau Antwort erteilte: »Ja, o ja! Mitunter ganz in der Nähe.«

»O wirklich?«

Diese Frauen! Schildern kann ich nicht, wie meine Gattin dieses »O wirklich« sagte: in einem Tone, von einem Blicke begleitet ...

Ich hielt meinen Atem an; denn die Persönlichkeit wollte eine Antwort geben.

»Da Santis hat eine junge Frau, eine reizende junge Frau! Kennen Sie sie nicht?«

Meine Frau entgegnete: sie habe das Vergnügen, und sie fände die junge Frau des geflohenen Mörders auch reizend, ganz allerliebst! Aber von Flucht könnte man wohl jetzt nicht mehr reden, und da man zu wissen schiene, so würde man selbstredend –

»Die netten jungen Leute! Was wollen Sie? Es wäre doch sehr ungentil! Sie begreifen ...«

Meine Frau begriff und lächelte mich an. Geradezu strahlend lächelte sie mich an, der ich auch begriffen hatte, aber ein viel zu anmutsloser, plumper, grober Geselle war, um auch lächeln zu können.

Statt meiner that dies die Persönlichkeit, thaten es die andern, alle andern!

Meine Frau schenkte unsern Gästen ein frisches Glas Cognac ein. Es war ein ausgezeichneter Cognac leider!

Aber von meinen ausgezeichneten Cigarren offerierte ich an jenem Tage kein zweites Mal. Ich hatte dazu nicht genug Humor. Bei jeglichem Mangel an Grazie nicht einmal genug Humor!

Ich Armer.

 


 

Und der hübsche Herr Gigi da Santis?

Der hübsche Herr Gigi ist heute glücklicher Vater eines prächtigen Jungen, der in dem auf jenen Winter folgenden Herbst geboren ward und den sein Vater abgöttisch liebt. Es ist auch ein prachtvoller Bengel!

Ja, Herr Gigi da Santis ist so stolz auf seinen Erstgeborenen, daß er ihn jeden Sonntag eigenhändig auf der Passeggiata ausführt, um den Kleinen von ganz Frascati bewundern und von ganz Frascati sich sagen zu lassen: »Seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten!«

 


 

Immer noch ist Herr Gigi da Santis ein bildhübscher Herr; immer noch besitzt er keinen Soldo Vermögen; denn immer noch ist er eine fromme Feldlilie. Dabei nach wie vor elegant, gentil, lustig; nach wie vor eine Zierde der Piazza, eine Dekoration sämtlicher Cafés.

Herr Gigi da Santis ist heute in Frascati ein populärer Mann. Alle Welt kennt ihn, liebt ihn, respektiert ihn: und alle Welt hat vollkommen vergessen, daß der hübsche Herr Gigi einmal genötigt war, ein ganzes Jahr im Molarathal Villeggiatur zu machen und daselbst auf – Wachteljagd zu gehen.

Nur er hatte ein gutes Gedächtnis. Er selbst vergaß nicht so leicht. So oft er in Frascati mir begegnet, und dieses Vergnügen habe ich oft, denkt er daran, welch ein fader, unangenehmer, pedantischer Kerl dieser Sor Ricardo ist! Denn pedantisch ist es wohl, milde ausgedrückt, zu nennen, daß ich jenes kleine Malheur, welches dem hübschen Herrn Gigi in jener Karnevalsnacht passierte, das Unglück nämlich: etwas zu tief zu stoßen – daß ich solches Mißgeschick so ernsthaft auffasse, geradezu beleidigend ernsthaft!

Infolge meiner germanischen Auffassungsweise werde ich heute von dem hübschen Herrn Gigi nicht mehr gegrüßt.

Schade!


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