François Marie Arouet de Voltaire
Die Geschichte Karls XII., Königs von Schweden
François Marie Arouet de Voltaire

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Viertes Buch.

Der siegreiche Karl verläßt Sachsen, verfolgt den Zaren; dringt bis nach der Ukraine. Seine Verluste, seine Verwundung. Schlacht bei Pultawa. Folgen dieser Schlacht. Karl sieht sich genötigt, nach der Türkei zu flüchten. Seine Aufnahme in Bessarabien.

Im September 1707 verließ Karl endlich Sachsen an der Spitze einer Armee von dreiundvierzigtausend Mann, die sonst von Eisen starrten und jetzt von Gold und Silber glänzten, der Beute, die sie in Polen und Sachsen gemacht hatten. Jeder Soldat hatte fünfzig Silbertaler bei sich. Alle Regimenter waren vollzählig, ja es gab in jeder Kompanie noch mehrere Ueberzählige. Außerdem erwartete ihn der Graf Löwenhaupt, einer seiner besten Generale, mit zwanzigtausend Mann in Polen. Es standen ferner fünfzehntausend Mann in Finnland und neue Rekruten kamen ihm noch von Schweden aus zu. Mit so mächtigen Streitkräften zweifelte niemand, daß er den Zaren entthronen werde. Dieser Kaiser befand sich damals in Littauen und bemühte sich dort einer Partei, auf die König August verzichtet zu haben schien, neuen Mut einzuflößen. Beim ersten Gerücht von dem Nahen des Schwedenkönigs flohen seine in verschiedene Korps geteilten Truppen nach allen Seiten. Er hatte allen seinen Generalen befohlen, jenem Eroberer niemals mit ungleichen Kräften die Stirne zu bieten, und fand nur zu eifrigen Gehorsam.

Mitten in seinem siegreichen Marsche erhielt der König von Schweden eine Gesandtschaft von den Türken. Der Graf Piper gab derselben Audienz, wie sich denn alle feierlichen Zeremonien bei diesem Minister abwickelten. Er hielt die Würde seines Herrn durch Aeußerlichkeiten, die damals nicht ohne Prachtentwicklung verliefen, aufrecht. Der König selbst, immer schlechter logiert, schlechter bedient und einfacher gekleidet als der geringste Offizier seiner Armee, pflegte zu sagen, sein Palast befinde sich im Quartier Pipers. Der türkische Gesandte stellte Karl hundert schwedische Soldaten vor, die durch die Kalmücken gefangen genommen, nach der Türkei verkauft, vom Großherrn aber losgelöst worden waren und die dieser Kaiser nun dem König als das angenehmste Geschenk übersandte, das er ihm machen könnte;Hier irrt sich der Verfasser. Es war nicht der türkische Gesandte, der dem König von den Russen gemachte Sklaven vorstellte, vielmehr war es der König von Schweden, der bei der Einnahme von Lemberg dort hundert türkische Sklaven gefunden hatte, welche ehedem in den Kriegen mit Polen gefangen worden waren. Diesen hatte er die Freiheit, Geld und prächtige Gewänder geschenkt und sie nach der türkischen Grenze geleiten lassen. – Der türkische Gesandte bot dem König allerdings ein Bündnis mit seinem Herrn an. Allein, mochte sich nun dieser Fürst allein stark genug fühlen, um den Krieg mit dem Zaren durchzuführen, oder wurde er durch die Vorstellungen seines Ministers und der Geistlichkeit überzeugt, daß es nicht passe, ein Bündnis mit den Feinden der Christenheit abzuschließen, er begnügte sich den Gesandten mit Geschenken überhäuft zu verabschieden, ohne eine Erwiderung auf seine Vorschläge zu geben. Poniatowski. nicht als ob der ottomanische Stolz damit dem Ruhme Karls eine Huldigung hätte darbringen wollen, sondern weil der Sultan als natürlicher Feind der Kaiser von Rußland und Deutschland sich gegen diese durch die Freundschaft Schwedens und ein Bündnis mit Polen verstärken wollte. Der Gesandte wünschte Stanislaus zu seiner Thronbesteigung Glück. So wurde dieser König in kurzer Zeit von Deutschland, Frankreich, England, Spanien und der Türkei anerkannt. Nur der Papst wollte mit der Anerkennung noch warten, bis die Zeit jene Krone, die ja ein Mißgeschick wieder zu Fall bringen konnte, auf seinem Haupte befestigt haben würde.

Kaum war die Audienz des Gesandten der Pforte zu Ende, als Karl wieder den Russen nacheilte. Die Truppen des Zaren waren im Laufe des Kriegs wohl zwanzigmal aus Polen verschwunden und wieder dort eingefallen; da das Land nach allen Richtungen offen war und keine festen Plätze besaß, welche einer Armee den Rückweg hätten abschneiden können, so blieb es den Russen stets unbenommen, immer wieder an dem gleichen Orte zu erscheinen, wo sie geschlagen worden waren, und sogar ebenso tief in das Land einzudringen wie die Sieger. Während Karl in Sachsen verweilte, war der Zar bis Lemberg, dem südlichen Endpunkte Polens vorgerückt. Jetzt stand er im Norden bei Grodno in Littauen, hundert Stunden von Lemberg entfernt.

Karl ließ Stanislaus in Polen zurück. Mit Hilfe von zehntausend Schweden und seinen neuen Untertanen sollte er sein neues Königreich gegen innere und äußere Feinde verteidigen. Der König selbst setzte sich an die Spitze seiner Reiterei und marschierte im Januar 1708 mitten durch das Eis nach Grodno.

Bereits hatte er zwei Stunden von dieser Stadt den Niemen passiert und noch wußte der Zar nichts von seinem Marsche. Bei der ersten Nachricht vom Anrücken der Schweden eilte der letztere durch das nördliche Tor hinaus, während der König durch das südliche einzog. Der König hatte nur sechshundert Mann seiner Leibwache bei sich, die übrigen hatten nicht nachkommen können. Der Zar floh mit mehr als zweitausend Mann, in der Meinung, eine ganze Armee sei in Grodno eingezogen. Noch am nämlichen Tage erfuhr er jedoch durch einen polnischen Ueberläufer, daß er den Platz vor sechshundert Mann verlassen habe und daß das Gros der feindlichen Armee noch über fünf Stunden entfernt sei. Er verlor keine Zeit und entsendete mit Einbruch der Nacht fünfzehnhundert Reiter, um den Schwedenkönig in der Stadt aufzuheben. Die fünfzehnhundert Russen kamen unter dem Schutze der Dunkelheit, ohne bemerkt zu werden, bis an die erste schwedische Wache. Diese bestand aus dreißig Mann und hielt allein eine Viertelstunde lang den Anfall der fünfzehnhundert aus. Dann aber eilte der König, der sich am anderen Ende der Stadt befand, mit dem Rest seiner sechshundert Garden herbei. Die Russen flohen in größter Eile. Bald stieß seine Armee zu ihm und er verfolgte nun ohne Aufenthalt den Feind. Alle in Littauen befindlichen russischen Korps zogen sich eiligst in östlicher Richtung nach dem Palatinate Minsk und in die Nähe der russischen Grenze zurück, wo ihr Sammelplatz war. Die Schweden, welche der König gleichfalls in verschiedene Korps geteilt hatte, verfolgten sie dreißig Stunden weit ohne Unterlaß. Flüchtlinge und Verfolger machten fast täglich Gewaltmärsche, obschon man sich mitten im Winter befand. Längst war den Soldaten Karls und des Zaren jede Jahreszeit gleichgültig; nur der Schrecken, den der Name des Königs Karl hervorrief, machte einen Unterschied zwischen Russen und Schweden.

Von Grodno ostwärts bis zum Dniepr ziehen sich Sümpfe, Einöden und unermeßliche Wälder. An den angebauten Punkten findet man keine Lebensmittel, weil die Bauern ihr Getreide und was sich nur auf diese Art verwahren läßt, in den Boden vergraben. Man muß deshalb den Boden mit großen eisernen Stangen sondieren, um diese unterirdischen Magazine zu entdecken. Russen und Schweden lebten abwechslungsweise von diesen Vorräten; man fand sie aber nicht immer und sie reichten nicht aus.

Der König von Schweden, der diesen Fall vorausgesehen, hatte Zwieback zum Unterhalt der Armee mitführen lassen. Nichts hielt ihn daher in seinem Marsche auf. Nachdem er den Wald von Minsk, wo man alle Augenblicke Bäume fällen mußte, um Wege für Truppen und Bagage herzustellen, hinter sich hatte, stand er am 25. Juni 1708 an der Beresina gegenüber von Borisow.

Hier hatte der Zar den größten Teil seiner Streitkräfte gesammelt und sich vorteilhaft verschanzt. Er hatte die Absicht, den Schweden den Uebergang zu verwehren. Karl stellte einige Regimenter am Ufer der Beresina gegenüber Borisow auf, wie wenn er die Absicht hätte, den Uebergang angesichts des Feindes zu erzwingen. Zugleich marschierte er aber mit seinem Heere drei Stunden stromaufwärts, ließ dort eine Brücke schlagen, warf ein Korps von dreitausend Mann, welches diesen Punkt verteidigte, über den Haufen und marschierte ohne Aufenthalt gegen die feindliche Armee. Die Russen erwarteten ihn nicht, sie brachen ihr Lager ab und zogen sich gegen den Dniepr zurück, wobei sie unterwegs die Straßen ungangbar machten und alles vernichteten, um die Schweden möglichst lange aufzuhalten.

Aber Karl überwand alle Hindernisse und rückte immer weiter gegen den Dniepr. Er stießAm 13. Juli 1708. unterwegs auf zwanzigtausend Russen, die sich bei Holowczyn hinter einem Sumpfe verschanzt hatten, an den man nur nach Passierung eines Flusses gelangen konnte. Karl wartete mit dem Angriff nur, bis seine Infanterie heran war; dann warf er sich an der Spitze seiner Fußgarden ins Wasser, und durchwatete Fluß und Sumpf, wobei ihm das Wasser bis an die Schultern ging. Zugleich hatte er seiner Reiterei den Befehl erteilt, den Sumpf zu umgehen und den Feind in der Flanke anzugreifen. Die Russen sahen mit Bestürzung, daß kein Hindernis ihnen Schutz gewährte und wurden zu gleicher Zeit von dem König, der sie zu Fuß angriff und von der schwedischen Reiterei geworfen.

Die letztere durchbrach den Feind und stieß mitten im Gefecht zum König. Dieser bestieg nun ein Pferd; aber als er bald darauf in dem Handgemenge einen jungen schwedischen Edelmann namens Gyllenstierna, den er sehr liebte, verwundet und marschunfähig fand, nötigte er ihn sich seines Pferdes zu bedienen und fuhr fort, seine Infanterie zu Fuß zu kommandieren. Von allen Schlachten, die er bis jetzt geschlagen, war diese vielleicht die ruhmvollste, diejenige, wo er die größte Gefahr bestand und die größte Geschicklichkeit zeigte. Das Gedächtnis derselben wurde durch eine Medaille verewigt, wo man auf der einen Seite las: Sylvae, paludes, aggeres, hostes victi, auf der anderen folgenden Vers Lucians: Victrices copias alium laturus in orbem.

Ueberall verjagt gingen die Russen über den Dniepr, der ihr Land von Polen trennt. Karl säumte nicht, ihnen nachzueilen. Er überschritt unmittelbar hinter ihnen diesen großen Fluß bei Mohilew, der letzten polnischen Stadt, welche, wie es Grenzplätzen gewöhnlich geschieht, bald den Polen bald den Zaren gehört hat.

Als der Zar sah, daß sein Reich, in dem er eben erst Künste und Handel ins Leben gerufen, einem Kriege zum Opfer fallen sollte, der in kurzer Zeit alle seine großen Entwürfe, ja vielleicht sogar seinen Thron über den Haufen werfen konnte, hielt er es für klug von Frieden zu sprechen. Durch einen polnischen Edelmann, der sich zur schwedischen Armee begab, ließ er dem Könige Vorschläge in dieser Richtung machen. Karl XII., der gewöhnt war, seinen Feinden den Frieden nur in ihrer Hauptstadt zu gewähren, erwiderte: »Ich werde mit dem Zaren in Moskau unterhandeln.« Als man dem Zaren diese hochfahrende Antwort hinterbrachte, erwiderte er: »Mein Bruder Karl spielt immer den Alexander, aber ich schmeichle mir, daß er in mir keinen Darius finden soll.«

Wenn man von Mohilew, wo der König den Dniepr passierte, diesem Flusse entlang immer an der polnisch-russischen Grenze, gegen Norden marschiert, so kommt man in einer Entfernung von dreißig Wegstunden an die Stadt Smolensk, durch welche die große Straße von Polen nach Moskau führt. Der Zar ging auf dieser Straße zurück. Der König folgte ihm in Gewaltmärschen. Die russische Nachhut geriet mehr als einmal mit der schwedischen Vorhut zusammen. Der Vorteil blieb beinahe immer auf seiten der letzteren; aber in diesen kleinen nichts entscheidenden Gefechten verloren die Schweden doch immer Leute und schwächten sich allmählich.

Am 22. September 1708 griff der König bei Smolensk ein Korps von zehntausend Reitern und sechstausend Kalmücken an.

Diese Kalmücken sind Tataren, welche das Gebiet zwischen dem zu Rußland gehörigen Königreich Astrachan und dem Lande der Usbekischen Tataren Samarkand, dem Vaterlande des unter dem Namen Tamerlan bekannten Timur, bewohnen. Das Land der Kalmücken erstreckt sich gegen Osten bis an die Gebirge, welche die Mongolei von West-Asien trennen. Diejenigen Kalmücken, welche nach Astrachan zu wohnen, sind dem Zaren steuerpflichtig. Er nimmt eine unumschränkte Herrschaft über sie in Anspruch, allein ihr Nomadenleben hindert ihn eine solche auszuüben, und ist Ursache, daß er es mit ihnen hält wie der Großherr mit den Arabern, das heißt, daß er bald ihre Räubereien duldet, bald sie bestraft. Solche Kalmücken gibt es immer unter den russischen Truppen. Der Zar hatte es sogar so weit gebracht, sie wie seine übrigen Soldaten zu disziplinieren.

Der König rückte mit nur sechs Regimentern Reiterei und viertausend Mann Fußvolk gegen diese Armee. An der Spitze des Regiments Ostgotland warf er sich zunächst auf die Russen, die sich zurückzogen. Er rückte ihnen über Hohlwege und Terrainhindernisse nach, hinter denen die Kalmücken im Versteck lagen. Diese brachen nun plötzlich hervor und warfen sich zwischen das Regiment, bei dem der König kämpfte, und die übrige schwedische Armee. Russen und Kalmücken umzingelten das Regiment und drangen bis zum König durch. Sie töteten zwei Adjutanten, die neben ihm kämpften. Dem König selbst wurde das Pferd unter dem Leibe getötet; ein Stallmeister bot ihm ein anderes. Aber Stallmeister und Pferd wurden von Schüssen durchbohrt. Karl kämpfte mit einigen Offizieren, die ihn sogleich umgeben hatten, zu Fuß weiter.

Mehrere wurden gefangen, verwundet oder getötet, oder auch durch die Masse, die sich auf sie warf, vom Könige abgedrängt. Nur fünf Leute blieben zuletzt noch bei Karl. Schon hatte er über zwölf Feinde mit eigener Hand getötet, ohne eine einzige Wunde erhalten zu haben. Jenes merkwürdige Glück, das ihn bisher immer begleitet hatte und auf das er sich so fest verließ, wurde ihm auch heute nicht untreu. Endlich bahnte sich der Oberst Dahldorf mit einer Kompanie seines Regiments einen Weg durch die Kalmücken; er kam gerade noch zu rechter Zeit, um den König zu retten. Die übrigen Schweden machten diese Tataren nieder; die Armee kam wieder in Ordnung, Karl stieg zu Pferde und verfolgte trotz seiner Müdigkeit die Russen noch zwei Stunden weit.

Der Sieger blieb dabei auf der großen Straße nach der Hauptstadt Rußlands. Von Smolensk, wo dieses Treffen stattfand, sind es noch hundert Wegstunden bis Moskau. Die schwedische Armee hatte jetzt beinahe keine Lebensmittel mehr. Man drang daher in den König, den General Löwenhaupt, der neue Vorräte, sowie eine Verstärkung von fünfzehntausend Mann bringen sollte, hier zu erwarten. Der König, welcher selten von andern einen Rat annahm, hörte nicht nur nicht auf diese vernünftigen Ratschläge, sondern verließ zum großen Staunen der Armee die Moskauer Straße und marschierte südwärts gegen die Ukraine, das Land der Kosaken zwischen der kleinen Tatarei, Polen und Rußland. Dieses Gebiet ist von Süden nach Norden etwa hundert Wegstunden lang und von Osten nach Westen fast ebenso breit. Es wird durch den Dniepr, der es von Nordwesten nach Südosten durchströmt, beinahe in zwei gleiche Teile geteilt. Die Hauptstadt ist Baturin an dem Flüßchen Sem. Der nördliche Teil der Ukraine ist angebaut und reich; der südliche unter dem 48. Breitengrad zwar außerordentlich fruchtbar, aber öde und unbebaut. Eine schlechte Regierung hat dort das Gute, was die Natur dem Menschen zu schenken bemüht war, erstickt. Die Bewohner dieser Bezirke sind Nachbarn der kleinen Tatarei und säen nicht und pflanzen nicht, weil die räuberischen Tataren von Budziak und Perecop und die Moldauer ihre Ernten verheeren würden.

Die Ukraine hat stets nach Freiheit gestrebt; da sie aber von Rußland, den Staaten des Großherrn und Polen umgeben ist, so mußte sie in einem dieser drei Staaten einen Beschützer und somit einen Herrn suchen. Sie stellte sich anfangs unter den Schutz Polens, wurde von ihm aber allzu sehr als Untertan behandelt; dann gab sie sich an Rußland hin, das sie möglichst als Sklavin beherrschte. Anfangs besaßen die Ukrainer das Recht, sich selbst einen Fürsten unter dem Namen General zu erwählen; bald aber nahm man ihnen dieses Recht und ihr General wurde vom Hof von Moskau ernannt.

Damals bekleidete diese Stelle ein polnischer Edelmann, namens Mazeppa, der im Palatinat Podolien geboren war. Er war als Page am Hofe des Königs Johann Kasimir erzogen worden und hatte dort einen Anstrich von Bildung erhalten. Ein Verhältnis, welches er in seiner Jugend mit der Frau eines polnischen Edelmanns unterhielt, wurde von diesem entdeckt; der Ehemann ließ ihn nackt auf ein wildes Pferd binden und dieses in die Steppe hinausjagen. Das Pferd war aus der Ukraine und kehrte deshalb dahin zurück. Halbtot vor Hunger und Schmerz kam Mazeppa dort auf ihm an. Bauern sprangen ihm bei und lange lebte er unter ihnen und zeichnete sich bei verschiedenen Zügen gegen die Tataren aus. Die Ueberlegenheit seines Geistes verschaffte ihm ein großes Gewicht unter den Kosaken; sein Ruf vermehrte sich mit jedem Tage, so daß der Zar sich endlich veranlaßt sah, ihn zum Fürsten der Ukraine zu ernennen.

Als er aber eines Tags mit dem Zaren zu Moskau an der Tafel saß, stellte dieser das Ansinnen an ihn, er solle die Kosaken disziplinieren und dadurch abhängiger von der Krone machen. Mazeppa erwiderte, die Lage der Ukraine und der Geist dieses Volkes böten ganz unübersteigliche Hindernisse. Der Zar, der vom Wein aufgeregt war und seinen Jähzorn nicht immer beherrschen konnte, schalt ihn daraufhin einen Verräter und drohte, ihn spießen zu lassen.

Als Mazeppa nach der Ukraine zurückgekehrt war, faßte er den Plan sich zu empören. Die schwedische Armee, welche bald darauf an seiner Grenze erschien, sollte ihm dies ermöglichen. Er beschloß, sich unabhängig zu machen und aus der Ukraine und den Trümmern des russischen Reichs ein neues mächtiges Königreich zu schaffen. Er war ein mutvoller, unternehmender Mann und ungeachtet seines hohen Alters noch von unermüdlicher Tätigkeit. Er verband sich also im geheimen mit dem König von Schweden, um den Sturz des Zaren zu beschleunigen und für sich auszunützen.

Der König verabredete mit ihm ein Zusammentreffen an der Desna. Mazeppa versprach mit dreißigtausend Mann, Kriegsbedürfnissen, Mundvorrat und seinen ungeheuern Schätzen dahin zu kommen. Die schwedische Armee marschierte also zum großen Verdruß aller Offiziere, welche von dieser Abmachung des Königs mit den Kosaken nichts wußten, in der neuen Richtung. Karl schickte Löwenhaupt den Befehl zu, ihm Truppen und Vorräte schleunigst in die Ukraine nachzuführen, wo er den Winter zuzubringen gedachte, um, wenn er sich dieses Landes versichert hätte, im nächsten Frühjahr Rußland zu erobern. Einstweilen zog er nach der Desna, die bei Kiew in den Dniepr fällt.

Die Marschhindernisse, denen man bis dahin begegnet, waren ein Kinderspiel gegen die, welche man auf dieser neuen Straße fand. Man mußte einen fünfzig Stunden breiten Wald voller Sümpfe durchziehen. Der General Lagercrona, welcher mit fünftausend Mann und den Pionieren die Vorhut bildete, führte die Armee in östlicher Richtung dreißig Stunden von der richtigen Straße ab. Nach einem viertägigen Marsch erkannte der König, daß Lagercrona irre ging. Mit Not kam man wieder auf den rechten Weg; aber fast die ganze Artillerie und alle Bagagewagen blieben in den Sümpfen stecken und versanken darin.

Endlich nach einem zwölftägigen höchst beschwerlichen Marsch, auf welchem die Schweden den kleinen Rest von Zwieback, den sie noch besaßen, vollends aufzehrten, langte die Armee von Hunger und Strapazen erschöpft an jenem Punkt an der Desna an, den Mazeppa als Rendezvousplatz bezeichnet hatte. Allein statt hier diesen Fürsten zu finden, sahen sich die Schweden einem Korps Russen gegenüber, welches gegen die Flußufer vorrückte. Der König war bestürzt; doch beschloß er sofort die Desna zu passieren und die Feinde anzugreifen. Bei der Steile der Ufer sah man sich genötigt, die Soldaten an Seilen hinabzulassen. Sie passierten dann den Fluß in ihrer gewohnten Weise, die einen auf rasch gefertigten Flößen, die anderen schwimmend. Das russische Korps, welches eben anlangte, war nur achttausend Mann stark; es leistete keinen langen Widerstand und dieses Hindernis war bald überwältigt.

Karl drang nun tiefer in das ungewisse Land ein, der Straße ebensowenig sicher wie der Treue Mazeppas. Endlich erschien der Kosakenfürst, aber eher als Flüchtling denn als mächtiger Bundesgenosse. Die Russen hatten seine Pläne entdeckt und waren ihm zuvorgekommen. Sie hatten sich auf seine Kosaken geworfen und sie in Stücke gehauen; seine vornehmsten Freunde, die mit den Waffen in der Hand gefangen worden waren, wurden dreißig an der Zahl zum Rad verurteilt; seine Städte lagen in Asche, sein Schatz war geplündert, die Vorräte, die er für den König von Schweden gesammelt, weggenommen. Kaum hatte er selbst mit sechstausend Mann und einigen mit Gold und Silber beladenen Pferden entrinnen können. Immerhin brachte er dem König die Hoffnung, daß er sich durch seine Vermittlung und Ortskenntnis und die Zuneigung der Kosaken, die wütend gegen die Russen scharenweise in das Lager kamen und Vorräte brachten, in diesem unbekannten Lande werde erhalten können.

Karl hoffte immer noch, daß wenigstens sein General Löwenhaupt bald erscheinen und sein Mißgeschick zum Bessern lenken werde. Er sollte ihm fünfzehntausend Schweden, die mehr wert waren als hunderttausend Kosaken, sowie Kriegs- und Mundvorräte zuführen; aber leider erschien er ungefähr in demselben Zustand wie Mzeppa.

Er hatte den Dniepr oberhalb Mohilew passiert und war zwanzig Wegstunden jenseits auf der Straße nach der Ukraine vorgerückt. Er führte dem König einen Transport von achttausend Wagen nebst dem Gelde zu, das er unterwegs in Littauen erhoben. Aber als er bei Liesna ankam, wo sich die Pronia und die Soz vereinigen, um sich weiter unterhalb in den Dniepr zu ergießen, erschien der Zar an der Spitze von fast vierzigtausend Mann.

Der schwedische General hatte zwar kaum sechzehntausend Mann, wollte sich aber gleichwohl nicht verschanzen. Ihre vielen Siege hatten den Schweden ein so großes Selbstvertrauen gegeben, daß sie nie nach der Zahl ihrer Feinde fragten, sondern nur nach dem Ort, wo dieselben standen. Am Nachmittag des 7. Oktober 1708 marschierte daher Löwenhaupt ohne Zaudern gegen den Zaren. Gleich beim ersten Zusammenstoß machten die Schweden fünfzehnhundert Russen nieder. Verwirrung riß in der russischen Armee ein, sie floh nach allen Seiten. Der Zar sah den Moment kommen, wo seine Niederlage eine vollständige würde. Er fühlte, daß das Schicksal seines Reichs von diesem Tage abhinge und daß er verloren sei, wenn Löwenhaupt mit einer siegreichen Armee zu dem Schwedenkönig stoße.

Als der Kaiser daher wahrnahm, daß seine Truppen zu weichen begannen, eilte er zu der Nachhut, die aus Kosaken und Kalmücken bestand. »Ich befehle euch,« rief er ihnen zu, »auf jeden zu feuern, der flieht und mich selbst niederzuschießen, wenn ich so feig sein sollte, den Rücken zu drehen.« Dann kehrte er zur Vorhut zurück und sammelte mit Hilfe des Fürsten Mentschikoff und des Fürsten Gallizin seine Truppen. Löwenhaupt, der den dringenden Befehl hatte, möglichst bald zu seinem Herrn zu stoßen, zog es vor, seinen Marsch fortzusetzen, statt den Kampf wieder aufzunehmen, da er genug getan zu haben glaubte, um dem Feinde die Lust zur Verfolgung zu benehmen.

Aber schon am folgenden Morgen um elf Uhr griff ihn der Zar am Rand eines Sumpfes von neuem an und suchte ihn zu umzingeln. Die Schweden machten nach allen Seiten Front, man schlug sich zwei Stunden lang mit gleicher Hartnäckigkeit von beiden Seiten. Die Russen verloren zwar dreimal mehr Leute, aber keiner von beiden wich und der Sieg blieb unentschieden.

Um vier Uhr führte General Bayer dem Zaren eine Verstärkung zu. Die Schlacht begann zum drittenmal mit vermehrter Erbitterung und dauerte nun bis in die Nacht hinein; endlich siegte die Ueberzahl; die Reihen der Schweden wurden durchbrochen, und sie bis zu ihrem Gepäck zurückgedrängt. Löwenhaupt sammelte seine Truppen hinter den Wagen. Die Schweden waren besiegt, aber sie flohen nicht. Es waren ungefähr noch neuntausend Mann, von denen nicht einer davonlief. Der General stellte sie mit derselben Leichtigkeit in Schlachtordnung, wie wenn sie nicht besiegt worden wären. Der Zar seinerseits brachte die Nacht unter den Waffen zu; er verbot den Offizieren bei Strafe der Kassation und den Soldaten bei Todesstrafe ihre Reihen zu verlassen, um zu plündern.

Am anderen Morgen bei Tagesanbruch befahl er einen neuen Angriff. Löwenhaupt hatte sich, nachdem er einen Teil seiner Geschütze vernagelt und seine Wagen verbrannt hatte, einige Meilen weit nach einer vorteilhaften Stellung zurückgezogen. Die Russen langten noch rechtzeitig an, um zu verhindern, daß das Feuer alle Wagen ergriff; noch über sechstausend Wagen fielen in ihre Hände. Der Zar wollte die Niederlage der Schweden vollständig machen und ließ durch den General Pflug zum fünftenmal angreifen; dieser General bot den Schweden eine ehrenvolle Kapitulation an. Allein Löwenhaupt schlug sie aus und lieferte eine fünfte gleich blutige Schlacht wie die vier vorhergehenden. Von seinen neuntausend Mann verlor er die Hälfte, die andere Hälfte aber ließ sich nicht überwältigen. Als endlich die Nacht hereinbrach, ging Löwenhaupt, nachdem er fünf Schlachten gegen vierzigtausend Mann geschlagen, mit seinen noch übrigen fünftausend Streitern über die Soz. Zehntausend Mann verlor der Zar in diesen Kämpfen, wo er den Ruhm hatte, die Schweden besiegt, Löwenhaupt aber die Ehre, diesen Sieg drei Tage ihm streitig gemacht zu haben und nicht gewichen zu sein, bis alle seine Stellungen genommen waren. Mit diesem Ruhm tapferster Verteidigung, aber ohne Munition und ohne Armee erreichte Löwenhaupt endlich das Lager seines Herrn. So sah sich der König ohne Lebensmittel, von seiner Verbindung mit Polen abgeschnitten, und inmitten eines Landes, wo er keine andere Hilfsquelle besaß als seinen Mut, überall von Feinden umgeben.

Zu dieser Not kam noch der schwere Winter von 1709, der sich an diesen Grenzen Europas noch fühlbarer machte als bei uns in Frankreich, und einen Teil des schwedischen Heeres vernichtete. Karl wollte der Jahreszeit trotzen, wie er seinen Feinden getrotzt hatte; er ließ während dieser tödlichen Kälte seine Truppen weite Märsche ausführen. Auf einem dieser Märsche sah er einmal zweitausend Mann unter seinen Augen der Kälte erliegen. Die Reiter hatten keine Stiefel, die Fußsoldaten keine Schuhe mehr, und nahezu auch keine Kleider. Sie mußten sich so gut es ging Fußbekleidungen von Tierfellen fertigen; oft fehlte es ihnen an Brot. Aus Mangel an Zugpferden hatte man sich genötigt gesehen, fast alle Geschütze in die Sümpfe und Flüsse zu werfen. Diese einst so blühende Armee zählte nur noch vierundzwanzigtausend Mann, die dem Hungertode nahe waren. Man erhielt keine Nachrichten mehr aus Schweden und konnte keine mehr dahin gelangen lassen. Unter diesen Umständen beklagte sich ein einziger Offizier. »Wie!« rief der König, »Ihr langweilt Euch, weil Ihr fern von Eurer Frau seid? Wenn Ihr ein wahrer Soldat seid, so werdet Ihr schweigen und sollte ich Euch auch so weit von Schweden fortführen, daß Ihr nur einmal in drei Jahren Nachrichten dorther erhalten könnt.«

Der später als Gesandter in Schweden beglaubigte Marquis von Brancas hat mir erzählt: ein Soldat habe es einmal gewagt, vor der ganzen Armee dem König unter Murren ein verschimmeltes, aus Gerste und Hafer gebackenes Schwarzbrot – das einzige Nahrungsmittel, welches sie damals hatten und das nicht einmal ausreichend – hinzubieten. Der König nahm das Stück Brot ohne weiteres, aß es ganz auf und sagte dann ruhig zu dem Soldaten: »Es ist nicht gut, aber man kann es essen.« – Dieser Zug, so klein er war – wenn etwas klein sein kann, was die Achtung und das Vertrauen vermehrt – trug mehr als alles dazu bei, daß die schwedische Armee ein Elend ertrug, welches unter jedem anderen Feldherrn geradezu unerträglich gewesen wäre.

In dieser Lage der Dinge erhielt Karl endlich Nachrichten von Stockholm. Er erfuhr daraus den Tod seiner Schwester, der Herzogin von Holstein, welche im Dezember 1708 in ihrem siebenundzwanzigsten Lebensjahre von den Pocken hingerafft worden war. Diese Prinzessin war ebenso sanftmütig und teilnehmend, als ihr Bruder herrisch in seinen Willensäußerungen und unversöhnlich in seiner Rache. Er war ihr immer mit großer Liebe zugetan gewesen, und war nun um so mehr über ihren Verlust betrübt, als er durch sein beginnendes Unglück weicher geworden war.

Er erfuhr auch, daß man in Ausführung seiner Befehle Truppen ausgehoben und Geld zusammengebracht habe; allein bis in sein Lager konnte nichts davon kommen, denn zwischen ihm und Stockholm lagen fünfhundert Wegstunden und zahlreiche Feinde.

Der Zar war ebenso tatkräftig als Karl, und nachdem er den in Polen unter General Siniawski gegen Stanislaus versammelten Konföderierten neue Truppen zu Hilfe geschickt hatte, rückte er mitten in dem schweren Winter in die Ukraine, um dem König von Schweden die Spitze zu bieten. Hier setzte er seine Taktik, den Feind durch kleine Kämpfe immer mehr zu schwächen, fort, denn er rechnete ganz richtig, daß hierdurch die schwedische Armee, die sich nicht mehr rekrutieren konnte, allmählich ganz würde aufgerieben werden. Die Kälte muß übrigens eine ganz außerordentliche gewesen sein, da sich die beiden Feinde genötigt sahen, sich gegenseitig einen Waffenstillstand zuzugestehen. Doch schon vom 1. Februar an begann man wieder sich mitten im Schnee und Eis zu schlagen.

Nach mehreren kleineren Kämpfen, von denen einige zu seinem Nachteil ausfielen, sah der König im April, daß er nur noch achtzehntausend Schweden hatte. Mazeppa allein sorgte für den Unterhalt derselben; ohne diese Hilfe wäre die Armee in Hunger und Elend umgekommen. Im Hinblick hierauf ließ der Zar Mazeppa Vorschläge machen, die ihn unter seine Herrschaft zurückbringen sollten; allein der Kosake blieb seinem neuen Verbündeten getreu, sei es, daß die schreckliche Hinrichtung durchs Rad, der seine Freunde verfallen waren, ihm einige Besorgnis wegen seiner selbst einflößte, sei es, daß er sie zu rächen gedachte.

Mit seinen achtzehntausend Schweden hatte Karl jedoch weder den Plan noch die Hoffnung aufgegeben bis Moskau zu dringen. Gegen Ende Mai belagerte er Pultawa an der Borskla an der Ostgrenze der Ukraine und dreizehn starke Wegstunden vom Dniepr. Diese Stadt liegt im Gebiet der Zaporogen, eines der merkwürdigsten Völkchen auf der Erde. Es besteht aus Russen, Polen und Tataren, welche eine Art Christentum bekennen und das Räuberhandwerk in der Weise der Flibustier treiben. Sie wählen einen Häuptling, den sie zuweilen absetzen oder erwürgen. Sie dulden keine Frauen bei sich, stehlen aber alle Kinder auf zwanzig bis dreißig Stunden in der Runde und erziehen sie in ihren Sitten. Im Sommer liegen sie beständig im Feld, im Winter zu vier- bis fünfhundert Mann in geräumigen Scheunen. Sie fürchten nichts, führen ein freies Leben und trotzen dem Tod der geringsten Beute wegen, mit derselben Unerschrockenheit wie Karl XII. es tat, um Kronen vergeben zu können. Der Zar ließ ihnen sechzigtausend Gulden auszahlen in der Hoffnung, sie würden auf seine Seite treten; aber sie nahmen sein Geld und erklärten sich dank Mazeppa! für Karl XII. Doch leisteten sie sehr wenig, da sie es lächerlich fanden, für etwas anderes als gute Beute zu kämpfen. Es war schon viel, daß sie nicht feindlich auftraten; höchstens zweitausend Mann taten wirklich Dienst. Man stellte einmal zehn ihrer Führer dem Könige vor und hatte dabei große Mühe sie nüchtern zu erhalten, denn sie beginnen jeden Tag mit Trinken. Matt führte sie nach den Laufgräben; sie zeigten hier ihre Geschicklichkeit im Schießen mit ihren langen Flinten; denn sie stiegen hier auf die äußere Seite der Brustwehr und schossen auf eine Entfernung von sechshundert Schritt alle Feinde nieder, die sie aufs Korn nahmen. Karl gesellte diesen Räubern noch einige tausend Walachen bei, die der Khan der kleinen Tatarei an ihn verkauft hatte. Er belagerte also Pultawa mit diesen Zaporogen, Kosaken und Walachen, welche mit seinen achtzehntausend Schweden zusammen eine Armee von etwa dreißigtausend Mann bildeten, aber eine zerrüttete Armee, der es an allem fehlte. Der Zar hatte in Pultawa große Magazine angelegt. Wenn der König die Stadt nahm, so eröffnete er sich wieder den Weg nach Moskau und konnte mit allem reichlich versehen, die Unterstützungen ruhig abwarten, die er aus Schweden, Livland, Pommern und Polen erwartete. Seine einzige Hoffnung beruhte somit auf der Einnahme von Pultawa, dessen Belagerung er eifrigst betrieb. Mazeppa, welcher Verbindungen in der Stadt hatte, versicherte, daß er sich ihr bald bemeistern würde. Die Hoffnung erwachte aufs neue in der Armee. Die Soldaten betrachteten die Einnahme von Pultawa als das Ende aller ihrer Leiden.

Gleich bei Beginn der Belagerung bemerkte der König, daß er seinen Feinden die Kriegskunst gelehrt hatte. Aller seiner Vorsichtsmaßregeln ungeachtet gelang es dem Fürsten Mentschikoff eine Unterstützung in die Stadt zu werfen, durch welche die Besatzung auf fünftausend Mann wuchs.

Dieselbe machte Ausfälle, die zuweilen mit Erfolg begleitet waren; und ließ Minen springen. Was die Stadt aber uneinnehmbar machte, war das Anrücken des Zaren selbst mit siebzigtausend Streitern. Karl XII. zog am 27. Juni, seinem Geburtstag, auf Rekognoszierung gegen jenen und warf eine seiner Abteilungen zurück; bei seiner Rückkehr nach dem Lager erhielt er aber einen Büchsenschuß, der ihm den Stiefel durchdrang und den Fersenknochen zerschmetterte. Nicht die leiseste Veränderung auf seinem Gesicht ließ ahnen, daß er verwundet sei; er fuhr vielmehr ruhig fort seine Befehle zu erteilen und blieb noch sechs Stunden zu Pferde. Einer seiner Diener bemerkte endlich, daß der untere Teil des Stiefels des Königs voll Blut war und eilte nun nach den Wundärzten. Inzwischen begannen die Schmerzen des Königs so brennend zu werden, daß man ihm vom Pferde helfen und ihn in sein Zelt tragen mußte. Die Aerzte untersuchten seine Wunde und wollten ihm das Bein abnehmen. Die Bestürzung, welche sich bei dieser Nachricht der Armee bemächtigte, war ungeheuer. Ein Wundarzt jedoch, namens Neumann, der geschickter und kühner als die anderen war, versprach durch tiefe Einschnitte das Bein des Königs retten zu können. »So geht sofort ans Werk,« sagte der König zu ihm, »schneidet keck zu und fürchtet nichts.« – Er hielt selbst mit beiden Händen sein Bein und beobachtete die Einschnitte, die man machte, wie wenn man die Operation an einem Fremden vornähme. In derselben Stunde, da man ihm einen Verband anlegte, befahl er einen Sturm für den anderen Tag. Kaum aber hatte er diesen Befehl erteilt, als er die Meldung erhielt, daß die ganze feindliche Armee anrücke. Es mußte jetzt ein anderer Entschluß gefaßt werden. Karl war verwundet und außer stande selbsttätig aufzutreten; er stand hier zwischen dem Dniepr und dem Flusse, der an Pultawa vorbeiführt, in einem wüsten Lande ohne feste Plätze, ohne Munition und gegenüber einer Armee, die ihm den Rückzug verwehrte und ihn von seiner Zufuhr abschnitt. In dieser Not berief er keineswegs einen Kriegsrat zusammen, wie man behauptet hat, sondern ließ in der Nacht vom 7. zum 8. Juli den Feldmarschall Rehnsköld in sein Zelt kommen und befahl ihm ohne vorausgegangene Besprechung und ebenso ohne alle Unruhe alle Maßregeln so zu treffen, um den Zaren am anderen Tag angreifen zu können. Rehnsköld erhob keinen Widerspruch, sondern ging, um den Befehl zu vollziehen. An der Türe des königlichen Zeltes begegnete er dem Grafen Piper, mit dem er seit längerer Zeit sehr schlecht stand, wie das zwischen einem Minister und einem General häufig der Fall ist. Piper fragte ihn, ob es etwas Neues gäbe. »Nein!« erwiderte der General kalt und ging weiter, um seine Befehle zu erteilen. Sobald Graf Piper in das Zelt getreten war, fragte ihn der König: »Hat Euch Rehnsköld nichts mitgeteilt?« – »Nein,« erwiderte Piper. – »Gut, so sage ich Euch, daß wir uns morgen schlagen werden,« fuhr der König fort. Graf Piper erschrak über diesen verzweifelten Entschluß; er wußte aber wohl, daß man seinem Herrn nie eine Idee aus dem Kopfe brachte; er zeigte daher seine Bestürzung nur durch sein Schweigen und ließ Karl bis Tagesanbruch schlafen.

Es war am 8. Juli 1709, daß diese Entscheidungsschlacht von Pultawa zwischen den zwei merkwürdigsten Fürsten der damaligen Zeit geschlagen wurde. Der eine, Karl XII., war berühmt durch elfjährige Siege, der andere, Peter Alexjewitsch durch ebenso vieljährige Bemühungen, seine Truppen den schwedischen gleich zu machen; jener hoch angesehen, weil er fremde Länder verschenkt, dieser weil er seine eigenen zivilisiert hatte; Karl ein Freund der Gefahr, der nur für den Ruhm kämpfte, Peter, der der Gefahr zwar nicht auswich, aber nur Krieg führte, wenn es sein Interesse erheischte; der schwedische Monarch freigebig aus Seelengröße, der russische nur zu einem bestimmten Zweck; jener von beispielloser Mäßigkeit und Enthaltsamkeit, großherzig von Natur und nur ein einziges Mal grausam; dieser der Roheit seiner Erziehung und seines Volks keineswegs entkleidet, furchtbar gegen seine Untertanen, bewundernswürdig für die Fremden, und den Ausschweifungen, die seine Tage kürzten, nur zu sehr ergeben. Karl hieß der Unüberwindliche, ein Beiname, den ein einziger Augenblick ihm entreißen konnte; Peter Alexjewitsch hatte von seinen Völkern bereits den Namen »Der Große« erhalten und keine Niederlage konnte ihm diesen Titel wieder nehmen, den er nicht seinen Siegen verdankte.

Um sich einen genauen Begriff von dieser Schlacht und dem Schlachtfeld zu machen, muß man sich vorstellen, daß Pultawa nördlich, das schwedische Lager südöstlich lag und das Gepäck derselben sich etwa eine Meile dahinter befand, während die Vorskla nördlich der Stadt und von Osten nach Westen fließt.

Der Zar hatte diesen Fluß eine Wegstunde westlich von Pultawa überschritten und begann sein Lager zu schlagen.

Mit Tagesanbruch rückten die Schweden aus ihren Laufgräben. Vier eiserne Kanonen bildeten ihre ganze Artillerie. Die übrigen Geschütze mit etwa dreitausend Mann blieben im Lager, viertausend Mann bei dem Gepäck, so daß die schwedische Armee etwa einundzwanzigtausend Mann stark, worunter sechzehntausend Schweden, gegen den Feind rückte. Die Generale Rehnsköld, Roos, Löwenhaupt, Schlippenbach, Horn, Sparre, Hamilton, Prinz von Württemberg, ein Verwandter des Königs und einige andere, welche größtenteils die Schlacht bei Narwa mitgemacht hatten, erinnerten die Offiziere an jenen Tag, wo achttausend Schweden eine Armee von achtzigtausend Russen in einem verschanzten Lager vernichtet hatten. Die Offiziere sagten es den Soldaten und alle sprachen sich während des Marsches Mut ein.

Der König leitete von einer Tragbahre aus an der Spitze seiner Infanterie die Bewegungen. Ein Teil der Reiterei mußte auf seinen Befehl vorrücken, um die des Feindes anzugreifen. Um halb fünf Uhr morgens begann hiermit die Schlacht. Die feindliche Reiterei stand gegen Westen und rechts vom russischen Lager. Der Fürst Mentschikoff und der Graf Gollowin hatten sie zwischen den mit Kanonen gespickten Redouten in Zwischenräumen aufgestellt. Der General Schlippenbach stürzte sich nun an der Spitze der Schweden auf diese Kavallerie. Alle, die in den schwedischen Reihen gedient haben, wissen, daß es fast unmöglich war, der Wut ihres ersten Stoßes zu widerstehen. Die russischen Schwadronen wurden durchbrochen und geworfen. Der Zar eilte selbst herbei, um sie wieder zu sammeln, wobei ihm der Hut durch eine Flintenkugel durchbohrt wurde; auch Mentschikoff wurden drei Pferde unter dem Leibe getötet. Die Schweden riefen Viktoria!

Karl zweifelte nicht an dem Gewinn der Schlacht. Er hatte den General Creutz mit fünftausend Reitern oder Dragonern mitten in der Nacht entsendet, um dem Feinde in die Flanke zu fallen, während er selbst in der Front angriffe; aber zu seinem Unglück verirrte sich Creutz und erschien nicht. So erhielt der Zar, der sich bereits verloren geglaubt hatte, Zeit seine Reiterei wieder zu sammeln. Er warf sich nun seinerseits auf die des Königs, welche von Creutz nicht unterstützt, nun in ihrer Tour geworfen wurde. Schlippenbach selbst fiel dabei in Gefangenschaft. Zugleich donnerten zweiundsiebzig Geschütze aus dem russischen Lager auf die schwedische Reiterei und die russische Infanterie rückte aus ihren Linien, um die Karls anzugreifen.

Der Zar entsendete nun den Fürsten Mentschikoff, um sich zwischen Pultawa und die Schweden zu stellen, geschickt und schnell vollzog Mentschikoff diesen Befehl. Er schnitt nicht nur jede Verbindung der schwedischen Armee mit den in ihrem Lager von Pultawa gebliebenen Truppen ab, sondern umzingelte dabei auch ein schwedisches Reservekorps von dreitausend Mann, und sprengte es auseinander. Wenn Mentschikoff dieses Manöver aus eigenem Antrieb ausgeführt hat, so verdankt ihm Rußland seine Rettung; hatte der Zar es befohlen, so zeigte er sich dadurch als ein würdiger Gegner Karls XII. Unterdessen war die russische Infanterie aus ihren Schanzen vorgebrochen und rückte in die Ebene vor. Die schwedische Reiterei sammelte sich auf eine Viertelstunde von der feindlichen Armee entfernt; und der König ordnete, unterstützt von seinem Feldmarschall Rehnsköld alles zu einem allgemeinen Angriff an. Er stellte den Rest seiner Truppen in zwei Treffen, die Infanterie in die Mitte, die Reiterei auf beiden Flügeln. Der Zar verfügte über seine Armee in ähnlicher Weise; aber er hatte den Vorteil der größeren Zahl und einer Artillerie von zweiundsiebzig Kanonen, denen die Schweden nur vier entgegenzustellen vermochten, welchen es noch dazu bereits an Munition gebrach.

Der russische Kaiser befand sich im Zentrum seiner Armee, er bekleidete hier die Stelle eines Generalmajors und gehorchte zum Schein dem General Scheremeteff. Aber als Kaiser eilte er auf einem türkischen Rosse, einem Geschenk des Großherrn, durch die Reihen, sprach Offizieren und Soldaten zu und verhieß jedem reichen Lohn.

Um neun Uhr morgens begann die Schlacht von neuem. Einer der ersten Schüsse der russischen Artillerie schmetterte die zwei Pferde an Karls Sänfte nieder. Er ließ zwei neue anschirren. Ein zweiter Schuß zerschellte die Sänfte und warf den König heraus. Von vierundzwanzig Trabanten, welche sich dann ablösten, um ihn zu tragen, wurden einundzwanzig getötet. Die bestürzten Schweden gerieten ins Schwanken, die feindliche Artillerie fuhr fort sie niederzuschmettern. Jetzt wich das erste Treffen nach dem zweiten zurück und das zweite ergriff die Flucht. Bei diesem letzten Zusammenstoß waren es nur zehntausend Mann russischer Infanterie, welche die schwedische Armee zersprengten. So sehr hatte sich die Lage der Dinge geändert.

Alle schwedischen Schriftsteller behaupten, sie würden die Schlacht gewonnen haben, wenn nicht grobe Fehler begangen worden wären. Aber alle Offiziere sagen, daß es schon ein großer Fehler war, sie überhaupt zu liefern, und ein noch größerer, sich trotz der Ansicht der einsichtsvollsten Führer auf diesem verlorenen Posten gegen einen kriegsgewohnten Feind festzusetzen, der an Zahl und Hilfsquellen Karl XII. um das Dreifache überlegen war. Allein die Erinnerung an Narwa war die Hauptsache von Karls Unglück bei Pultawa. Bereits war der Prinz von Württemberg, der General Rehnsköld und mancher andere höhere Offizier gefangen, das Lager vor Pultawa genommen und alles in einer Verwirrung, aus der es keinen Ausweg mehr gab. Graf Piper hatte mit mehreren Kanzleibeamten das Lager verlassen. Sie wußten nicht, was anfangen, noch wo der König geblieben war und rannten nach allen Richtungen durch das Feld. Ein gewisser Major Bär erbot sich, sie nach dem Ort zu bringen, wo sich das Gepäck befinden mußte. Aber die Staub- und Rauchwolken, welche das Feld bedeckten und die in einer solchen Lage natürliche Bestürzung und Aufregung führte sie gerade nach der Contrescarpe der Stadt, wo sie sämtlich gefangen genommen wurden.

Der König wollte nicht fliehen und konnte sich doch nicht verteidigen. Niemand war in diesem Augenblick um ihn als der Oberst der schwedischen Garde des Königs Stanislaus, General Poniatowski, ein Mann von seltenem Verdienst, dessen Anhänglichkeit an die Person Karls ihn veranlaßt hatte, diesem auch ohne Kommando nach der Ukraine zu folgen. Es war ein Mann, der in allen Lagen und Gefahren des Lebens, wo die anderen höchstens Mut besitzen, immer sofort einen Entschluß zu fassen verstand, und zwar einen richtigen und glücklichen. Er winkte zwei Trabanten herbei, die den König auf den Arm nahmen und trotz der außerordentlichen Schmerzen, die ihm seine Wunde verursachte, auf ein Pferd setzten.

Poniatowski besaß zwar wie gesagt kein Kommando bei der Armee, aber die Not machte ihn hier zum Führer. Er sammelte gegen fünfhundert Mann Kavallerie um die Person des Königs, teils Trabanten, teils Offiziere, teils einfache Reiter. An der Spitze dieser durch das Unglück ihres Fürsten begeisterten Schar brach er sich durch mehr als zehn russische Regimenter Bahn und führte Karl aus der Mitte der Feinde eine Stunde Wegs weit bis zum Gepäck der schwedischen Armee. Dem flüchtigen und verfolgten König wurde jetzt auch noch das Pferd unter dem Leibe getötet, aber der tödlich verwundete Oberst Gierta gab ihm das seinige. So wurde dieser Eroberer, der während der Schlacht nicht hatte zu Pferde steigen können, auf der Flucht zweimal aufs Pferd gesetzt.

Dieser erstaunliche Rückzug war schon viel bei so großem Unglück. Aber man mußte weiter: beim Gepäck fand man den Wagen des Grafen Piper, denn der König selbst besaß seit seiner Abreise von Stockholm keinen mehr. Man setzte ihn in den Wagen und schlug eiligst den Weg nach dem Dniepr ein. Der König, welcher von dem Augenblick an, da man ihn aufs Pferd setzte, bis da er beim Gepäck anlangte, kein Wort gesprochen hatte, fragte nun, was aus dem Grafen Piper geworden sei? »Er ist mit dem ganzen Kanzleipersonal gefangen genommen worden,« erwiderte man ihm. – »Und General Rehnsköld und der Herzog von Württemberg?« fuhr er fort. – »Sie sind gleichfalls gefangen,« versetzte Poniatowski. – »Gefangen bei den Russen!« rief Karl, indem er die Achsel zuckte, »nein! lieber zu den Türken! fort, fort!« – Gleichwohl merkte man ihm keine Niedergeschlagenheit an, und wer ihn da gesehen und weiter nichts gewußt hätte, hätte nicht ahnen können, daß er besiegt und verwundet sei.

Während er sich entfernte, nahmen die Russen seine Artillerie im Lager von Pultawa, sein Gepäck, sowie seine Kriegskasse, wo sie sechs Millionen bar Geld fanden, welches er den Polen und Sachsen abgenommen hatte. Bei neuntausend Schweden und Kosaken fielen in der Schlacht, gegen sechstausend wurden gefangen. Die übrigen sechzehntausend Schweden, Polen und Kosaken flohen unter General Löwenhaupt dem Dniepr zu. Dieser marschierte mit seinen flüchtigen Truppen auf der einen Straße, der König mit einigen Reitern auf der anderen. Als der Wagen unterwegs in Stücke ging, setzte man ihn wieder aufs Pferd. Um das Unheil voll zu machen, verirrte sich Karl während der Nacht im Walde. Hier vermochte sein Mut die Erschöpfung seiner Kräfte nicht mehr auszugleichen, die Schmerzen seiner Wunde steigerten sich infolge der Anstrengung aufs äußerste, und als nun auch sein Pferd vor Müdigkeit umsank, legte er sich für einige Stunden unter einen Baum, wo er allerdings Gefahr lief, von den Siegern, die ihn nach allen Richtungen suchten, jeden Augenblick überrascht zu werden.

Endlich in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli erreichte er den Dniepr. Auch Löwenhaupt war eben mit den Trümmern der Armee dort angekommen. Die Schweden sahen mit schmerzlicher Freude ihren König wieder, den sie schon tot geglaubt. Aber auch der Feind kam näher; man besaß weder eine Brückenequipage, um den Fluß zu passieren, noch hatte man Zeit, um eine Brücke zu erbauen, noch Pulver, um sich zu verteidigen, noch Lebensmittel, um die Armee, die seit zwei Tagen nichts gegessen, vom Hungertode zu retten. Allein die Reste dieser Armee waren immer noch Schweden und dieser besiegte König war Karl XII. Fast alle Offiziere waren des Glaubens, man werde die Russen stehenden Fußes erwarten und an den Ufern des Dniepr siegen oder sterben. Ohne Zweifel hätte Karl auch diesen Entschluß gefaßt, wenn körperliche Schwäche ihn nicht ganz zu Boden gedrückt hätte. Aber seine Wunde eiterte, er hatte Fieber; und man hat die Bemerkung gemacht, daß auch die unerschrockensten Menschen im Wundfieber jenen instinktiven Mut verlieren, der wie alle anderen Tugenden einen durchaus freien Kopf verlangt. Karl war nicht mehr er selbst; so hat man mich versichert und das ist auch das Wahrscheinlichste. Man schleppte ihn weiter wie einen Menschen, der nicht bei sich ist. Zum Glück fand sich noch eine schlechte Chaise vor, die man zufällig bis hierher mitgeführt hatte. Man schiffte dieselbe auf einem kleinen Boote ein, der König selbst stieg mit Mazeppa in ein zweites. Dieser hatte noch mehrere Geldkisten gerettet; da aber die Strömung zu heftig war und ein heftiger Wind zu blasen begann, warf dieser Kosak über drei Vierteile seiner Schätze in den Strom, um das Boot zu erleichtern. Der Kanzler des Königs, Möller, der Graf Poniatowski, dessen an Auskunftsmitteln stets so reicher Geist dem König jetzt mehr als je nötig war, und einige Offiziere setzten auf anderen Booten über. Dreihundert schwedische Reiter und eine große Anzahl Polen und Kosaken wagten es, im Vertrauen auf die Güte ihrer Pferde, den Fluß schwimmend zu passieren. Ihre gedrängte Schar widerstand der Strömung und brach die Wellen; aber alle, die ein wenig abkamen, wurden von den Wellen fortgerissen und ertranken. Von allen Fußgängern, welche den Uebergang wagten, gelangte nicht einer an das jenseitige Ufer.

Während sich die Trümmer der Armee in dieser äußersten Not befanden, näherte sich ihnen Fürst Mentschikoff mit zehntausend Reitern, von denen jeder einen Fußsoldaten hinter sich hatte. Die Leichname der unterwegs an ihren Wunden, an Erschöpfung und Hunger zugrunde gegangenen Schweden hatten dem Fürsten Mentschikoff den Weg nur zu gut gezeigt, den das Gros der flüchtigen Armee genommen. Der Fürst schickte einen Trompeter an den schwedischen General, um ihm eine Kapitulation anzubieten. Alsbald entsendete Löwenhaupt vier Generale, um die Befehle des Siegers entgegenzunehmen. Vor diesem Tag hätten sechzehntausend Soldaten des Königs Karl alle Streitkräfte des russischen Reichs angegriffen und wären lieber bis auf den letzten Mann gestorben, als daß sie sich ergeben hätten. Aber nach jener verlorenen Schlacht, nach einer zweitägigen Flucht, wo sie ihren König nicht mehr sahen, der selbst hatte fliehen müssen, wo die Kräfte jedes Mannes erschöpft waren und ihr Mut durch keinerlei Hoffnung aufrecht erhalten wurde, da trug die Liebe zum Leben den Sieg über die Unerschrockenheit davon. Der Oberst Trutfeder allein ging beim Anrücken der Russen ihnen mit einem schwedischen Bataillone entgegen, in der Hoffnung, den Rest der Armee mit fortzureißen; allein Löwenhaupt sah sich veranlaßt, diese unnütze Bewegung zu hemmen. Die Kapitulation wurde abgeschlossen und die ganze Armee ward kriegsgefangen. Einige Soldaten sprangen aus Verzweiflung in den Dniepr, nur um nicht in die Hände der Russen zu fallen. Zwei Offiziere vom Regiment des tapferen Trutfeder töteten sich gegenseitig, alle anderen fielen in Sklaverei. Sie defilierten vor dem Fürsten Mentschikoff vorüber und streckten ihre Waffen vor ihm, wie es dreißigtausend Russen neun Jahre früher vor dem König von Schweden bei Narwa getan hatten. Aber statt wie Karl zu tun, der damals alle russischen Gefangenen, die er ja nicht fürchtete, wieder heimschickte, behielt der Zar die bei Pultawa gefangenen Schweden bei sich.

Diese Unglücklichen wurden später in allen Staaten des Zaren zerstreut, besonders in Sibirien, einer ungeheuern Provinz der großen Tatarei, die sich nach Osten zu bis an die Grenzen Chinas erstreckt. In diesem barbarischen Lande, wo man nicht einmal das Brot kannte, übten die Schweden, welche die Not erfinderisch machte, alle Handwerke und Künste, von denen sie nur irgend einen Begriff hatten. Es fielen hier alle Unterschiede, welche das Schicksal oder die Geburt unter den Menschen aufrichtet. Der Offizier, der kein Handwerk verstand, sah sich genötigt, für den Soldaten, der Schneider, Weber, Tischler, Maurer oder Schmied geworden war und dadurch seinen Lebensunterhalt verdiente, Holz zu spalten und zu tragen. Einige Offiziere wurden Maler, andere Architekten. Es gab welche, die Sprachen und Mathematik lehrten; diese gründeten sogar öffentliche Schulen, die mit der Zeit so nützlich wurden und einen solchen Ruf erhielten, daß man von Moskau aus Kinder dahin schickte.

Der Graf Piper, erster Minister des Königs von Schweden, blieb lange Zeit in St. Petersburg eingesperrt. Der Zar war wie das übrige Europa davon überzeugt, daß dieser Minister seinen Herrn an den Herzog von Marlborough verkauft und die Waffen Schwedens, die in Europa hätten den Frieden herstellen können, nach Rußland gelockt habe. Er hielt ihn deshalb in sehr strenger Gefangenschaft. Dieser Minister starb einige Jahre später in Rußland; seine Familie, die in Stockholm im Wohlstand lebte, hatte ihn nur wenig unterstützt, und sein König, der ihn wohl tief beklagte, wollte sich doch nicht so weit herablassen, für seinen Minister ein Lösegeld zu bieten, das, wie er fürchtete, der Zar nicht annehmen würde; denn es bestand zwischen Karl und dem Zaren kein Auswechselungsvertrag.

Der russische Kaiser, von einer Freude bewegt, die er sich nicht die Mühe gab zu verheimlichen, empfing die Gefangenen, die man ihm in Menge vorführte, noch auf dem Schlachtfelde und fragte dabei alle Augenblicke: »Wo ist denn mein Bruder Karl?«

Er tat den schwedischen Generalen die Ehre an, sie zu seiner Tafel einzuladen. Unter anderem fragte er hierbei den General Rehnsköld, wie stark die Armee des Königs seines Herrn vor der Schlacht gewesen sei. Rehnsköld erwiderte, daß der König allein den Rapport besitze, den er niemand mitgeteilt habe; daß er aber glaube, es werden im ganzen etwa dreißigtausend Mann gewesen sein, nämlich achtzehntausend Schweden und zwölftausend Kosaken. Der Zar schien erstaunt und fragte, wie sie es hätten wagen können, in ein so entlegenes Land einzudringen und Pultawa mit so wenig Leuten zu belagern. »Wir sind nicht immer um unsere Meinung gefragt worden,« erwiderte der schwedische General; »aber als treue Diener haben wir den Befehlen unseres Herrn gehorcht, ohne jemals zu widersprechen.« – Bei dieser Antwort wendete sich der Zar gegen einige seiner Höflinge, die im Verdacht standen gegen ihn sich in Verschwörungen eingelassen zu haben, und rief aus: »Ah! so muß man seinem Herrn dienen!« Dann ergriff er ein Glas Wein und fuhr fort: »Auf die Gesundheit meiner Lehrer in der Kriegskunst!« Rehnsköld fragte, wer diejenigen wären, die er mit einem so schönen Titel beehrte. »Das seid ihr, meine schwedischen Herren Generale!« erwiderte der Zar. – »Euer Majestät ist somit sehr undankbar,« versetzte der Graf, »daß Sie ihre Lehrer so sehr mißhandelt hat.« – Nach der Tafel ließ der Zar allen Generalen ihre Degen wiedergeben und behandelte sie, als wollte er seinen Untergebenen eine Lektion im Edelmut und in der Artigkeit geben. Aber dieser nämliche Fürst, der die schwedischen Generale so gut behandelte, ließ alle Kosaken, die in seine Hände gefallen waren, rädern.

Die schwedische Armee, die so triumphierend aus Sachsen ausgezogen war, bestand nicht mehr. Die eine Hälfte war im Elend zugrunde gegangen, die andere war niedergemetzelt oder in Knechtschaft. An einem Tage hatte Karl die Frucht neunjähriger Anstrengungen und von fast hundert Treffen verloren. Er floh in einer elenden Chaise, neben sich den gefährlich verwundeten Generalmajor Hord. Der Rest seiner Leute folgte teils zu Fuß teils zu Pferd, einige auch auf Karren. Sie zogen durch eine Wüste, wo es weder Hütten noch Zelte, weder Menschen noch Tiere, noch auch nur Wege gab; es fehlte hier an allem, sogar an Wasser. Es war zu Anfang Juli. Das Land liegt unter dem 47. Grad. Der trockene Sand der Wüste machte die Hitze des Bodens noch unerträglicher; die Pferde fielen, die Menschen starben fast vor Durst. Ein Bach mit schlammigem Wasser war die einzige Erquickung, die man gegen Abend fand. Man füllte Schläuche mit diesem Wasser, welches der kleinen Truppe des Schwedenkönigs das Leben rettete. Nach fünf Marschtagen sah er sich am Ufer des Hypanis, den die Barbaren heutzutage Bug nennen. Sogar die Namen haben sie in diesem Lande geändert, wo einst griechische Kolonien blühten. Jener Fluß ergießt sich einige Meilen von dort in den Dniepr und fällt mit ihm in das Schwarze Meer. Jenseits des Bug liegt gegen Süden die kleine Stadt Oczakow, ein Grenzort des türkischen Reichs. Die Einwohner sahen eine Truppe Kriegsleute gegen sie daher kommen, deren Kleidung und Sprache ihnen unbekannt war. Sie weigerten sich daher, dieselben ohne ausdrücklichen Befehl des Gouverneurs der Stadt, Mehemed Pascha, nach Oczakow hereinzulassen. Der König sandte einen Expressen an diesen Gouverneur und bat ihn um die Erlaubnis passieren zu dürfen. Dieser Türke wußte nicht recht, was er tun sollte, da hierzulande ein unrichtiger Schritt gleich den Hals kostet. Er wagte nichts ohne die Erlaubnis des zu Bender in Bessarabien residierenden Statthalters der Provinz. Während man auf diese Erlaubnis wartete, hatte das russische Korps, welches die Armee des Königs gefangen genommen, den Dniepr passiert und näherte sich rasch, um sich nun auch seiner selbst zu bemächtigen. Endlich ließ der Pascha von Oczakow dem König sagen, er würde ihm für seine Person und einige Leute seines Gefolges ein kleines Schiff senden. In dieser Not nahmen die Schweden mit Gewalt, was sie nicht mit gutem Willen bekommen konnten. Einige gingen in einer Fähre ans andere Ufer und bemächtigten sich einiger Kähne, die sie an ihre Flußseite zogen. Das war ihr Glück; denn die Patrone der türkischen Boote, welche jetzt fürchteten eine Gelegenheit zu verlieren, wo sie viel gewinnen könnten, kamen jetzt in Menge und boten ihre Dienste an. Eben kam auch die günstige Antwort des Statthalters von Bender an; allein auch die Russen erschienen und der König hatte noch den Schmerz, zusehen zu müssen, wie fünfhundert Mann seines Gefolges von seinen Feinden gefangen wurden, die ihm Schmähreden und Prahlereien nachschickten. Der Pascha von Oczakow ließ ihn durch einen Dolmetscher um Verzeihung für sein Säumen, das an der Gefangennehmung der fünfhundert Mann schuld war, bitten und bat dringend, daß er sich beim Großherrn nicht über ihn beklagen möge. Karl versprach es ihm, machte ihn aber dabei herunter, wie wenn er einen seiner Untertanen vor sich hätte.

Der Kommandant von Bender, welcher zugleich Seraskier, was so viel als General bedeutet, und Pascha der Provinz war, was einem Gouverneur und oberstem Verwaltungsbeamten gleichkommt, beeilte sich, einen Aga zur Begrüßung des Königs zu schicken und ihm ein prächtiges Zelt, Lebensmittel, Wagen, sonstige Bequemlichkeiten, Offiziere, kurz eine Umgebung anzubieten, die ihn in den Stand setzte, mit Glanz bis Bender zu gelangen; denn es ist Brauch bei den Türken, nicht nur die Gesandten bis zu ihrem Aufenthaltsorte freizuhalten, sondern auch Fürsten, die sich zu ihnen geflüchtet, für die ganze Zeit ihres dortigen Aufenthalts mit allem reichlich zu versehen.



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