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Nachbemerkung

Diese Schrift ist im Krieg entstanden Zuerst veröffentlicht in der Berliner Zeitschrift »Die Weltbühne« (damals »Die Schaubühne«), Herausgeber Siegfried Jacobsohn.. In der Einzelhaft einer ostgalizischen Holzbaracke, während der unfreiwilligsten Mußestunden, war es absurd genug, etwa Wiener Literatur zu treiben. Man war dort dem Mittelalter und jeglichem Urzustande näher als Wien, der Urbs von gestern, in die man, ohne Zweifel, nie mehr zurückfinden würde. Schien es doch ungewiß, ob man in das Leben überhaupt zurückkönne; in das alte Leben und als der alte Adam heimzukommen, war längst keine Hoffnung und eigentlich auch kein Wunsch mehr. Zweieinhalb Jahre dieses Krieges genügten, um einem Großstädter die Selbstverständlichkeit seiner Voraussetzungen abzugewöhnen. War es eine Art von Heimweh, die mich zwang, plötzlich die literarischen Antizedentien zu halluzinieren: dann ein negatives! Einen Lehrer der Jugend etwa zu Gaste zu laden, um ihm gerührt zu danken – solche, an sich immer gebotene Übung des Gemüts wäre gerade damals zur Unzeit gekommen; denn nichts erkannte man dringender, als wie wenig man gelernt hatte, was in dieser Not weiterhelfen konnte – und die Jugend wetterleuchtete herauf als ein Vorwurf, eine unsagbar bedauerliche Versäumnis und keine Idylle. Nein, in dieser überpersönlichen Not, die sich bis zur persönlichen physischen Unerträglichkeit eines allgemeinen Zustandes verdichtet hatte, kam dieser Lehrer selbst, ungerufen, und forderte – nicht Dank, sondern Rettung; als ein dringender, rücksichtslos mahnender, zorniger Gläubiger unserer innersten Rettung ist damals Karl Kraus an die Fronten gekommen. Dieser Forderung habe ich auf meine Weise hemmungslos nachgegeben. Nicht um Literatur zu machen, habe ich über den Anti-Literaten Wiens geschrieben, sondern um mich an ihm zu retten. Es schien ein Ariadne-Faden erhascht, der aus dem Labyrinth der Epoche führte – diesen Zusammenhang aufzuspulen, war ich fieberhaft, eben mit der Angst des in ein Chaos Verlorenen, bedacht; nicht aber auf den schulgerechten Bau einer Studie. Nicht um Kritik ging es mir, nicht um gerecht verteiltes Maß: sondern um die Maßlosigkeit der Verzweiflung, und um die kaum meßbare Hoffnung. Das Herz hatte es eilig, und keine Kühnheit der Perspektive erschreckte den Verstand: kam doch jede Einsicht zu spät, jede Aussicht aber zu früh und dennoch nicht bald genug; und war doch alles Perspektive und Perspektive von Perspektive geworden! Ich wollte tun, als zeigte ich einen einzelnen Menschen, und mußte durch ihn eine Epoche sehen lernen; mit jedem Worte wurde mir das Eine dringender als das Andere. Ich gestehe, daß das eigensüchtigste Interesse mich antrieb; nicht ein Literarhistoriker war ich, der die Fragen seines Autors an sich selber ordnet, sondern ich war vollauf damit beschäftigt, meine eigenen Fragen an dem Autor, dem ich nach-dachte, so lebendig es nur ging, in Ordnung zu bringen. So schichtete ich alle Fragen, seine und meine, während sie noch brannten, aufeinander – als baute ich einen Scheiterhaufen und keine Apologie. Mochte nichts übrig bleiben als nur gesühnte Asche!


Daß diese innerste Hilfe hier und so möglich war, daß sie mir für mich gelang, berechtigt mich heute, die Schrift noch einmal darzubieten, ihr den Buchcharakter und damit einen Anspruch auf Dauer zu geben. Sie zu schreiben, war mehr fließendes Erlebnis als endgültige Deutung; sie zu lesen, ohne daß man ihrer um des Lebens willen bedürfte, wird nicht möglich sein; ihre innere Logik ist nur dem verständlich, der aus der gleichen Verwirrung sich zu entwirren bestrebt sein muß. Es ist die individuelle Logik einer bestimmten seelischen und geistigen Konstellation. Hier waltet ein Expressionismus der Not. So vermag ich heute, dem schmerzhaften System von Sensibilitätspunkten um eine entscheidende Drehung entrückt, von anderem seelischen Standort her, kaum einige Sätze zu ändern, und eher wegzulassen als hinzuzufügen. Es muß also auf eine literarhistorische Vollständigkeit, die alle Windungen seiner geistigen Spirale, die Karl Kraus seither zurückgelegt hat, nachträglich miteinbezieht, endgültig verzichtet werden. Ich bleibe bei dem Wunsche stehen, daß jener grauenvolle Nachruf, der mit dem Kriege Österreich begraben hat, das Vorwort einer besseren Zukunft werden möge. Aber das Weltgericht hat seine blutigen Tagungen noch nicht beschlossen. Daß das Kriegsbuch Karl Kraus sich so nennt, »Weltgericht«, bedeutet ja nicht den zeitgemäßen, läppisch beiläufigen Mißbrauch ungeheurer Phrasen; solcher Mißbrauch hat ein Ende, wo die ungeheuerliche Phraseologie dieses Autors beginnt. Es drückt das Furchtbare aus, als dessen Missionär dieser Mensch sich in Wien weiterleben und weiterwirken fühlt. So bleibt er »eingestellt« dort, wo im Brennpunkt all unserer Triumphe und Niederlagen sein Ungeheuer von einem Drama steht: »Die letzten Tage der Menschheit«. Das gewollt furchtbarste Buch dieser Zeit! Auch ein Kriegsdrama, und eines von abenteuerlichen Maßen, läßt es noch einmal handeln, was verbrochen und erlitten zu haben die Menschheit noch immer nicht fassen will. Wer es nicht faßt, sei hier gepackt! Noch stecken wir mitten drin. Vielleicht war Karl Kraus niemals unmittelbarer als in diesem schauerlich »objektivierten« Werke tätiger Form, das eine Welt nur in ausgespuckten, unverdaulichen Zeitungsphrasen sprechen läßt, und das den Helden der großen Zeit, die hier allzu namentlich und porträtübergetreu auftreten, all die Klischees, in denen sie sich zu spiegeln liebten, als ihren eigensten, unvergänglichen Privatbesitz zuweist. Ein Werk von gigantischer Indiskretion dessen, was jeder schwätzt! Ein ewiger Pranger aller öffentlichen Töne, die nicht dementiert worden sind! Nie hat ein Dichter, Atmosphäre und Idee verdichtend, weniger gedichtet. Das alles war längst von Karl Kraus gewesen, er brauchte es nur aus den Zeitungen abzuschreiben, wie es täglich passierte! Seine satirische Riesenphantasie erlaubte es ihm, hier auf alle Phantasie zu verzichten – und der ins Phantastische gereckten Banalität, der ins Gigantische gewachsenen Unbeträchtlichkeit rundum beizukommen. Nur er, als der Einzige, hat jene Distanz vermocht, die allein es möglich macht, dies mitten im Bilde zu sehen und mitten im Lärm zu hören. Und so wurde es ihm Erlösung, ein so höllenhäßliches Geschöpf von sich abzunabeln: das grausigste Pamphlet, das Pamphlet eines Zeitalters,– äußerste Steigerung! – dieses Zeitalters! Wie es räuspert und wie es spuckt: ein Phonograph des leibhaftigen Satans hat es abgeguckt! Und keine diabolischeren Effekte in aller Literatur als wie es heißt und wie es sich das Maul zerreißt! Hier ist geschaffen, zu welchen Ziels Erreichung die Zeitgenossen längst um den Stein der Weisen gebetet: der sprechende Film, die Große Revue, der Über-Scherl, die Monstre-Woche unserer Leiden und Freuden – geeignet, endlich unsere Schaubühne zu sprengen und als unser Gesamt-Lebens-Werk unser Gesamt-Kunst-Werk endgültig zu überwinden. Und wo immer man sich in dieses Werk einläßt, man kommt immer in die Lage, spontan auszurufen: nein, es ist doch nicht von Karl Kraus! Es ist von uns. Er erinnert sich nur so abscheulich gut. – Mag höhere Gnade dem unerbittlichen Erinnerer die zeitlichen Muster unter den Fingern entrücken, mag der liebe Herrgott, der sie ja alle, die Potenzen und Potentaten, im Fleische geschaffen hat, ihre Seelen retten vor der furchtbaren Ungerechtigkeit, so beim Worte und beim Tone genommen zu werden: hier sind ihre alltäglich-festtäglichen Masken zurückgeblieben, und wir erkennen uns alle. Wir erkennen den Dämon, den wir hätschelten, solange er in uns verpuppt lag, und der uns – ach, zur Un-Zeit! – über Hals und Kopf gewachsen ist! Die sprachliche Schöpfung einer babylonisch verwirrten, in hunderttausend untermenschlichen Zungen hadernden und salbadernden Un-Sprache und Anti-Sprache ist die Schreckensleistung dieses Werkes, gemischt aus Erdschlamm und Sintflut: »Die letzten Tage der Menschheit.«


»Die letzten Tage der Menschheit.« Doch werden es die letzten nicht gewesen sein. Schon sind dem Anbruch neuer Tage gläubige und gegengläubige Opfer gefallen. Das Jahrhundert der grauenhaftesten Kriege, von dem selbst kranken Arzte Nietzsche diagnostiziert, ist noch nicht zu Ende. Die Menschenwalze der kämpfenden Völker ist rückwärts gerollt – es ist nicht gelungen, sie an den Grenzen heimatlicher Territorien zum Stehen zu bringen. Zunächst hat in den besiegten Ländern, den Nachrufen und Apokalypsen gemäß, die Front sich gegen das Hinterland umgekehrt. Der kapitalistische Krieg ist in den Krieg gegen den Kapitalismus umgeschlagen, der gigantische Rassenkampf, an sich unentschieden, beginnt dem entscheidenden Klassenkampf das Schlachtfeld Europa zu überlassen. Ging es bis zu dem scheinbaren Weltkriegsfrieden wohl um mehr als um eine äußerste Kraftprobe der herrschenden Mächte, die das alte System nicht länger im Gleichgewicht zu halten vermocht hatten: nämlich eben um dieses Nicht-länger-in-der-Schwebe-halten-können eines Kräftesystems; war da Machterweiterung am Ende nur die Vorspiegelung jenes Spielraums, der Sein oder Nicht-mehr-sein bedeutete; ging es also um die Möglichkeit selbst des alten Systems: so geht es hier um die Notwendigkeit eines neuen Fundaments, und deshalb um eine wahrhaft apokalyptische Tabula rasa. Von hier aus gesehen, zeigt auch der anscheinend nur reaktionäre und konservative Nationalismus seine jetzt panische und katastrophale Natur: als würden die Elemente der Völker aus allen bisherigen chemisch-weltpolitischen Verbindungen gerissen, um für den großen wirtschaftlich-sozialen Kladderadatsch frei und verfügbar zu sein. Die Krise ist damit in Permanenz erklärt. Die den Weltkrieg überlebt haben, sterben an der Weltrevolution. Gewalttat und Martyrium haben neue reiche Arbeit gefunden. Erst jetzt wird die labyrinthische Vielfachheit der äußeren und inneren Fronten verzweifelt sichtbar. Man muß dieses kämpferische Durcheinander auf Leben und Tod ins Ethische, Geistige, Künstlerische, in die sich aufhebende Gegensätzlichkeit der ineinander vermischten Kulturen, in den Bankrott der Zivilisationen, in die tausendfältige Antinomik von religio und ratio, in die Sprachenverwirrung aller Begriffe fortgesetzt sehen, um zu ermessen, was los ist und was noch überhaupt irgendwo irgendwie festgebunden und festgenagelt. »Was hoch ist, kann auch höher!« Doch kein Fund, kein Stütz und Flick mehr dient ... es wankt der Bau ... »Was tun, eh wir im eignen Schutt ersticken ...« – Einer neuen Epoche an diesem Ende einer Wende, wo das Perspektivische aller Welt sich in jedem realen Atemzug rettungslos bricht, muß ein Schriftsteller wie Karl Kraus, der die alte Epoche satirisch unter sich begraben hat, als ein Vorläufer gelten; mag er auch nur seine eigene geistige Revolution verantworten. Um das Integral einer Kapillarwirkung (und das ist die seinige) hier in die grandiose Rechnung einzusetzen: seine über die letzten so problematischen Dezennien hinweggeführte tagtägliche Polemik gegen jede einzelne Zeile der Tagespresse, welche Arbeit eines Herkules der Kleinlichkeit oberflächliche Beurteiler als einen nur literarisch-belletristischen Guerillakrieg abtun wollen, werden kommende Generationen, an Blick und Atem freier, vielleicht als einen großartigen und fundamentalen Freiheitskampf begreifen, der in unvergleichlicher Weise vorwegnehmend so zuinnerst auf das Wesen all unserer Not ging, daß wirtschaftliche und Klassenkampf-Lösungen verzweifelte Mühe haben werden, da nachzukommen. Auch die zu bürgerlichem Unrecht erstürmten Redaktionen wurden bisher nur mit Tageszeitungen besetzt. Dieses eine Grundbeispiel mag erhärten, wie hier der geistige und nur perspektivische Vernichter an der physischen Gefahrgrenze seiner eigenen Gedanken tragisch angelangt ist; und wie er davor zurückschrecken muß, mit dem nächsten Schritt rettungslos in das Unrein-Stoffliche, ephemär Sachfällige, in Blut und Schuld abzustürzen. Der anti-systematische Mensch an sich, der nur auf den Widerspruch seiner Seele reagiert und nur blind ein Prophet scheint, sehenden Auges aber nur ein Künstler ist: er hat dem sich und uns alle überstürzenden Wust der Erscheinungen gegenüber kein anderes Kriterium als nur sein nacktes und empfindliches Gefühl. Und dieses Gefühl, mag es sich noch so erstaunlich frisch und unmittelbar bewahrt haben, ist ein Erbe von Gefühlskulturen. Die Enterbten und die sich selbst Enterbenden, die mit Gewalt neu anfangen, die den Anbruch neuer Tage Anbrechenden setzen ihm einen Glauben entgegen – und, hohen Falls, das Opfer. Aber durch diesen Gegensatz sieht er sich nur wieder in den Krieg der Welt zurückversetzt, der ja auch mit dem falschen Glauben das gerechteste Opfer hemmungslos verpraßt und verschleudert hat. Er sieht die Schuld nur neue Schuld gebären; er sieht den circulus vitiosus sich erstrecken, als sollte er, über uns alle hinaus, wirklich die allerletzten Tage der Menschheit in sich beschließen. Der Gesichtswinkel der Betrachtung scheint in diesem kritischen Moment wieder einmal sich gegen jeden zu kehren, der nur betrachtet. Der Berufene von morgen soll mehr gelten als jeder Auserwählte von gestern. Rückwärts gewendet, hatte der Prophet vorwärts gesehen – wenn er sich jetzt plötzlich umdreht, kann ihm widerfahren, daß er zurückspricht – daß man ihn nicht mehr hören will. Über die Entscheidung eines einzelnen Gewissens hinweg reifen wild wuchernd die noch ungewissen Früchte, an denen ihr sie erkennen werdet, wenn wir nicht mehr sind. Der Einzelne hält sich aber zuletzt doch nur an das Einzelne in Zeit und Raum – so auch Karl Kraus, jedes neue Detail an seiner Apokalypse prüfend, ob es wohl hineingehöre; an der Grenzscheide der Epochen und Generationen ein Prüfer, der sein verzweifeltes Amt umso besser verwaltet, je unerbittlicher er prüft. Timon oder Apemantus: die Alkibiadesse von morgen mögen ihn und seine ungastliche Höhle links liegen lassen, ohne sich an sein Schelten zu kehren. Athen ist hin! Mag sich die Zukunft an ihm oder gegen ihn bewähren!


In dem Kulminationspunkte seiner Persönlichkeit wurde Karl Kraus – für die höchste Kulmination meiner Wertung – der zeitlose Erzjude gegen die Rotte Korah seiner Zeit. Er wurde es in der Annäherung seiner großen Augenblicke, wie eben ein Mensch in Fleisch und Blut einer platonischen Idee sich nur anzunähern vermag. Im Orgasmus des apokalyptischen Zornes, unter der schöpferischen Forderung des Furchtbaren, das ihm Mission war, läuterte sich der zeitgeborene, gegen die Zeit erkorene kleine Wiener Mensch zum Erzjuden empor. Während mir die Rotte Korah, wie er sie sah, nicht weniger furchtbar auf alle Völker des Abendlandes verteilt erschien. Solche Anschauung des Judentums, so unmittelbar und selbstverständlich sie mir damals war, ist allgemein so ungewohnt, daß sie nochmals mit Entschiedenheit betont werden soll. Wie alle Anschauung kann sie nicht erklärt und nur geschaut werden. Es ist zunächst eine von Karl Kraus selbst nicht gesehene Anschauung. Jene Bruchstücke seiner Reflexion, die ich zum Thema zitiert habe, sind bereits die alleräußersten Annäherungen seines Gedankenganges an das Selbstbewußtsein einer sich als jüdisch begreifenden Mission. Karl Kraus kennt und anerkennt nur die individuelle Lösung und soziale Vorbereitungen der einen einzigen Lösung, die für ihn möglich ist. Er ist, seines jüdischen Ursprungs bewußt, antijüdisch gerichtet; er ist, das deutsche Kulturgut wahrend, antideutsch gesinnt; er ist, in der österreichischen Landschaft mit der Seele wurzelnd, der repräsentative Anti-Austriacus – alles das, um Mensch zu sein und indem er Mensch ist. Diese historischen Gegensätze aber sind die eigentliche Nahrung seiner Reflexion, die zwischen ihnen allen über sie alle hinweg in unendlicher Spirale von der Natur zum Geiste, und zurück, sich freischwebend bewirkt. »... der Geist steht zwar über dem Menschen, doch über dem, was der Geist geschaffen hat, steht der Mensch ...« Und wie perspektivisch erscheint ihm erst die Distanz des Schaffenden, der »die Menschheit« als Inbegriff dessen, wohin alle Volkheit emporsteigt, in seiner Individualität gerettet weiß – aber nur, wenn er sich von allem Vorzeichenhaften der Individuation gereinigt hat. Den Weg vom intelligiblen zu jeder Art von empirischem Ich zurück, den zwar jeder Augenblick unweigerlich wandelt, ihn gerade möchte der Kategoriker von Beruf endgültig abgeschnitten wissen, und wäre es auch nur durch die absolute Einsinnigkeit seiner Richtung.

Wenn ich zum Beispiel feststelle, daß bei Karl Kraus eine bis ans Mark durchfressende Ratio, ein bis zur Raserei mit Schaum vor dem Mund empörter Logos gegen die Kriegsideologien der Vaterländer und Volkstümer wütet, so habe ich, diese Begriffe der Lateiner und Hellenen anwendend, die europäische Antike und damit sozusagen die »fremden« Wurzeln in dem Sein oder Tun des Juden wiedergefunden. Aber auch wenn ich für einen Augenblick das Besondere solcher Erscheinung, die Rabies dahinter, den Blutdruck in jedem Worte, das Herzklopfen in jeder Zeile wegdenke: muß ich doch behaupten, daß die ganze Argumentation noch mit ihren antijüdischsten Begründungen nur einem Juden gegeben sein kann. Die Art, wie hier der Geist über die Natürlichkeiten richtet, ja noch die besondere Art, wie er die Natürlichkeiten jenseits aller Kriegsideologie gegen sie verteidigt, kennzeichnet die posthistorische Existenz des Judentums, wie sie sich aus einer unvergleichlichen historischen Entwicklung gefolgert hat. Nur das, was man etwa beim Ostjuden die »Lustwurzeln« nennt, an denen das merkwürdigste Volkstum hängt, ermöglicht die ganze runde Entschiedenheit der Einstellung, das Absolute ihrer Unabhängigkeit vom umgebenden Erdreich – ja, ich gehe so weit, zu behaupten, daß eine andere Rhythmik, eine andere Periodizität diese jüdischen Reaktionen regelt und hervorruft. Aber diese Gefühlsart ist mir nicht mit den Schlagworten völkisch-antisemitischer Abwehr abgetan: wonach rassefremd und sachfremd, vaterlandslos und gefährlich und falsch und schädlich zu einer Tautologie wird; wonach in allen jüdischen Lebensäußerungen nur der Sklavenaufstand eines niedrig gepflanzten Untermenschentums, eine Kreuzung von illegitimster Machtbegier und proteusartiger Rachebegier, kurzum: mit zwei Begriffen Nietzsches, das Ressentiment des letzten Menschen zu erkennen und zu verabscheuen wäre. Nein, sondern: wo diese Eigenart, die einzige in Europa, die »den Geist« über alles stellt, mit den Begrifflichkeiten und den Sachlichkeiten Europas schöpferisch verschmilzt, durch das intensivste Erleben und Erleiden: da tritt die unweigerlich legitime Welt-Wirkung des Judentums zutage; legitim auch in allen Formen der Revolution. Um zu solchem Urteil zu gelangen, muß man allerdings das, was ich in all ihren Formen, auch denen des Abfalls der ewigen Rotte Korah, die jüdische Existenz in Europa nenne, bis auf ihre geistigen Kulminationspunkte hinauf erfühlt haben. Wer hier von einer »Mission« redet, muß sich klar darüber sein, daß er damit einen Durchbruch religiös-prophetischen Wesens meint und behauptet; und zwar mitten im dunkelsten Interregnum aller Göttlichkeiten. Die Zeichen und Wunder, die solche Deutung heischen, sind wohl sehr menschlicher Natur; und man muß selbst zuinnerst bereit sein, um von ihnen überfallen zu werden. So preise ich etwa den Schuß jenes Wiener Fanatikers Friedrich Adler, der den Grafen Stürgkh niederstreckte, keineswegs als menschlich oder politisch vorbildliche Tat; als ein Verbrechen ist sie gesühnt, und als ein Politikum kann ich sie nicht beurteilen: aber die Rede im Gerichtssaal war ein legitimer Ausbruch religiöser Reinheit. Diese Rede war für jeden Fühlenden Sendung und Beispiel; und sie ließ nachträglich die Untat als die dunkel drangvolle Zwangshandlung einer ins Politische verirrten religiösen Natur, den Mord als Vorwand für die Selbstaufopferung erscheinen. Nichts symptomatischer als gerade diese aus Verfall und heroischer Erhöhung gemischten Akte; einer durch das Dunkel eigenen Anti-Bewußtseins wetterleuchtenden Mission, die sogar der fragwürdigsten rationalistischen Entschuldigungen vor sich selbst bedarf. Solcher Betrachtungsweise boten die Briefe der Märtyrerin Rosa Luxemburg – als der seelenzarteste Hintergrund eines härtesten Marxismus – weniger Überraschung, als sie dem öffentlichen Deutschland geboten haben mögen, das eine Unholdin hexenhafter Art losgeworden zu sein glaubte. Und so steht mir auch der Anteil eines Gustav Landauer an der messianischen Gläubigkeit durch seine ungläubigen Bücher weit urkundlicher fest als der an der Münchner Räterepublik. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich mit meinen drei Beispielen drei Schreckgespenster beschworen habe; daß sich bei der Nennung dieser drei Namen sofort die kaum erst in gesittete Dämme zurückgewichene Flut des Abscheus und der Wut wieder regt. Aber gerade am Fragwürdigsten zeigt sich hier das der Frage Würdigste. Mögen die Wahl-Vaterländer die Köpfe solcher Revolutionäre auch weiterhin und mit klarerem juristischem Rechte fordern und erlangen; mögen sie die Gedanken in den abgeschlagenen Köpfen gerade dadurch legitimieren; mag die europäische Eigenart sich so befremdenden Blutes teils bedienen, teils erwehren: es kann die Zeit kommen, da ein Welt-Bewußtsein solchen in die Praxis geratenen Hinter-Weltlern noch mehr schulden wird als Ehrfurcht vor der Opferbereitschaft; nämlich den historischen Dank dafür, daß Revolutionäre so fremder Art den nacktesten Klassenkämpfen noch über den Sozialismus hinaus einen geistigen Halt, einen seelischen Sinn gegeben haben, eine Reinheit, die den Unflat der Zeit zur Menschenwürdigkeit verklären wird – einst, wenn wir alle in die Planwirtschaft des Erdbodens eingegangen sind! Ich erwähne diese aktuellen politischen – und gerade deshalb so mißverständlichen – Beispiele nicht etwa, weil ich den Sozialismus mit einem urjüdischen Urchristentum verwechsle; nein, sondern obwohl ich den Sozialismus für die historisch werdende Form einer neuen Anständigkeit und Selbstverständlichkeit, für das schicksalhaft Unausbleibliche halte: nehme ich hier für einen innersten Glauben gerade heute jene zwiespältigen Fälle in Anspruch, an denen ich mit schmerzlichster Erschütterung erlebt habe, was die Zeit noch alles an ästethischen, an ethischen und religiösen Beständen verschlingen wird und muß, ehe sie ihre bescheidene Norm gewonnen haben wird! Das unzweifelhafte, reine Symbol der Menschlichkeit, das hier hinter der Vergänglichkeit aller menschlichen Politik für einen bangen, großen Augenblick sichtbar wurde, bedeutet allerdings auch die Legitimität des Handelnden und seines Handelns in eben der Welt, in deren Not er sich unausweichlich gestellt findet; bedeutet, daß die Krise einer bestimmten Art, die Fehlergrenze einer Entwicklung an ihrem reinsten Gegensatz anlangt und sich daran bewähren und sogar retten muß; bedeutet aber für mich noch diese besondere jüdisch-überjüdische Perspektive. Je reiner nämlich, je ungetrübter durch zeitgemäße Theoreme in einzelnen jüdischen Persönlichkeiten ein gemeinsamer seelischer Wuchs, ein gemeinsamer geistiger Habitus sich ausprägt, umso deutlicher läßt sich – zwar nicht erklären, aber – erschauen, wie weit und hoch hinauf die große Gestalt zurückzuführen ist, welcher die Einzelnen nachtrachten, der lang hin wogende Rhythmus, dem sie alle, wissend und unbewußt und sogar gegenbewußt, gehorchen. Wenn ich den Stifter des Christentums – als die täglich mißbrauchte, eitel genannte und ruhmreich geschändete Gottexistenz des Abendlandes – mit ehrfürchtiger Scheu umgehe, muß ich doch bei den Apokalypsen Halt machen, die sein Auftreten umgrollt haben – und gelange dann zu jenem messianischen Prophetismus, der zur Verklärung seiner Reinheit den Fall Jerusalems heischte – zuletzt zu dem Berge Sinai und seinen Offenbarungsdonnern des sich befehlenden Geistes. Es sind die Donner und Posaunen, die – furchtbares Fernbeben! – bis in die Untergänge des Abendlandes hinein weitergrollen. Es ist die religiös schöpferische Katastrophe eines Bundes der stets wankenden Welt mit dem ewigen Geiste, der da ein Volk aus Gott weiß welchen alten Wüsten- und Nomaden-Stämmen zusammengeschweißt und bis in den Ururenkel hinein geprägt, es auserwählt und verworfen, es zerrissen und über die Zukünfte hin zerstreut und gestäubt hat – Samenkörner einer Geistessaat, die tausendfach als Unkraut des eigenen Unglaubens (auch als Nutz- und Gartenpflanze) aufgeht, und zuletzt doch immer wieder den heiligenden Geist ansetzt.


Es wäre absurd, einen Satiriker der Zeit bei lebendigem Leibe auf gut jüdisch heiligzusprechen. Ich weiß, daß Karl Kraus kein Heiliger ist. Schon für die Erzväter galt es, daß der Geist, der sie band, allzumenschliche Menschen des großen Mittleramtes gewürdigt hat. Aber ihre Fülle von Torheit und Sünde ertrotzte ein heroisches Maß. Der späte Epigone nun ist – weitab von patriarchalischen Bezirken – eine moderne problematische Individualität, seltsam gemischt aus Verfall und Bestand, in seinen publizistischen Vordergründen dicht verschanzt mit Intelligenz und ihren allzu heutigen Argumenten, der aphoristische Anti-Journalist – und doch an dem furchtbaren Aspekt, den die gewaltige Krisis bot, aus einer Urwurzel hervor, dem Urbilde zu, emporwachsend. Er ist im Raffinement seiner europäischen Künste an messianischer Gewißheit unsagbar ärmer als jene ärmsten Jargonjuden, die im – wie man zu sagen pflegt – dunkelsten Osten das allerseelenhafteste Judentum, den Chassidismus, wahrzuträumen vermochten. Aber je ferner ihm die Antwort bleiben muß, umso unerbittlicher und dringender die Not seiner Frage! Je komplizierter seine Situation, umso schwerer die Bewährung eines geistigen Charakters, umso merkwürdiger eine tägliche Erprobung, die ihm die Würde eines Unbedingten unter bis zur Lächerlichkeit verwickelten Bedingungen verleiht. Je verlockender für ihn die Sünde des Nur-Künstlers, umso bitterer seine vergebliche Vereinzelung – und sie ist es gewesen, die ihn unaufhaltsam in sein Erzjudentum getrieben hat –: in die heutige Wucht eines uralten jüngsten Gerichtes, das zu einem unausweichlichen Erlebnis zu gestalten – und sei es für einen noch so engen Kreis von zugehörigen Seelen – ihm furchtbar gegeben war. Als eine geistige Rettung derer, die mit ihm daran verzweifeln; und wenn es nur eine Rettung in ein Abseits wäre! Und als eine Hoffnung der armen Zeit. »Denn«, so tröstet der herrliche Deutsche Jean Paul, »jede hohe Klage und Träne über irgend eine Zeit sagt, wie eine Quelle auf einem Berge, einen höheren Berg oder Gipfel an.«


Lies besser:

Seite 17, Zeile 1 und 2 von oben: (denn die Presse ist Eintagsfliegenflug vor der Ewigkeit);

Seite 34, Zeile 8 und 10 von oben: der moderne Mensch, statt: der neue Mensch;

Seite 50, Zeile 12 von unten: einer Selbstbetrachtung, statt: seiner Selbstbetrachtung;

Seite 57, Zeile 1 von unten: die gefährlichste Weltgeläufigkeit, statt: das heutige jüdische Unwesen;

Seite 67, Zeile 2 von oben: den äusserlichen Erfolg, statt: dessen heutigen Erfolg.

Korrekturen eingepflegt. Re für Gutenberg


Gedruckt bei Jakob Hegner in Hellerau bei Dresden

 


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