Jules Verne
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Jules Verne

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Viertes Capitel.

Die Grube Dochart.

Harry Ford war ein großer, kräftig und wohlgewachsener junger Mann von fünfundzwanzig Jahren. Schon in frühester Jugend zeichnete er sich durch sein ernstes Gesicht und seine nachdenkliche Haltung vor seinen Kameraden in der Grube aus. Regelmäßige Züge, große, sanfte Augen, ein volles, mehr bräunliches als blondes Haar und liebenswürdiges Wesen, Alles vereinigte sich, ihn zum vollendetsten Typus des Lowlanders, d.h. des besten Schlages der Niederlandschotten zu stempeln. Durch die harte Arbeit im Kohlenwerke von sehr jungen Jahren an gestählt, war er nicht nur ein treuer Genosse, sondern auch eine reine, unverdorbene Natur. Theils geleitet von seinem Vater, theils getrieben von eigenem Drang hatte er immer fleißig gearbeitet und sich Kenntnisse zu sammeln gewußt, so daß er in dem Alter, wo man sonst meist selbst noch Lehrling ist, einen solchen schon unterrichtete und anlernte, was von um so größerer Bedeutung ist in einem Lande, wo es in Folge seines hochausgebildeten Schulwesens nur wenig Unwissende giebt. Kam die ersten Jahre auch die Spitzhaue nicht aus Harry Ford's Händen, so wußte der junge Bergmann doch sich die nöthige Fortbildung zu verschaffen, die ihm den Eintritt in die Hierarchie der Kohlengrube ermöglichte, und er wäre unzweifelhaft zum Nachfolger seines Vaters als Obersteiger an der Grube Dochart aufgerückt, wenn dieselbe nicht hätte aufgegeben werden müssen.

James Starr war ein guter Fußgänger und doch vermochte er seinem Führer nur dadurch zu folgen, daß Jener seine Schritte mäßigte.

Der Regen fiel jetzt weniger heftig. Die großen Tropfen zerstäubten sich, bevor sie die Erde erreichten. Es waren eigentlich nur noch schwere Dunstmassen, welche von einer frischen Brise getrieben über den Erdboden dahinjagten.

Harry Ford und James Starr – der junge Mann trug das leichte Gepäck des Ingenieurs – folgten etwa eine Meile weit dem linken Ufer des Flusses mit allen seinen vielen Windungen und Bogen und schlugen dann einen Weg über Land ein, der sie unter großen, noch vom Regen tropfenden Bäumen dahinführte. Zu beiden Seiten desselben lagen um abgeschlossene Meiereien üppige Wiesen und Weiden. Vereinzelte Heerden labten sich an dem immergrünen Grase der niederen Landschaften Schottlands. Sie bestanden meist aus Kühen ohne Hörner oder kleinen Schafen mit seidenweicher Wolle, welche fast den Schäfchen aus den Spielsachen der Kinder gleichen. Einen Schäfer sah man dabei nicht, er mochte irgendwo Schutz vor dem Wetter gesucht haben, wohl aber trabte der »Colly«, ein diesen Gegenden des Vereinigten Königreiches eigenthümlicher und durch seine Wachsamkeit berühmter Hund fleißig um seine Pflegebefohlenen herum.

Der Yarow-Schacht lag ungefähr vier Meilen von Callander. In James Starr regten sich, während er rüstig weiter schritt, gar seltsame Gefühle. Seit dem Tage, da die letzten Tonnen Steinkohlen aus den Werken von Aberfoyle in die Waggons der Eisenbahn nach Glasgow verladen wurden, hatte er das Land nicht wieder gesehen. Jetzt war das ländliche Gewerbe an die Stelle der geräuschvolleren, schneller beweglichen Industrie getreten. Der Contrast erschien um so auffallender im Winter, wo die Feldarbeiten so gut wie ganz ruhten. Früher belebte die bergmännische Bevölkerung diese Gegend zu jeder Jahreszeit über und unter der Erde. Tag und Nacht rasselten die schweren Kohlenwagen vorüber. Die jetzt unter ihren verfaulten Schwellen begrabenen Schienen knarrten unter der Last dieser Waggons. Jetzt traf man nur auf steinige oder erdige Straßen, wo sich früher die Tramways von den Gruben aus hinzogen. James Starr glaubte durch eine Wüste zu wandern.

Der Ingenieur sah sich mit betrübten Augen um. Er blieb stehen, um Athem zu schöpfen. Er lauschte. Jetzt zitterte die Luft nicht mehr von dem fernen Pfeifen und keuchenden Athem der Dampfmaschinen. Am Horizonte mischte sich nirgends der von dem Industriellen so gern gesehene schwarze Dampf mit den dicken Wolken des Himmels. Kein hoher cylindrischer oder prismatischer Schornstein sandte seine Rauchsäulen empor neben einem Werke, aus dem er selbst seine Nahrung schöpfte, kein Abblaserohr hauchte hörbar den ausgenützten Dampf in die Lüfte. Der früher von dem Kohlenstaube beschmutzte Erdboden hatte jetzt ein reinlicheres Ansehen, an das sich James Starr's Augen gar nicht gewöhnen konnten.

Als der Ingenieur stehen blieb, hielt auch Harry Ford seinen Schritt an. Der junge Bergmann wartete, ohne ein Wort zu sprechen. Er fühlte recht wohl, was jetzt im Innern des Ingenieurs vorgehen mochte, und theilte diese schmerzlichen Gefühle – er, ein Kind der Kohlengrube, dessen ganze Jugend in der Tiefe der Erde verflossen war.

»Ja, Harry,« begann James Starr, »hier hat sich Alles recht verändert. Und doch, es mußte ja so kommen, da diese Kohlenschätze einmal zu End, gingen. Du denkst mit Schmerzen an diese Zeit!«

»O ja, gewiß Herr Starr,« erwiderte Harry Ford. »Die Arbeit war hart, aber interessant wie der Kampf.«

»Richtig, mein Sohn! es war der Kampf in jedem Augenblick, der Kampf mit der Gefahr des Einsturzes, der Feuersbrunst, der Überschwemmung, der schlagenden Wetter, welche ihre Opfer treffen wie der Blitz! Hier galt es eine muthige Stirn zu haben! O, Du hast recht, das war ein Kampf, ein ewig aufregendes Leben!«

»Die Bergleute von Alloa haben ein besseres Loos gezogen als die von Aberfoyle, Herr Starr.«

»Ja wohl, Harry,« antwortete der Ingenieur

»O, es ist wirklich zu bedauern,« fuhr der junge Mann lebhaft fort, daß nicht der ganze Erdball über und über aus Steinkohle besteht! Das wäre doch ein Vorrath für einige Millionen Jahre!«

»Gewiß, Harry, man muß aber doch zugeben, daß die Natur sehr weise gehandelt, unseren Planeten vorzüglich aus Sandstein, Kalk und Granit, d.h. aus unverbrennlichen Stoffen zu bilden.«

»Sie wollen damit doch nicht sagen, Herr Starr, daß die Menschen zuletzt den ganzen Erdball verbrannt hätten?« . . .

»Gewiß, mein Sohn,« antwortete der Ingenieur. »Die Erde wäre bis zum letzten Stück in die Dampfkessel der Locomotiven, Locomobilen, Dampfschiffe und Gasanstalten gewandert und dabei wäre unsere Welt dereinst zu Grunde gegangen.«

»Das ist nicht mehr zu fürchten, Herr Starr, dennoch werden wenigstens die Steinkohlen, und vielleicht schneller als die Statistiker jetzt ausrechnen, zu Ende gehen.«

»Ohne Zweifel, Harry, und meiner Ansicht nach thut England sehr unrecht daran, sein Brennmaterial gegen das Gold anderer Nationen einzutauschen.

»Wahrhaftig,« bestätigte Harry.

»Ich weiß sehr wohl,« fuhr der Ingenieur fort, »daß die Hydraulik und die Elektricität ihr letztes Wort noch nicht gesprochen haben, und daß man diese beiden Kräfte einst noch vortheilhaft ausnutzen wird. Doch wie dem auch sei, die Steinkohle gestattet eine so bequeme Anwendung und deckt so verschiedene Bedürfnisse der Industrie. Leider vermögen die Menschen sie nicht nach Belieben wieder zu erzeugen. Wenn die Wälder der Erdoberfläche sich mit Hilfe der Wärme und des Wassers immer wieder ersetzen, so ist das doch mit den Wälderlagern des Erdinnern nicht der Fall, und unser Planet wird voraussichtlich niemals wieder die Bedingungen bieten, welche zu ihrer Bildung unerläßlich sind.«

Immer weiter plaudernd, schritten James Starr und sein Begleiter wieder rüstig vorwärts. Eine Stunde, nachdem sie Callander verlassen, langten sie an der Grube Dochart an.

Selbst ein ganz Unbetheiligter würde von dem traurigen Anblicke des verlassenen Etablissements unangenehm berührt worden sein. Es erschien nur noch als das Skelett dessen, was es bei Lebzeiten gewesen war.

Innerhalb eines weiten, von einigen mageren Bäumen eingefaßten Vierecks bedeckte noch immer der Staub des mineralischen Brennstoffes den Boden, aber nirgends lagen Schlacken oder Kohlenstückchen mehr umher. Alles war weggeschafft und vor langer Zeit verbraucht.

Auf einem mäßigen Hügel erhob sich noch ein umfängliches mehrstöckiges Gerüst, an dem die Sonne und der Regen nagten. Über demselben sah man ein großes eisernes Rad, und darunter die großen Trommeln, um welche ehemals die Taue liefen, welche die Kohlenkasten zu Tage förderten.

In der unteren Etage desselben befanden sich jetzt verfallene Räume für die Maschinen, deren Stahl- und Kupfertheile früher so hell und lustig glänzten. Einige Mauerreste lagen da und dort auf der Erde inmitten zerbrochener und nach und nach mit Moos bewachsener Balken. Reste der Balanciers, an welchen die Stangen der Saugpumpen befestigt waren, geborstene und mit Schmutz erfüllte Stopfbüchsen, Getriebe ohne Zähne, umgestürzte Schaukelapparate, vereinzelte Sprossen an den Strebebalken, hervorstehend wie die Dornenfortsätze an den Rückenwirbeln eines Ichthyosaurus, Schienen über einen halb zusammengebrochenen Viaduct, den nur noch zwei oder drei baufällige Pfeiler stützten, Pferdebahngeleise, welche kaum noch das Gewicht eines leeren Wagens ausgehalten hätten – diesen traurigen Anblick bot heute die Grube Dochart.

Der gemauerte Rand der Schachtöffnung, dessen Steine sich verschoben hatten, verschwand unter wucherndem Unkraut. Hier erkannte man wohl noch die Spuren eines Förderkastens, dort eine Stelle, an der einst die Kohle abgelagert wurde, um nach Qualität und Größe sortirt zu werden. Daneben lagen Trümmer von Tonnen mit noch einem Stück Kette daran, Bruchstücke riesiger Balken, Blechtafeln eines geborstenen Kessels, verbogene Pumpenstangen, lange Balanciers über der Öffnung der Luftschächte, beim Wind erzitternde Fußstege, schmale, unter den Füßen schwankende Brückchen, geborstene Mauern, halb eingedrückte Blechbedachungen, welche früher über den Backsteinkaminen angebracht waren, die durch ihre Verstärkung am Bodenende modernen Kanonen gleichen, deren Schwanzstück mit Stahlringen umgeben ist. Das Ganze machte den Eindruck der Verlassenheit, des Elends, der Trauer, der weder den Steinruinen eines Schlosses oder den Resten einer entwaffneten Festung in diesem Maße eigen ist.

»Eine entsetzliche Verwüstung!« sagte James Starr mit einem Blick auf den jungen Mann, der keine Antwort gab.

Beide begaben sich unter das Schuppendach über der Mündung des Yarow-Schachtes, dessen Leitern noch bis nach den untersten Stollen der Grube herabreichten.

Der Ingenieur neigte sich über die Mündung.

Hier hörte man früher das pfeifende Geräusch der von den mächtigen Ventilatoren angesaugten Luft; jetzt gähnte hier ein schweigender Abgrund.

James Starr und Harry Ford betraten den ersten Leiterabsatz.

Zur Zeit, als hier noch gearbeitet ward, dienten verschiedene sinnreich construirte Maschinen beim Betriebe mehrerer Gruben von Aberfoyle, die in dieser Beziehung auf's Beste ausgerüstet waren; z.B. Förderkasten mit selbstthätigen Fallschirmen, welche in hölzernen Bahnen glitten, oscillirende Leitern, sogenannte »Engine-men«, welche durch eine einfache hin- und hergehende Bewegung den Bergleuten gefahrlos hinab- und mühelos hinaufzusteigen erlaubte.

Diese vervollkommneteren Apparate freilich waren seit dem Aufhören der Arbeit entfernt worden. Im Yarow-Schacht verblieb nur noch ein langes System von Leitern, welche etwa von fünfzig zu fünfzig Fuß durch eine Art Podeste getrennt waren. Auf dreißig immer untereinander befindlichen Leitern gelangte man so bis zur Sohle des untersten Stollens in einer Tiefe von eintausendfünfhundert Fuß. Einen anderen Weg aus der Grube Dochart nach der Erdoberfläche gab es nicht. Die Luft erneuerte sich im Yarow-Schachte in Folge seiner durch mehrere Stollen vermittelten Verbindung mit einer höher liegenden anderen Schachtöffnung; natürlich stieg durch diesen umgekehrten Heber die wärmere Luft immer durch die letztere auf, und wurde von der tiefer liegenden Mündung her ersetzt.

»Ich folge Dir, mein Sohn,« sagte der Ingenieur, und machte dem jungen Mann ein Zeichen, vor ihm hinabzuklettern.

»Wie Sie wünschen, Herr Starr.«

»Du hast doch Deine Lampe?«

»Ja freilich; ach, wenn's doch noch die Sicherheitslampe wäre, die wir vordem gebrauchen mußten!«

»Freilich,« erwiderte James Starr, »schlagende Wetter sind jetzt nicht mehr zu fürchten.«

Harry brachte ein einfaches Öllämpchen hervor, dessen Docht er in Brand setzte. In der kohlenlosen Grube konnten sich ja Kohlenwasserstoffgase nicht mehr entwickeln. An eine Explosion war also nicht mehr zu denken, und ebenso unnöthig erschien es, die Lichtflamme noch mit jener Scheidewand von Drahtgaze zu umgeben, welche sonst dazu bestimmt ist, die Entzündung der brennbaren Kohlengase außerhalb der Lampe zu verhüten. Die damals schon so verbesserte Davy'sche Sicherheitslampe war hier nicht mehr in Gebrauch. Wenn Gefahr nicht mehr existirte, so hatte das seinen Grund darin, daß deren Ursache, und mit dieser freilich auch das Brennmaterial, der frühere Reichthum der Grube Dochart, nicht mehr vorhanden war.

Harry stieg die ersten Sprossen der obersten Leiter hinab. James Starr folgte ihm. Bald befanden sich Beide in tiefster Finsterniß, welche das Flämmchen der Lampe nur mühsam besiegte. Der junge Mann hielt die Lampe über seinen Kopf, um seinem Begleiter besser zu leuchten.

Schon waren der Ingenieur und sein Begleiter etwa zehn Leitern im gewöhnlichen Bergmannschritt hinabgestiegen.

James Starr betrachtete, soweit das matte Licht es gestattete, die Wände des Schachtes, dessen Auszimmerung sich noch erhalten, wenn auch da und dort angefault zeigte.

Beim fünfzehnten Absatz, d.h. also in der Hälfte des Weges, machten sie für einige Augenblicke Halt.

»Ich habe eben nicht mehr Deine Beine, mein Sohn,« sagte der Ingenieur mit einem tiefen Athemzug, »indeß, es geht doch noch.«

»Sie haben ja eine gute Gesundheit, Herr Starr,« erwiderte Harry, »bei mir ist es wohl kein Wunder, da ich so lange Zeit in der Grube gelebt habe.«

»Du hast Recht, Harry. Als ich auch erst einige zwanzig Jahre zählte, stieg ich mit Leichtigkeit in einem Athemzug bis hinunter. Doch laß uns weiter gehen!«

Aber gerade als sie die weiter führende Leiter betreten wollten, ließ sich aus der Tiefe des Schachtes eine Stimme hören. Sie drang herauf wie eine allmälig anschwellende Woge und wurde zunehmend deutlicher.

»Nun, wer kommt da?« fragte der Ingenieur, indem er Harry zurückhielt.

»Ich weiß es nicht,« antwortete der junge Bergmann.

»Deines Vaters Stimme ist das nicht?«

»Nein, sicher nicht, Herr Starr.«

»Vielleicht also ein Nachbar?« . . .

»Wir haben keine Nachbarn in der Grube da unten; wir sind allein ganz allein.«

»Gut, so lassen wir diesen Eindringling erst vorüber,« sagte James Starr. »Nach Bergmannsbrauch haben Diejenigen, welche herabsteigen, Denen zu weichen, welche emporklimmen.«

Beide warteten.

Die Stimme erklang jetzt ganz hell und wunderbar deutlich, als würde sie in einem ausgezeichnet akustischen Raume fortgeleitet, und bald drangen einige Worte aus einem bekannten schottischen Liede bis zum Ohre des jungen Bergmanns.

»Das Lied von den Seen!« rief Harry. »Es sollte mich wundern, wenn es aus einem anderen Munde, als aus dem Jack Ryan's käme.«

»Wer ist dieser Jack Ryan, der so vortrefflich singt?« fragte James Starr.

»Ein alter Kamerad aus der Grube!« antwortete Harry.

Er bog sich etwas über die Leiter vor.

»He, Jack!« rief er hinab.

»Bist Du es, Harry?« tönte es wieder herauf; »erwarte mich, ich komme.«

Bald hörte man den Gesang von Neuem.

Wenige Minuten später erschien in dem Lichtkegel, den die Laterne nach unten warf, ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, mit offenem Gesicht, lächelnden Zügen, heiterem Munde und hellblonden Haaren, und betrat gleich darauf den Absatz der fünfzehnten Leiter.

Sofort ergriff er die Hand Harry's und bewillkommnete diesen durch einen herzhaften Händedruck.

»O, das freut mich, Dir noch zu begegnen!« rief er. »Beim heiligen Mungo, wenn ich gewußt, daß Du heute zur Erde hinaufgestiegen, hätte ich mir diese Kletterpartie in den Yarow-Schacht erspart.«

»Hier, Herr James Starr,« sagte Harry, indem er die Laterne nach dem halb im Dunkeln stehenden Ingenieur richtete.

»Herr Starr,« rief Jack Ryan, »o, unser Herr Ingenieur, ich hätte sie jetzt nicht wieder erkannt. Seit ich nicht mehr in der Grube bin, sind meine Augen ganz entwöhnt, im Halbdunkel zu sehen.«

»Und ich erinnere mich jetzt eines lustigen Burschen von damals, der immer fröhlich sang. Es sind freilich zehn Jahre darüber hingegangen, mein Sohn! Aber das warst Du, nicht wahr?«

»Leibhaftig, Herr Starr. Wenn ich auch meine Beschäftigung vertauschte, so habe ich doch den alten Humor behalten. Ei, lachen und singen ist doch wahrlich besser als jammern und weinen!«

»Gewiß, Jack Ryan – und was machst Du, seit das Werk still steht?«

»Ich arbeite in der Meierei von Melrose, in der Nähe von Irvine, Grafschaft Renseew, gegen vierzig Meilen von hier. Freilich in den Werken von Aberfoyle war es besser. Die Spitzhaue führte ich leichter als den Spaten und die Egge. Und dazu gab es in der alten Grube so viel schöne Echo, welche die Lieder alle weit besser mitsangen als da oben! . . . Sie wollen dem alten Schachte einen Besuch machen, Herr Starr?«

»Ja, Jack,« bestätigte der Ingenieur.

»So will ich Sie nicht aufhalten.« . . .

»Aber sage mir, Jack,« fragte Harry, »was führte Dich denn heute herab nach unserer Cottage?«

»Ich wollte Dich besuchen,« antwortete Jack Ryan, »und zu dem Feste des Clans von Irvine einladen. Du weißt, ich bin Piper in dem Orte! Da wird gesungen und getanzt!«

»Ich danke, Jack, aber es wird mir unmöglich sein.«

»Unmöglich?«

»Ja, Herrn Starr's Besuch bei uns könnte etwas länger dauern, und ich muß den Herrn Ingenieur auch nach Callander zurückgeleiten.«

»Nun, Harry, das Fest des Clans von Irvine ist auch erst in acht Tagen. Bis dahin, denke ich, wird der Besuch des Herrn Starr wohl nicht dauern, und dann wird Dich nichts in Eurer Cottage zurückhalten.«

»Schlag ein, Harry,« sagte der Ingenieur, »nimm die Einladung Deines Kameraden an.«

»Nun gut, ich komme, Jack,« sagte Harry, »in acht Tagen treffen wir uns zum Fest in Irvine.«

»In acht Tagen also, nicht zu vergessen,« antwortete Jack Ryan. »Nun leb' wohl, Harry, Adieu, Herr Starr! Ich bin so erfreut, Sie einmal wieder gesehen zu haben, und kann doch nun meinen Freunden einmal eine Nachricht von Ihnen bringen. Es hat Sie noch Niemand vergessen, Herr Ingenieur.«

»Und ich erinnere mich noch immer gern an Alle,« sagte James Starr.

»Ich danke Ihnen auch im Namen der Anderen,« erwiderte Jack Ryan.

»Leb' wohl, Jack!« sagte Harry, und drückte zum letzten Male die Hand seines Jugendfreundes.

Jack Ryan verschwand bald singend in der Höhe des Schachtes, in dem der Schein der Lampe sich verlor.

Eine Viertelstunde später klommen James Starr und Harry glücklich die letzte Leiter hinab und betraten den Boden der untersten Etage der Grube.

Rings um die kleine runde Fläche, welche der Grund des Yarow-Schachtes bildet, liefen strahlenförmig mehrere Stollen aus, die letzten ergiebigen Adern des Kohlenwerkes. Diese drangen in die Schiefer- und Sandsteinmassen ein und waren theilweise durch mächtige Balken gestützt, theils in dem loseren Erdreich ausgemauert. Einige davon hatte man auch mit dem todten Gestein aus anderen Gängen wieder zugefüllt. Da und dort unterstützten die Decke mächtige Steinpfeiler, auf welche nun die überlagernden tertiären und quaternären Erdschichten ruhten.

Jetzt herrschte tiefe Finsterniß in diesen Galerien, welche ehemals die Lampen der Bergleute oder das elektrische Licht erhellte, das in den letzten Jahren des Betriebes hier in Anwendung gekommen war. Aber die dunklen Stollen hallten auch nicht mehr wider von dem Knarren der Hunde auf den Geleisen, noch von dem heftigen Anschlagen der Luftklappen oder den Stimmen der Karrenläufer, dem Wiehern der Pferde und Maulesel, noch endlich von den Schlägen der Häuer oder dem Donner der Schüsse, wenn im Unterirdischen gesprengt wurde.

»Wollen Sie ein Weilchen ausruhen, Herr Starr?« fragte der junge Mann.

»Nein, mein Sohn,« antwortete der Ingenieur, »ich möchte gern bald in der Cottage des alten Simon sein.«

»So folgen Sie mir, Herr Starr, ich werde Sie führen, obwohl ich glaube, daß Sie den Weg in diesem dunklen Labyrinthe auch noch allein finden würden.«

»Gewiß, ich habe noch den ganzen Plan der alten Grube im Kopfe.«

Harry ging voraus und hielt die Lampe hoch, um dem Ingenieur den Weg besser zu erhellen. Der hohe Stollen glich fast dem Nebenschiffe eines mächtigen Domes. Der Fuß der Wanderer stieß noch an die Schwellen der Schienen aus der Zeit her, da das Werk noch im Gange war.

Kaum hatten sie fünfzig Schritt zurückgelegt, als ein gewaltiger Stein dicht vor James Starr niederschlug.

»Nehmen Sie sich in Acht, Herr Starr!« rief Harry, indem er den Arm des Ingenieurs ergriff.

»Es war nur ein Stein, der sich loslöste, Harry. Die alten Schichten da über uns sind nicht besonders fest, und . . .«

»Herr Starr,« antwortete Harry, »mir kam es vor, als wäre dieser Stein geworfen worden . . . von einer Menschenhand geworfen! . . .«

»Geworfen?« fragte James Starr, »was willst Du damit sagen?«

»Nichts, nichts . . . Herr Starr,« antwortete Harry ausweichend, aber sein Blick war finster geworden und suchte die dicke Erdmauer zu durchdringen. »Wir wollen weiter gehen. Nehmen Sie meinen Arm und fürchten Sie sich nicht, einen Fehltritt zu thun.«

»Hier bin ich, Harry!«

Beide gingen weiter, während Harry wiederholt rückwärts sah und den Schein der Lampe nach dem dunklen Stollen wendete.

»Werden wir bald an Ort und Stelle sein?« fragte der Ingenieur.

»In höchstens zehn Minuten.«

»Es ist aber doch eigenthümlich,« murmelte Harry, »es ist das erste Mal, daß mir so etwas begegnet. Der Stein mußte auch gerade in dem Augenblick herabfallen, als wir dort vorbei gingen!«

»Das war wohl der reine Zufall, Harry.«

»Ein Zufall . . .« meinte der junge Mann kopfschüttelnd.

»Ja . . . ein Zufall . . .«

Harry war stehen geblieben. Er horchte.

»Was ist Dir, Harry?« fragte der Ingenieur.

»Ich glaubte hinter uns Schritte zu vernehmen!« antwortete der junge Mann und lauschte gespannter.

Nach einer Weile sagte er: »Nein, ich habe mich doch wohl getäuscht. Stützen Sie sich auf meinen Arm, Herr Starr, benutzen Sie mich wie einen Stock . . .«

»Nun, ein solider Stock, Harry,« fiel ihm James Starr in's Wort, »Du bist doch der bravste Bursche in der Welt!«

Schweigend wanderten Beide durch den weiten dunklen Gang dahin.

Harry wandte sich mehrmals rückwärts, um entweder ein entferntes Geräusch wahrzunehmen oder den Schimmer eines Lichtes zu sehen.

Aber vor und hinter ihm blieb Alles finster und still.


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