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XIII. Ein Schreckenstag

Die Verirrung der Hostelianer hatte nicht nur einen Stillstand jeder Produktion zur Folge gehabt; die bis aufs Fünffache angewachsene Bevölkerung mußte nun ausschließlich aus den ziemlich erschöpften Vorräten leben. Das Elend war groß während des Winters 1893. Während der fünf Monate seiner Dauer leistete der Kaw-djer Übermenschliches. Jeden Tag gab es neue Schwierigkeiten zu lösen, immer war den Verhungerten Beistand zu leisten, die unzähligen Kranken mußten gepflegt werden; er sollte mit einem Wort überall gleichzeitig sein. Die Liberier wurden mit Bewunderung erfüllt, als sie die unbeugsame Energie und den unveränderlichen Opfermut des Kaw-djer beobachteten und es quälten sie die heftigsten Vorwürfe.

So rächte sich dieser Mann, welcher – sie wußten es jetzt alle – auf eine so glänzende Existenz verzichtet hatte, um ihr mühsames Leben zu teilen, der Mann, den sie so feige verleugnet hatten.

Aber trotz aller Bemühungen des Kaw-djer war kaum das zum Leben Nötigste in Liberia aufzutreiben. Wie mußte es auf dem Lande draußen aussehen? Besonders bei den Placers, wo Tausende von Menschen zusammengedrängt lebten, welche sicher keine Vorsichtsmaßregeln getroffen hatten, um die Wintermonate überdauern zu können.

Jetzt war es zu spät, um ihre Unvorsichtigkeit gut zu machen. Sie waren durch den Schnee von der übrigen Insel abgesperrt und konnten nur auf die in ihrer nächsten Umgebung befindlichen Vorräte rechnen. Und diese Vorräte mußten schon in wenigen Tagen aufgezehrt worden sein.

Aber später erfuhr man, daß einige wenige doch die Hindernisse überwunden hatten und weit in die Insel vorgedrungen waren. Zwischen ihnen und den Landleuten war es zu blutigen Einzelkämpfen gekommen.

Die Unbarmherzigkeit der Menschen war größer als die der Natur. Der Winter hatte den Blutstrom, der unausgesetzt die Erde tränkte, vermindert, aber nicht versiegen lassen.

Aber nur wenige wagten sich fort, um es mit der Feindschaft der Menschen und der Natur aufzunehmen. Wie lebten die anderen? Man brachte später in Erfahrung, daß viele an Hunger und Kälte gestorben waren. Wie ihre glücklicheren Gefährten ihr Leben fristen konnten, blieb für immer ein Rätsel.

Der Kaw-djer brauchte keine Einzelheiten zu kennen, um zu verstehen, welche Qualen diese Unglücklichen durchgemacht hatten. Er erriet ihre Verzweiflung und begriff, daß sich diese im Frühling in Raserei verwandeln müsse. Dann mußte die Gefahr wahrhaft drohend werden; denn, nach dem Schmelzen des Schnees, wurden die Straßen wieder passierbar und dann mußte die verhungerte Menge sich über die Insel zerstreuen und rauben und plündern ...

Zwei Tage nach dem Eintritt des Tauwetters erfuhr man, daß das Kontor der »Franco-English Gold Mining Company«, dem der Franzose Maurice Regnauld und der Engländer Alexander Smith vorstanden, durch eine Bande Rasender überfallen worden sei. Aber die beiden jungen Leute hatten sich zu wehren gewußt. Sie hatten ihre aus mehreren Hunderten bestehende Arbeiterschaft versammelt, die Angreifer zurückgeworfen und ihnen bedeutende Verluste beigebracht.

Wieder einige Tage später hörte man von einer Reihe von Verbrechen, deren Schauplatz der Norden der Insel war. Bauernhäuser waren geplündert, ihre Besitzer vertrieben oder erschlagen worden. Wenn man dabei ruhig zusah, mußte binnen eines Monates die Insel verwüstet sein. Es mußte gehandelt werden!

Die Lage war bedeutend günstiger als im Vorjahre. Wenn der Frühling auch die Abenteurer zu Ausschreitungen hingerissen hatte, war doch die eigentliche hostelische Bevölkerung unbeeinflußt geblieben.

Die Lektion hatte gewirkt! Mit Ausnahme der hundert Verirrten, die sich geweigert hatten, die Placers zu verlassen und die wahrscheinlich umgekommen waren, hatte die Bevölkerung von Liberia ihre Einigkeit gewahrt. Niemand wollte einen dritten nutzlosen Versuch wagen. Außer wenigen Kolonisten, welche besonderes Glück gehabt, waren alle anderen ruiniert und mit untergrabener Gesundheit und zerstörter Zukunft zurückgekommen.

Aber auf diesen bescheidenen, in den Placers erworbenen Vermögen ruhte kein Glück; gewöhnlich wurden sie von den Gewinnern bald verschleudert in den Spielhöllen und Schenken, wo sich Revolverschüsse und rohe Flüche abwechselten. »Wie gewonnen, so zerronnen,« könnte man hier sagen. Alle sahen ihre Torheit ein und keiner wollte sie ein zweites Mal begehen.

Der Kaw-djer verfügte demnach über die gesamte Bürgergarde. Tausend wohldisziplinierte Männer bedeuteten eine Macht und obwohl ihnen die Gegner zwanzigmal überlegen waren, zweifelte er nicht an seinem Siege.

Noch einige Tage Geduld waren nötig, um den durch den Schnee zerweichten Straßen etwas Zeit zum Austrocknen zu geben und dann sollte die hostelische Streitmacht die Insel von den Abenteurern säubern.

Aber diese kamen dem Kaw-djer zuvor. Sie führten das tragische Ende herbei, das das Schicksal der Insel besiegelte.

Am 3. November – die Wege waren noch Moräste zu nennen, berichteten vom Lande hereinfliehende Hostelianer, daß eine Truppe von tausend Goldsuchern auf die Stadt marschiere.

Sie wußten nichts über die Absichten dieser Truppe zu berichten, aber friedlicher Natur mußten sie nicht sein, das konnte man aus ihrer Bewaffnung und ihren Drohreden erkennen.

Der Kaw-djer traf seine Anordnungen. Die Bürgergarde versammelte sich vor dem Regierungspalaste und sperrte alle Zugänge zum Platze ab. Dann wartete man auf das Kommende.

Die angesagte Truppe erreichte Liberia am Abend. Das Echo ihrer Schreie und wilden Gesänge eilte ihr voraus. Die Goldgräber, welche die Liberier zu überrumpeln gehofft, waren ihrerseits unangenehm überrascht, die hostelische Bürgergarde in Schlachtordnung aufgestellt zu sehen, was ihren Wagemut etwas herabdämpfte. Bestürzt blieben sie stehen ... Anstatt unversehens hereinzufallen, mußte jetzt verhandelt werden.

Zuerst beratschlagten sie unter vielem Geschrei und Gestikulationen, dann meldeten sich die Wortführer bei Hartlepool und bedeuteten ihm, daß sie mit dem Kaw-djer zu sprechen hätten. Ihrem Ersuchen wurde Folge geleistet, der Kaw-djer wollte zehn Abgesandte hören.

Diese zehn Abgesandten mußten aber erst gewählt werden und das bedingte wieder viel Streit und Geschrei. Endlich traten sie vor die Front der Bürgerreihen, die sich öffnete, um sie durchzulassen. Jede Bewegung, die Hartlepool kommandierte, wurde mit bewunderungswerter Präzision ausgeführt. Geschulte Soldaten hätten es nicht besser machen können. Die Delegierten wurden dadurch sehr impressioniert, besonders, als nach einem neuen Befehlsworte die Bürgergarde ihre Reihen hinter ihnen schloß.

In der Mitte des Platzes stand der Kaw-djer, in dem von den Truppen freigelassenen Raum. Während die Abgesandten auf ihn zuschritten, konnte man sie mit Muße betrachten. Vertrauenswürdig war ihr Aussehen nicht! Sie waren groß, hatten breite Schultern und schienen kräftig, obwohl die Schrecknisse des Winters sie abgemagert hatten. Meist waren sie in Leder gekleidet, das mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt war; Haar und Bart waren verwirrt und ungepflegt und verliehen ihren Gesichtern das Aussehen wilder Tiere. In ihren Augen blitzte die Schlauheit des Luchses und sie ballten die Hände, als sie vorwärtsschritten.

Der Kaw-djer stand unbeweglich da und trat keinen Schritt vor; als sie bei ihm angelangt waren, wartete er ohne eine Frage zu stellen ab, daß sie ihm ihr Anliegen vorbrächten.

Aber die Abenteurer sprachen nicht gleich. Instinktiv hatten sie ihre Kopfbedeckungen vor dem Kaw-djer abgenommen und, im Halbkreis um ihn stehend, rückten sie verlegen von einem Bein auf das andere. Ihr wildes Aussehen war nur ein Schein, im Gegenteil schienen sie in Wirklichkeit wie Kinder, die mit ihrer kleinen Person nichts anzufangen wußten, sobald sie sich von den Kameraden getrennt fühlten, isoliert auf dem großen Platz standen vor dem Manne, der sie um Haupteslänge überragte und dessen majestätisches Aussehen ihnen imponierte.

Endlich wurden sie ihrer Verwirrung Herr und fanden den Gebrauch der Zunge wieder. Einer nahm das Wort:

»Gouverneur, sagte er, wir kommen im Namen unserer Kameraden« ...

Der Redner hielt ganz verschüchtert inne; der Kaw-djer half ihm nicht, den Faden seiner Rede aufzufinden; endlich fuhr er fort:

»Unsere Kameraden haben uns hergeschickt« ...

Neue Pause von Seite des Redners und gleiches Schweigen des Kaw-djer.

»Ja, wir sind halt ihre Abgesandten, mischte sich ein anderer der Goldsucher ins Gespräch, den diese Stockungen ärgerten.

– Ich weiß, sagte der Kaw-djer in kaltem Tone. Was weiter?«

Die Delegierten sahen sich bestürzt an. Sie hatten die Liberier erzittern machen wollen ... So wenig fürchtete man sie! ...

Wieder herrschte Schweigen. Dann nahm ein dritter Mann, welcher durch einen riesigen, ganz verworrenen Bart auffiel, all seinen Mut zusammen und brachte das Wichtige zur Sprache:

»Dann? ... sagte er, ja dann haben wir eine Klage vorzubringen; das ist das »Dann«.

– Worüber beklagt ihr euch?

– Über alles. Wir können es hier zu nichts bringen, weil man uns so schlecht behandelt.

Der Kaw-djer war trotz des Ernstes der Situation innerlich belustigt über einen derartigen Vorwurf im Munde eines der Verwüster der Insel.

»Ist das alles? fragte er dann.

– Nein, sagte der Dritte, der das Reden nicht ganz verlernt hatte. Wir wollen auch, daß nicht jeder erste beste die Placers bearbeiten darf. Man muß sich ja raufen um sein Recht. Alle Gentlemen – der Abenteurer, ein Westamerikaner, sprach das Wort in vollstem Ernste – möchten auch Konzessionen haben, wie das überall der Fall ist ... Das wäre mehr – offiziell, fügte er nach einem Moment des Überlegens hinzu.

– Ist das alles? fragte der Kaw-djer wieder.

– Es sind noch einige Punkte ... sagte der Goldsucher; aber erst möchten die Gentlemen eine Antwort bezüglich der Konzession.

– Nein, sagte der Kaw-djer.

– Nein?

– Die Antwort lautet: nein,« präzisierte der Kaw-djer.

Die Abgeordneten hoben die Köpfe und ein böser Ausdruck glitt über ihre Gesichter.

»Warum nicht? fragte einer, der bisher den Mund noch nicht aufgetan hatte; die Gentlemen wollen einen Grund wissen.«

Der Kaw-djer schwieg. Wahrhaftig! Sie erlaubten sich, Gründe zu fordern. Das Gesetz, das von niemandem respektiert worden war, bestimmte einen Preis für die Auslieferung einer jeden Konzession, ferner reservierte es diese Konzessionen ausschließlich für die Hostelianer und verweigerte sie den Abenteurern, die ungebeten sich hier breitgemacht hatten.

»Warum?« wiederholte der vorige, als er sah, daß seine Bemerkung unbeachtet blieb.

Aber auch die zweite Frage hatte keinen besseren Erfolg als die erste, darum beantwortete er sie sich selber:

»Wegen der Gesetze? ... sagte er. Die kennt man, die Gesetze ... Man soll uns einfach naturalisieren ... Die Erde ist für alle da, und ich denke doch, wir sind Menschen wie alle anderen!« ...

Der Kaw-djer würde früher ebenso gesprochen haben. Jetzt waren seine Ideen sehr geändert. Jetzt verstand er diese Sprache nicht mehr. Nein! Die Erde gehört nicht allen ohne Ausnahme. Sie gehört jenen, die sich mit ihr plagen, sie bebauen; jenen, denen sie durch fleißige Arbeit eine Nährmutter wird; jenen, die den Boden zwingen, sich mit einem Teppich goldener Ähren zu bedecken.

»Und dann, fuhr der Redner fort, wenn man schon von Gesetzen spricht, will man sie auch durchgeführt sehen, diese Gesetze! Wenn aber diejenigen, die sie aufstellen, nicht nach ihnen handeln, was sollen denn da die anderen tun. Das frage ich? Wir haben den 3. November heute. Warum ist man am 1. nicht zu einer neuen Wahl geschritten, da die Zeit des Gouverneurs abgelaufen ist?«

Der unerwartete Vorwurf setzte den Kaw-djer in Erstaunen. Wer konnte diesen Goldsucher so genau informiert haben? Wahrscheinlich Kennedy, welchen man schon lange nicht mehr in Liberia gesehen hatte. Die Bemerkung war vollkommen richtig. Die Periode, die er selbst fixiert hatte, als er sich freiwillig wählen ließ, war abgelaufen und man hätte zwei Tage vorher zu einer Neuwahl schreiten müssen, wenn man das von ihm aufgestellte Gesetz befolgt hätte!

Er hatte aus dem Grunde nicht darauf gedrungen, weil er es nicht für zeitgemäß gehalten hatte, eine so verwickelte Situation noch durch Komplikationen zu verschlimmern. Es handelte sich ja doch nur um eine simple Formalität, er würde ja doch wieder zum Gouverneur gewählt. Aber was ging das diese Leute an, die mit den Wahlen doch gar nichts zu tun hatten?

Der Abenteurer, durch das Schweigen des Kaw-djer kühn gemacht, fuhr in sehr selbstbewußtem Tone fort:

»Die Gentlemen fordern diese Wahl und wünschen, daß auch ihre Stimmen zählen. Sie sind genau so viel wert als die der anderen, selbstredend! Wie kommen fünftausend Menschen dazu, einer Zahl von zwanzigtausend Gesetze vorzuschreiben; das ist ungerecht!« ...

Der »Gentleman« machte wieder eine Pause und erwartete vergebens eine Antwort. Er wollte aber jetzt etwas wissen, und um anzuzeigen, daß seine Mission beendet war, schloß er:

»Na also!

– Ist das alles? fragte der Kaw-djer zum dritten Male.

– Ja ... antwortete der Delegierte; das ist alles, und doch wieder nicht ... für den Augenblick ist es alles« ...

Der Kaw-djer schaute diesen zehn Männern scharf ins Gesicht, dann sagte er in eisigem Tone:

»Hier meine Antwort: Ihr seid gegen unseren Willen hier! Ich gebe euch vierundzwanzig Stunden Frist, dann habt ihr euch allen unseren Bedingungen zu unterwerfen. Ist diese abgelaufen, dann werde ich handeln!«

Er machte ein Zeichen. Hartlepool kam mit zwanzig Mann herbei.

»Hartlepool, sagte der Kaw-djer, wollen Sie diese Herren aus unserem Kreise hinausgeleiten!«

Die Delegierten waren wie vom Donner gerührt. So sehr sie auch auf ihre Stärke pochten, diese eisige Ruhe lehrte sie die Furcht kennen. Von den Hostelianern eingeschlossen, entfernten sie sich willig.

Aber als sie wieder bei den Ihrigen angelangt waren, die sie so hochtrabend als »Gentlemen« bezeichnet hatten, änderte sich der Ton. Während sie ihre Unterredung erzählten, brach der bisher in ihnen unterdrückte Zorn mit elementarer Heftigkeit los und um ihren empörten Gefühlen Ausdruck zu verleihen, fanden sie die kräftigsten Schimpfworte und Flüche mit Leichtigkeit.

Diese eigenartige Form der Beredsamkeit wurde von der Menge nachgeahmt und bald schloß der Kaw-djer aus dem Konzert, das an sein Ohr drang, daß seine Antwort allgemein bekannt geworden war. Lange beruhigte sich die Aufregung nicht. Die hereinbrechende Nacht verminderte sie, ohne sie ganz zu unterdrücken. Bis zum Morgen widerhallten die Schatten vom wilden Geschrei. Wenn man die Abenteurer auch nicht sah, hörte man sie nur zu gut. Jedenfalls beharrten sie bei ihrem Vorhaben und lagerten für die Nacht in der Nähe der Stadt.

Die Bürgergarde tat desgleichen. Es wurde die ganze Nacht abwechselnd, mit der Waffe schußbereit zur Hand, gewacht.

Wirklich waren die Abenteurer nicht abgezogen. Beim Morgendämmern sah man die Straßen von Liberia von Menschen wimmeln. Viele Goldsucher, welche das Geschrei der Nacht müde gemacht hatte, lagen aus der Straße und schliefen. Aber beim ersten Sonnenstrahl erhoben sich alle und der Lärm vom Vorabend wurde fortgesetzt.

Natürlich wurden alle Häuser in den Straßen sorgfältig verschlossen. Niemand wagte sich heraus. Wenn ein Hostelianer nur durch einen Spalt seiner Fenster hinausblickte, so war ein Hagel von Schimpfworten die Antwort auf einen solchen Versuch und er mußte sich schleunigst zurückziehen.

Sonst verlief der Morgen verhältnismäßig ruhig. Die Abenteurer schienen nicht recht mit sich im Reinen zu sein, was zu tun sei, und sie stritten sich weidlich herum. Ihre Anzahl vergrößerte sich von Stunde zu Stunde. Gewiß waren jetzt fünf- bis sechstausend Leute versammelt, denn Boten waren in der Nacht ausgesandt worden, um Verstärkungen zu holen. Die Leute vom Golden Creek hatten eintreffen können, nicht aber jene Abenteurer, welche in den Gebirgen in der Mitte des Landes oder an der Nordwestspitze arbeiteten, ihre Entfernung zählte mehrere Tage.

Ihre Gefährten, die die Stadt überschwemmten, hätten wohl daran getan, sie zu erwarten. Wenn sie zu einer Menge von zehn- oder zwanzigtausend Menschen angewachsen wären, mußte die Lage für Liberia, die jetzt schon bedenklich war, geradezu eine verzweifelte werden.

Aber diese vorschnellen Geister, die ihre Leidenschaften nicht zu zügeln gewohnt waren, hatten nicht die Geduld, so lange zu warten. Ihre Aufregung wuchs zusehends. Die Menge war ganz verwirrt unter dem doppelten Einfluß der Müdigkeit und der durch die Reden hervorgerufenen Erregung.

Gegen elf Uhr warfen sie sich von allen Seiten gleichzeitig auf die Hostelianer. Die Bürgergarde streckte sofort ihre Bajonette vor. Die Angreifer mußten zurückweichen und waren bemüht, die Nachdrängenden aufzuhalten. Um unbeabsichtigte Unglücksfälle zu verhindern, ließ der Kaw-djer seine Truppe etwas zurückweichen; in vollkommener Ordnung postierten sie sich näher an das Regierungsgebäude. Jetzt waren die auf den Platz führenden Straßen frei. Die Abenteurer, die dem Manöver einen ganz falschen Beweggrund unterschoben, stießen ein Siegesgeheul aus.

Der durch das Zurückweichen der Hostelianer frei gewordene Platz wurde sogleich von vordrängenden Abenteurern besetzt, doch sie begriffen bald ihren Irrtum. Noch waren sie nicht Sieger! Immer noch versperrte ihnen die Bürgergarde den Weg. Wenn auch die sechstausend Mann genau so unbeweglich dastanden wie ihre Anführer, so führten sie doch den Rachestrahl in ihrer Hand. Ihre tausend Gewehre amerikanischer Konstruktion waren den Goldsuchern bekannt. Ein Magazin lieferte den Schützen noch sieben Patronen, mit denen in weniger als einer Minute siebentausend Schüsse abgegeben werden konnten und die aus allernächster Nähe treffen mußten. Das hätten die Tapferen überlegen sollen.

Aber ihr Geisteszustand ließ ihnen keine ruhige Überlegung zu. Sie regten sich gegenseitig immer mehr auf. Ihre große Kopfzahl erfüllte sie mit Mut und sie fürchteten nicht mehr die vor ihnen stehende Truppe, deren Unbeweglichkeit sie für Schwäche nahmen. Und es kam der Moment, wo sie aller Vernunft beraubt wurden.

Das Schauspiel war packend! Im Umkreis des Platzes die heulende, tobende Menge, die tausend Fäuste drohend erhob und abertausend Lästerungen ausstieß. Dreißig Meter vor ihnen, längs der Fassade des Regierungspalastes, die Truppe des Kaw-djer in bester Ordnung, mit der Unbeweglichkeit von Statuen. Hinter diesen Leuten stand der Kaw-djer allein, auf der letzten Stufe, die zu dem Gebäude emporführte, welcher alles mit sorgenvollem Blick umfaßte und nach einem Mittel suchte, den Zwiespalt auf friedliche Weise zu schlichten.

Um ein Uhr mittags wurde das Toben ärger; direkte Schimpfworte wurden herübergeschleudert. Die Hostelianer antworteten nicht darauf.

In der ersten Reihe der Schimpfenden erblickten sie ein bekanntes Gesicht. Die Abenteurer hatten Kennedy vorgestoßen, dessen aufrührerische Reden und Ratschläge großen Einfluß auf ihren Entschluß gehabt hatten. Er hatte sie über das Gesetz betreffs der Wahl eines Gouverneurs aufgeklärt, er hatte ihnen geraten, das Wahlrecht und die Beteiligung an den Wahlen aus der Insel zu fordern, und er hatte ihnen versichert, daß der Kaw-djer von allen werde verlassen werden und er ihnen nichts verweigern könnte.

Die Wirklichkeit zeigte sich in einer anderen Beleuchtung. Sie stießen sich an tausend Gewehren und es erschien ihnen gerecht, daß derjenige, der sie in diese Klemme gebracht hatte, auch an allen Gefahren teilnehmen sollte.

Das paßte dem einstigen Matrosen, welcher durch andere sich rächen wollte, gar nicht recht. Er hatte nicht mehr das Auftreten eines Nabob. Bleich und zitternd stand er da und fühlte sich gar nicht wohl. Die Menge verlor den Kopf immer mehr und mehr. Die Schimpfworte genügten nicht, man schritt zu Tätlichkeiten. Steine wurden auf die Hostelianer geschleudert und die Sache wurde immer kritischer.

Während einer vollen Stunde dauerte dieser verderbenbringende Regen an. Mehrere Leute wurden verwundet und zwei oder drei mußten den Platz verlassen. Ein Stein traf den Kaw-djer an die Stirne. Er wankte, richtete sich aber mit einer energischen Anstrengung wieder auf, wischte ruhig das hervorsickernde Blut ab und nahm seinen Beobachterposten wieder ein.

Nach einer Stunde gaben die Angreifer diese anstrengende Übung auf, sie führte zu nichts. Die Projektile fielen seltener herüber, als plötzlich ein lauter Aufschrei durch die Reihen der Aufrührer ging! Was war geschehen? Der Kaw-djer hob sich auf die Fußspitzen, um zu sehen, was in den benachbarten Straßen vor sich gehen mochte. Er konnte nichts bemerken. Weiter nach rückwärts schien das Wogen der Menge noch bedeutender zu sein, aber mehr war nicht zu unterscheiden.

Bald sollte alles klar werden. Einige Minuten später brachen sich drei herkulisch gebaute Goldsucher mit Ellbogenstößen Bahn durch die dichtgedrängte Menge und pflanzten sich vor der ersten Reihe ihrer Genossen auf, als ob sie beweisen wollten, daß sie die feindlichen Kugeln nicht fürchteten. Und wirklich, sie brauchten sie nicht mehr zu fürchten! Denn sie trugen vor sich Geiseln her, die als lebende Schilder dienten und sie vor den Kugeln beschützten.

Die Angreifer hatten eine teuflische Idee zur Ausführung gebracht. Sie hatten die Türe eines Hauses gesprengt und sich der Bewohner bemächtigt; es waren zwei junge Frauen, die es mit einem Kinde allein bewohnten; der Mann der einen Frau war während des letzten Winters gestorben. Zwei Goldgräber hatten die Frauen ergriffen, ein dritter das Kind, mit diesen Schildern deckten sie sich und drangen auf den Kaw-djer und seine Truppe ein. Niemand konnte jetzt einen Schuß wagen, weil er diese unschuldigen Wesen getroffen haben würde. Die Frauen hatte der Schreck gelähmt, sie ließen willenlos alles mit sich geschehen. Das Kind wurde von einem riesenhaften Menschen mit brutalem Griff auf Armeslänge vom Leibe gehalten und er lachte laut.

Das übertraf an Roheit alles, was der Kaw-djer bisher gesehen hatte. Der abscheuerregende Anblick machte diesen starken Mann erzittern. Er empfand Furcht; er wurde totenbleich.

Und doch war das ein Augenblick schneller Entscheidung. Schon hatten die Goldgräber, Verwünschungen ausstoßend, einen Schritt vorwärts gemacht. Ihre Verwirrung war aber so groß, daß sie es nicht auf ein Handgemenge ankommen ließen, wobei die anderen unfehlbar den kürzeren gezogen hätten, da die Goldsucher ihnen an Zahl bedeutend überlegen waren. Jetzt waren sie zwanzig Meter von den Hostelianern entfernt, die wie Statuen dastanden, als Schüsse fielen. Es waren Revolver abgefeuert worden und ein Hostelianer fiel.

Nun durfte nicht mehr gezögert werden. In einer Minute konnte man überwältigt sein und die Gesamtbevölkerung von Liberia, Männer, Frauen und Kinder, wären grausam umgebracht worden.

»Gewehre hoch!« kommandierte der Kaw-djer, dessen Gesicht Leichenblässe überzog.

Die Leute gehorchten mit der Pünktlichkeit der Disziplin. Die Kolben lagen im Augenblick an der Schulter und die Läufe blitzten drohend nach der empörten Menge.

Aber diese war ihrer Sinne nicht mehr mächtig, sie ließ sich nicht mehr einschüchtern. Neue Revolverschüsse fielen aus ihren Reihen und forderten drei weitere Opfer unter den Hostelianern. Jetzt waren sie auf zehn Schritte Entfernung herangekommen, ein unzurechnungsfähiger, toller Menschenknäuel.

»Feuer!« kommandierte der Kaw-djer mit heiserer Stimme.

Die heroische Ruhe seiner Leute während dieser langen Prüfung belohnte den Kaw-djer reichlichst für die Aufopferung, die er an sie verschwendet hatte! Jetzt hatten sie sich gegenseitig nichts mehr zu danken. Aber wenn sie auch in der dankbaren Anhänglichkeit an ihren Führer die Kraft gefunden hatten, sich als Soldaten zu benehmen, so waren sie schließlich doch keine Soldaten. Sobald der Finger den Hahn berührt hatte, ließen sie sich vom Feuer der Schlacht hinreißen und gaben nicht einen, sondern alle Schüsse ab. Wie Donnerrollen klang es. In drei Sekunden hatten die Gewehre siebentausend Kugeln verschossen. Dann wurde es totenstill ...

Die Hostelianer sahen sich bestürzt an. In der Ferne verschwanden einige Flüchtlinge, vor ihnen stand niemand mehr, der Platz war leer.

Leer? ... Ja, bis auf eine Erhöhung – die nichts anderes war als ein Berg von Leichen, von dem Ströme von Blut herabrannen. Wieviele Tote mochten da liegen? ... Tausend? ... Fünfzehnhundert? ... Noch mehr? ... Wer konnte es sagen!

Am Fuße dieses furchterregenden Haufens, neben dem toten Kennedy, waren die beiden Frauen niedergefallen. Die eine hatte eine Kugel in die Schulter bekommen und war tot oder betäubt. Die andere erhob sich unverletzt und suchte in Todesangst nach ihrem Kinde. Es lag auch unter den Leichen im Blute, war aber, wie durch ein Wunder, von den Kugeln verschont worden und schien an dieser neuen Unterhaltung große Freude zu empfinden, denn es lächelte froh seiner Mutter entgegen ...

Der Kaw-djer, eine Beute des unsagbarsten Schmerzes, hatte sein Gesicht in den Händen verborgen, um das Entsetzliche nicht ansehen zu müssen. Er stand einen Augenblick ganz gebeugt da, dann richtete er sich langsam, langsam empor ...

Mit einer gemeinsamen Bewegung drehten sich die Hostelianer nach ihm um und sahen ihn schweigend an ...

Er hatte keinen Blick für sie! Unbeweglich starrte er auf den fürchterlichen Leichenhaufen und auf seinem von Furchen durchzogenen Antlitz, das um zehn Jahre gealtert schien, rannen langsam schwere Tränen herab.

Der Kaw-djer weinte ...


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