Jules Verne
Zwei Jahre Ferien. Erster Band
Jules Verne

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VI.

Verhandlung. – Ein geplanter und verschobener Ausflug. – Schlechtes Wetter. – Der Fischfang. – Das riesenhafte Meergras. – Costar und Dole auf einem nicht besonders schnellen Renner reitend. – Die Vorbereitungen zum Aufbruch. – Auf den Knieen vor dem südlichen Kreuz.

———

Noch am selben Tage nach dem Abendessen machte Briant die Großen mit den Ergebnissen seiner Nachforschung bekannt, die er wie folgt zusammenfaßte: In der Richtung nach Osten, jenseits der Zone der Waldungen, hatte er sehr deutlich eine Wasserlinie wahrgenommen, welche von Norden nach Süden zu verlief; daß dieselbe dem Meere angehörte, erschien ihm nicht zweifelhaft. Der »Sloughi« hatte also das Unglück gehabt, auf einer Insel und nicht auf einem Festlande zu scheitern.

Anfänglich nahmen Gordon und die Uebrigen diese Mittheilung ihres Gefährten mit großer Erregung auf. Wie, sie befanden sich auf einer Insel und ihnen fehlte es an jedem Mittel, von derselben wieder wegkommen zu können! Auf die frühere Absicht, nach Osten zu weiter in das angenommene Festland vorzudringen, sollten sie verzichten! Sollten verurtheilt sein, auf ein Schiff zu warten, welches zufällig an dieser Küste vorübersegelte! War es denn wirklich an dem, daß das ihnen die einzige Aussicht auf Rettung bot? . . .

»Doch sollte sich Briant in seiner Wahrnehmung nicht getäuscht haben?« bemerkte Doniphan.

»Ja, Briant,« ließ sich Cross vernehmen, »könntest Du nicht vielleicht eine Wolkenbank für das Meer angesehen haben?«

»Nein,« versicherte Briant, »ich bin fest überzeugt, mich nicht geirrt zu haben. Ich habe im Osten bestimmt eine Strecke Wasser gesehen, die sich bis zum Horizont ausbreitete.«

»In welcher Entfernung?«

»Etwa sechs Meilen vom Vorgebirge.«

»Und bis dahin gab es keine Berge, kein höher aufsteigendes Land?«

»Nein; nichts als den weiten Himmel!«

Briant schien seiner Sache so sicher, daß man seine Angaben vernünftiger Weise nicht anzweifeln konnte.

Wie es Doniphan aber immer that, wenn er über irgend etwas mit ihm sprach, so beharrte er auch jetzt bei seiner eigenen Meinung.

»Und ich wiederhole,« erklärte er, »daß Briant sich doch hat täuschen können, und so lange wir uns nicht mit eigenen Augen überzeugt haben . . .«

»Das soll sehr bald geschehen,« unterbrach ihn Gordon, »denn wir müssen wissen, woran wir sind.«

»Und ich möchte hinzufügen,« meldete sich Baxter, »daß wir keinen Tag zu verlieren haben, wenn wir noch, im Falle wir auf einem Festlande sind, vor Eintritt der schlechten Jahreszeit weiterziehen wollen.«

»Schon morgen,« nahm Gordon wieder das Wort, »werden wir, falls die Witterung es erlaubt, einen auf mehrere Tage ausgedehnten Ausflug unternehmen. Ich sage, wenn es schönes Wetter ist; denn sich in die dichten Wälder des Inneren bei schlechtem Wetter zu wagen, würde eine entschiedene Thorheit sein . . .«

»Ganz recht, Gordon,« bestätigte Briant, »und wenn wir die entgegengesetzte Seite der Insel erreicht haben . . .«

»Im Fall es eine Insel ist!« rief Doniphan dazwischen, der ungläubig mit den Achseln zuckte.

»Es ist aber eine Insel,« versetzte Briant ungehalten. »Ich habe mich nicht getäuscht! Mit vollster Deutlichkeit habe ich im Osten das Meer erkannt. Doniphan gefällt sich nur darin, mir, seiner Gewohnheit gemäß, zu widersprechen . . .«

»O, Du bist nicht unfehlbar, Briant!«

»Nein, das bin ich nicht; doch dieses Mal werdet Ihr ja sehen, ob ich mich geirrt habe! Ich werde selbst ausziehen, dieses Land näher zu besichtigen, und wenn Doniphan mich begleiten will . . .«

»Natürlich geh' ich mit!«

»Und wir ebenfalls!« riefen drei oder vier der größeren Knaben.

»Gut! . . . Schon gut! . . .« meinte Gordon; »nur nicht über den Strang geschlagen, meine Freunde! Wenn wir auch noch Kinder sind, wollen wir doch gleich Männern handeln. Unsere Lage ist sehr ernst, und eine Unklugheit könnte sie nur noch verschlimmern! Nein, Alle dürfen wir nicht durch jene Wälder ziehen. Die Kleinen könnten uns dahin doch nicht folgen, und sollen wir diese allein auf dem »Sloughi« zurücklassen? Mögen Doniphan und Briant sich dorthin auf den Weg machen, und zwei ihrer Kameraden sie begleiten . . .«

»Ich!« meldete sich Wilcox.

»Und ich!« rief Service.

»Meinetwegen,« antwortete Gordon; »drei werden übrig genug sein. Kommt ihr nicht rechtzeitig zurück, so könnte Euch immer noch einer von uns entgegengehen, während die Anderen auf dem Schooner verbleiben. Vergeßt nicht, daß hier unser Lager, unser ›Haus‹ ist, und das dürfen wir nicht verlassen, außer wenn wir sicher sind, uns auf einem Festland zu befinden.«

»Wir sind auf einer Insel!« erwiderte Briant. »Ich bleibe bei meiner Behauptung!«

»Das werden wir sehen!« sagte Doniphan.

Die klugen Rathschlage Gordon's hatten der Meinungsverschiedenheit dieser jungen Starrköpfe ein Ende gemacht. Auch Briant erkannte gern an, daß es nothwendig sei, durch die ganze Breite der Wälder des Inneren zu gehen, um bis zu der von ihm gesehenen Wasserlinie selbst zu gelangen. Angenommen, es war das Meer, das sich da im Osten vor ihnen ausdehnte, so konnten in derselben Richtung ja auch noch andere, vielleicht nur durch einen schmalen Canal getrennte Inseln liegen, nach denen sie ohne Schwierigkeiten übersetzen konnten. Und wenn diese Insel einem Archipel angehörte, wenn am Horizont sich größere Höhen zeigten, so mußte man sich doch wohl davon genauere Kenntniß verschaffen, ehe ein Entschluß bezüglich der Rettung Aller gefaßt werden konnte. Unzweifelhaft war ja nur, daß nach Westen hin kein Land lag zwischen diesem Theile des Stillen Oceans und den Küsten von Neuseeland. Die jungen Schiffbrüchigen durften also nur hoffen, ein bewohntes Gebiet zu finden, wenn sie ein solches nach der Seite des Sonnenaufganges suchten.

Jedenfalls schien es gerathen, diese Nachforschung nur bei ganz gutem Wetter anzustellen, und so wie Gordon gesagt hatte, geziemte es sich für sie, nicht wie Kinder, sondern wie Männer zu handeln. Bei den Umständen, unter denen sie sich befanden, bei den noch in Zukunft drohenden Gefahren, mußte ihre Lage, wenn die Knaben nicht eine frühreife Einsicht entwickelten, wenn der leichte Sinn, die natürliche Inconsequenz ihres Lebensalters sie vorwiegend beeinflußten und zwischen ihnen vielleicht gar noch Uneinigkeit eintrat – welche an sich schon bedenklich genug erschien – eine geradezu verzweifelte werden, und in Erwägung dessen war Gordon fest entschlossen, Alles zu thun, um eine gewisse Ordnung unter seinen Kameraden zu erhalten.

So eilig es Briant und Doniphan indeß mit ihrem Ausfluge hatten, zwang sie ein Umschlag der Witterung doch, diesen zu vertagen. Am nächsten Morgen fiel nämlich mit einzelnen Unterbrechungen ein recht kalter Regen herab. Das fortwährende Fallen des Barometers stellte eine Periode unstäter Witterung in Aussicht, von der Niemand vorher wissen konnte, was sie mit sich bringen würde. Unter solchen ungünstigen Bedingungen wäre es mehr als tollkühn gewesen, sich weiter hinaus zu wagen.

Uebrigens war das gewiß nicht besonders zu beklagen. Es versteht sich zwar von selbst, daß es Alle – von den Kleinsten kann hierbei nicht die Rede sein – verlangte zu wissen, ob das Meer sie von allen Seiten umschloß. Doch, wenn sie auch die Gewißheit erlangten, auf einem Festlande zu sein, hätten sie wohl daran denken können, quer durch ein ihnen völlig unbekanntes Land zu wandern, und noch obendrein, wenn der Eintritt schlechterer Jahreszeit allen Anzeichen nach so nahe bevorstand? Konnten sie die Anstrengung eines Marsches aushalten, der sich möglicher Weise über Hunderte von Meilen hin erstreckte?

Hätte der Kräftigste von ihnen Ausdauer genug besessen, ein so fernes Ziel zu erreichen? Nein! Um ein solches Unternehmen voraussichtlich glücklich durchzuführen, mußte dasselbe bis zur Zeit der langen Tage verschoben werden, wo keine Unbill der Witterung, wie sie der Winter mit sich bringt, zu befürchten war. Die kleine Gesellschaft mußte sich wohl oder übel entschließen, die kalte Jahreszeit auf dem »Sloughi« auszuhalten.

Gordon hatte sich inzwischen die Mühe nicht verdrießen lassen, festzustellen, in welchem Theile des Oceans der Schiffbruch wohl stattgefunden hätte. Der Stieler'sche Atlas, der zur Bibliothek der Yacht gehörte, enthielt auch eine Reihe Karten des Stillen Oceans. Verfolgte man nun die Wegstrecke von Auckland bis zur Westküste Amerikas, so lag nördlich desselben und jenseits der Pomotu-Inseln nichts als die Osterinsel und die Insel Juan Fernandez, auf der Selkirk – ein wirklicher Robinson – einen Theil seines Lebens zugebracht hatte. Nach Süden zu fand sich kein Land bis nach den unbegrenzten Flächen des antarktischen Oceans. Weiter östlich stieß man dann auf die längs der Küste Chiles verstreuten Chiloë- oder Madre-de-Dios-Inseln, und tiefer unten auf die Magellan-Straße und das Feuerland, um welche am Cap Horn das Meer stets mit furchtbarem Wüthen brandete.

War der Schooner gar auf eine dieser öden Inseln verschlagen worden, welche nur die Pampas zu Nachbarn haben, so würden die Knaben Hunderte von Meilen zurückzulegen haben, um nach den bewohnten Gebieten Chiles, La Platas oder der argentinischen Republik zu gelangen. Welche Hilfsmittel boten ihnen aber diese ungeheueren Einöden, wo Gefahren aller Art den Reisenden bedrohen?

Solchen Aussichten gegenüber empfahl es sich, mit größter Vorsicht zu Werke zu gehen und sich nicht einem elenden Untergang auf dem Wege durch unbekannte Gebiete auszusetzen.

Das war nicht nur Gordon's Ansicht, sondern Briant und Baxter theilten dieselbe gleichmäßig, und Doniphan und sein Anhang mußte sich ihr am Ende gezwungen auch anschließen.

Der Plan einer nach Osten weiter zu verfolgenden Nachforschung, um die Land- und Wasserverhältnisse daselbst genau kennen zu lernen, blieb natürlich bestehen, konnte jedoch während der folgenden vierzehn Tage nicht zur Ausführung gebracht werden. Das Wetter wurde geradezu abscheulich; es regnete oft vom Morgen bis zum Abend und fast unausgesetzt heulte ein mächtiger Sturm. Der Ausflug mußte also wohl oder übel verschoben werden, so sehr es sie auch verlangte, die so wichtige Frage über die Natur des Landes, auf dem sie weilten, endgültig gelöst zu sehen.

Während dieser langen stürmischen Tage sahen sich Gordon und seine Kameraden auf das Schiff beschränkt, ohne daß sie deshalb unthätig blieben. Einestheils erforderten alle Geräthe u. s. w. eine fortwährende Aufmerksamkeit und dann hatten sie auch stets Beschädigungen der Jacht auszubessern, welche von dem Ungestüm des Wetters recht ernstlich zu leiden hatte. Die Planken begannen allmählich sich weiter zu öffnen und das Deck war nicht mehr wasserdicht. An einigen Stellen drang der Regen schon durch die Fugen, deren Werg sich allmählich ausfaserte, so daß sich deren frische Kalfaterung unverzüglich nöthig machte.

Sehr dringend erschien es nun auch, ein minder unzuverlässiges Obdach zu suchen. An eine »Auswanderung« nach dem fernen Osten war unter fünf bis sechs Monaten doch nicht zu denken, und so lange hielt der »Sloughi« sicherlich nicht mehr zusammen. Mußten sie diesen aber während der rauhen Jahreszeit verlassen, wo hätten sie Unterkunft finden sollen, da der Westabhang des Steilufers nicht einmal eine Aushöhlung darbot, welche benutzt werden konnte? Jedenfalls mußten also an der anderen Seite desselben neue Nachforschungen angestellt werden, um dort, geschützt vor den Seewinden, wenn es nicht anders anging, eine für Alle ausreichende Wohnung zu erbauen.

Die jetzt dringendsten Ausbesserungen bezweckten übrigens weniger, dem eindringenden Wasser als der Luft die Wege in den Schiffsrumpf zu verschließen und die innere Wegerung, welche sich schon abzulösen begann, noch einmal zu befestigen.

Gordon hätte gerne die Reservesegel zur Umhüllung des ganzen Rumpfes der Jacht verwendet; er schrak aber doch davor zurück, diese dichten Gewebe zu opfern, welche vortrefflich zur Errichtung eines Zeltes dienen konnten, wenn sie zufällig in die Lage kamen, vorübergehend vielleicht gar unter freiem Himmel zu nächtigen.

Inzwischen war die gesammte Ladung in einzelne Ballen vertheilt und in Gordon's Notizbuche diejenigen derselben mit Nummern bezeichnet worden, welche im Nothfalle schleunigst ans Land geschafft werden sollten.

Klärte sich das Wetter einmal für wenige Stunden auf, so zogen Doniphan, Webb und Wilcox sogleich zur Jagd auf Felstauben hinaus, welche Moko mit mehr oder weniger Erfolg in verschiedener Weise zuzubereiten sich bemühte. Andererseits beschäftigten sich Garnett, Service und Cross, denen sich auch die Kleinen anschlossen und die selbst Jacques zuweilen begleitete, wenn sein Bruder das ausdrücklich verlangte, mit dem Fischfange. In ihrem Küstengewässer, welches sich sehr fischreich erwies, bot die Bai, inmitten der an den ersten Klippen abgelagerten Algen, vorzügliche Vertreter der Familie »Nothotenia,« sowie größerer und kleinerer Stockfische. Zwischen den Fäden des gewaltigen Meergrases, des »Kelps,« welche bis vierhundert Fuß Länge hatten, wimmelte es von kleinen Fischen, die man mit den Händen fangen konnte.

Da hätte man die Freudenrufe der jungen Fischer hören sollen, als sie ihre Schnuren oder Netze nach dem Rande der Klippenbank herausgezogen!

»Ich habe welche! . . . Ich habe wunderschöne Fische!« rief Jenkius. ». . . Ei, wie groß sie sind!«

»Und meine, . . . die sind noch größer als die Deinigen,« behauptete Iverson, der Dole zur Unterstützung herbeirief.

»Sie werden uns noch entwischen,« rief Costar.

Die Anderen eilten ihnen zu Hilfe.

»Fest halten! . . . Fest halten!« ermahnten Garnett und Service, von dem Einen zum Anderen laufend, »und zieht die Netze schnell ein!«

»Ich kann nicht! . . . Ich kann nicht!« wiederholte Costar, den die Last fast hinunterzog.

Mit vereinigten Kräften gelang es endlich Allen, die Netze bis auf den Sand zu schleppen. Es war die höchste Zeit, denn inmitten des klaren Wassers tummelten sich eine Menge Hyxinen, eine Art Raubbricken, welche die in den Maschen zappelnden Fische gewiß bald weggeschnappt hätten. Obwohl auf diese Weise sehr viele verloren gingen, so genügte der Rest doch noch reichlich für die Bedürfnisse des Tisches. Vorzüglich die kleinen Stockfische lieferten, sowohl frisch genossen, wie in Salz eingesetzt, ein vortreffliches Fleisch.

Bezüglich des Fanges an der Mündung des Rio, so erzielte dieser nur mittelmäßige Exemplare von »Galaxias,« eine Art Gründling, welche Moko als Backfische zubereitete.

Am 27. März gab ein bedeutsamer Fang Veranlassung zu einem recht drolligen Auftritte. Im Laufe des Nachmittags, als der Regen einmal aufgehört hatte, begaben sich die Kleinen mit ihren Fischgeräthen nach dem Rio.

Plötzlich ertönten laute Schreie – mittels welchen sie die Anderen zu Hilfe riefen.

Gordon, Briant, Service und Moko, welche an Bord des Schooners beschäftigt waren, unterbrachen ihre Arbeit und eilten in der Richtung hin, von der die Rufe ertönten. Bald hatten sie die fünf- bis sechshundert Schritte Entfernung bis zum Rio zurückgelegt.

»Schnell, schnell, hierher! . . . Kommt hierher!« rief Jenkins.

»Schnell, schnell, seht nur Costar mit seinem Renner!« sagte Iverson.

»Noch schneller, Briant, noch schneller oder er geht uns durch!« wiederholte Jenkins.

»Genug! . . . Genug! Laß mich herunter! . . . Ich fürchte mich!« rief Costar weinend und mit den kläglichsten Geberden.

»Hui! . . . Hui!« rief dagegen Dole, der hinter Costar auf einer sich bewegenden Masse Platz genommen hatte.

Diese Masse war nichts anderes als eine sehr große Schildkröte, einer jener gewaltigen Chelonier, die man meist auf der Oberfläche des Meeres eingeschlafen antrifft.

Hier war sie jedoch auf dem Strande überrascht worden und suchte jetzt ihr natürliches Element wieder zu gewinnen.

Vergebens bemühten sich die Kinder, nachdem sie eine Leine um den Hals des Thieres geschlungen, die sich auch über dessen Rücken hin fortsetzte, das kräftige Thier zurückzuhalten, dieses kroch immer weiter, und wenn es auch nicht schnell von der Stelle kam, so zog es doch mit unwiderstehlicher Gewalt die ganze Gesellschaft nach sich. Aus Scherz hatte Jenkins den kleinen Costar auf den Rückenschild gesetzt und Dole hielt rittlings hinter ihm den Knaben fest, der nun um so ängstlicher schrie, je mehr die Schildkröte sich dem Meere näherte.

»Nur Muth, Costar, nur Muth!« rief Gordon.

»Und achte darauf, daß Dein Pferd nicht die Trense zwischen die Zähne nimmt!« setzte Service hinzu.

Briant konnte sich, da von einer Gefahr gar keine Rede war, des Lachens nicht enthalten. Wenn Dole Costar losließ, so brauchte dieser nur hinabzugleiten, um jeder Furcht ledig zu sein.

Dringend schien es dagegen, das Thier zu fangen. Es lag auf der Hand, daß Alle zusammen, wenn auch Briant seine Kräfte mit denen der Kleinen vereinte, nicht im Stande sein würden, dasselbe aufzuhalten. Man mußte also auf ein Mittel denken, dessen Weiterkriechen zu verhindern, ehe es im Wasser verschwand, wo es dann unbedingt in Sicherheit war.

Die Revolver, welche Gordon und Briant vom Schooner mitgenommen hatten, konnten hier zu nichts dienen, denn der Rückenpanzer einer Schildkröte verträgt eine Kugel ohne Schaden, und wenn man dieselbe mit Äxten angegriffen hätte, so zog jene einfach Kopf und Füße ein und vereitelte damit jeden Angriff.

»Es gibt nur ein einziges Mittel,« sagte Gordon, »und das besteht darin, sie auf den Rücken zu wenden.«

»Doch wie?« erwiderte Service, »das Thier da wiegt wenigstens seine dreihundert Pfund, und wir werden nie im Stande sein . . .«

»Sparren, Sparren holen!« rief Briant.

Begleitet von Moko lief er, was ihn die Füße tragen konnten, nach dem »Sloughi« zurück.

In diesem Augenblicke befand sich die Schildkröte nur noch dreißig Schritte vom Meere. Gordon beeilte sich, um Costar und Dole, die noch immer auf dem Thiere saßen, herunter zu heben. Dann packten Alle den Strick und zerrten mit Leibeskräften daran rückwärts, ohne den Gang des Thieres nur verzögern zu können; ja, dieses wäre wohl im Stande gewesen, die ganze Pension Chairman fortzuschleppen.

Glücklicherweise kamen Briant und Moko zurück, ehe die Schildkröte das Meer erreicht hatte.

Zwei Sparren wurden ihr unter das Brustschild geschoben, und mit Hilfe dieser Hebel gelang es endlich, freilich nicht ohne große Anstrengung, sie auf den Rücken zu wenden. Hiermit war dieselbe endgiltig gefangen, da sie unmöglich wieder selbst auf die Füße zu kommen vermochte.

In dem Augenblick übrigens, wo sie den Kopf einziehen wollte, traf sie Briant mit einem so wohlgezielten Axthieb, daß sie das Leben fast augenblicklich verlor.

»Nun, Costar, hast du noch immer vor der großen Schnecke Angst?« fragte er den kleinen Knaben.

»Nein, nein, Briant, die ist ja todt.«

»Schön,« rief Service, »ich wette aber, daß Du nicht von ihr zu essen wagst.«

»Kann man das Thier denn essen?«

»Gewiß!«

»Dann, wenn es gut ist, ess' ich auch davon!« erwiderte Costar, dem schon das Wasser im Munde zusammenlief.

»O, es ist sogar ausgezeichnet,« versicherte Moko, der gar nicht genug rühmen konnte, wie schmackhaft das Fleisch der Schildkröten sei.

Da man nicht daran denken konnte, diese schwere Masse nach der Yacht zu befördern, mußte man sich zum Ausweiden derselben an Ort und Stelle entschließen. Das war zwar eine etwas widerwärtige Arbeit; die jungen Schiffbrüchigen gewöhnten sich indessen schon langsam an die mancherlei recht unangenehmen Nothwendigkeiten dieses Robinsonlebens. Die schwierigste Aufgabe war es, das Brustschild zu zersprengen, dessen metallische Härte selbst die Schneide einer Axt schartig gemacht hätte. Es gelang das endlich nach Einführung eines Bankmeißels in die Verbindungsstellen der Platten. Darauf wurde das in Stücken geschnittene Fleisch nach dem »Sloughi« geschafft.

Noch am nämlichen Tage konnten sich Alle überzeugen, daß die Schildkrötenbouillon wirklich vorzüglich schmeckte, ganz zu geschweigen von den gerösteten Fleischschnitten, welche verzehrt wurden, obwohl Moko auf den glühenden Kohlen sie hatte etwas schwarz werden lassen. Auch Phann bezeigte auf seine Weise, daß die Reste des Thieres für eine Hundezunge nicht zu verachten waren.

Die Schildkröte hatte über sechzig Pfund Fleisch geliefert, wodurch es möglich wurde, die Vorräthe der Yacht zu schonen.

Unter solchen Verhältnissen verstrich der Monat März. Während der drei Wochen seit dem Schiffbruche des »Sloughi« hatte Jeder nach besten Kräften gearbeitet, schon im Hinblick auf ein längeres Verweilen an dieser Küste. Jetzt kam es, ehe der Winter seinen Einzug hielt, darauf an, die wichtige Frage, ob Festland oder Insel, mit Bestimmtheit zu lösen.

Am 1. April wurde es offenbar, daß die Witterung in nächster Zeit umschlagen würde. Das Barometer stieg langsam und der Wind, der auf das Land zustand, schwächte sich mehr und mehr ab. Man konnte sich über diese Vorzeichen einer bevorstehenden Ruhe der Atmosphäre, und zwar einer länger andauernden, nicht täuschen. Die Umstände gestatteten damit einen Forschungszug nach dem Innern des Landes.

Die Großen sprachen an jenem Tage schon davon und begannen nach reiflicher Ueberlegung bereits die Vorbereitungen zu jenem Ausfluge, dessen hohe Bedeutung sich Keiner verhehlte.

»Ich denke,« begann Doniphan, »daß uns nichts abhält, schon morgen früh aufzubrechen? . . .«

»Ich hoffe, nichts,« antwortete Briant, »und dann werden wir uns zu früher Stunde aufmachen müssen.«

»Ich habe aufgeschrieben,« ließ Gordon sich vernehmen, »daß die Landgrenze der im Osten wahrgenommenen Wasserlinie sich sechs bis sieben Meilen vom Vorgebirge befinden soll.«

»Ja,« bestätigte Briant; »da sich die Bai aber tief ins Land hineinzieht, ist es möglich, daß die Entfernung von unserem Lager aus eine kürzere wäre.«

»Und dann,« nahm Gordon das Wort, »könnte Euer Ausflug ja kaum über vierundzwanzig Stunden in Anspruch nehmen.«

»Gewiß, Gordon, wenn es uns möglich ist, direct nach Osten hin vorzudringen; doch werden wir einen Weg durch die Wälder finden, wenn wir das Steilufer erst hinter uns haben?«

»O, das ist die Schwierigkeit nicht, die uns aufhalten dürfte,« bemerkte Doniphan.

»Zugegeben,« antwortete Briant, »doch andere Hindernisse könnten uns den Weg verlegen, ein Wasserlauf, ein Sumpf oder was weiß ich? Es erscheint also gewiß rathsam, sich mit Nahrungsmitteln für eine mehrtägige Reise zu versehen.«

»Und mit Munition,« setzte Wilcox hinzu.

»Das versteht sich von selbst,« erwiderte Briant, »und Du, Gordon, brauchst Dich, im Falle wir nach vierundzwanzig Stunden noch nicht zurück wären, um uns nicht zu ängstigen.«

»Ich werde schon unruhig sein, wenn Eure Abwesenheit auch nur einen halben Tag dauert,« antwortete Gordon. »Doch was reden wir hiervon – der Ausflug ist einmal beschlossen, und Ihr werdet ihn unternehmen. Uebrigens darf der Zweck desselben nicht allein der sein, das im Osten gesehene Meer zu erreichen; Ihr müßt auch das Land jenseits des Steilufers ins Auge fassen. An unserer Seite hier haben wir keine Höhle gefunden, und wenn wir den »Sloughi« erst verlassen müssen, wollen wir unser Lager doch da aufschlagen, wo es vor den Seewinden geschützt ist. Die schlechte Jahreszeit auf diesem Strande zuzubringen, erscheint mir unthunlich.«

»Du hast Recht, Gordon,« stimmte Briant ihm zu, »und wir werden nach einem Plätzchen suchen, wo wir uns später häuslich niederlassen können . . .«

»Es müßte sich denn nachweisen lassen, daß wir diese vermeintliche Insel nicht verlassen können,« bemerkte Doniphan, der immer auf seine Rede zurückkam.

»Das versteht sich, vorausgesetzt, daß die schon weit vorgeschrittene Jahreszeit es gestattet,« antwortete Gordon. »Nun, wir werden ja unser Bestes thun. Morgen also zum Aufbruch!«

Die Vorbereitungen waren bald beendet. Lebensmittel für vier Tage, in Säcken, welche an einem breiten Gurt getragen wurden, vier Flinten, vier Revolver, zwei kleine Schiffsäxte, ein Taschencompaß, ein weittragendes Fernrohr, um das Land in einem Umkreis von drei bis vier Meilen genau überblicken zu können, Reisedecken, ferner neben dem gewöhnlichen Inhalt der Taschen, Lunten und Feuerstahl, nebst Streichhölzchen, das schien für die Bedürfnisse einer kürzeren aber nicht ungefährlichen Expedition zu genügen. Briant, wie Doniphan, ebenso Service und Wilcox, welche Jene begleiten sollten, mußten jedenfalls vorsichtig vorgehen, die Augen immer überall hinwenden und durften sich nicht trennen.

Gordon sagte sich wohl, daß seine Anwesenheit zwischen Briant und Doniphan nicht unnütz gewesen wäre; es erschien ihm aber doch klüger, bei dem »Sloughi« zu bleiben, um die kleineren Gefährten zu überwachen. Von Briant, den er einmal bei Seite nahm, erhielt er übrigens die Zusicherung, daß dieser jede gereizte Auseinandersetzung und jeden Streit unbedingt vermeiden werde.

Die Vorhersagung des Barometers war in Erfüllung gegangen. Vor dem Ende des Tages waren die letzten Wolken im Norden verschwunden. Die Kreislinie des Meeres zeichnete sich im Westen scharf am Horizonte ab. Die prächtigen Sternbilder der südlichen Halbkugel flimmerten am Firmament und unter ihnen das herrliche südliche Kreuz, welches am antarktischen Pole der Welt leuchtet.

Am Abend der bevorstehenden Trennung fühlten Gordon und seine Kameraden ihr Herz recht schwer belastet. Was konnte sich Alles bei einem Ausfluge ereignen, der vielleicht unerwartete Zwischenfälle bot. Und während ihre Blicke am Sternenhimmel hafteten, wendeten sich die Gedanken ihren Eltern, ihren Familien und der theuren Heimat zu, welche sie vielleicht niemals wiedersehen sollten! . . .

Da knieten die Kleinen vor dem südlichen Kreuz nieder, wie sie es vor dem Kreuze einer Kapelle gethan hätten. Rief es sie denn nicht, zu dem allmächtigen Schöpfer dieser Himmelswunder zu beten und ihre Hoffnung auf ihn zu setzen?

 


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