Jules Verne
Der Courier des Czaar – Erster Band
Jules Verne

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Fünfzehntes Capitel

Der Barabinen-Sumpf

Es war Michael Strogoff's Glück gewesen, daß er das Posthaus so schnell als möglich verließ. Auf Iwan Ogareff's Befehl wurden sofort alle Ausgänge der Stadt scharf bewacht und sein Signalement allen Postmeistern mitgetheilt, um sein Entkommen aus Omsk zu verhindern. Als das aber geschah, hatte er schon eine Bresche des Erdwalls hinter sich, sein Pferd jagte durch die Steppe, und da er keine unmittelbaren Verfolger hinter sich sah, durfte er auf das Gelingen seiner Flucht wohl hoffen. Am 29. Juli, Abends gegen acht Uhr, hatte Michael Strogoff Omsk verlassen. Diese Stadt liegt ungefähr in der Mitte des Weges von Moskau nach Irkutsk, woselbst er vor Ablauf von zehn Tagen eintreffen mußte, wenn er die tartarischen Horden hinter sich lassen wollte. Offenbar hatte der beklagenswerte Zufall, welcher ihn seiner Mutter vor Augen führte, sein Incognito verrathen. Iwan Ogareff konnte nicht mehr darüber im Unklaren sein, daß ein Courier des Czaaren auf dem Wege nach Irkutsk durch Omsk gekommen sei. Die Depeschen dieses Eilboten mußten von besonderer Wichtigkeit sein. Michael Strogoff ahnte also auch, daß man Alles daran setzen werde, sich seiner Person zu bemächtigen.

Was er aber nicht wußte, was er nicht wissen konnte, war, daß Marfa Strogoff sich in Iwan Ogareff's Gewalt befand, daß sie büßen, vielleicht mit ihrem Leben bezahlen sollte für die Erregung ihres Mutterherzens, die sie bei dem unerwarteten Anblick ihres Sohnes nicht zu unterdrücken im Stande gewesen war. Ein Glück für ihn, daß er davon nichts wußte! Hätte er dieser neuen Prüfung widerstehen können?

Michael Strogoff trieb sein Roß an, er flößte ihm gleichsam dieselbe fieberhafte Ungeduld ein, die ihn verzehrte; er verlangte nur das Eine von dem Thiere, ihn so schnell als möglich nach dem nächsten Relais zu tragen, wo er es gegen ein noch schnelleres Beförderungsmittel einzutauschen hoffte.

Um Mitternacht hatte er siebzig Werst zurückgelegt und machte bei der Station Kulikowo Halt. Doch auch hier fand er, eine Bestätigung seiner Besorgniß, weder Pferde noch Wagen. Einzelne Abtheilungen Tartaren waren schon auf der Hauptstraße durch die Steppe dahin gezogen. In den Dörfern und den Postrelais hatte man Alles requirirt oder geradezu gestohlen. Michael Strogoff konnte kaum einige Nahrung für sich und etwas Futter für sein Pferd erhalten.

Er mußte dieses Pferd, für das sich kein Ersatz mehr zu bieten schien, etwas schonender behandeln. Da er aber zwischen sich und den ihm von Iwan Ogareff jedenfalls nachgesendeten Reitern den größtmöglichen Zwischenraum sehen wollte, beschloß er möglichst schnell weiter zu eilen. Nach einer nur einstündigen Ruhe schlug er also den Weg durch die Steppe schon wieder ein.

Bisher hatten die Witterungsverhältnisse die Reise des Czaarencouriers auffallend begünstigt. Die Lufttemperatur hielt sich in erträglichen Grenzen. Die zu dieser Jahreszeit kurze, aber von den durch einen leichten Wolkenschleier dringenden Mondstrahlen mit einem angenehmen Dämmerlichte gemilderte Nacht machte die Straße leidlich gangbar. Michael Strogoff zog übrigens, als ein seines Weges kundiger Mann, sicher, ohne Zweifel, ohne Zögern dahin. Trotz der schmerzlichen Gedanken, die ihn hartnäckig verfolgten, hatte er sich doch eine außerordentliche Klarheit des Geistes bewahrt und steuerte auf sein Ziel zu, als ob dieses Ziel schon am Horizonte sichtbar sei. Hielt er, vielleicht bei einer Biegung des Weges, einen Augenblick an, so geschah es, um sein Pferd etwas Athem schöpfen zu lassen. Dann stieg er, zur Erleichterung des Thieres, einmal ab, drückte das Ohr auf den Erdboden und lauschte, ob sich der Schall von galopirenden Pferden an der Oberfläche der Steppe fortleitete. Hatte er nichts Verdachterweckendes wahrgenommen, so setzte er seinen Weg wieder fort.

O, breitete sich jetzt doch die Polarnacht über diese weite sibirische Ebene, diese mehrere Monate andauernde Nacht! Es wäre viel leichter gewesen, jene sicher zu durchreisen.

Am 30. Juli, gegen neun Uhr Morgens, passirte Michael Strogoff die Station Turumoff und begab sich von hier aus nun in die Sumpfdistricte der Barabinen-Steppe.

Auf einem Gebiete von 300 Werst Länge konnten hier schon die natürlichen Hindernisse allein große Schwierigkeiten verursachen. Der Courier wußte das, aber er wußte auch, daß er alle siegreich überwinden werde.

Die ausgedehnten, von Norden nach Süden zwischen dem 60. und 52. Breitengrade liegenden Barabinen-Sümpfe bilden das große Sammelbassin derjenigen atmosphärischen Niederschläge, welche weder durch den Obi noch durch den Irtysch einen Abfluß finden. Der Boden dieser ungeheuren Tiefebene besteht aus fast ganz undurchlässigem Lehm, sodaß das Wasser darüber stehen bleibt und eine während der warmen Jahreszeit schwer zu passirende Gegend darstellt.

Gerade durch diesen Landstrich führt aber die Straße nach Irkutsk, mitten durch die zahlreichen Sümpfe, Teiche, Seen, deren gesundheitsgefährliche Ausdünstungen bei der heißen Sommersonne den Reisenden mindestens mit schweren Mühseligkeiten, wenn nicht gar mit tückischer Gefahr bedrohen.

Im Winter freilich, wenn der Frost Alles, was sonst flüssig war, erstarren ließ, wenn der dichte Schnee den Boden geebnet und geglättet, die schädlichen Miasmen condensirt und unter sich begraben hat, dann stiegen die leichten Schlitten gefahrlos über die erhärtete Kruste der Barabinen-Steppe. Dann durchziehen fleißig die Jäger die wildreichen Gründe und verfolgen die Marder, die Zobel und die kostbaren Füchse, deren Felle so gesucht sind. Während des Sommers dagegen wird diese Sumpfgegend kothig, brütet gefährliche Krankheiten aus und ist bei einigermaßen hohem Wasserstande überhaupt gar nicht zu passiren.

Michael Strogoff lenkte sein Pferd quer durch einen Torfmoor, der nicht mehr mit jenem kurzen, glatten Rasen, bedeckt erschien, von welchem sich die zahllosen sibirischen Heerden sonst fast ausschließlich ernähren. Hier dehnte sich nicht mehr eine Wiese ohne Grenzen vor seinen Blicken aus, sondern eine Art ungeheurer Haide mit baumartigem Gesträuch.

Der Rasen stieg hier bis fünf und sechs Fuß Höhe auf. Das feine Gras hatte den Platz geräumt vor üppigen Sumpfpflanzen, denen die andauernde Feuchtigkeit im Verein mit der brennenden Hitze des Sommers wahrhaft gigantische Formen verlieh. Vorzugsweise waren es Binsen und Schilf, welche ein unentwirrbares Netz, ein undurchdringliches Gitter bildeten, geschmückt mit Tausenden von Blumen von ungemein lebhaften Farben, darunter vor Allem Lilien und Irisarten, deren Wohlgerüche sich mit den warmen, dem Boden entsteigenden Dünsten mischten.

Michael Strogoff galopirte zwischen den hohen Binsen dahin, wobei ihn von den die Straße begleitenden Sümpfen aus Niemand mehr sehen konnte. Die großen Stengel überragten ihn sammt dem Pferde, und nur das Aufflattern unzähliger Wasservögel, die sich neben seinem Pferde erhoben und in schreienden Gruppen in der Luft zertheilten, verrieth, daß sich Etwas in jenem Dickicht bewege.

Die Straße selbst war übrigens in leidlichem Zustande. Hier schnitt sie in gerader Linie durch das dichte Gewirr der Sumpfpflanzen, dort wand sie sich um das gekrümmte Ufer ausgedehnter Teiche, von denen einige bei einer Länge von mehreren Wersten und ebenso großer Breite schon den Namen von Seen verdient hätten. An anderen Stellen endlich hatte man einzelne stehende Gewässer nicht umgehen können; für Ueberschreitung derselben dienten aber keine Brücken in unserem gewohnten Sinne, sondern eine Art Plateform mit übergelegten Bohlen, welche ebenso leicht schwankten, wie ein zu dünner über einen Graben gelegter Steg. Einige dieser primitiven Straßenbrücken dehnten sich bis auf zwei- und dreihundert Schritte Länge aus, und man erzählt sich, daß Reisende, mindestens reisende Damen beim Fahren über einen solchen schwankenden Weg nicht gar so selten eine Art Seekrankheit bekommen hätten.

Michael Strogoff jagte, ob er nun festen oder schwankenden Boden unter sich hatte, immer mit derselben Schnelligkeit dahin und setzte in kühnem Sprunge über die Lücken hinweg, welche die halb verfaulten Planken an manchen Stellen zwischen sich ließen; so schnell aber Roß und Reiter auch dahin flogen, so konnten sie doch den belästigenden Stichen der zweiflügeligen Insecten nicht entfliehen, die in jenen sumpfreichen Gegenden zur wahren Landplage werden.

Sind Reisende gezwungen, im Sommer durch die Barabinen-Steppe zu fahren, so versehen sie sich mit Masken aus Pferdehaar, an welche sich ein Stück feinmaschiges Panzerhemd zum Schutze der Schultern anschließt. Doch trotz dieser Vorsichtsmaßregeln kommen nur Wenige wieder, ohne zahllose rothe Tüpfel im Gesicht, auf dem Hals und den Händen davon getragen zu haben, aus diesem Sumpfdistricte heraus. Die ganze Atmosphäre erscheint dort wie erfüllt mit haarfeinen Nadeln, und man wird zu dem Glauben verführt, daß kaum eine complete Ritterrüstung zum Schutz gegen die Stacheln dieser Zweiflügler hinreichen könne. Hier ist eine traurige Gegend, die der Mensch den Mücken, Schnaken und Stechfliegen nur mit Aufwand vieler Mittel streitig macht, – ganz zu schweigen von den Milliarden mikroskopischer Insecten, welche man mit unbewaffnetem Auge überhaupt nicht wahrzunehmen im Stande ist; doch wenn man sie auch nicht sieht, so fühlt man sie desto mehr wegen ihrer unerträglich quälenden feinen Stiche, gegen welche auch hartgesottene sibirische Jäger niemals gleichgiltig werden.

Michael Strogoff's Pferd sprang, von den giftigen Dipteren überfallen, häufig auf, als würden ihm tausend Sporen auf einmal in die Flanke gedrückt. Dann jagte es, raste und flog es in toller Wuth Werst für Werst mit der Schnelligkeit eines Eilzuges dahin, peitschte die Seiten mit dem Schweife und suchte in der Flucht eine Linderung seiner Qualen.

Es gehörte ein so sattelfester Reiter wie Michael Strogoff dazu, um durch die unerwarteten Bewegungen des Pferdes, durch dessen Aufbäumen und Sprünge, zu denen die unausgesetzten Fliegenstiche es reizten, nicht abgeworfen zu werden. Fast unempfindlich geworden gegen physischen Schmerz, nur beseelt von dem einen Verlangen, um jeden Preis sein Ziel zu erreichen, sah er in dieser sinnlosen Jagd nichts weiter, als daß er seinen Weg mit glücklicher Eile zurücklegte.

Wer würde nun glauben, daß diese in der heißen Jahreszeit so ungesunde Barabinen-Steppe doch noch einer Anzahl Menschen Asyl böte?

Und doch ist es an dem. In großen Zwischenräumen tauchen da und dort sibirische Weiler auf zwischen den gigantischen Binsen. Männer, Frauen, Kinder und Greise, in Thierfelle gekleidet und das Gesicht mit einer pechüberzogenen Maske bedeckt, führen ihre dürftigen Heerden zur Weide; um die Thiere aber vor den Angriffen der Insecten zu schützen, halten sie dieselben stets unter dem Winde in der Nähe von Feuern aus grünem Holze, die sie Tag und Nacht unterhalten und deren beißende Rauchsäulen sich schwerfällig über die morastige Niederung ausbreiten.

Als Michael Strogoff bemerkte, daß sein Pferd auf dem Punkte stand, vor Erschöpfung zusammenzubrechen, machte er in einem jener elenden Dörfchen halt und rieb, seine eigene Ermüdung vergessend, die vielen Stiche des armen Thieres nach sibirischer Sitte mit warmem Fett ein; dann gab er ihm eine tüchtige Ration Futter, und erst als er es den Umständen nach bestmöglich untergebracht und mit Allem versorgt hatte, dachte er an seine Person, verzehrte zur Wiederherstellung seiner Kräfte etwas Brod und Fleisch und trank einige Gläser Kwaß dazu. Nach einer, höchstens zwei Stunden der Ruhe begab er sich wieder auf seinen endlosen Weg nach dem fernen Irkutsk.

Von Turumoff aus hatte er auf diese Weise neunzig Werst zurückgelegt und kam am 30. Juli, gegen vier Uhr Nachmittags, unempfindlich für jede Anstrengung, in Elamsk an.

Daselbst mußte er seinem Pferde eine Nacht Ruhe gönnen. Das muthige Thier hätte jetzt die Reise unmöglich fortzusetzen vermocht.

In Elamsk fand sich ebenso wenig als anderswo ein bequemeres Beförderungsmittel. Aus den nämlichen Gründen, wie in den andern kleinen Städten und Flecken, fehlte es auch hier vollkommen an Wagen oder Pferden.

Elamsk, eine kleine Stadt, in welche die Tartaren noch nicht eingedrungen waren, erwies sich fast ganz entvölkert, denn es konnte von Süden her sehr leicht überfallen, aber von Norden her nur sehr schwierig beschützt werden. Auf höheren Befehl waren das Posthaus, das Polizeiamt, das Regierungsgebäude ebenfalls verlassen, und Beamte ebenso wie Einwohner nach dem nördlicher gelegenen Kamsk, in der Mitte der Barabinen-Steppe, ausgewandert.

Michael Strogoff mußte sich also darauf beschränken, in Elamsk die Nacht zuzubringen und seinem Pferde zwölf Stunden Ruhe zu gönnen. Er erinnerte sich der ihm in Moskau an's Herz gelegten Instructionen, Sibirien unerkannt zu durchreisen, auf jeden Fall und sobald als möglich Irkutsk zu erreichen, aber, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze, den Erfolg seiner Fahrt nicht der Schnelligkeit wegen auf's Spiel zu setzen, – in Anbetracht dieser Umstände hatte er die Verpflichtung, das einzige ihm noch verbliebene Beförderungsmittel, das Reitpferd, vernünftig zu schonen.

Am folgenden Tage verließ Michael Strogoff Elamsk wieder, eben als man das Erscheinen tartarischer Plänkler, auf der Straße durch die Barabinen-Steppe, etwa zehn Werst jenseit der Stadt, anmeldete, und trabte wieder in die sumpfige Niederung hinaus. Die Straße lief zwar ganz eben hin, wodurch das Fortkommen erleichtert, aber in vielfachen Windungen, wodurch der Weg sehr verlängert wurde. Uebrigens verboten es die Bodenverhältnisse unbedingt, etwa die Einhaltung einer geraden Linie quer durch diese Tümpel und Teiche zu versuchen.

Am darauf folgenden Tage, am 1. August, erreichte Michael Strogoff gegen Mittag den 120 Werst weiter gelegenen Flecken Spaskoë, und um zwei Uhr hielt er bei der darauf folgenden kleinen Ortschaft, Pokrowskoë, zum ersten Male wieder an.

Sein durch den langen Ritt von Elamsk bis hierher über Gebühr angestrengtes Roß hätte auch keinen Schritt mehr vorwärts thun können.

Bei dieser ihm aufgezwungenen Ruhe verlor Michael Strogoff zwar den Rest des Tages und die darauf folgende Nacht, aber er gelangte am nächsten Tage, dem 2. August, nach einem 75 Werst langen Wege durch das halb unter Wasser stehende Gebiet doch bis zu dem Städtchen Kamsk.

Hier bot die Landschaft ein wesentlich anderes Bild. Der kleine Flecken Kamsk liegt wie eine wohnliche, gesunde Insel mitten in diesem unheilvollen Gebiete. Er nimmt gerade den Mittelpunkt der Barabinen-Steppe ein. Dort haben sich, eine heilsame Folge der Kanalisirung des Tom, eines bei Kamst vorbeiziehenden Nebenflusses des Irtysch, die pestaushauchenden Sümpfe in üppige, fette Weiden verwandelt. Dennoch vermochten diese Bodenmeliorationen noch nicht völlig jene Fieber zu besiegen, welche den Aufenthalt in dieser Stadt während des Herbstes noch einigermaßen gefährden. Immerhin flüchten sich hierher die wenigen Bewohner der Barabinen-Steppe, wenn die verderblichen Sumpfmiasmen sie aus den übrigen Theilen der Provinz vertreiben.

Die durch die Tartaren-Invasion verursachte allgemeine Auswanderung hatte Kamst doch noch nicht entvölkert. Die Bewohner glaubten sich in der Mitte ihres für größere Truppenmassen so schwer zugänglichen Landes verhältnißmäßig sicher, mindestens waren sie der Ansicht, zur Flucht noch immer Zeit zu haben, wenn sie unmittelbar bedroht würden.

Michael Strogoff konnte hier, so sehr er es auch wünschte, keinerlei neuere Nachrichten erhalten. Jedenfalls hätte sich der Gouverneur vielmehr an ihn gewendet, wäre ihm der wirkliche Charakter dieses angeblichen Kaufmanns aus Irkutsk bekannt gewesen. Kamsk schien in Folge seiner besonders günstigen Lage der übrigen sibirischen Welt in der That nicht anzugehören und gänzlich außerhalb der ernsten Ereignisse zu stehen, die jene erschütterten.

Uebrigens zeigte sich Michael Strogoff möglichst wenig oder gar nicht. Ihm genügte es nicht, jedes Aufsehen zu vermeiden, er wünschte überhaupt gar nicht gesehen zu werden. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit verdoppelten seine Vorsicht in der Gegenwart wie für die Zukunft. So hielt er sich denn ganz zurückgezogen, trug gar kein Verlangen, die wenigen Straßen des Städtchens zu durchlaufen, und wollte das Gasthaus, in dem er abgestiegen war, überhaupt nicht verlassen.

In Kamsk hätte Michael Strogoff wohl einen Wagen kaufen und das Reitpferd, welches ihn von Omsk bis hierher getragen, durch ein bequemeres Beförderungsmittel ersetzen können. Nach reiflicher Ueberlegung sagte er sich aber, daß das Einhandeln eines Tarantaß doch die Aufmerksamkeit mehr, als ihm lieb war, auf ihn lenken mußte, und da er die von den Tartaren besetzte Linie noch nicht überschritten hatte, eine Linie, welche etwa mit dem Irtyschstrome abschnitt, so wollte er es nicht wagen, irgend welchen Verdacht zu erwecken.

Um übrigens diese Barabinen-Steppe zu durcheilen, durch diese Sumpfniederung zu fliehen, im Fall ihn eine directere Gefahr bedrohen sollte, um den zu seiner Verfolgung entsendeten Reitern einen Vorsprung abzugewinnen, um sich im Nothfall auch durch das dichteste Binsenmeer hindurchzuschlagen, war ein Pferd offenbar mehr werth, als ein Wagen. Später, vielleicht jenseit Tomsk oder gar hinter Krasnojarsk, hoffte Michael Strogoff in irgend einer bedeutenderen Stadt Sibiriens passendere Gelegenheit zu finden, sich mehr Bequemlichkeit zu verschaffen.

Sein jetziges Reitpferd aber gegen ein anderes umzutauschen, dieser Gedanke kam ihm gar nicht in den Sinn. Er hatte sich an dieses ausdauernde Thier schon gewöhnt; er wußte, was er von ihm verlangen konnte. Als er es in Omsk erkaufte, hatte er eine glückliche Hand gehabt, und dankbar pries er noch immer jenen Mujik, der ihn dort zu dem betreffenden Posthalter führte. Doch nicht nur Michael Strogoff fühlte eine gewisse Anhänglichkeit seinem Pferde gegenüber, auch dieses schien sich allgemach an die Strapazen einer solchen Parforce-Reise zu gewöhnen, und wenn ihm nur je einige Stunden Ruhe gegönnt wurden, konnte sein Reiter wohl hoffen, bis über die überfallenen Provinzen hinaus zu gelangen.

Während dieses Abends und der Nacht vom 2. zum 3. August verhielt sich Michael Strogoff also in seinem Gasthause am Eingange des Städtchens, einem wenig besuchten Gasthause ohne zudringliche und neugierige Gäste.

Von Ermüdung übermannt, legte er sich zwar bald, aber doch nicht eher nieder, als bis er wußte, daß es seinem Pferde an nichts fehle; trotzdem vermochte er nur einen häufig unterbrochenen Schlummer zu finden. Zu viele Erinnerungen, zu viele Sorgen für die Zukunft regten sich in ihm. Die Bilder seiner betagten Mutter und seiner schutzlos verlassenen, muthigen jungen Gefährtin zogen abwechselnd vor seinem Geiste auf oder verschmolzen in ihm wohl auch zu einem einzigen sorgenden Gedanken.

Dann erinnerte er sich wieder seiner Sendung, an deren Ausführung ein Eid ihn band. Was er seit seinem Aufbruche von Moskau selbst gesehen, ließ ihn immer mehr die Wichtigkeit derselben erkennen. Fielen dann seine Blicke einmal auf den mit dem kaiserlichen Siegel verschlossenen Brief, diesen Brief, der ohne Zweifel das Heilmittel gegen so zahllose Uebel des von einem wilden, blutigen Kriege zerrissenen Landes enthielt, – dann bemächtigte sich Michael Strogoff's fast unbesiegbares Verlangen, sofort wieder durch die Steppe weiter zu jagen, mit der Hast eines Vogels die Strecke zu überfliegen, die ihn noch von Irkutsk trennte, ein Adler zu sein, um alle Hindernisse überwinden zu können, ein Orkan, um mit der Schnelligkeit von hundert Werst die Stunde über der Erde dahin zu rasen und endlich vor den Großfürsten zu treten und ihm zuzurufen: »Kaiserliche Hoheit, von Seiner Majestät dem Czaaren!«

Am andern Morgen um sechs Uhr früh ritt Michael Strogoff wieder mit der Absicht weiter, an diesem Tage die 84 Werst (= 89 Kilometer) von Kamsk bis Ubinsk zurückzulegen. Jenseit eines Kreises von etwa 20 Werst fand er ganz die sumpfige Barabinen-Steppe wieder, welche hier kein Ableitungsgraben mehr trocken legte, so daß der Erdboden manchmal einen Fuß hoch unter Wasser stand. Dann war die Straße nur schwierig zu erkennen, aber er legte diesen Wegtheil, Dank seiner umsichtigen Aufmerksamkeit, doch ohne Unfall zurück.

In Ubinsk angelangt ließ Michael Strogoff sein Pferd die ganze Nacht über rasten, denn er wollte am folgenden Tag die 100 Werst betragende Entfernung zwischen Ubinsk und Ikulskoë durchmessen. Er brach also mit der Morgenröthe auf, aber leider gestaltete sich die Straße durch diesen Theil der Barabinen-Steppe immer unwegsamer.

Zwischen Ubinsk und Kamakowa hatten sich nämlich die reichlichen Regenniederschläge der letztvergangenen Wochen wie in einer undurchlässigen Schüssel in der verhältnißmäßig engen Bodensenkung angesammelt. Das unentwirrbare Netz von Sümpfen, Teichen und Seen hing fast ohne Unterbrechung zusammen. Einen dieser Seen, – übrigens einer von solcher Größe, daß er in der geographischen Nomenklatur wohl einen Platz verdient hätte, – den Tschang (ein von den Chinesen ihm beigelegter Name), mußte Michael Strogoff auf einer Strecke von 20 Werst längs seines Ufers unter den größten Schwierigkeiten umreiten, was nothwendiger Weise einige Verzögerungen veranlaßte, die er trotz seiner Ungeduld doch nicht zu vermeiden vermochte. Er sah recht deutlich ein, wie gut er daran gethan, sich in Kamsk nicht einen Wagen zu nehmen, denn sein Pferd kam hier unter Verhältnissen noch vorwärts, die jeden Wagen unbedingt aufgehalten hätten.

Abends gegen neun Uhr in Ikulskoë angekommen, verweilte Michael Strogoff daselbst die ganze Nacht. In diesem in der Barabinen-Steppe verlorenen Flecken fehlten die Nachrichten vom Kriegsschauplatze natürlich gänzlich. Dieser Theil der Provinz war durch seine natürliche Lage, mitten in der Gabel, welche die tartarischen Heerestheile durch ihr verschiedenseitiges Abschwenken einerseits nach Omsk, andrerseits nach Tomsk zu bildeten, von den Schrecken des Einfalls noch gänzlich verschont geblieben.

Bald mußten sich nun auch die natürlichen Schwierigkeiten des Weges vermindern, denn im Fall er keine Verzögerung erlitt, hoffte Michael Strogoff am nächsten Tage über die Barabinen-Steppe hinauszukommen. Später bot sich ihm wieder ein weit besserer Weg, wenn er die 125 Werst, die ihn noch von Kolywan trennten, zurückgelegt hatte.

Von diesem etwas bedeutenderen Städtchen aus rechnete man bis Tomsk nur noch die gleiche Entfernung. Dann mußte er eine weitere Entscheidung treffen, die höchst wahrscheinlich in dem Sinne ausfiel, letztere von Feofar-Khan schon besetzte Stadt ganz zu umgehen.

Wenn sich aber diese kleinen Städtchen, wie Ikulskoë, Karguinsk u. a., in Folge ihrer Lage mitten in der sumpfigen Steppe, die der Entwickelung der tartarischen Streitkräfte unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzte, noch einer glücklichen Ruhe erfreuten, lag da nicht die Befürchtung nahe, daß Michael Strogoff von den reichen, fruchtbaren Ufern des Obi an an Stelle der natürlichen Hindernisse allerlei Schwierigkeiten und Gefahren von Seiten der Menschen zu erwarten haben werde? Jedenfalls durfte er keinen Anstand nehmen, in dieser Gegend von der Straße nach Irkutsk abzuweichen. Bei einem Ritte durch die einsame Steppe lief er freilich Gefahr, sich von allen Hilfsmitteln zu entblößen. Dort fand sich nämlich keine weitere Straße, keine Stadt, kein Dorf mehr. Nur ganz einzeln traf man auf isolirte Farmen, oder vielmehr auf Hütten ärmlicher Leute, bei denen trotz ihrer unzweifelhaften Gastfreundlichkeit sich doch kaum das Notwendigste finden mochte. Und dennoch, er durfte nicht zaudern!

Endlich gegen halb vier Uhr Nachmittags verließ Michael Strogoff, nachdem er noch durch die kleine Station Kargatsk gekommen war, die letzte Niederung der Barabinen-Steppe und der Hufschlag seines Pferdes verrieth durch den Schall wieder den harten, trockenen Boden des sibirischen Landes.

Er hatte Moskau am 15. Juli verlassen. Unter Einrechnung der am Ufer des Irtysch verlorenen zweiundsiebzig Stunden ergab das bis heute, den 5. August, eine Reisedauer von einundzwanzig Tagen.

Fünfzehnhundert Werst trennten ihn nun noch von Irkutsk.


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