Iwan Turgenjew
Visionen und andere phantastische Erzählungen
Iwan Turgenjew

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XVIII.

Die Nacht war kalt, trüb und grau; in der Luft roch es nach Regen. Zu meinem Erstaunen traf ich niemand bei der Eiche; ich ging einige Male um den Baum herum, kam bis an den Saum des Waldes, kehrte wieder zurück und blickte gespannt in die Finsternis . . . Niemand kam. Ich wartete eine Weile und rief dann einige Male Ellis, immer lauter und lauter . . . sie kam aber nicht . . . Ich empfand Trauer, sogar Schmerz; meine Befürchtungen von vorhin waren verschwunden: ich konnte mich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß meine Gefährtin nie mehr wiederkehren werde.

»Ellis! Ellis! So komm doch! Wirst du denn nicht kommen?« rief ich zum letzten Male aus.

Ein Rabe, den meine Stimme aus dem Schlafe geweckt hatte, begann sich im Wipfel eines nahen Baumes zu rühren; er verwickelte sich in den Zweigen und schlug die Flügel . . . Ellis zeigte sich nicht.

Gesenkten Hauptes begab ich mich nach Hause. Vor mir dunkelten schon die Weidenbüsche auf dem Damme, und zwischen den Apfelbäumen des Gartens flimmerte das Licht in meinem Zimmer; bald leuchtete es auf, bald verschwand es, wie ein mich belauerndes Menschenauge; – und plötzlich hörte ich hinter mir ein leises Sausen der rasch durchschnittenen Luft; etwas umfing mich und hob mich empor: so packt der Falke die Wachtel. Es war Ellis. Ich fühlte ihre Wange an meiner Wange, den Ring ihres Armes an meinem Körper, und wie ein scharfer Lufthauch drang mir ins Ohr ihr Flüstern: »Da bin ich.« Ich war erschreckt und erfreut zugleich . . . Wir schwebten nicht hoch über der Erde.

»Du wolltest heute nicht kommen?« fragte ich.

»Und du, hast du dich nach mir gesehnt? Liebst du mich? Oh, du bist mein! . . .«

Die letzten Worte Ellis' machten mich etwas verwirrt . . . Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte.

»Man hat mich zurückgehalten,« fuhr sie fort, »man hat mich bewacht.«

»Wer hat dich zurückhalten können?«

»Wohin willst du?« fragte Ellis, auf meine Frage wie gewöhnlich nicht antwortend.

»Trage mich nach Italien, zu jenem See, – weißt du noch? . . .«

Ellis neigte sich etwas zur Seite und schüttelte verneinend den Kopf. Da merkte ich zum ersten Male, daß sie aufgehört hatte, durchsichtig zu sein. Auch ihr Gesicht hatte eine Färbung angenommen; über das nebelige Weiß hatte sich ein rosiger Hauch ergossen. Ich blickte ihr in die Augen . . . und es wurde mir ganz unheimlich zumute: in diesen Augen regte sich etwas, so langsam, unaufhaltsam und unheimlich; ich mußte an eine erstarrte und zusammengerollte Schlange denken, die in den Sonnenstrahlen wieder aufzuleben beginnt.

»Ellis!« rief ich, »wer bist du? Sag' mir doch, wer du bist!«

Ellis zuckte nur die Achseln.

Ich wurde ärgerlich . . . ich wollte mich rächen, – da kam mir plötzlich der Gedanke, ihr zu befehlen, mich nach Paris zu tragen. – Dort wirst du schon Gelegenheit haben, eifersüchtig zu sein! – dachte ich. »Ellis!« sagte ich laut: »Fürchtest du die großen Städte nicht, zum Beispiel Paris?«

»Nein.«

»Nein? Auch solche Orte nicht, wo es so hell ist wie auf den Boulevards?«

»Das ist kein Tageslicht.«

»Sehr gut; so trage mich sofort auf den Boulevard des Italiens.«

Ellis warf mir das Ende ihres langen herabhängenden Ärmels über den Kopf. Mich umfing sofort ein eigentümlicher weißer Nebel mit einschläferndem Mohngeruch. Sofort war alles verschwunden: jedes Licht, jeder Ton und beinahe sogar das Bewußtsein. Mir blieb nur die Empfindung, daß ich noch lebe, und das war gar nicht unangenehm.

Plötzlich verschwand der Nebel; Ellis nahm mir den Ärmel vom Kopf, und ich sah unter mir einen ungeheuren Haufen dicht aneinander gedrängter Gebäude, voller Glanz, Bewegung und Lärm . . . Ich sah Paris . . .


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