Iwan Turgenjew
Klara Militsch
Iwan Turgenjew

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XI

Die Nacht begann recht gut; er schlief schnell ein, und als die Tante zu ihm auf den Fußspitzen hereinkam, um den Schlafenden, wie sie es jede Nacht tat, dreimal zu bekreuzen, atmete er ruhig wie ein Kind. Aber kurz vor Tagesanbruch hatte er einen Traum.

Es träumte ihm: Er ging über eine leere steinige Steppe unter einem niederen Himmel. Zwischen den Steinen wand sich ein Pfad; er ging diesen Pfad entlang.

Plötzlich erhob sich vor ihm etwas wie ein leichtes Wölkchen. Er sah es aufmerksam an; das Wölkchen verwandelte sich in ein weibliches Wesen in weißem Kleid mit hellem Gürtel um die Hüften. Sie wollte von ihm weglaufen. Er konnte weder ihr Gesicht noch ihre Haare sehen: Ein langer Schleier verdeckte sie. Er wollte sie unbedingt einholen und ihr in die Augen blicken. Wie sehr er auch seine Schritte beschleunigte, sie war schneller als er.

Auf dem Pfad lag ein Stein, breit und flach wie eine Grabplatte. Der Stein versperrte ihr den Weg. Sie blieb stehen. Aratow holte sie ein. Sie wandte sich zu ihm um, er konnte aber ihre Augen auch jetzt nicht sehen – sie waren geschlossen. Ihr Gesicht war weiß wie Schnee, die Hände hingen unbeweglich herab. Sie glich einer Statue.

Langsam, ohne auch nur ein Glied zu biegen, beugt sie sich zurück und läßt sich auf die Steinplatte sinken . . . Aratow liegt im Nu an ihrer Seite, ausgestreckt wie eine Grabfigur, und seine Hände sind wie bei einem Toten gefaltet.

Plötzlich erhob sie sich und entfernte sich von ihm. Auch Aratow wollte aufstehen, konnte sich aber weder rühren noch die Hände heben. Er konnte ihr nur voller Verzweiflung nachblicken.

Sie wandte sich plötzlich um, und er erblickte helle, lebendige Augen in einem lebendigen, doch unbekannten Gesicht. Sie lachte, sie winkte ihm mit der Hand, und er konnte sich noch immer nicht rühren.

Sie lachte auf und entfernte sich von ihm, lustig mit dem Kopfe nickend, auf dem plötzlich ein Kranz aus kleinen roten Rosen aufleuchtete.

Aratow wollte aufschreien, wollte diesen schrecklichen Alpdruck verscheuchen.

Plötzlich verdunkelte sich alles, und sie kehrte zu ihm zurück. Es war nicht mehr jene unbekannte Statue: Es war Klara. Sie blieb vor ihm stehen, kreuzte die Arme und sah ihn streng und unverwandt an. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, Aratow glaubte aber die Worte zu hören: »Wenn du wissen willst, wer ich bin, so reise hin!«

»Wohin?« fragte er.

»Dorthin!« antwortete die klagende Stimme »Dorthin!«

Aratow erwachte.

Er setzte sich im Bett auf, zündete die Kerze auf dem Nachttischchen an, stand aber nicht auf, sondern saß lange, ganz kalt vor Entsetzen, da und ließ die Blicke langsam um sich schweifen. Es war ihm, als ob mit ihm während der Nacht etwas vorgefallen wäre, als ob sich etwas in ihm festgesetzt, sich seiner bemächtigt hätte. »Ist es denn möglich?« flüsterte er wie geistesabwesend. »Gibt es denn eine solche Gewalt?«

Er konnte nicht länger im Bett bleiben. Er zog sich leise an und ging bis zum Morgen in seinem Zimmer auf und ab. Doch seltsam: An Klara dachte er keinen Augenblick mehr; er dachte nicht mehr an sie, weil er beschlossen hatte, am nächsten Tag nach Kasan zu fahren.

Er dachte nur an diese Reise, wie sie zu machen sei und was er mitnehmen sollte; wie er dort alles Nötige aufsuchen und erfahren und sich dann beruhigen werde.

Wenn du nicht hinfährst, sagte er sich, so kannst du noch verrückt werden!

Er fürchtete es wirklich; er fürchtete für seine Nerven. Er war überzeugt, daß aller Zauber sich wie dieser nächtliche Alpdruck verflüchtigen würde, sobald er alles mit seinen eigenen Augen sähe. Diese Reise wird ja höchstens eine Woche in Anspruch nehmen, dachte er. Was ist eine Woche? Anders werde ich es aber nicht los.

Die aufgehende Sonne erhellte sein Zimmer; das Tageslicht vermochte aber nicht, die auf ihm lastenden Schatten der Nacht zu verscheuchen und seinen Entschluß zu ändern.

Als Aratow Tante Platoscha seinen Entschluß mitteilte, traf sie beinahe der Schlag. Ihre Knie knickten ein, und sie hockte sich hin. »Wie, nach Kasan? Wozu nach Kasan?« flüsterte sie, ihn mit ihren halbblinden Augen anglotzend. Ihr Erstaunen wäre wohl kaum größer, wenn sie hören würde, daß ihr Jascha die Bäckerin aus dem Nachbarhaus heiraten oder nach Amerika gehen wolle. »Willst du für lange nach Kasan?«

»Ich komme nach einer Woche zurück«, antwortete Aratow, sich halb nach der Tante umwendend, die noch immer auf dem Boden hockte.

Platonida Iwanowna wollte noch etwas einwenden, aber da kam etwas ganz Unerwartetes, etwas, das ihr ganz ungewohnt war: Aratow schrie sie an: »Ich bin kein Kind mehr!« Er war totenblaß geworden, seine Lippen zitterten, und seine Augen brannten gehässig. »Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, ich weiß, was ich tue, ich darf alles tun, was mir beliebt. Ich werde niemand gestatten . . . Geben Sie mir Geld für die Reise, machen Sie mir den Koffer mit der Wäsche und den Kleidern fertig – und quälen Sie mich nicht! Nach einer Woche komme ich zurück, Platoscha«, fügte er etwas milder hinzu.

Platoscha erhob sich seufzend und schlich langsam, ohne zu widersprechen, in ihr Zimmer. Jascha hatte ihr große Angst gemacht. »Ich habe keinen Kopf mehr auf dem Nacken«, sagte sie zur Köchin, die ihr half, die Sachen einzupacken, »keinen Kopf, sondern einen Bienenkorb, und ich weiß gar nicht, was für Bienen darin summen. Nach Kasan will er fahren, meine Liebe, nach Ka–san!«

Die Köchin, die gestern bemerkt hatte, wie der Hausknecht sich lange mit einem Schutzmann unterhalten hatte, wollte es anfangs ihrer Herrin melden, entschloß sich aber doch nicht dazu. Sie dachte sich nur: Nach Kasan? Daß die Reise nur nicht weiter geht!

Platonida Iwanowna war so fassungslos, daß sie es sogar unterließ, ihr gewohntes Gebet zu sprechen. »Bei einem solchen Unglück kann ja auch der liebe Gott nicht helfen!«

Aratow reiste am gleichen Tage nach Kasan.

 


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