Ivan Sergejevich Turgenev
Faust: Erzählung in neun Briefen
Ivan Sergejevich Turgenev

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P ... wo, 10. März 1853

Ich habe Deinen Brief lange unbeantwortet gelassen, diese letzten Tage aber immerfort an Dich gedacht. Ich fühlte, daß keine müßige Neugier ihn diktiert habe, sondern aufrichtige freundschaftliche Teilnahme; dennoch schwankte ich, ob ich Deinem Rat folgen, Deinen Wunsch erfüllen sollte. Endlich habe ich mich entschlossen und will Dir alles erzählen. Ob meine Beichte mir das Herz erleichtern wird, wie Du meinst, weiß ich nicht; aber es scheint mir, daß ich kein Recht habe, Dir etwas zu verhehlen, was mein Leben auf immer völlig umgewandelt hat; daß dies eine Unterlassungssünde gegen Dich sein würde... Ach! eine noch größere Sünde gegen die unvergeßliche liebe Seele, wenn ich unser trauriges Geheimnis nicht dem einzigen Herzen anvertraute, welches mir noch teuer ist. Du allein auf der Welt außer mir erinnerst Dich vielleicht noch Weras, und Du beurteilst sie nicht leichtfertig und falsch; das kann ich nicht ertragen. Darum sollst Du alles wissen. Ach! dies alles ließe sich in zwei Worten sagen. Was zwischen uns vorgefallen, kam jählings über uns wie ein Blitz, und wie der Blitz brachte es Tod und Verderben ...

Seit jener Zeit, wo ich sie verloren, seit jener Zeit, wo ich mich in diese Einöde geflüchtet, die ich bis an mein Lebensende nicht mehr verlassen werde, sind mehr als zwei Jahre hingegangen, und alles ist noch so klar in meinem Gedächtnis, meine Wunden sind noch so frisch, mein Gram noch so bitter... Doch ich will nicht klagen. Bei andern mag das Klagen, das den Schmerz aufregt, ihn zugleich lindern; bei mir nicht. Ich will nur erzählen.

Erinnerst Du Dich meines letzten Briefes – jenes Briefes, in welchem ich Deine Befürchtungen zu zerstreuen suchte – und Deiner beabsichtigten Reise zu mir widerriet? Du trautest nicht der gezwungenen Ungeniertheit seines Tones, glaubtest nicht an unser baldiges Wiedersehen – Du hattest recht! Am Vorabend desselben Tages, an dem ich Dir schrieb, hatte ich erfahren, daß ich geliebt wurde.

Indem ich diese Worte niederschreibe, fühle ich tief, wie schwer es mir sein wird, meine Erzählung zu vollenden. Der unablässige Gedanke an ihren Tod wird mit doppelter Gewalt mich martern; diese Erinnerungen werden mir das Herz verbrennen... Doch ich will mich zu bemeistern suchen und lieber aufhören zu schreiben, als ein Wort zuviel zu sagen.

Nun höre zunächst, wie ich erfuhr, daß mich Wera liebte. Vor allem muß ich Dir versichern – und Du wirst es mir glauben – daß ich bis zu dem erwähnten Tage nicht die leiseste Ahnung davon hatte. Allerdings fand ich sie gegen ihre frühere Gewohnheit zuweilen nachdenklich, zerstreut, begriff aber nicht, woher das kam. Da endlich eines Tages, es war der 7. September – ein denkwürdiger Tag für mich! – begab sich folgendes: Du weißt, wie ich sie liebte und wie es mir das Herz abdrückte. Ich ging um wie ein Schatten, und es litt mich nirgends. Ich wollte zu Hause bleiben, hielt es aber nicht aus und eilte zu ihr. Ich fand sie allein in ihrem Kabinett. Priimkow war nicht zu Hause, er war auf die Jagd gegangen. Als ich mich Wera näherte, sah sie mich starr an, ohne meinen Gruß zu erwidern. Sie saß beim Fenster, auf ihrem Schoße lag ein Buch, welches ich sogleich erkannte: es war mein Faust. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck von Ermüdung. Ich setzte mich ihr gegenüber. Sie bat mich, ihr die Szene vorzulesen, wo Gretchen die Frage an Faust richtet, ob er an Gott glaube. Ich nahm das Buch und fing an zu lesen. Als ich geendet hatte, sah ich sie an. Sie hatte den Kopf auf die Lehne des Sessels zurückgebeugt und, die Hände auf die Brust gekreuzt, blickte sie unverwandt auf mich.

Mir begann – ich weiß nicht warum – das Herz mächtig zu schlagen.

»Was haben Sie aus mir gemacht!« sprach sie langsamen Tones.

»Wieso?« fragte ich bestürzt.

»Was haben Sie aus mir gemacht?« wiederholte sie.

»Sie wollen sagen«, entgegnete ich, »warum ich sie veranlaßt habe, solche Bücher zu lesen?«

Sie erhob sich schweigend und verließ das Zimmer. Mein Auge folgte ihr. In der Tür blieb sie stehen und wandte sich wieder um zu mir.

»Ich liebe Sie«, sagte sie. »Nun wissen Sie, was Sie aus mir gemacht haben.«

Das Blut stieg mir zu Kopfe...

»Ich liebe Sie, ich bin in Sie verliebt«, wiederholte Wera.

Sie ging und schloß die Tür hinter sich.

Ich werde Dir nicht zu schildern versuchen, was damals in mir vorging. Ich erinnere mich nur, daß ich in den Garten stürzte, mich ins Dickicht verlor, an einem Baum lehnte und so stehen blieb – wie lange, weiß ich nicht mehr. Ich war wie erstarrt, aber zugleich ergoß sich ein unbeschreibliches Wonnegefühl über mein Herz... Nein, dergleichen läßt sich nicht beschreiben. Die Stimme Priimkows weckte mich plötzlich aus meiner Betäubung. Man hatte ihm meine Ankunft melden lassen, er war von der Jagd umgekehrt und suchte mich. Er war erstaunt, mich ohne Hut im Garten zu finden und führte mich ins Haus zurück.

»Meine Frau ist im Salon«, sagte er, »gehen wir zu ihr.«

Du kannst Dir vorstellen, mit welchen Gefühlen ich die Schwelle des Salons betrat.

Wera saß in einer Ecke, mit einer Stickerei beschäftigt. Ich sah ein paarmal verstohlen nach ihr hin; zu meiner Verwunderung schien sie ruhig. In dem, was sie sprach, im Ton ihrer Stimme war keine Aufregung bemerkbar. Endlich faßte ich sie offen ins Auge. Unsere Blicke begegneten sich... Sie errötete ein wenig und beugte sich über ihren Stickrahmen. Ich beobachtete sie aufmerksam. Sie war wie mit sich uneins, ein unfrohes Lächeln zuckte hin und wieder um ihre Lippen. Priimkow entfernte sich. Plötzlich erhob sie das Haupt und fragte mich laut: »Was gedenken Sie nun zu tun?«

Diese Frage verwirrte mich, doch rasch erwiderte ich mit gepreßter Stimme: »Ich gedenke zu handeln als ein rechtschaffener Mann und Sie zu verlassen, weil... weil ich Sie liebe, Wera Nikolajewna, wie Sie sicher schon lange bemerkt haben werden.«

Sie beugte sich wieder über ihren Stickrahmen und versank in Nachdenken.

»Ich muß mit Ihnen reden«, sagte sie. »Kommen Sie heute abend nach dem Tee in den Pavillon, wo Sie den Faust gelesen haben.«

Sie sagte das so vernehmlich, daß ich jetzt noch nicht begreife, wie Priimkow, der in demselben Augenblick ins Zimmer trat, nichts davon hörte.

Langsam, ermüdend langsam schlich dieser Tag dahin. Wera blickte zuweilen um sich mit einem Ausdruck, als ob sie fragen wollte: Träum' ich oder wach' ich? Aber zu gleicher Zeit offenbarte ihr Gesicht feste Entschlossenheit.

Ich konnte gar nicht wieder zu mir selbst kommen. Wera liebte mich! Diese Worte durchkreisten unaufhörlich mein armes Gehirn; aber ich verstand sie nicht – ich verstand mich selbst nicht, noch die geliebte Frau. Ich wagte einem so unerwarteten, einem so bewältigenden Glück nicht zu trauen. Mit Anstrengung rief ich mir das Vergangene ins Gedächtnis zurück und sah aus und sprach ebenfalls wie ein Träumender...

Nach dem Tee, als ich mir schon den Kopf zerbrach, wie ich mich am besten aus dem Hause wegstehlen könne, erklärte sie selbst plötzlich, daß sie Spazierengehen wolle, und forderte mich auf, sie zu begleiten. Ich erhob mich, nahm meinen Hut und folgte ihr. Ich wagte nicht zu reden, ja, ich atmete kaum. Ich wartete auf das erste Wort von ihr, wartete auf eine Erklärung; aber sie schwieg. Schweigend kamen wir nach dem chinesischen Pavillon, schweigend traten wir ein, und dort – bis zu diesem Augenblick weiß ich nicht, noch kann ich begreifen, wie es zuging – dort fanden wir uns plötzlich in den Armen des andern. Irgendeine geheimnisvolle, unsichtbare Macht hatte mich zu ihr gedrängt – sie zu mir. Ihr Gesicht mit den zurückfallenden Locken beschien der letzte Schimmer des Tages; es leuchtete auf von einem Lächeln seliger Selbstvergessenheit – und unsere Lippen preßten sich in einem Kuß zusammen ...

Dieser Kuß war der erste und letzte.

Wera riß sich plötzlich aus meinen Armen los, und mit einem Ausdruck des Entsetzens in den weitgeöffneten Augen schwankte sie zurück.

»Sehen Sie doch!« sagte sie mit bebender Stimme. »Sehen Sie denn nichts?«

Ich wandte mich rasch um.

»Ich sehe nichts. Sehen Sie etwas?«

»Jetzt nicht mehr, aber ich sah...«

Sie atmete tief und langsam auf.

»Wen denn, was denn?«

»Meine Mutter!« hauchte sie zitternd.

Auch ich erbebte, wie von Frost durchrieselt. Es wurde mir bange ums Herz wie einem Verbrecher. Und war ich nicht ein Verbrecher in diesem Augenblick?

»Hören Sie auf!« versetzte ich, »was soll das? Sagen Sie mir lieber...«

»Nein, um Gottes willen, nein!« unterbrach sie mich, mit beiden Händen an den Kopf greifend. »Das ist Wahnsinn ... Ich verliere den Verstand... Damit ist nicht zu scherzen... Das ist der Tod... Leben Sie wohl!«

Ich ergriff ihre Hand.

»Um des Himmels willen, bleiben Sie noch einen Augenblick!« rief ich in unwillkürlicher Aufregung. Ich wußte nicht, was ich sprach, und hielt mich kaum noch aufrecht.

»Um des Himmels willen, das ist zu grausam...«

Sie heftete die Augen auf mich; dann sprach sie hastig: »Morgen, morgen abend, heute nicht. Ich bitte Sie ... heute fahren Sie nach Hause ... morgen abend kommen Sie zum Gartenpfortchen dort beim See. Ich werde dort sein, ich werde kommen... Ich schwöre Dir, daß ich kommen werde!« wiederholte sie mit einem Ausdruck von Hingerissenheit, und ihre Augen glänzten... »Niemand soll mich abhalten, ich schwöre es! Dann werde ich Dir alles sagen, nur heute laß mich...«

Und ehe ich noch ein Wort erwidern konnte, war sie verschwunden. In tiefinnerster Erschütterung blieb ich zurück. Mein Kopf wirbelte. Durch die rasende Wonne, von der mein ganzes Wesen erfüllt war, stahl sich ein Gefühl der Bangigkeit.

Ich blickte mich um. Es kam mir unheimlich vor in dem dumpfen, feuchten Zimmer mit der niedrigen Wölbung und den dunklen Wänden. Ich verließ den Pavillon und ging mit schweren Schritten dem Hause zu.

Wera erwartete mich auf der Terrasse; doch wie ich mich näherte, verschwand sie im Haus und zog sich sofort in ihr Schlafgemach zurück. Ich fuhr nach Hause. Wie ich die Nacht und den folgenden Tag bis zum Abend verbrachte, läßt sich unmöglich schildern. Ich weiß nur, daß ich auf dem Gesichte dalag, es in beide Hände bergend, Weras seliges Lächeln vor dem Kuß mir zurückrief und flüsterte: »Da ist sie endlich!«

Es fielen mir auch die Worte ein, die Wera mir von ihrer Mutter mitgeteilt. Diese hatte einmal zu ihr gesagt: »Du bist wie Eis: solange das nicht schmilzt, ist es fest wie Stein; aber einmal geschmolzen, bleibt keine Spur davon.«

Noch etwas kam mir ins Gedächtnis: wie ich mich eines Tages mit Wera unterhielt über das, was tieferes Verständnis, was Talent heißt. »Ich habe«, sagte sie, »nur ein Talent; zu schweigen bis zum letzten Augenblick.« Damals verstand ich nichts davon.

Aber was bedeutete ihr Schrecken? fragte ich mich selbst... Kann sie wirklich ihre Mutter gesehen haben? Das war ein Spiel der Phantasie, nichts weiter, dachte ich, und aufs neue überließ ich mich dem beklemmenden Gefühl der Erwartung. Am selben Tag schrieb ich Dir – es ist mir eine peinliche Erinnerung – jenen schlau durchdachten Brief.

Abends, noch vor Sonnenuntergang, stand ich etwa fünfzig Schritte weit von dem Gartenpförtchen in dem hohen und dichten Gebüsch am Ufer des Sees. Ich hatte den ganzen Weg zu Fuß gemacht.

Und zu meiner Schande muß ich Dir gestehen, daß Furcht, eine wahrhaft kindliche Furcht, meine Brust durchschauerte, mich förmlich zittern machte; aber Reue empfand ich nicht. Versteckt in dem Gebüsch, spähte ich unaufhörlich nach dem Pförtchen: es war und blieb geschlossen.

Schon ging die Sonne unter, es wurde spät. Schon stiegen die Sterne am Himmel auf, und Dunkelheit trat ein. Niemand zeigte sich. Ich wurde wie vom Fieber geschüttelt. Schon war die Nacht völlig hereingebrochen. Länger konnte ich es nicht aushalten. Vorsichtig verließ ich mein Versteck und näherte mich dem Pförtchen. Alles war still im Garten. Ich rief mit leiser Stimme: »Wera!«, rief zum zweiten-, zum drittenmal... Keine Antwort. Eine halbe Stunde verfloß, eine ganze Stunde; inzwischen war es ganz finster geworden. Das Warten erschöpfte mich. Da zog ich das Pförtchen an, öffnete es, und auf den Zehen, leise, wie ein Dieb, näherte ich mich dem Hause. Ich blieb im Schatten der Linden stehen. Im Hause waren fast alle Fenster beleuchtet; in den Zimmern sah ich Leute auf und ab gehen. Dies verwunderte mich. Meine Uhr, soweit ich beim trüben Schimmer der Sterne erkennen konnte, zeigte halb zwölf. Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter dem Hause, ein Wagen rasselte aus dem Hofe.

Da ist ohne Zweifel Besuch gewesen, dachte ich. Hiernach jede Hoffnung aufgebend, Wera noch zu sehen, verließ ich den Garten und kehrte eiligen Schrittes nach Hause zurück. Es war eine dunkle Septembernacht, aber warm und still. Das Gefühl, welches mich beherrschte – es war weniger Verdruß als Kummer –, legte sich nach und nach. Und ich kam in meiner Wohnung an, etwas ermüdet vom raschen Gang, aber beruhigt durch die Stille der Nacht, in glücklicher und fast heiterer Stimmung. Ich ging in mein Schlafzimmer, entließ meinen Kammerdiener Timofej, warf mich unausgekleidet aufs Bett und versank in Nachdenken.

Anfangs waren es freudige Träumereien, denen ich mich hingab; bald aber trat eine seltsame Veränderung ein. Unwillkürlich kam eine unbeschreibliche Bangigkeit, eine tiefe, nagende Unruhe über mich. Ich konnte den Grund davon nicht begreifen; aber es wurde mir immer peinlicher und drückender, als ob irgendein nahes Unheil mich bedrohte, als ob irgendein liebes Wesen in diesem Augenblick litte und mich zu Hilfe riefe.

Auf dem Tische brannte die Wachskerze mit schwacher, unbeweglicher Flamme; die Uhr tickte gemessen und einförmig. Ich stützte den Kopf auf die Hand und ließ die Blicke im Halbdunkel meines einsamen Zimmers umherschweifen. Ich dachte an die Geliebte, und ein tiefes Weh ging mir durch die Seele. Alles, worüber ich mich so gefreut hatte, erschien mir jetzt in seinem wahren Lichte: als ein Unglück, als unentrinnbares Verderben. Mit jedem Augenblick wuchs meine Angst; ich konnte nicht länger liegenbleiben, und plötzlich war es mir wieder, als ob jemand mit flehender Stimme mich rief ... Zitternd hob ich den Kopf in die Höhe ... Richtig, ich hatte mich nicht getäuscht! Von fernher erscholl ein klagender Ruf und widerhallte leise dröhnend an den dunklen Fensterscheiben. Es wurde mir unheimlich; ich sprang aus dem Bette und öffnete das Fenster. Ein deutlicher Weheruf drang ins Zimmer und schwirrte gleichsam über mir. Schaudernd vor Entsetzen vernahm ich seine letzten, aushallenden Schwingungen.

Es klang, wie wenn jemand in der Ferne unter dem Messer seines Mörders um Schonung flehte. War es der Schrei einer Eule im Wald oder das Stöhnen irgendeines anderen Geschöpfes ? – Ich gab mir damals keine Rechenschaft darüber, und unwillkürlich stieß ich die Worte aus:

»Wera! Wera! Bist du es, die mich ruft?«

Meine Stimme erweckte Timofej. Verwundert und schlaftrunken erschien er vor mir.

Ich sammelte mich wieder, trank ein Glas kaltes Wasser und ging in ein anderes Zimmer; aber Schlaf kam nicht in meine Augen. Mein Herz pochte krankhaft, wenn auch nicht schnell. Ich konnte mich nicht mehr Träumen von Glück überlassen; ich wagte nicht mehr daran zu glauben.

Am folgenden Morgen begab ich mich zu Priimkow. Er trat mir mit besorgtem Gesicht entgegen.

»Meine Frau ist krank«, sagte er, »sie liegt im Bett. Ich habe einen Arzt holen lassen.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich begreife es nicht. Gestern abend war sie in den Garten gegangen, und plötzlich kehrte sie um, ganz außer sich vor Entsetzen. Ihre Kammerfrau eilte nach mir. Ich komme, frage meine Frau: was hast du? Sie antwortete nichts; und von dem Augenblick liegt sie danieder. In der Nacht fing sie an zu phantasieren. Gott weiß, was sie alles da vorgebracht hat. Auch von Ihnen sprach sie. Die Kammerfrau erzählte mir eine wunderbare Geschichte. Meiner Wera sei im Garten ihre verstorbene Mutter erschienen; es sei ihr vorgekommen, als ginge diese mit ausgebreiteten Armen ihr entgegen.«

Du kannst Dir vorstellen, was ich bei diesen Worten empfand.

»Das ist freilich dummes Zeug«, fuhr Priimkow fort, »indes muß ich bekennen, daß meine Frau in ähnlicher Art schon merkwürdige Dinge erlebt hat.«

»Aber sagen Sie, ist Ihre Frau ernsthaft krank?«

»Jawohl, sehr krank; sie hatte eine böse Nacht. Jetzt schläft sie ein wenig.«

»Und was sagt der Arzt?«

»Der Arzt sagt, die Krankheit habe noch keinen bestimmten Charakter angenommen...«

12. März

Ich kann nicht so fortfahren, wie ich angefangen habe, teurer Freund. Das greift mich zu sehr an und reißt meine Wunden zu schmerzhaft auf. Die Krankheit – um mich der Worte des Arztes zu bedienen – nahm einen bestimmten Charakter an, und Wera starb an dieser Krankheit. Zwei Wochen nach dem verhängnisvollen Tage unseres kurzen Stelldicheins war sie nicht mehr unter den Lebenden. Ich habe sie noch einmal vor ihrem Ende gesehen. Das ist die grausamste meiner Erinnerungen. Ich hatte schon von dem Arzte gehört, daß keine Hoffnung war. Spätabends, als im Hause schon alles sich hingelegt, stahl ich mich an die Tür ihres Schlafzimmers, um einen letzten Blick auf sie zu werfen. Da lag sie im Bette mit geschlossenen Augen, ganz abgemagert, die Wangen fieberhaft gerötet. Wie versteinert stand ich vor ihr. Auf einmal öffnete sie die Augen, heftete sie auf mich, sah mich starr an, und zu meinem Schrecken richtete sie sich plötzlich empor, streckte ihre abgemagerte Hand aus und sprach die Worte Gretchens:

Was will der an dem heiligen Ort?
Er will mich?

Sie sprach das mit einer so grauenvoll klingenden Stimme, daß ich entsetzt davonlief. Fast während der ganzen Zeit ihrer Krankheit phantasierte sie von Faust und von ihrer Mutter, welche sie bald Martha, bald Gretchens Mutter nannte.

Wera starb. – Ich war bei ihrer Beerdigung zugegen. Seit der Zeit habe ich alles aufgegeben und mich auf immer hier niedergelassen.

Bedenke nun alles, was ich Dir erzählt habe, denke an sie, an dieses so schnell untergegangene, herrliche Wesen. Wie dies geschah, wie dieses wunderbare Eingreifen eines Toten in die Geschicke der Lebenden zu erklären ist, weiß ich nicht und werde ich nie wissen. Aber Du mußt zugeben, daß es keine bloße hypochondrische Grille war – wie Du Dich ausdrücktest –, was mich bewog, mich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Ich bin nicht mehr, wie Du mich früher gekannt hast. Ich glaube jetzt an vieles, woran ich früher nicht geglaubt. Ich dachte diese ganze Zeit so viel nach über dieses unglückliche Weib – beinahe hätte ich gesagt Mädchen –, über ihren Ursprung und über das geheimnisvolle Spiel des Schicksals, welches wir in unserer Blindheit den blinden Zufall nennen. Wer weiß, wieviel Aussaat auf Erden jeder Mensch hinterläßt, die bestimmt ist, erst nach seinem Tode aufzugehen? Wer kann sagen, welche geheime Kette das Schicksal eines Menschen mit dem seiner Kinder, seiner Enkel verknüpft und wie seine Leidenschaften in ihnen wieder auftauchen und sie für seine Verirrungen büßen? Wir sollen uns alle demütigen und unser Haupt beugen vor der unbekannten Macht, die über uns waltet.

Ja, Wera ist zugrunde gegangen, und ich lebe.

Ich erinnere mich noch aus meiner Kindheit, daß wir in unserem Hause eine schöne Vase aus durchsichtigem Alabaster hatten. Kein Fleckchen schändete ihre jungfräuliche Reinheit. Eines Tages, da ich allein war, fing ich an, den Sockel zu schütteln, auf dem sie stand ... Plötzlich fiel die Vase herunter und zerbrach in Scherben. Ich erstarrte vor Schrecken und stand regungslos vor den Trümmern.

Mein Vater trat herein, erblickte mich und sagte: »Siehe, was du getan hast! Unsere herrliche Vase haben wir nicht mehr, die ist durch nichts mehr herzustellen.« Ich schluchzte.

Ich glaubte ein Verbrechen begangen zu haben.

Zum Manne erwachsen – habe ich leichtsinnig ein Gefäß zerschlagen, tausendmal wertvoller als jenes!

Vergebens rede ich mir vor, daß ich eine solche Lösung nicht erwarten konnte, daß sie in ihrer Plötzlichkeit mich selbst überraschte, daß ich keine Ahnung gehabt, was Wera für ein Wesen war. Sie hatte wirklich zu schweigen verstanden bis zum letzten Augenblick. An mir war es, sie zu fliehen, sobald ich inne wurde, daß ich sie liebte, daß ich eine verheiratete Frau liebte ...

Aber ich blieb, und nun liegt das herrliche Geschöpf zerbrochen in Scherben, und ich blicke in stummer Verzweiflung auf das Werk meiner Hände.

Ja, Frau Jelzowa hat eifersüchtig ihre Tochter bewacht, sie behütet bis ans Ende und beim ersten unvorsichtigen Schritte zu sich in das Grab gezogen.

Laß mich am Schluß Dir noch sagen: eine Überzeugung habe ich aus den Erfahrungen und Prüfungen meiner letzten Jahre gewonnen. Das Leben ist kein Scherz und kein Spiel, das Leben ist auch kein Genuß ... Das Leben ist eine schwere Arbeit. Entsagung, beständige Entsagung – das ist sein geheimer Sinn, das ist sein Rätselwort. Nicht auf Verwirklichung seiner Lieblingsgedanken und Ideale, und wären sie noch so erhaben, sondern nur auf Erfüllung seiner Pflicht soll der Mensch bedacht sein. Wer sich die eisernen Fesseln der Pflicht nicht anlegt, wird nimmer ohne Straucheln das Ende seiner Laufbahn erreichen. In der Jugend denken wir: je freier, je besser, je weiter gelangt man. Der Jugend mag es erlaubt sein, so zu denken. Aber wem einmal das rauhe Antlitz der Wahrheit ins Auge geblickt, der schäme sich, an Täuschungen sich zu ergötzen.

Leb wohl! Ehedem würde ich hinzugefügt haben: sei glücklich; jetzt sage ich Dir: Bestrebe Dich zu leben, es ist nicht so leicht, wie man glaubt. Gedenke meiner, nicht in Stunden der Trauer, aber in Stunden des Zweifels, und bewahre in Deinem Herzen das Bild Weras in seiner ganzen makellosen Reinheit ...

Noch einmal: Leb wohl!
Dein P. B.


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