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8. Kapitel.
Der Straßenschreck in Dillstadt

Hinter der dichten Hecke, die das Grundstück des Apothekenbesitzers Wagner abschloß, kauerten drei Mädchen und kicherten verstohlen. Man hatte sich für heute abend einen famosen Spaß ausgedacht und ging nun an die Ausführung. Ein Portemonnaie wurde an einen langen Bindfaden gebunden und auf den Bürgersteig gelegt. Der Faden, etwas mit Staub bedeckt, führte durch die Hecke hindurch nach Bärbels Hand. Die beiden Schulfreundinnen Lore und Hanna warteten nun darauf, daß jemand des Weges kam, um den Geldbehälter aufzunehmen. Hanna stand Schmiere und kündete an, wer sich sehen ließe.

Auch jetzt schlich sie sich an ihren Ausguck, wandte sich aber sofort um und flüsterte beinahe erschreckt den beiden anderen zu:

»Der Herr Pastor!«

Hopp! Das Portemonnaie verschwand in der Hecke.

Der Pastor ging vorüber, die drei Mädchen verhielten sich mäuschenstill. Dann wurde Lore erneut ausgeschickt, um die Börse wieder auf den Bürgersteig zu legen.

Bald meldete Hanna: »Die Dicke vom Fleischer Penken!«

»Au – fein!«

In atemloser Spannung erwarteten die drei die dicke Fleischersfrau, die langsam und gemächlich daherkam. Nun war sie herangekommen, schritt über den Bindfaden hinweg und sah das Portemonnaie nicht.

»Die hat keine Augen im Kopfe,« schalt Bärbel, und Lore stimmte verärgert ein.

Aber schon kam wieder jemand daher, das hagere Fräulein von Tillich.

»Die hat die Nase immer auf der Erde,« flüsterte Bärbel.

Und richtig. Das ältliche Fräulein kam heran, stutzte einen Augenblick, blieb dann stehen, beugte sich nieder, griff nach der Börse und schrie im nächsten Augenblick auf, denn der gefundene Gegenstand hüpfte in großem Bogen aus ihrer Hand.

Sie sah sich nach allen Seiten um, dann eilte sie hastig davon.

Die drei Kinder hinter der Hecke hatten Mühe, das Lachen zu unterdrücken.

»Schnell, schnell, dort kommt ein Mann,« schrie Hanna, und wieder lag die Börse auf dem Bürgersteig.

Es war ein robuster Arbeitsmann, der ebenfalls den ausgelegten Gegenstand sah, sich niederbeugte, um ihn aufzuheben; auch ihm sprang das Portemonnaie aus der Hand. Da schaute der Große über die Hecke, denn er hatte das unterdrückte Lachen gehört.

»Ihr verflixten Bälger, na wartet, ich komme 'rein!«

Wie die Windhunde waren die drei davon, während der Arbeitsmann ruhig weiterging.

Ein Ehepaar kam des Weges, und wieder lag das Portemonnaie hingeworfen auf der Straße.

»Schau nur, Emil.« Schon beugte sich die Frau nieder, nahm die Börse, Bärbel zog an dem Faden, der riß, denn der Fuß des Ehemannes stand darauf. Die beiden gingen weiter, und betrübt standen die drei Mädchen da.

»Mein neues Portemonnaie,« sagte Bärbel niedergeschlagen, »jetzt gehen sie mir damit durch.«

»Laufe ihnen doch rasch nach!«

Bärbel tat es wirklich. »Ach, bitte,« sagte sie; indem sie artig vor dem Ehepaar knickste, »Sie haben da eben mein Portemonnaie mitgenommen.«

»So – gehörte das dir?« fragte die Frau.

»Jawohl.«

»Dann bist also du das unnütze Mädchen, das die Leute foppen will. Ich kann mir wohl denken, was dieser Faden bedeutet. Hier hast du dein Eigentum!«

Kleinlaut ging Bärbel zurück. Für heute war ihr die Lust an dem Vergnügen vergangen.

Im Garten hockten die drei zusammen, und auch die Zwillinge gesellten sich dazu.

»Ich weiß was Feines,« sagte Martin, »wir wollen uns alle unterhenkeln und den Bürgersteig versperren.«

»Nee, ich weiß was viel Schöneres,« sagte Kuno, »wir wollen an der Straßenecke mit einem zusammenrempeln.«

»Das wäre fein,« sagte Lore, »das macht Spaß!«

Man beriet noch weiter, fand aber, daß hier nicht der geeignete Platz dafür sei. Man wollte lieber an der Ecke der Linden- und Wilhelmstraße Aufstellung nehmen. Einer mußte von der anderen Straßenseite her ein Zeichen geben, dann wollten die anderen die Fußgänger anrempeln.

»Und wenn wir sie tüchtig gepufft haben,« meinte Bärbel, »entschuldigen wir uns höflich.«

Dieser Scherz fand begeisterte Aufnahme. Hanna weigerte sich zwar, mitzumachen, wollte aber das Zeichen geben.

Bärbel teilte die Parteien ein. Auf das verabredete Zeichen hin wollten Bärbel und Lore im Eilschritt um die Straßenecke biegen, und ihnen sollten die Zwillingsbrüder auf dem Fuße folgen. Das würde ein prachtvoller Zusammenstoß werden.

»Wir müssen unbedingt in der Übermacht sein,« sagte Bärbel, »falls ein Ehepaar kommt, richten wir zwei Kinder nicht viel aus.«

Strahlend zog die kleine Schar ab. An der belebten Lindenstraße wurde haltgemacht. Hanna wurde gegenüber aufgestellt, nachdem das Zeichen verabredet worden war. Hob sie den Daumen, mußte man sich bereit halten, streckte sie dazu den Zeigefinger hoch, begann der Laufschritt. Hob sie den kleinen Finger, mußte man sich ruhig verhalten.

Da standen die vier Stürmer und schauten gespannt zu Hanna hinüber. Sie sahen, wie Hanna plötzlich freudvoll erregt von einem Bein auf das andere hüpfte, dann kam der Daumen in die Höhe, und als der Zeigefinger emporschnellte, begann der Galopp.

Bums! – Bärbel und Lore prallten gegen einen übermäßig dicken Herrn. Martin und Kuno stürmten nach und preßten die beiden Mädchen noch fester, so daß der dicke Herr ins Schwanken kam.

»Paßt doch etwas mehr auf, ihr Rangen, man rennt doch nicht um die Straßenecke im Galopp.«

Bärbel würgte mit Mühe hervor: »Entschuldigen Sie,« Lore konnte nichts sagen, denn das Lachen saß ihr in der Kehle.

Das hatte herrlich geklappt. Noch einmal dasselbe entzückende Spiel. Wieder ging der Daumen in die Höhe, der Zeigefinger folgte, die vier rannten gegen eine junge Dame, der vor Schreck Schirm und Handtasche entfiel. Sie schalt schon etwas energischer auf die wilde Schar.

Zum dritten Male! Der Daumen ging in die Höhe, die vier machten sich angriffsfertig. Gleich mußte es so weit sein. Aber im selben Augenblick sah Hanna, daß Fräulein Greger, die Schulvorsteherin, aus dem Laden des Eckhauses trat. Hastig streckte sie den kleinen Finger in die Höhe; aber die Angreifer waren so freudig erregt, daß sie den Finger gar nicht mehr sahen, sie stürmten los und rannten im nächsten Augenblick mit aller Wucht gegen ihre Schulvorsteherin.

Fräulein Greger war diesem Anprall nicht gewachsen. Sie taumelte rückwärts, prallte gegen den nach ihr kommenden Herrn, der rasch zugriff, weil er fürchtete, daß das ältliche Fräulein fiel. So war im Augenblick nur ein Knäuel an der Ecke, denn die Zwillinge hatten Fräulein Greger noch gar nicht erschaut und stießen kräftig von hinten nach.

»Ooch,« sagte Bärbel, als es die Schulvorsteherin erkannte.

»Bärbel, – Lore – was soll das bedeuten? Aber, Kinder, wie könnt ihr so hastig um eine belebte Ecke laufen, das muß doch einen Zusammenstoß geben. Beinahe wäre ich zu Schaden gekommen. Ich weiß, ihr habt es nicht mit Absicht getan, aber in Zukunft müßt ihr euch vorsehen. Ihr seid doch groß genug, um schon zu überlegen, daß durch solch einen Zusammenstoß ein Unglück passieren kann.«

Bärbel war wie mit Blut übergossen. Fräulein Greger behauptete, der Zusammenprall sei unbeabsichtigt geschehen. Wie hatte man sich auf den Spaß gefreut! Lore sprach höflich eine Entschuldigung und bekam von Fräulein Greger einen freundlichen Blick, Bärbel fühlte sich tief beschämt.

»Dir ist wohl der Mund zugefroren, Bärbel?« tadelte Fräulein Greger, »man entschuldigt sich!«

»Entschuldigen Sie,« stotterte das Kind mit niedergeschlagenen Augen. Das kleine Herz war tief bekümmert. Fräulein Greger dachte gut von ihr, und ganz absichtlich hatte sie die Fußgänger angerempelt.

Kuno und Martin wollten den schönen Spaß noch weiter fortsetzen, aber Bärbel lehnte ab. Aber man stürzte sich auf Hanna.

»Du Gans,« sagte Bärbel, »hast du denn nicht gesehen, daß es die Greger war?«

»Ihr seid die Gänse, ich habe doch den kleinen Finger hochgestreckt.«

»Sie hat euch reinlegen wollen,« rief Martin.

»Quatsch,« sagte Bärbel, »sie ist unsere Freundin, und so was macht eine Freundin nicht. Das verstehst du nicht, kleiner Junge.«

»So klug wie du bin ich schon lange,« gab der Bruder entrüstet zurück.

Bärbel sah ihn mit blitzenden Augen an. »Du – weißt du, wer der Tyrann von Syrakus ist? Und weißt du, warum Mörus mit dem Dolch im Gewande zu ihm schlich?«

Gerade gestern hatte man in der Schule die »Bürgschaft« von Schiller durchgenommen.

»Na, siehst du,« fuhr Bärbel fort, »gar nichts weißt du! Wenn du so klug bist, so sage mir doch, was der Tyrann damit meinte: ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte?«

»Das weiß ich lange,« rief Martin.

Bärbel horchte interessiert auf. Darüber sollten sie einen Aufsatz schreiben. »Na, dann sag's doch!«

»Nun, er wollte Skat spielen, und da brauchte er den dritten Mann.«

»Dämlicher Idiot,« sagte die ältere Schwester wegwerfend, dann wandte sie sich wieder an die Freundinnen, die zusammen flüsterten und einen neuen Streich berieten.

Bald stimmte Bärbel freudig ein. »Oh«, sagte sie, indem sie die Augen schwärmerisch verdrehte, »Kinder, das ist ein Spaß, bei dem keinem ein Unglück zustoßen kann. Wir gehen auf den Markt.«

Der Marktplatz war bald erreicht. Auch die Zwillinge gingen mit. Gerade jetzt, wo es bereits zu dunkeln anfing, war der Plan besonders leicht auszuführen.

Am Rinnstein standen die fünf. Bärbel zeigte mit ausgestreckter Hand hinein. »Oh – da ist es – – schrecklich – –!«

»Fürchterlich,« schrie Lore, »und jetzt ist es dort!« Sie zeigte nach einer anderen Stelle.

Die Zwillinge lärmten mit. »Beißt es? – Au – – au!«

»Geht nicht zu nahe heran!« Es war Bärbels Stimme.

Die Bäckersfrau trat aus dem Laden. »Was habt ihr denn, Kinder?« Keiner hörte, dafür aber tönte es aus fünf Kehlen:

»Da – da ist es – – oh, wie es schrecklich aussieht, – – fürchterlich – – ich habe Angst!«

»Was ist denn da?«

Es dauerte nur wenige Augenblicke, da standen zehn Dillstadter um die Kinder herum. Bärbel warf Lore einen vielsagenden Blick zu und schrie plötzlich auf, indem sie mitten in die Menge wies:

»Da huscht es!« Es bildete sich eine breite Gasse, und diesen Augenblick benützten die beiden Mädchen, um schleunigst davonzueilen.

»Was ist denn hier zu sehen? – Wissen Sie es?« Einer fragte den anderen, immer mehr Menschen kamen herbei. Hanna und die Zwillinge drückten sich ebenfalls, und an der nächsten Straßenecke standen die fünf und kreischten vor Lachen, denn manch ein Dillstadter hatte sich zur Erde gebeugt, suchte den Rinnstein ab; aber keiner fand etwas.

Für heute mußte man die Späße einstellen, denn es war an der Zeit, heimzugehen. Beim Scheiden wurde aber beschlossen, daß man sich morgen nachmittag wieder hier treffen wolle.

»Jeder hat sich einen neuen Spaß ausgedacht,« rief Bärbel, »wer nichts weiß, muß uns bei Gelegenheit eine Tafel Schokolade schenken.«

Die Folge davon war, daß in allen fünf Köpfen angestrengt darüber nachgedacht wurde, wie man morgen die Leute auf der Straße belästigen könne, denn die Scherze sollten natürlich wieder auf der Straße ausgeführt werden, aber möglichst nicht in der Nähe der Apotheke.

Anderen Tages traf man sich wieder im Garten der Apotheke und hielt Kriegsrat ab.

Kuno war der erste, der seinen Feldzugsplan entwickelte. »Ich nehme einen Topf mit, der ist voll Wasser, unterwegs füllen wir ihn immer wieder, und jeder, der uns entgegenkommt, wird begossen.«

»Bist meschugge,« tadelte Bärbel, »wir wollen doch nur Späße, die einen vornehmen Charakter haben. – So was ist gewöhnlich!«

»Ich meine doch sauberes Wasser,« sagte Kuno entrüstet.

»Nein, – das geht nicht. – Wer weiß etwas Besseres?«

Lore entwickelte einen Plan, der begeisterte Aufnahme fand.

»Da wollen wir aber nicht in eine belebte Straße gehen, am besten ist es, wir gehen zum Stadtwall, dort kommen die Fuhrwerke vom Lande zur Stadt.«

Schon waren die fünf am Aufbruch. Unterwegs wurden wiederum die Rollen verteilt.

»Nur immer feste durcheinanderschreien,« kommandierte Bärbel.

Eingehenkelt marschierten die Kinder die Straße dahin, die zum nächsten Dorfe führte. Ein Einspänner kam den Kindern entgegen. In langsamem Schritt ging das Rößlein. Auf dem Kastenwagen hatte ein braves Bäuerlein Platz genommen, das stumpf vor sich hinschaute.

Nun war der Wagen an die Kinder herangekommen, – da ging es los. Bärbel wies erregt auf eines der Hinterräder: »Das Rad – seht nur das Rad!«

»Oh – das Rad – – es dreht sich!«

»Das Rad dreht sich!« brüllten die Zwillinge.

»Wie das aussieht, oh – das Rad – das Rad!«

Alle fünf Kinder schrien aus Leibeskräften. Der Bauer bog sich zur Seite, um zu sehen, was es gäbe. Er hörte ein Geschrei, das einem Rade seines Wagens gelten mußte. War da vielleicht etwas in Unordnung?

Immer erregter gebärdeten sich die Kinder, sie liefen neben dem Wagen her, Bärbel schrie: »Das zweite Rad auch – – oh, beide Räder!«

Der Bauer hielt das Pferd an. »Was ist denn?«

Alle fünf kreischten durcheinander: »Das Rad – – das Rad – – die beiden Räder!!«

Der Bauer wickelte sich aus der großen grauen Decke, stieg umständlich vom Wagen herunter; und nun rief ihm Bärbel nochmals triumphierend entgegen: »Das Rad dreht sich!«

»Das zweite auch,« ergänzte Lore.

»Ätsch – reingefallen,« schrie Kuno; und als der Bauer nach der Peitsche griff, rannten alle fünf Kinder, so schnell sie konnten, davon.

»Vermaledeites Pack!« schimpfte der Bauer, untersuchte aber doch die Räder und stieg dann verärgert wieder auf den Wagen.

Auch beim zweiten Fuhrwerk gelang der Spaß. Die kutschierende Frau hielt an und stieg ab, weil auch sie glaubte, daß eines der Räder sich löse. Sie schalt kräftig hinter den Kindern her.

Nun ging es wieder zurück nach Dillstadt. Man durchwanderte die Straßen. Voran die drei Mädchen, hinterher die Zwillinge. Da plötzlich tönte aus Martins Munde ein schriller Schrei. Als sich Bärbel umdrehte, sah sie einen Mann, der stehend Martin übers Knie gelegt hatte und ihm kräftige Schläge versetzte.

Man erkannte den Bauer, der irgendwo ausgespannt hatte. »Es dreht sich,« sagte der Bauer, indem er weiter schlug, »der andere Bengel kommt auch dran.«

Die vier stoben davon und überließen den schreienden Martin seinem Schicksal. Erst als sie sich in Sicherheit fühlten, warteten sie auf den weinenden Bruder.

Der teilte Püffe aus, auch Kuno beteiligte sich daran, beide beschimpften die drei Mädchen.

»Ihr Feiglinge, aber natürlich, ein Weibsbild hat eben keinen Mut im Herzen!«

»Bist ja auch fortgelaufen,« sagte Bärbel.

»Nur um euch zu beschützen.«

»Schafskopp!«

Daraufhin wurde beschlossen, sich von den Zwillingen zu trennen. Martin hatte für heute alle Lust zu dummen Streichen verloren, denn der Bauer hatte kräftig zugeschlagen.

»Ich denke, wir wollen uns erst 'mal stärken,« meinte Bärbel, und Lore kam auf den Gedanken, in den eigenen Garten zu gehen.

»Unsere Pflaumen sind zwar noch nicht blau, aber der Nachbar hat schon reife. Die werden wir kriegen.«

Man zog hin. Der Nachbargarten wurde vom Brunsschen Grundstück aus einer genauen Besichtigung unterzogen. Eine hohe Ziegelmauer trennte die beiden Grundstücke, aber über diese Mauer hinweg hing ein Zweig mit köstlichen gelben Pflaumen.

»Die kriegen wir nicht,« sagte Bärbel. »Der Baum steht zu weit von der Mauer entfernt.«

Sechs Augen gingen sehnsuchtsvoll zu den gelben Früchten hinauf.

»Wenn man auf den Baum steigen könnte, – aber so weit kann man nicht springen.«

Auf der mäßig breiten Mauer spazierten die drei Mädchen und schauten jenseits in den tiefen Graben, der sich an der Mauer entlangzog, hinter dem Baum an Baum stand.

»Hier herunter können wir nicht. Aber man könnte ein Lasso werfen.«

»Mit einem Strick läßt sich der Baum nicht schütteln,« meinte Lore.

»Wenn man etwas gegen den Baum stemmte?«

Nach kurzem Überlegen brachte Lore zwei Wäschestützen heran. »Ich habe eine Idee. Wir stellen uns auf die Mauer, stemmen die Stützen gegen den Baumstamm, das andere Ende gegen uns, und dann versuchen wir den Baum zu schütteln.«

»Wenn ihr nun ausrutscht?« wagte die etwas ängstliche Hanna einzuwenden, »dann fliegt ihr in den Graben.«

»Wir rutschen nicht aus,« meinte Bärbel, »wir haben doch die Stützen.«

Rasch war die Mauer wieder erklommen, Hanna reichte die Stangen hinauf, und nun wurde der Angriff vorgenommen. Beide Stangen wurden an den Stamm des Pflaumenbaumes gesetzt, Bärbel stemmte sich das andere Ende der Stange in die Achselhöhle, Lore tat ein gleiches, und Hanna sollte kommandieren: eins – und eins – und eins. Bei der jedesmaligen eins wollten die beiden mit aller Wucht gegen den Baum stoßen.

Das Kommando ertönte: Eins!

Der Zweig mit den Früchten schwankte zwar, aber keine Pflaume kam herunter.

»Doller,« sagte Bärbel.

»Eins – und eins – und – –«

Ein kurzer Aufschrei, Bärbels Stütze war von dem Stamm des Baumes abgeglitten, und gerade, als sie sich mit voller Wucht dagegenstemmte, stürzte sie kopfüber jenseits der Mauer hinab, hinein in den schmutzigen Graben.

»Bärbel!« Lore schrie es entsetzt, verlor die Stange und lag im nächsten Augenblick neben der Freundin. Der Schlamm spritzte hoch auf und überschüttete Bärbel – von oben bis unten.

Triefend kamen die beiden Kinder herausgekrochen.

»Au – – oh – –,« stöhnte Bärbel.

Sofort ließ sie sich unter dem Pflaumenbaume nieder. »Au, – ich kann nicht laufen.«

»Ich blute,« weinte Lore.

Von der anderen Mauerseite rief Hanna verzweiflungsvoll nach den Freundinnen. Schließlich kletterte sie auf die Mauer und sah die beiden schmutzstarrenden und nassen Mädchen.

»Ich glaube, ich habe mir beide Beine gebrochen,« sagte Bärbel. »Au – au – – o je – ich blute ja auch!«

Was war nun zu machen? Hanna sprang wieder von der Mauer hinab, lief in ihrer Angst in die Villa, fand ein Hausmädchen und erzählte ihm, daß Lore und Bärbel mit gebrochenen Beinen sich nebenan verbluteten.

»Du lieber Himmel, die gnädige Frau ist nicht zu Hause.«

Das Mädchen und Hanna eilten in den Nachbargarten, machten den Besitzer auf das Vorgefallene aufmerksam, der nun mit Frau und Tochter nach dem Garten ging, um zu sehen, was vorgefallen sei.

Schmutzbedeckt, stöhnend und blutend schauten ihnen die beiden Mädchen entgegen. Beide waren sehr kleinlaut geworden, und während sich Lore erhob, zwar auch ein wenig hinkend, sank Bärbel wieder jammernd zusammen.

»Ins Haus müßt ihr natürlich,« sagte Herr Lattermann. »Ausgezogen müßt ihr werden und euch untersuchen lassen.«

Bärbel wurde getragen, Lore hinkte hinterher. Das Mädchen zog den Kindern die durchnäßten, schmutzigen Kleider ab, ein Arzt wurde gerufen, der bei Bärbel keinen Bruch, aber eine schmerzhafte Sehnenzerrung und zahlreiche Hautabschürfungen feststellte. Lore war besser davongekommen. Sie hatte sich beide Knie und einen Ellenbogen blutig geschlagen, aber sonst war nichts Schlimmes geschehen.

Bärbel mußte nach der Apotheke getragen werden. Es war unmöglich, daß sie einen Schritt laufen konnte. Hanna ging mit, um zu erzählen, welches Unglück die Freundin gehabt habe, die nichts dafür könne, denn an allem nur sei der Pflaumenbaum schuld.

Obwohl Frau Wagner mit ihrer Tochter, die heftige Schmerzen hatte, aufrichtiges Mitleid empfand, machte sie ihr doch Vorwürfe.

»Du bekommst so viel Obst, mein Kind, mußt du in andere Gärten gehen, um zu naschen?«

»Ach, Mutti, – das Obst aus der Schüssel schmeckt lange nicht so gut, als wenn man es sich erarbeitet.«

Frau Wagner war froh, daß kein größeres Unglück geschehen war, denn der Sturz von der hohen Mauer hätte schlimmere Folgen haben können.

Volle acht Tage mußte Goldköpfchen im Bett zubringen, dann erst war die Sehnenzerrung so weit behoben, daß es, wenn auch zunächst an einem Stock, gehen konnte.


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