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F

Für heute wollen wir aufhören, Fräulein Schirmer. Am Montag diktiere ich Ihnen den Vortrag weiter.« – Die junge Dame, die ihrem Chef am Schreibtisch gegenüber saß, erhob sich schnell, nahm Bleistifte und verschiedene vollgeschriebene Blätter zusammen und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Tür blieb sie zögernd stehen.

»Herr Direktor –«

Der Angeredete, eine große, schöne Erscheinung mit leicht ergrautem Haupthaar, wandte sich dem Mädchen zu, das verlegen die Augen zu Boden senkte.

»Bitte, Fräulein Schirmer?«

»Herr Direktor, ich möchte Sie bitten – ich möchte meine Stellung zum ersten Januar aufgeben. Wir haben heute den fünfzehnten November, ich habe sechswöchentliche Kündigung – –«

Erstaunt drehte sich Ernst Weigand um.

»Sie kündigen Ihre Stellung? Das tut mir leid, Fräulein Schirmer, wir sind mit Ihnen immer sehr zufrieden gewesen. Gefällt es Ihnen nicht mehr bei uns? Wir haben uns doch jahrelang gut vertragen oder,« setzte er mit leisem Lächeln hinzu, »wollen Sie vielleicht heiraten?«

Ein flüchtiges Rot huschte über die Wangen der Angeredeten.

»Jawohl, Herr Direktor.«

Erstaunt hob der Direktor den Kopf, heiraten wollte seine langjährige Angestellte, dieses Mädchen, das gewiß schon die Dreißig überschritten hatte! Welcher Mann konnte wohl an ihr Gefallen finden? Da war doch aber auch wirklich nichts, was zu fesseln vermocht hätte. Weder das einfache blonde Haar, das sie immer schlicht zurückgestrichen trug, noch die grauen Augen. Die überschlanke Figur konnte man fast schmächtig nennen. Da Erna Schirmer nichts auf Äußerlichkeiten gab, sah sie auch nicht sonderlich vorteilhaft aus. Weigand konnte sich kaum erinnern, sie in etwas anderem als diesem unmodernen dunkelblauen Kleid gesehen zu haben. Keine Spitze, keine gefällige Garnitur gab dem Anzug etwas Freundliches. Freilich, sie war eine sehr gute Arbeiterin, gewissenhaft und zuverlässig; ihm als Chef war sie die liebste von allen, er konnte sich unbedingt auf sie verlassen.

Nun also wollte dieses unscheinbare Mädchen heiraten? Wahrscheinlich hatte sie sich einige hundert Mark gespart, das hatte irgendeinen kleinen Beamten gelockt.

Aber sollte Erna Schirmer wirklich so töricht sein? Er kannte sie doch stets als einen überlegten und klardenkenden Menschen. Weigand wußte, daß sie aus guter, aber verarmter Familie stammte. Nie hatte man sie im Verkehr mit Freundinnen oder gar Männern gesehen; still ging sie ihren Weg, immer allein.

Seine Neugier wurde rege.

»Also verheiraten wollen Sie sich, Fräulein Schirmer? wollen Sie mir auch verraten, wer der Glückliche ist?«

Wieder lief eine Blutwelle über ihr sonst so blasses Gesicht.

»Erik Santos ist mein Verlobter.«

Mit einem Ruck erhob sich der Direktor.

»Wer? Erik Santos? Unser großer Sänger?«

»Jawohl, Herr Direktor.« Ein Leuchten brach aus ihren Augen.

Weigand ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. Da hörte denn doch alles auf! Santos, der vergötterte Liebling des Publikums, der gefeierte Tenor des Hoftheaters begehrte dieses Mädchen zu seiner Frau? Er, der Künstler, der vor kurzem in die Residenz gekommen, mit seiner wundervollen Stimme sich die Herzen des Publikums im Sturm erobert hatte, dem man begeistert zujubelte, wenn er sich auf der Bühne zeigte – dieser Liebling aller Frauen, dieser zweite Caruso warb um Erna Schirmer? Warb um ein Mädchen, das weder schön noch reich, nicht einmal interessant und liebenswürdig war? Steckte da irgendein Geheimnis dahinter? Weigand selbst war erst kürzlich in einer glänzenden Gesellschaft mit dem gefeierten Sänger zusammengetroffen und hatte sich dann selbst begeistert über den Menschen und Künstler seinen Angehörigen gegenüber ausgesprochen.

Seine Neugier wuchs immer mehr, und indem er auf seinen Sessel deutete, wandte er sich Erna wieder zu:

»Nehmen Sie doch einmal Platz, Fräulein Schirmer. Ich selbst hatte kürzlich das Vergnügen, Ihren – Ihren Herrn Bräutigam persönlich kennenzulernen; da interessiert mich diese Neuigkeit ungemein. Sie haben ja darüber nie etwas angedeutet.«

Das junge Mädchen hatte sich niedergelassen und blickte nun seinen Chef lächelnd an.

»Sie sind der erste, der davon erfährt.«

Weigand schüttelte erstaunt den Kopf.

»Sie sind eine merkwürdige Braut. Jede junge Dame teilt doch ein solches Ereignis ihren Freundinnen und Kolleginnen mit. Und hier gar eine Verbindung mit unserem Erik Santos!«

»Ich wollte kein unnötiges Aufsehen machen, Herr Direktor.«

»Aufsehen allerdings hätte es erregt. Kennen Sie Ihren Herrn Bräutigam schon lange?«

»Wir sind Jugendgespielen.«

»Also eine Jugendliebe! Und wann gedenken Sie zu heiraten?«

»Bis Ende Dezember bleibe ich noch tätig; dann werden wir langsam mit der Aussteuer beginnen, um im März oder spätestens April zu heiraten. Erik will allerdings im März noch für kurze Zeit ins Ausland. Man bat ihn dringend um ein Gastspiel.«

Immer aufmerksamer betrachtete Weigand seine Angestellte. Nein wirklich, das Mädchen war nicht hübsch, nur die grauen Augen konnten recht eigentümlich leuchten, wenn sie von dem Geliebten sprach. Ein merkwürdiges Paar mußte das werden: der vom Publikum verwöhnte Künstler und dieses einfache, stille, bescheidene Mädchen! Einen seltsameren Kontrast konnte man sich nicht denken. Erna schien diese Gedanken auf der Stirn ihres Chefs zu lesen, denn sie sagte plötzlich:

»Sie wundern sich, Herr Direktor, daß ein Künstler wie Erik gerade mich zur Frau begehrt? Auch mir erscheint es so seltsam, und doch ist die Sache sehr einfach.«

»Wollen Sie mir darüber etwas erzählen, Fräulein Schirmer? Nehmen Sie es nicht für müßige Neugier!«

»O nein, Herr Direktor,« versetzte Erna warm. »Ich komme mir ja selbst wie eine verzauberte Prinzessin vor, die auf einmal aus ihrer Hütte in ein goldenes Schloß versetzt wird. – Sie wissen, ich stamme aus einer kleinen Stadt, in der mein Vater als Arzt praktizierte. Wir lebten recht gut. Papa sammelte zwar keine Schätze; dazu war die Bevölkerung zu arm und das Herz meines guten Vaters zu weich. Er nahm von den Armen kein Honorar – und war schon darum weit und breit beliebt. Ich habe eine schöne Kindheit verlebt. Als mir mit acht Jahren noch ein Schwesterchen geboren wurde, kannte mein Glück keine Grenzen. Zu jener Zeit geschah es auch, daß mein Vater zu einer schwerkranken jungen Frau gerufen wurde, die erst vor kurzem in unser Städtchen gezogen war und von der eigentlich niemand recht wußte, wer sie war. Mein Vater tat sein Möglichstes und Mutter versorgte die Ärmste, die mit ihrem kleinen Knaben lebte, mit Eßware. Der kleine, schwarzlockige Bube, ihr Sohn, war dann oft tagelang bei uns und wurde mein Spielgefährte. Zwei Jahre lang mußte sich die arme Frau noch quälen, ehe der Tod sie erlöste.

»Während dieser Zeit war der kleine Erik mein treuester Freund, wir waren unzertrennlich, meine Eltern hatten nichts gegen den Verkehr einzuwenden. Als nun seine Mutter starb, sollte Erik ins Waisenhaus. Ich schrie, ich weinte, gebärdete mich wie toll: ich wollte den Spielkameraden nicht verlieren. Meine Eltern gingen damals mit dem Gedanken um, das Kind in unser Haus aufzunehmen und es als eigen zu erziehen, wahrscheinlich aber haben das die spärlichen Einkünfte nicht zugelassen. Als sich dann der Pastor des Ortes des verlassenen Knaben annahm, war auch alles zur Zufriedenheit erledigt: Erik blieb mein treuester Spielgefährte, so daß sogar meine kleine Schwester seinetwegen von mir vernachlässigt wurde.«

Der Direktor lächelte.

»Einige Jahre darauf – mein Vater war inzwischen gestorben – zogen wir fort und kamen hierher nach der Residenz. Vermögen war kaum vorhanden; wir mußten also zusehen, daß wir uns durchschlugen. Erik war zwei Jahre jünger als ich, besuchte das Gymnasium, machte aber seinem Pflegevater, der ihn zu seinem Nachfolger schon jetzt bestimmt hatte, wenig Freude. Er lernte nicht gern, streifte viel lieber in Wald und Feld herum, lustige Lieder vor sich hinsingend. Die Trennung war für uns eine sehr schmerzliche. Damals schon schwur mir der Fünfzehnjährige, daß er mich ewig lieb behalten wolle und, wenn er erst Pastor sei, mich zu seiner Pastorin machen werde. Dann sollte ich zurückkommen in unser kleines Städtchen, in dem wir so glückliche Jugendjahre zusammen verlebt hatten, dann wollten wir dort bis an unser Lebensende zusammen leben und wirken, um uns nie wieder zu trennen.«

Erna machte eine Pause.

»Meine Mutter nahm eine billige Wohnung. Ich besuchte eine Handelsschule und ging in Stellung. Meine jüngere Schwester besuchte zu dieser Zeit noch die Schule. Wohl schrieben Erik und ich uns fleißig: aber die schönsten Zeiten waren immer die, wenn er uns besuchte.

So vergingen die Jahre. Da kam er eines Tages ganz unerwartet. Ich erschrak, als ich ihn vor mir sah: die dunklen Augen, die immer so treuherzig blickten, schauten finster drein und eine nervöse Hast war in seinem Wesen. Ich drang in ihn, er solle seiner Jugendfreundin sich anvertrauen – lange flehte ich vergebens. Aber endlich – wir waren allein zu Haus, ich war gerade aus meinem Büro heimgekommen – stand er vor mir und erzählte mir von seinen Kämpfen. Das Abiturium hatte er glücklich bestanden. Er sollte auf die Universität, um Theologie zu studieren. Er berichtete mir von dem heftigen Streit, den er mit seinem Pflegevater gehabt hatte, als er sich geweigert, dieses Studium zu ergreifen. Zwischen beiden war es so zum Bruch gekommen. Erik war davongegangen – war fort aus dem Städtchen, von seinem Pflegevater fort im Zorn! Jener hatte ihm die Tür gewiesen, als ihm Erik erklärt hatte, daß er Künstler werden, zur Bühne gehen wollte. – Ich selbst versuchte ihm diesen Entschluß auch auszureden, doch es gelang mir nicht. Kurzum, er setzte seinen Willen durch und kämpfte sich mutig seinen Weg. Ich besaß ein ganz kleines Kapital, das stellte ich ihm zur Verfügung, nachdem ich ihn zum erstenmal ein Lied hatte singen hören. Es war mir dabei klar geworden, daß eine so herrliche Stimme nicht verloren gehen dürfte. Von nun an spornte ich ihn immer weiter an, wenn er zusammenzubrechen drohte. Was wir hatten, teilten wir mit ihm. Er hatte oft gehungert, wenn er die Mittel nicht besaß, sich ein Stück Brot zu kaufen. Und doch verzweifelte er nicht. In besonders bitteren Stunden nur wollte ihn der Gedanke niederdrücken, daß er das nicht erreichen würde, wonach er strebte.

Als sein Studium beendet war, fand er ein Engagement an einer kleinen Bühne, um schon nach kurzer Zeit an das Stadttheater nach K. zu kommen. Und hier hörte ihn unser Intendant. Das übrige wissen Sie. Mit einem glänzenden Kontrakt ist Erik jetzt auf Jahre an die Hofoper verpflichtet und hier hat er sich die Herzen des Publikums im Sturm erobert. Aber in all dem Glück hat er mich nicht vergessen, der Mann will jetzt das Wort einlösen, das mir der Knabe gegeben. Im Frühjahr soll ich die Seine werden.«

Erna hielt inne. –

Aufmerksam war Weigand ihren Worten gefolgt. Dann streckte er ihr die Hand entgegen:

»Sie sind ein gutes Kind, Fräulein Schirmer, und so wünsche ich Ihnen und Ihrem Verlobten von Herzen ein großes, ungetrübtes Glück.«

»Ich danke Ihnen.«

»Haben Sie noch irgendeinen Wunsch, Fräulein Schirmer?«

»Nein, Herr Direktor, ich bin glücklich genug!«

»Das glaube ich gern,« lächelte Weigand, »Tausende junger Damen werden Sie um das Glück, die Braut eines Santos zu sein, beneiden; ich wünsche Ihnen jedenfalls von Herzen alles Gute. Und wenn Sie einmal, vielleicht später, irgend etwas auf dem Herzen haben, dann kommen Sie vertrauensvoll zu Ihrem alten Chef; wenn ich kann, will ich Ihnen gerne helfend und ratend zur Seite stehen.«

Weigand schüttelte seiner Angestellten freundlich die Hand und schob das sich immer wieder herzlich bedankende junge Mädchen zur Tür hinaus.

»Ich kann es nicht begreifen,« murmelte er, nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, »ein Santos und ein Fräulein Schirmer! Unser gefeierter Künstler und ein Büromädel!«

* * *

»Aber Kinder, es ist Zeit zum Schlafengehen!« Mit diesen Worten trat Frau Doktor Schirmer ins Wohnzimmer, und die beiden Gestalten, die auf dem Sofa eng aneinander geschmiegt saßen, fuhren erstaunt in die Höhe.

»Was, schon so spät?«

»Natürlich, Erna, es ist gleich Mitternacht.«

Das junge Mädchen griff erschrocken nach der Uhr.

»Wirklich, gleich zwölf! Da haben wir uns wieder schön verplaudert. Nun mach, Erik, daß du fortkommst, es ist die höchste Zeit.«

Lachend hatte dieser die kleine schmächtige Frau Doktor umfaßt.

»Na, Mamachen, versuchen Sie es mal, mich heute rauszuwerfen. Das gelingt Ihnen nicht. Es ist nur einmal im Jahre Ernas Geburtstag, und wir haben ohnehin so wenig voneinander.«

»Das ist wohl wahr; Mutti, denk' doch einmal, morgen sehen wir uns wieder gar nicht.«

»Und Donnerstag auch nicht, da bin ich vom österreichischen Gesandten eingeladen. Na, warte mal, Erni, wenn du erst meine Frau bist, dann mußt du immer mit.«

»Um Gottes willen,« lachte die Angeredete ängstlich, »laß mich nur daheim. Du weißt, ich finde daran keinen Gefallen.«

»Na, Schatzi, einmal wird sich ja die Begeisterung der Leute legen, dann ladet mich kein Mensch mehr ein. Aber wenn du es willst, sage ich auch gleich beim Grafen Bredow ab.«

»Aber Erik!« Erschrocken blickte das junge Mädchen auf den Geliebten. »Du weißt doch, daß du dir nicht das geringste Vergnügen meinetwegen versagen sollst.«

»Aber Schatz, denke doch: unsere göttliche Primadonna, Fräulein Reichmann, ist auch dort!«

Erna lachte lustig auf. »Ich fürchte sie nicht.«

Erik zog seine Braut fest an sich. »Brauchst du auch nicht, Lieb; so wie du ist ja doch keine.«

Frau Doktor Schirmer hatte indessen begonnen, in dem Zimmerchen Ordnung zu schaffen. Wohin das Auge blickte, standen prachtvolle Blumenkörbe und Sträuße, die herrlichsten und teuersten Gewächse. Schickte doch Erik fast täglich die ihm von seinen Bewunderern gespendeten Blumen seiner Braut, einer leidenschaftlichen Blumenfreundin. Und Erna freute sich dann immer wieder von ganzem Herzen über die Bewunderung und Liebe, die von allen Seiten ihrem Bräutigam zuteil wurden. Jegliches Eifersuchtsgefühl war ihr fremd, oft lachten sie gemeinsam über eine gar zu aufdringliche Verehrerin des Künstlers. Auch all die vielen Briefe, die man ihm zuschickte, brachte er seiner Braut, weil sie stets einen Quell der größten Heiterkeit bildeten. Da waren heiße Bitten um Bildunterschriften, da bestellten ihn die jungen Mädchen zum Rendezvous; verheiratete Frauen luden ihn ein, bei ihnen den Tee zu nehmen; da waren verschleierte und offene Liebeserklärungen, Bitten um eine Blume, ein Andenken, eine Zeile, und am deutlichsten von allen sprach seine Partnerin, die Primadonna der Oper, Fräulein Reichmann, zu ihm. Sie bot ihm Herz und Hand und nur mit Mühe konnte sich Erik ihren Annäherungen entziehen. Erna fürchtete sie alle nicht. Sie wußte, daß Erik sie liebte; sie kannte sein treues Herz und baute auf seine Ehrenhaftigkeit.

Auch heute wieder hatte Erik seiner Braut eine Reihe solcher Briefe mitgebracht; einige von ihnen waren sogar noch ungeöffnet. Frau Doktor Schirmer reichte jetzt die geschlossenen ihrem zukünftigen Schwiegersohn:

»Hier, Erik, sind noch einige Briefe, die Sie noch nicht gelesen haben. Wollen Sie sie nicht mitnehmen?«

»Ach, Mamachen, was wird's denn weiter sein? Immer dasselbe. Wenn Erni Lust hat, soll sie alle aufmachen und lesen. Mir ist all das Zeug herzlich langweilig.«

»Aber wenn nun Geheimnisse in den Briefen stehen?« scherzte Erna.

Erik sah ihr tief in die Augen. »Ich habe keine Geheimnisse vor dir, Schatz,« sagte er ernst.

Glückselig sah sie zu ihm empor. »Mein Erik – möge es immer so bleiben!«

Da küßte er sie sanft auf die Stirn.

»Lieb,« entgegnete er, »wer vor einer Frau, wie du bist, Geheimnisse hat, der ist auch nicht wert, dich zu besitzen.«

Sie schmiegte sich fest an ihn. »Ach, Erik, wenn ich dich nicht gehabt hätte –, wer weiß, was aus mir geworden wäre.«

Da nahm der große Mann ihren Kopf zwischen beide Hände und schaute ihr tief in die Augen. »Und wenn ich dich nicht gehabt hätte, Erna? Wem hab' ich das alles zu verdanken? Nur deiner Liebe, deinem Glauben an mich und deiner Güte!«

»Aber sei doch still, du lieber, dummer Mensch! Wenn nicht so ein großer Künstler in dir gesteckt hätte und wenn du nicht so eifrig gewesen wärst, so hätte ich dir ja auch nichts nützen können.«

»Aber, Kinder, streitet doch nicht um des Kaisers Bart!« unterbrach Frau Schirmer die beiden. »Sie, Erik, sind jedenfalls ein guter, treuer Mensch, und meine Erna ist ein gutes, liebes Mädel. Ich denke, Ihr beide paßt vorzüglich zusammen.«

»Jawohl, Mamachen,« lachte Erik und umarmte die alte Dame, »und Sie sind die Dritte im Bunde, und sind eine herzensgute, liebe, hübsche Mama! Das Dreigespann ist also fertig.«

»Aber Erik!« Frau Schirmer suchte sich vergebens aus den sie fest umschlingenden Armen loszumachen.

»Nichts da, Muttchen. Jetzt lasse ich Sie nicht eher los, als bis Sie mir erlauben, noch eine ganze Stunde hier zu bleiben. Wollen Sie?«

»Ja doch, ja doch. – Sie haben mich ja ganz zerdrückt.« Lachend führte Erik die nach Luft ringende Dame auf das Sofa.

»Setzen Sie sich, Mamachen, und schnappen Sie Luft, nachher geht's weiter.«

»Sing mir noch ein Lied, Erik,« bat Erna.

»Aber Erna! rief Frau Schirmer entsetzt dazwischen. »Was denkst du denn – jetzt um Mitternacht singen? Das wäre ja ruhestörender Lärm.«

Erik brach in ein lustiges Gelächter aus.

»Schönen Dank, Mamachen, du hältst ja recht viel von meiner Kunst. Ruhestörenden Lärm nennst du meinen Gesang!«

»Ach, Erik, Sie wissen doch, so ist es nicht gemeint. Aber was müssen denn die Leute denken, wenn wir um Mitternacht noch singen!«

»Nur ganz leise kannst du ja singen,« bettelte Erna, »nur für mich, kein anderer soll's hören.«

Sie war inzwischen ans Klavier getreten und schlug den Deckel zurück.

»Was soll ich dir singen, Schatz?«

Schweigend ließ sie sich nieder und begann leise jenes Lied, welches er ihr vor Jahren vorgesungen hatte, jenes Lied, welches ihr sein Talent offenbart hatte: Schuberts »Am Meer«.

Das Lied war längst verklungen, und noch ganz unter dem Eindruck des eben Gehörten stehend, schwiegen die Frauen. Fest schmiegte sich Erna an den Geliebten, der sie mit seinem herrlichen Gesang wieder völlig berauscht hatte. Und auch Frau Doktor Schirmer, eine sonst recht nüchterne Frau, mußte im stillen zugeben, daß sie noch nie zuvor solch herrliche Stimme gehört habe, und daß die Verehrung, die man ihrem zukünftigen Schwiegersohn zollte, am Platze war. Dazu wurde diese prächtige Stimme noch durch eine schöne Gestalt und ein angenehmes Äußere unterstützt, kurzum, es war nicht zu verwundern, daß alle Herzen diesem Künstler zuflogen. Wie hatte sie sich doch seinerzeit energisch dem entgegengesetzt, daß ihre Erna die wenigen Spargroschen zur Ausbildung Eriks hingab! Sie glaubte nicht an seine Begabung, sie fand nichts Schönes in der Stimme, das geopferte Geld galt ihr für verloren. Erna konnte sie nicht überzeugen. Erst das glänzende Engagement an die Hofopfer hatte sie mit allem ausgesöhnt, und als schon im zweiten Monat Erik seiner Braut alles zurückzahlte und jetzt die Familie überreichlich unterstützte, da war sie sogar stolz, daß ihre älteste Tochter die Braut des berühmten Künstlers war. In wenigen Monaten sollte die Hochzeit stattfinden. Erna verließ in Kürze ihre Stellung, um sich der Beschaffung der Aussteuer zu widmen. Eine kleine niedliche Villa in einem Vorort wollte das junge Paar beziehen. Den Sommer über hatte Erik alle Gastspielverträge abgelehnt, wollte nur seinem jungen Glück leben. Seine große Gage ermöglichte es ihm, eine reizende Einrichtung zu bestellen, und Erna hatte es nicht einmal nötig, ihre Ersparnisse zu diesem Zweck anzugreifen. Lachend behauptete Erik, die müßten für das Alter bleiben, wenn er einmal nicht mehr singen könne, dann wollten sie von dem »Kapital« leben.

Erik war der erste, welcher die Stille unterbrach.

»Wissen Sie was, Mamachen, kommt doch morgen abend in die Oper! Ich will euch zwei Plätze verschaffen.«

»Ach lassen Sie doch,« meinte Frau Schirmer, »Sie singen morgen den Siegfried, mir sind aber diese Wagneropern zu anstrengend. Ich verstehe auch nicht, wie Sie das aushalten.«

»Alles Übung, Mamachen. Und du Erni? Willst du kommen?«

Erna schüttelte den Kopf. »Du weißt ja, Erik, mir ist es lieber, du singst mir hier im Zimmer ein kleines Lied vor, als wenn ich dich auf der Bühne sehe. Da gehörst du so vielen, hier gehörst du mir allein.«

»Ist dir das so unangenehm, Lieb?«

Erna schüttelte heftig den Kopf.

»O nein, Erik, du verstehst mich falsch. Ich freue mich, wenn man dich feiert, und ich habe dich ja schon oft auf der Bühne bewundert; aber schöner und traulicher ist es, wenn du hier daheim singst.«

»Du hast recht, Lieb. Hier sing' ich nur für dich, aber auch auf der Bühne denk' ich immer dein, ganz einerlei, ob ich einer Elsa ewige Liebe schwöre, ob ich mich nach Isolde sehne, oder ob mich Brünhilde bezaubert, – ich denke immer, du stehst vor mir, und dann sing' ich am schönsten und besten.«

Glückstrahlend umschlang ihn Erna.

»Du lieber, du bester Mensch! O, könnte ich dich doch für immer recht glücklich machen!«

»Na, Schatz,« lachte Erik, »wenn das dein einziger Wunsch ist! Da werde ich mich mal nach und nach zum Egoisten ausbilden.«

»Kannst du ja gar nicht. Dazu bist du viel zu gut. Ich glaube, du kannst überhaupt nichts Schlechtes und nichts Unrechtes tun.«

Erik lachte laut auf.

»Nun hört aber alles auf! Ein Heiliger bin ich doch nicht. Du wirst mich ja bald kennenlernen mit allen meinen Fehlern und schlechten Eigenschaften. Denk doch mal an – fast jeden Abend schwöre ich einer anderen ewige Liebe und Treue, und mehrere dutzendmal habe ich Fräulein Reichmann schon umarmt und geküßt.«

Schelmisch lachte ihn Erna an. »Ich denke, meinem verehrten Herrn Bräutigam steht, wenn er Elsa, Isolde oder Margareta küßt, immer mein Bild vor Augen?«

Stürmisch preßte sie Erik in seine Arme. »Du Einzige, Geliebte!«

Lachend machte sich Erna aus seinen Armen los.

»Lieber Gott, und da soll ich eifersüchtig sein? Ich glaube, Fräulein Reichmann möchte mich schon jetzt am liebsten umbringen.«

»Sei froh, daß du sie nicht kennst, Schatz. Sie wird dir sicherlich nicht gefallen.

»O doch, sie ist sehr schön!«

»Hm ja, äußerlich, das heißt, wenn sie tüchtig Schminke aufs Gesicht legt. Eine schöne Stimme hat sie, das ist wahr, und spielt ganz wundervoll, das ist aber auch alles. Man muß immer den Künstler vom Menschen trennen können.«

»Jawohl Erik,« meinte Erna ernst, »aber bei dir lieb ich den Künstler und den Menschen.«

Obgleich Frau Schirmer nun darauf drang, daß man sich trennte, dauerte es doch noch eine gute halbe Stunde, ehe Erik das Haus verließ. Immer wieder hatten die beiden sich noch etwas zu erzählen, und wollte Mama Schirmer ungeduldig werden, dann hieß es: wir sehen uns ja erst am Freitagabend wieder. Dann mußte sie klein beigeben; und so schlug es jetzt 2 Uhr, als man sich im Schirmerschen Hause endlich zur Ruhe legte.

Erik aber ging auf großen Umwegen nach Hause. Ihm war das Herz so voll, daß es ihm unmöglich erschien, sein großes Glück in die engen vier Pfähle seines Zimmers einschließen zu können. Nie war ihm Erna schöner und begehrenswerter vorgekommen als heute. Mit welcher Liebe, mit welch grenzenlosem Vertrauen hing sie an ihm, wieviel besser und schöner erschien sie ihm als alle die anderen seiner Verehrerinnen, die ihn um ein freundliches Wort anbettelten. Ein leiser Widerwillen gegen diese seine Verherrlichung stieg in ihm auf, und als er auf der Straße eine lustige Gesellschaft traf, die ihn bei seinem Näherkommen erkannte und enthusiastisch begrüßte, da machte er schnell kehrt und schritt auf dem kürzesten Wege seinem Heim zu.

* * *

Das Fest beim österreichischen Gesandten war in vollem Gange. Nur mit Mühe und List war es Santos gelungen, dem Kreise seiner Bewunderer zu entrinnen.

Als er den dringenden Bitten seines Gastgebers nachgab, ein Lied zu singen, konnte der Beifall kein Ende finden, und seit jenem Augenblick umringten ihn unzählige Damen und Herren. Jede wollte ein Wort von ihm erhaschen, jede wollte ihm huldigen. Santos versuchte vergeblich, sich diesen Lobhudeleien zu entziehen, und erleichtert atmete er auf, als es ihm gelungen war, unbemerkt in den prächtigen Palmengarten, der an den Privatsalon grenzte, zu entschlüpfen. Behaglich ließ er sich auf einen der kleinen, halb von Palmen verdeckten Korbstühle nieder. Nur ganz gedämpft klang die rauschende Musik zu ihm herüber, und ermattet schloß er die Augen. Ab und zu promenierten wohl einige Pärchen an ihm vorbei, aber Santos hatte seinen Stuhl geschickt halb hinter die Palmen versteckt, so daß er schwer zu bemerken war. So verbrachte er einige köstliche Minuten. –

Da tönte plötzlich ein leiser Laut an sein Ohr. Es klang wie verhaltenes Schluchzen. Santos horchte auf – hier in seiner Nähe weinte jemand herzbrechend. Der Sänger erhob sich leise. Er brauchte nicht lange zu suchen: tief in einer Nische, hinter herrlichen Palmen versteckt, saß ein junges Mädchen, die Hände vor das Gesicht geschlagen, ihr ganzer Körper bebte vor verhaltenem Weinen. Einen Augenblick zögerte er. –

Sollte er die Dame ihrem Schmerz überlassen, sollte er versuchen, sie zu trösten? Unschlüssig blieb er einen Augenblick stehen. Als sie die Hände sinken ließ und Santos die dunklen Augen erblickte, wußte er, wen er vor sich hatte. Das war ja Isolde von Werter, die Tochter des Geheimen Kommerzienrats von Werter, der als einer der reichsten Männer des Landes galt. –

Was mochte der Millionenerbin fehlen, was preßte so bittere Tränen aus ihren Augen? Santos machte einen Schritt vorwärts, da begegneten sich die Blicke beider. Mit einem leisen Schrei sprang das junge Mädchen empor, taumelte aber und wäre zu Boden gesunken, hätte Santos sie nicht aufgefangen. Sanft ließ er sie auf den Stuhl niedergleiten. Über ihr Antlitz lief eine tiefe Blässe, und Santos fühlte, daß die Hände eiskalt wurden. Mit geschlossenen Augen lehnte sie im Stuhl und an den erblaßten Wangen liefen noch die eben vergossenen Tränen herunter. Verlegen stand Santos neben ihr. Was sollte er tun? Behutsam nahm er das Taschentuch aus ihren Händen und trocknete die Tränen:

»Gnädigste, soll ich einen Arzt holen? Soll ich Sie allein lassen?« stammelte er endlich. – Keine Antwort erfolgte. – Isolde schien von einer tiefen Ohnmacht befangen zu sein. Santos faßte vorsichtig nach ihrer Stirn. Wie leblos lag das Mädchen da. Sollte er um Hilfe rufen? Da plötzlich bewegte sie sich und schlug die Augen auf. Als sie aber Santos erblickte, glitt ein schwerer Seufzer von ihren Lippen und ihre Augen schlossen sich aufs neue.

»Mein gnädigstes Fräulein, was ist Ihnen?« fragte der Künstler voll Teilnahme. »Warten Sie einen Augenblick, ich will jemand zu Hilfe holen.«

»O nein, o bitte nein,« tönte es ihm da leise und ängstlich entgegen. »Mir ist schon wieder gut.«

Und nun versuchte Isolde sich aufzurichten. Santos wollte sie stützen, aber scheu wich ihm das junge Mädchen aus. Das soeben noch tief erblaßte Antlitz war wie mit Purpur übergossen und die ganze zierliche Gestalt bebte.

»Gestatten Sie mir, mein gnädiges Fräulein, Ihnen meinen Arm zu bieten. Sie sind nicht wohl.« Und gar nicht auf ihr verneinendes Kopfschütteln achtend, zog er sanft ihren Arm durch den seinen. Sie waren aber nur wenige Schritte gegangen, als Isolde wieder taumelte.

»Nein, es geht nicht, Gnädigste, wir wollen uns lieber hier auf diese Bank setzen.«

Schweigend ließ sich das junge Mädchen neben ihm nieder.

»Wäre es nicht doch besser, wenn ich einen Arzt riefe?«

»Bitte, bitte, nicht.« Es klang so flehend und so voller Angst, daß Erik sie erstaunt anblickte. Noch immer war das schmale vornehme Gesichtchen wie mit Blut übergossen und noch immer schimmerten in den tiefdunklen Augen die Tränen.

»Dann werden Sie mir aber erlauben, mein gnädiges Fräulein, daß ich so lange bei Ihnen bleibe, bis Sie wieder wohlauf sind.«

Ein unbeschreiblich seliger Blick traf den Sänger.

»Und dann werden Sie schön artig nach Hause gehen und tüchtig ausschlafen. Sie sind sehr zart und den gesellschaftlichen Anforderungen in physischer Beziehung vielleicht nicht gewachsen.«

»Fast ist es so,« erwiderte Isolde lächelnd. »Der Winter ist überhaupt nicht nach meinem Geschmack.«

»Nun also, dann lassen Sie doch all diese Gesellschaften laufen und bleiben Sie hübsch daheim. Es gibt doch nichts Reizenderes, als solchen Winterabend gemütlich in seinem Heim verbringen zu können. Ich bin immer froh, wenn ich mir das leisten kann.«

»Singen Sie denn nicht gern?«

»O doch, mein gnädiges Fräulein, sehr gern. Aber jeden Abend, das wäre zu viel. Ich habe jetzt einige Tage Ruhe.«

»Ja, gestern sangen Sie den Siegfried.«

Erik lächelte, »Wissen Sie das so genau, Gnädigste?«

Leuchtenden Auges sah sie zu ihm empor.

»Jawohl, ich war in der Oper.«

Der Sänger stieß einen komischen Seufzer aus.

»O, Sie Ärmste! Aber ich sagte schon, Sie sollten lieber daheim bleiben und Ihre schöne Zeit nicht an so etwas vergeuden.«

»So etwas?« Grenzenloses Erstaunen lag in der Frage.

Nun lachte Erik aber doch laut auf. »War es denn wirklich so schön?« fragte er, und eine leise Ironie klang durch seine Stimme.

Isolde faltete unwillkürlich die Hände.

»Ich kann nicht darüber sprechen, es ist wie eine Entweihung. Sie sind ein großer Künstler.«

Eine große, tiefe Bewegung klang durch ihre Worte, und unwillkürlich beugte sich Santos über die Hände der jungen Dame und drückte einen Kuß darauf.

»Sie sind sehr liebenswürdig.«

Fast erschrocken sprang Isolde auf.

»O nicht doch, lassen Sie das!«

»Holla, mein gnädiges Fräulein, nicht fortlaufen! Immer hübsch hiergeblieben! Sie sind jetzt wieder so unnatürlich blaß, daß ich an Ihr Wohlbefinden nicht glauben kann. Also hübsch artig hierbleiben!«

Zaghaft ließ sich das junge Mädchen wieder auf das Korbsofa nieder. Interessiert betrachtete sie Santos. Die scheue Bewunderung tat ihm wohl. Das war nicht die laute, aufdringliche Art und Weise der anderen, Isolde von Werter aber hätte sich am ehesten dergleichen leisten können. Galt sie doch als die beste Partie und war von allen Seiten umworben und begehrt. Sie war ein zartes, junges Geschöpf, fast zu schlank und schmächtig. Man fürchtete fast, das ganze Figürchen könnte zerbrechen. Das Gesicht war überaus reizvoll und die schönen dunklen Augen bildeten einen seltsamen Kontrast zu der durchsichtig weißen Hautfarbe. Das weiße, duftige Chiffonkleid umhüllte sie gleich einer Wolke und ließ die Figur noch zierlicher erscheinen. Am Gürtel trug sie ein paar weiße, duftende Rosen.

»Darf ich Sie um eine Rose bitten, mein gnädiges Fräulein?«

Mit zitternden Händen zog Isolde die Blume aus ihrem Gürtel.

»Wählen Sie sich eine aus.«

»O nein, Gnädigste, das sollen Sie tun.«

Sie senkte tief das Haupt und reichte ihm dann eine halb geöffnete Blüte. Erik drückte einen heftigen Kuß auf die schlanke Hand und befestigte die Blume im Knopfloch.

»Stammten die weißen Rosen am gestrigen Abend vielleicht von Ihnen? Es ist fast dieselbe Art.«

Noch tiefer senkte Isolde das Haupt.

»Ja,« tönte es dann wie ein Hauch von ihren Lippen.

»Sie haben mich damit sehr erfreut. Ich liebe weiße Rosen. Sie sind mir ein Symbol für die Reinheit des Herzens. – Sie sollten immer weiße Rosen tragen.«

»Wir wollen jetzt gehen,« stammelte Isolde gepreßt.

»Schon? Ich hätte gern noch lange mit Ihnen hier geplaudert.«

»Man wird Sie vermissen!«

Erik lachte lustig. »Ich bin ja so froh, gnädiges Fräulein, daß ich für einen Augenblick dieser Gesellschaft entronnen bin.« Und leise setzte er hinzu: »Es war ein glücklicher Zufall, der mich Sie hier finden ließ.«

Isolde schloß die Augen. Wieder legte sich Leichenblässe über ihr Antlitz.

»O bitte, sprechen Sie nicht so zu mir,« flehte sie.

»Darf ich es nicht? Ist es zu vermessen, einem Fräulein von Werter freundliche Worte zu sagen? Freilich bin ich nicht von Adel – – –«

Ein Wehruf ließ ihn verstummen, wie abwehrend streckte ihm Isolde die Hände hin. –

»Quälen Sie mich nicht!« Es klang wie ein Schrei. Erschrocken betrachtete Erik das junge Mädchen. In dem blassen Antlitz stand soviel Qual, daß er unwillkürlich nach ihrer Hand griff.

»Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein, ich wollte Sie nicht kränken.«

Eine Weile blieben beide stumm. Verstohlen betrachtete der Künstler das zarte Geschöpf, aus dessen Zügen nur langsam die Spannung wich. Endlich wandte sie sich Erik mit einem Ruck zu. –

»Ich bin ein dummes Ding,« meinte sie, indem sie zu lächeln versuchte. »Sie müssen sich nichts daraus machen. Ich glaube, ich bin etwas nervös. Und nun wollen wir aber doch wirklich die anderen nicht so lange warten lassen. Man vermißt Sie sicherlich schon längst.«

Isolde erhob sich, und nur ungern folgte ihr Santos. Er hätte so gern dieses rätselhafte Wesen ergründet. Plötzlich blieb er vor ihr stehen.

»Warum weinten Sie, als ich Sie fand?«

Das junge Mädchen zuckte zusammen.

»Es war nichts.«

Ernst schaute sie Santos an.

»Sie weichen mir aus. Haben Sie nicht ein bißchen Vertrauen zu mir?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

»Wann sehe ich Sie wieder, gnädiges Fräulein?«

Isolde zuckte zusammen und preßte die Hände aufs Herz.

»Möchten Sie mich wirklich wiedersehen?«

»Jawohl, ich – – – sehne mich danach!«

Ein jubelnder Aufschrei brach über die Lippen Isoldes. Mit glückverklärtem Blick schaute sie ihm in die Augen, sie preßte die Hände fest ineinander.

»Sie sehnen sich danach?« Wie ein Taumel erfaßte es Santos. Ihm schwindelte. Er sah nichts vor sich als die leidenschaftlich glühenden Augen, er hörte den jubelnden Ausruf des Glücks, er griff nach einem stützenden Punkt und erfaßte die Hände der vor ihm Stehenden.

»Isolde!« murmelte er selbstvergessen, »Isolde!«

Da fühlte er sich von zwei weichen Armen umschlungen und ein Köpfchen lag an seiner Brust. Seiner selbst nicht mehr mächtig, riß er sie empor und küßte sie wie ein Verdurstender, die reine weiße Stirn, Haare und Backen und zuletzt die schwellenden Lippen.

»Du Süße, du Holde!« Wie leblos lag sie in seinen Armen, nur dicke Tränen flossen aus den geschlossenen Augen.

»Tränen?« fragte er plötzlich.

»Glückstränen,« flüsterte sie leise, »o, wie ich dich liebe!«

Als sei ein Blitzstrahl vor ihm in die Erde gefahren, so taumelte Erik zurück. Das waren dieselben Worte, die er schon so oft gehört, aber nicht Isolde sprach sie, sondern Erna Schirmer, seine Braut. Erna! – Er hatte sie im Augenblick ganz vergessen. Wie Eiseskälte legte es sich plötzlich um sein Herz! Erna! – Erna vertraute ihm, und er stand hier und hielt eine andere in seinen Armen? –

Er versuchte einige Worte hervorzubringen, vergebens. –

Mit aschfahlem Gesicht reichte er Isolden stumm den Arm. Diese war viel zu sehr mit ihrem Glück beschäftigt, als daß sie die plötzliche Veränderung in dem Antlitz des längst Geliebten bemerkt hätte. Nach wenigen Minuten hatte sich aber auch Santos gefaßt, heiser lachend wandte er sich Isolden zu:

»Mein gnädiges Fräulein, ich glaube die schwüle Luft hier im Palmenhaus hat uns beide verwirrt. Finden Sie nicht auch?«

Fassungslos starrte ihn Isolde an. War diese heisere Stimme das sanfte weiche Organ ihres Eriks? Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie. Erbleichend blieb sie stehen und schaute in das nervös zuckende Gesicht des Sängers.

»Kommen Sie, Gnädigste, man wird uns suchen!«

Er versuchte sie fortzuziehen. Da griff Isolde plötzlich mit beiden Händen in die Luft und ohne einen Laut fiel sie auf die Steinfliesen des Palmenhauses nieder. –

Auf Eriks Hilferufe eilten die Gäste und einige Ärzte hinzu. Man stellte eine tiefe Ohnmacht fest, und als Isolde nach wenigen Minuten wieder zu sich kam und der fassungslose Kommerzienrat sein Kind in den Armen hielt, da verabschiedete sich Santos schnell und heimlich von seinen Gastgebern. –

Wie gejagt eilte er durch die Straßen, der Kopf hämmerte ihm, und ziel- und planlos stürzte er umher. Was hatte er getan? Er hatte ein ahnungsloses Menschenherz vergiftet! Er stand ja nicht auf der Bühne, er hatte leichtsinnig mit einem ganzen Menschenleben gespielt; denn daß Isolde von Werter ihn mit aller Glut ihres Herzens liebte, das wußte er nun. Und er? – Und Erna? –

Bis zum Morgengrauen durchwanderte er ruhelos die Straßen, dann warf er sich erschöpft in eine Droschke, die ihn heimbrachte. Aber der Schlaf floh ihn, und fürchterliche Bilder tauchten vor seiner Seele auf. Als er endlich in einen kurzen Schlummer fiel, schlug die Wanduhr die achte Stunde. – –

* * *

Frau Schirmer hatte wichtige Besorgungen zu machen und ließ das Brautpaar allein zurück. Erna war sehr froh darüber, denn sie fühlte, daß Erik etwas auf dem Herzen habe, was ihn schwer zu bedrücken schien. In Gegenwart der Mutter aber wollte er anscheinend nicht sprechen. Nun war sie fort und langsam näherte sich das Mädchen dem Geliebten, der finster vor sich hinblickte. –

Leise strich sie ihm mit der Hand über die gefurchte Stirn.

»Was hast du mir zu sagen, Lieb?«

Der Angeredete zuckte zusammen und atmete schwer.

»Wenn du noch nicht sprechen willst, so schweige; ich will dann nicht weiter in dich dringen. Aber bedenke immer: dein Kummer ist der meine, dein Leid mein Leid.«

Zärtlich strich sie ihm über die dunklen Haare.

»Ich will dich ein wenig allein lassen, damit du zur Ruhe und Klarheit kommst.« –

Leise wollte Erna das Zimmer verlassen, doch ein unterdrückter Ausruf des Verlobten ließ sie zurückschauen. Da stand Erik und hatte die Arme flehend nach ihr ausgestreckt. Im nächsten Augenblick war sie an seiner Seite.

»Du leidest – was hast du? Sprich dich doch aus.«

Leidenschaftlich umklammerte er ihre Gestalt.

»Ich muß mit dir reden, ich habe dir etwas zu sagen, ich muß dir mein Unrecht eingestehen.«

Liebevoll schaute sie ihm in die Augen.

»Dein Unrecht, Liebster, wird nicht arg sein, – nimm es nicht so schwer. Komm, setze dich neben mich und erzähle mir alles.«

Sie wollte ihn neben sich auf das Sofa ziehen, aber Erik ließ sich vor ihr auf die Knie nieder und wühlte das Antlitz in ihren Schoß.

»Nicht doch, Erik, nicht so – –« wehrte das junge Mädchen beklommen.

»Nein, laß mich,« rief er gequält, »ich will dir nicht in die Augen sehen, ich kann es nicht.«

Erschrocken war Erna zusammengefahren. Was sollte sie zu hören bekommen? Mit zitternden Fingern strich sie über die Haare des Geliebten, der da schwer atmend vor ihr lag. –

»Erik,« – umsonst versuchte sie das Beben der Stimme zu verbergen, »mein liebster, bester Freund, hab' Vertrauen und erzähle mir alles. Wir können dann gemeinsam beraten, was wir zu tun haben.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie eine Antwort erhielt, und dann waren es zunächst nur unzusammenhängende Sätze. Vom gestrigen Fest sprach er, von all den sinnverwirrenden schönen Gestalten, wie man ihn feierte und vergötterte, und dann klang es immer zaghafter, als er ihr von Isolden sprach und von seinem Zusammentreffen mit dem jungen Mädchen erzählte. Schwer atmend, eine unsägliche Angst im Herzen, hörte Erna ihm schweigend zu. Nur ab und zu strich sie wie beruhigend über die dunklen Locken. Aber als er immer hastiger und aufgeregter sprach, als er ihr fast Wort für Wort von seiner Unterredung mit Isolden erzählte, da erbleichte das junge Mädchen. Die Hände fielen ihr schlaff am Körper herab, und trostlos blickten die grauen Augen ins Leere. Und stumm und regungslos blieb sie auch, als Erik in furchtbarer Aufregung emporsprang und ihr entgegenschrie:

»Geküßt hab' ich sie, geküßt wie ein Trunkener. – Sie hat mich verzaubert mit all ihrer holdseligen Unschuld!« –

Ein tiefes bedrückendes Schweigen folgte diesem leidenschaftlichen Ausbruch. Noch immer konnte es Erna nicht fassen. Ihr Erik, der sie liebte mit aller Glut, der sie seit ihrer Kindheit kannte und begehrte, er hatte ein anderes Mädchen geküßt, hatte einer anderen heiße Liebesworte gestammelt! Und sie? – Galt sie ihm denn so wenig, daß er sie auch nur einen Augenblick vergessen konnte? Es war ihr, als griffen eisige Finger nach ihrem Herzen. Und er stand vor ihr in all seiner herrlichen und sieghaften Schönheit. Die Augen weit geöffnet, ins Leere starrend, gleichsam als sähe er dort ein anderes Bild: ein zartes, junges schönes Kind.

Ein schwerer Seufzer löste sich von ihren Lippen und schlug auch Erik ans Ohr. Mit einem Ruck wandte er sich zu ihr.

»Erna, hast du kein Wort für mich?«

Mit aller Gewalt drängte sie die Tränen zurück und lächelte.

»O Erik,« – aber es ging über ihre Kräfte, und laut aufschluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht ... Schon kniete er bei ihr.

»Erna, weine nicht – ich kann es nicht sehen – ich will es nicht sehen – Erna, hörst du denn nicht?« Er küßte ihr zärtlich die Hände und trocknete die herabfallenden Tränen.

»Liebste, Süße, weine doch nicht! Ich bin ein schlechter Mensch, ich weiß es, aber du darfst nicht weinen. Du sollst nicht!« Immer eindringlicher wurde sein Bitten, und mit Gewalt beherrschte sich das junge Mädchen.

»Was willst du nun tun?«

Ungeduldig sprang er auf.

»Quäle mich nicht. Erst sei wieder gut und lache, oder zeig' mir ein freundliches Gesicht. Lieb, sei wieder meine gute, alte Erna, schau mich wieder mit deinen guten Augen lieb an. Nun?« – –

Er zog die Widerstrebende fest an sich.

»Bist denn du nicht mein Einziges auf der Welt? Willst du deinem armen Jungen böse sein, weil er einmal, ein einziges Mal Unrecht getan hat? Kann ich denn dafür, daß sie alle mich mit ihrer Liebe verfolgen? Ich rufe sie doch nicht!«

Erstaunt blickte Erna ihn an. War das ihr Erik, der so sprach? War das derselbe Mann, der noch vor wenigen Minuten fassungslos vor ihr gekniet hatte und der anscheinend so schwer unter seinem Vergehen litt? Kannte sie den Jugendgespielen so schlecht?

»Ich verstehe dich nicht mehr, Erik,« entgegnete sie, »warst du es nicht, der dem jungen Mädchen Hoffnung machte, der sie – küßte? –«

»Lieb,« bettelte er, »schau doch nicht so traurig, komm, sei meine gute Erna wieder – komm – kannst du mir denn böse sein? Hat mich mein Schatz gar nicht mehr ein bißchen gern?«

Zärtlich nahm er ihren Kopf zwischen beide Hände und küßte sie auf die Augen.

»So, bist du nun gut? Nein, noch nicht? Na warte!« Er preßte sie fest an sich, küßte sie auf die Stirn, Augen und Mund, ihr dabei törichte Liebesworte zuflüsternd. Wie im Traum schloß sie die Augen. Sie fühlte sich von seinen starken Armen umfangen. Sie hörte die süßen, lieben Worte, und allmählich verblaßten alle anderen Gedanken. Sie hatte ihn, er liebte sie, was ging sie die übrige Welt an! Strahlend blickte sie auf:

»Liebst du mich denn?«

»Wie nichts auf der Erde, du bist mein größtes Glück, jetzt und für alle Zeiten.«

»Und wirst mich nie verlassen?«

»Lieb, nie, niemals! Ich könnte nicht leben ohne dich.«

Fest klammerte sie sich an ihn, ja, sie wollte ihn halten, sie wollte ihn besitzen fürs ganze Leben, er gehörte ihr, keiner würde es vermögen, sie beide zu trennen. Vergessen war alles Leid, vergessen die kleine Isolde, und als sie sich spät abends trennten, da hatte man auch nicht mit einem einzigen Worte mehr der zarten Blume gedacht, die daheim in ihrem luxuriösen Zimmerchen lag, brennenden Auges, und sich in Sehnsucht nach dem Künstler verzehrte. –

* * *

Verträumt schaute Erna zum Fenster hinaus, die Stickerei ruhte in ihrem Schoß und ihre Gedanken schweiften weit, weit voraus. Vor wenigen Tagen hatte sie ihre Stellung verlassen und jetzt würden bald die Einkäufe für ihre Einrichtung beginnen. Bald würde sie die Frau des geliebten Mannes, die beneidete Gattin des berühmten Sängers sein. –

Ein leiser Seufzer kam von ihren Lippen. Wenn er weniger berühmt wäre, hätte er mehr Stunden für sie frei. Es vergingen jetzt oft Tage, daß sie ihn nicht sah. Er war beruflich und gesellschaftlich so viel in Anspruch genommen, daß er sich die Stunden, die er mit ihr verbrachte, geradezu abstehlen mußte. Wohl sagte er, wenn es irgend möglich war, die Einladungen ab; aber es waren ihrer zu viele; er konnte es nicht immer. Und Erna machte ihm darob keine Vorwürfe. Sie wußte, daß er am liebsten bei ihr weilte und daß es auch für ihn die schönsten Stunden waren, wenn sie gemeinsam zu Hause saßen. – Die Mutter freute sich über ihr Glück, – und die Schwester??

Ein Schatten glitt über ihre Züge. Adele, die jüngere Schwester, machte ihr viel heimliche Sorge. Das jetzt 22jährige Mädchen hatte es bei Mutter und Schwester durchgesetzt, Sängerin zu werden, und obgleich Erna ihr mit aller Macht abriet, hatte sie doch Unterricht genommen und sich dann an eine Provinzbühne engagieren lassen. Es hatte heftige Auftritte gegeben, denn Adele, ein leidenschaftlicher Charakter, hatte Mutter und Schwester vorgeworfen, daß man wohl Geld für fremde Leute opfere, daß man an einen Santos glaube, aber sein eigenes Fleisch und Blut zurückstoße. Da hatte Erna ruhig erwidert, daß sie doch niemals eine Künstlerin würde, da ihr die Stimme fehle, die ein Santos hätte. Empört hatte Adele gedroht, heimlich davonzulaufen, wenn man ihr nicht helfen würde. So entschloß sich denn Erna, einige Gesangsgrößen über die Fähigkeiten der Schwester zu befragen, das Resultat war traurig: Eine zu kleine Stimme – – nicht reizvoll genug – – eine Stimme wie tausend andere – – so lautete der Bescheid. –

Scheinbar fügte sich das Mädchen, aber insgeheim begann sie mit dem Unterricht, das Geld dazu sich mühsam durch ihrer Hände Arbeit verdienend. Bis in die tiefe Nacht hinein saß sie über eine Stickerei gebeugt, die sie für Geschäfte arbeitete. Doch das ging nicht lange.

Die Gesangsstudien, die sie mit Eifer und Ausdauer betrieb, nahmen immer mehr Zeit in Anspruch, und es war ihr nicht möglich, weiterhin das Geld dazu zu beschaffen. Als nun der Lehrer mit der Bezahlung drängte, offenbarte sie sich der Schwester. Bis ins Innerste erschrocken hörte Erna die Beichte an. Tags darauf ging sie zu dem Gesangslehrer, um sein Urteil über die Schülerin zu hören. Der Mann aber, dem es nur darauf ankam, Schülerinnen zu haben, behauptete, Adele sei ein seltenes Talent, und so beschloß Erna denn endlich, der Schwester den Willen zu tun. Oft genug stiegen ihr freilich Zweifel auf, ob sie auch recht handle, denn wenn sie diese spröden Töne der Schwester hörte, dann mußte sie sich gestehen, daß Adele in der Stimme auch gar nichts besaß, was einigermaßen fesseln könnte. Die Mutter war unglücklich über den Beruf der Tochter, und als nach Verlauf eines weiteren Jahres Adele ihr erstes Engagement in der Provinz antrat, da konnte ihr Wehklagen kaum ein Ende finden. Mit schweren Sorgen ließ Erna die Schwester, die allzu siegesgewiß war, ziehen. –

Und es dauerte nicht lange – Adele genügte nicht –, bekam sie ihre Kündigung und kehrte zornentbrannt zu den Ihrigen zurück. Abermals fand sie an einem kleinen Theater Engagement, aber die Nachrichten von dort lauteten nicht allzu tröstlich. Sie sang nur kleine, ganz unbedeutende Partien, und eines Tages war sie wieder in Berlin. Inzwischen hatte Santos seinen Weg gemacht; man hatte ihn an die Hofoper berufen und feierte ihn hier. Da bestürmte Adele den zukünftigen Schwager, er möge sich bei der Intendanz für sie verwenden. Und obgleich Santos ihr in schonendster Weise mitteilte, daß ihre Stimme nicht reif für Berlin sei, obgleich er ihr riet, nochmals bei einem berühmten Lehrer Unterricht zu nehmen, gelang es ihm nicht, Adele von ihrem Vorhaben abzubringen.

Sie ließ ihm nicht eher Ruhe, bis die Intendanz auf Veranlassung des gefeierten Tenors an Adele die Aufforderung richtete, Probe zu singen. Mit kühlem Lächeln erhielt sie aber, nachdem sie wenige Minuten gesungen hatte, den niederschmetternden Bescheid »Unbrauchbar«.

Seit jenem Tage haßte Adele ihren Schwager wie keinen anderen auf der Welt und behauptete, er hätte ihr Engagement an der Hofoper hintertrieben. Zwar bemühte sich Santos noch einige Male, aber ohne Erfolg. Nun warf sich Adele erst recht mit einem leidenschaftlichen Feuer auf weitere Studien, sie wollte, sie mußte es erzwingen, und wirklich war es ihr kürzlich gelungen, an einem besseren Provinztheater unterzukommen. Freilich war die Gage nur klein, und oft kamen an Erna jämmerliche Bitten um Geld.

Erna zeigte all diese Briefe ihrem Verlobten, der gerne half und sich sogar heimlich mit der Direktion des Theaters in Verbindung gesetzt hatte mit der Bitte, seiner Schwägerin nach jeder Richtung hin behilflich zu sein, vorwärtszukommen. Und wirklich galt diese Bitte viel. Man beschäftigte Adele als erste Kraft, verlangte aber dafür im nächsten Jahre ein Gastspiel des Künstlers, das Erik lachend zugesagt hatte. Er tat es freilich nur Erna zuliebe, die ja doch immer mit zärtlicher Sorge an der Schwester hing; und wenn er ihr damit den Kummer verscheuchen konnte, warum sollte er es nicht tun? –

Er liebte die Schwägerin nicht, die so selbstbewußt und hochmütig durchs Leben ging, aber er sah, wie ängstlich Erna über ihr auch in der Ferne wachte, und trüben Auges blickte er in die Zukunft. Würde es dem leidenschaftlichen Mädchen gelingen, die Sprossen der Ruhmesleiter zu erklimmen oder würde sie im Kampfe unterliegen? Er und Erna fürchteten das letztere ...

Da tönte schrill die Korridorglocke durch die Stille. Erna schrak zusammen. Sie strich mit der Hand über die Augen, als wollte sie die schlimmen Gedanken verscheuchen, hastig erhob sie sich, aber plötzlich begann ihr Herz laut zu schlagen. Eine unsagbare Angst schnürte ihr die Kehle zusammen. Gott im Himmel, was konnte das sein? Es war ihr, als täte sich ein riesiger Abgrund vor ihr auf. Sie stand wie erstarrt. Da klingelte es zum zweiten Male. »Ja, warum bin ich denn so ängstlich? Es klingelt doch so oft,« versuchte sie sich selbst zu beruhigen, aber ihre Knie zitterten, als sie öffnen ging.

Eine ältere Dame, in kostbare Pelze gehüllt, stand vor ihr, und eine weiche, dunkle Stimme fragte nach Fräulein Schirmer.

Schweigend ließ sie die Fremde eintreten. Eiseskälte rann durch ihre Adern. Was mochte die Unbekannte zu ihr geführt haben? Sie fühlte, daß ihr Unheil käme. Und als die Fremde sich dann als Frau von Werter zu erkennen gab, da tauchte Erna die Erinnerung auf an jenen Abend, von dem Erik ihr berichtet hatte, daß das Kind jener Frau ihn für Augenblicke betört hatte. Und still und stumm hörte sie all die Worte, die ein blutendes Mutterherz sprach, vernahm sie, was diese reiche, beneidete Frau gelitten hatte und was sie noch litt! Von sechs Kindern, die sie gehabt, war ihr das eine, das jüngste geblieben, und das starb nun auch langsam dahin in zitternder Sehnsucht nach dem Geliebten – nach Erik Santos! Sie hörte die tränenerstickte Stimme, sie sah das gramdurchfurchte Gesicht der Geheimrätin; aber erst als diese die krampfhaft ineinander geschlungenen Hände wie bittend zu ihr emporhob und leise flehend die Worte »Retten Sie mir mein letztes Kind« stammelte, da kam es ihr deutlich zum Bewußtsein, was diese Frau von ihr forderte.

»Gnädige Frau!« schrie sie entsetzt auf.

»Geben Sie Erik Santos frei!« klang es halberstickt zurück. »Ich weiß wohl, ich fordere etwas Unsinniges von Ihnen, aber es gilt mein Kind, mein einziges, mein letztes.«

Erna hielt sich krampfhaft am Türpfosten fest.

»Auch er, gnädige Frau,« stieß sie hervor, »ist mein Einziges; ich liebe ihn, er liebt mich.«

»Haben Sie Erbarmen, liebes Kind, retten Sie mir meine Isolde! Sie stirbt uns.«

»Und ich?«

»Ich will Sie überreich belohnen – –«

Ein heiseres Lachen unterbrach die Sprecherin. Funkelnden Auges trat Erna vor die Bittende.

»Wollen Sie mir Gold oder Millionen geben? Nein, gnädige Frau, ich lasse von Erik nicht! –«

»Und mein Kind?«

Erna wandte sich ab. Diese herzzerreißenden Laute konnte sie nicht hören, konnte die tränenden Augen der Geheimrätin nicht sehen.

»Nein, nein, ich kann nicht,« stammelte sie und wollte davonfliehen; sie konnte nicht, vor ihren Füßen hatte sich die Unglückliche niedergeworfen.

»Retten Sie mein Kind! Tun Sie, was sonst kein Mensch tut, seien Sie edel, seien Sie meine Retterin!«

Erna verbarg stöhnend das Antlitz in den Händen.

»Gnädige Frau – stehen Sie auf, ich – nein, nein, ich kann nicht.«

»Ich stehe nicht auf, ehe Sie nicht Erbarmen haben. Kind, denken Sie doch, sie stirbt mir!«

Die Stimme versagte der Flehenden. Erna erschauerte bis ins Innerste. Welch unsinniges Verlangen stellte diese Frau! Sie sollte den Bräutigam freigeben, der in inniger Liebe an ihr hing? Sie sollte auf alles Glück verzichten? Und warum? Damit eine andere glücklich werden konnte! Und Erik? Würde er denn je von ihr lassen? Hatte er nicht hundertmal versichert, daß er sie über alles liebte, daß sie ihm mehr wäre als alle Frauen der Welt? Nein, nein und tausendmal nein. Aber sie konnte der Knienden nicht die dieser alles raubende Antwort geben.

Langsam trat sie wieder an Frau von Werter heran.

»Stehen Sie auf, gnädige Frau, gehen Sie heim – ich will mit Erik sprechen. Er selbst soll entscheiden.«

Müde, langsam erhob sich die Geheimrätin.

»Ein schwacher Trost,« murmelte sie leise. »Wann kann ich mir Antwort holen?«

»Ich schreibe Ihnen sofort nach der Rücksprache mit meinem Bräutigam.«

Als Frau von Werter dann nach wenigen Sekunden das Zimmer verließ, brach die mühsam erzwungene Fassung Ernas zusammen. Aufstöhnend warf sie sich in einen Stuhl. Wieder und wieder hörte sie die Worte »Und mein Kind?«, die so furchtbar geklungen hatten, und wieder und wieder sah sie das verzweifelte Antlitz der reichen Dame, die um ihr letztes, höchstes Gut zitterte. Ein tiefes Mitleid mit der Ärmsten packte das Mädchen, und heiße Tränen strömten aus ihren Augen.

»Ich möchte dir helfen, du Ärmste aller Mütter, aber ich kann es nicht.«

Wie würde nun Erik dieses Verlangen aufnehmen? Sie zitterte bei dem Gedanken. Nicht etwa, daß sie fürchtete, ihn zu verlieren, – o nein, sie wußte zu genau, daß er sie liebte, aber sie fürchtete seine Selbstanklagen. War er es doch gewesen, der an jenem verhängnisvollen Abend beim österreichischen Gesandten den ersten Kuß auf die Lippen des zarten Mädchens gedrückt, den heimlichen Funken zur hellen Flamme entfacht hatte, an der jetzt die arme Blume verbrennen mußte. Und eine leise, leise Stimme flüsterte in Erna: »Alle Schuld rächt sich auf Erden«, aber so hart konnte doch ihr Geliebter für ein kleines Vergehen nicht büßen! Schließlich, er war Künstler, er hatte heißes, leidenschaftliches Blut und die Frauen machten ihm die Eroberungen nur zu leicht, – konnte man ihm da überhaupt eine Schuld zumessen? Und warum sollte sie ihr Glück zugunsten einer anderen opfern? Stand hier nicht Liebe gegen Liebe, Glück gegen Glück? Hatte sie nicht ältere Rechte an den Geliebten als jenes Mädchen, das er nur einmal geküßt? Oder – hatte Erik sie noch öfter gesehen und hatte ihr, Erna, das verschwiegen? Nur einen einzigen Augenblick zuckte dieser Gedanke durch ihr Hirn, dann verwarf sie ihn schnell, – nein, ihr Erik war goldtreu und allzu aufrichtig. Er verschwieg ihr nichts, nicht das Kleinste. Und doch, etwas hatte seit einigen Wochen zwischen ihnen gestanden – irgend etwas, aber sie hatte es nicht ergründen können und war zu stolz gewesen, um danach zu fragen. Wenn sie zurückdachte an die letzten Wochen – – –.

Erik hatte sich ziemlich wenig bei ihr sehen lassen und war oft recht zerstreut gewesen – er hatte das freilich entschuldigt mit allzu großen Anforderungen, die man an ihn stellte, und Erna hatte sich zuletzt auch damit zufriedengegeben, aber bald hatte sie gemerkt, daß ihn irgend etwas bedrückte. Auf ihre teilnahmsvolle und schüchterne Frage hatte er fast überlaut gelacht und sie tüchtig geneckt. »Ich werde alt, Schatz, alt und nervös.«

Und als ihn Erna vor acht Tagen nochmals gefragt, hatte er sie ziemlich barsch abgewiesen. Es war kein Zweifel, Santos war nervöser denn je, es schien fast, als treibe eine innere Unruhe ihn von Ort zu Ort. Vergeblich hatte Erna nachgedacht, was wohl der Grund sein könnte, sie vermochte aber nichts zu finden, und so schob sie es denn immer und immer auf Überanstrengungen. –

Heute zum erstenmal kam ihr der Gedanke, ob diese Nervosität vielleicht doch mit Isolde von Werter zusammenhing? Hatte die arme, ratlose Mutter vielleicht ihren Bräutigam auch aufgesucht? Und was hatte ihr Erik geantwortet? Sie beschloß, noch heute mit ihm darüber zu reden – er mußte jeden Augenblick hier sein. Klar wollte sie sehen, es würde dann alles wieder gut werden. Gut werden? Konnte es denn je wieder gut werden? Würde sie je diese tränenschwere, bittende Stimme der Frau vergessen können, die noch vor wenigen Minuten hier vor ihr gekniet hatte? Würde diese Frau nicht Erik, sie und auch ihr junges Glück verfluchen? Isolde würde sterben, das war gewiß, sie war zu zart, um dem Sturm zu widerstehen.

Das letzte Kind! Erna erinnerte sich, daß man überall die arme reiche Frau bedauerte. Von sechs blühenden Kindern war ihr nur dieses überschmächtige, allzu zarte Wesen geblieben, das man künstlich aufrechterhielt und vor jedem Windhauch schützte. Und nun hatte dies zarte Blümchen der Sturm gepackt und aus dem Erdreich gerissen. Zwei Jahre konnte es her sein, daß der Tod Frau von Werter den letzten Sohn, einen schönen jungen Offizier entrissen, und schon damals hatte man gefürchtet, daß die unglückliche Mutter diesen Verlust nicht würde überleben können. Und nun sollte Erna schuld werden an dem Tode dieses letzten Kindes?! Wenn sie Erik aufgeben würde?

Dreimal schlug die Korridorglocke an – Erik! Mit einem unterdrückten Schrei stürzte sie ihm entgegen und klammerte sich so fest an den Eintretenden, als wollte man sie schon jetzt auseinander reißen. Erschreckt blickte Erik in ihr tränenüberströmtes Antlitz.

»Erni, Kind, um Gottes willen, was ist geschehen?« Sie zog ihn in das kleine Zimmer, drückte ihn auf den Sessel nieder und kniete vor ihn hin, ihm fest in die Augen schauend.

»Liebst du mich?«

Liebevoll strich er ihr über die Stirn.

»Aber Kind, wie kannst du fragen?« Der innige Ton beruhigte sie etwas.

»Und du würdest mich nie einer anderen wegen aufgeben?«

»Aber, Liebling, was fällt dir ein? Wie sonderbar du heute bist? Warum sollte ich dich aufgeben?«

Starr blickte sie ihm in die Augen.

»Weil Isolde von Werter dich liebt und dich besitzen will.«

Ganz langsam, ganz ruhig hatte sie gesprochen, aber nun plötzlich wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie hatte gesehen, daß Totenblässe das Antlitz des Geliebten überzog, hatte in seinen dunklen Augen zum erstenmal Schuldbewußtsein und Scham gelesen ... Langsam versuchte sie sich aufzurichten, aber mit einem Wehlaut fiel sie in die Arme Eriks, der sie leidenschaftlich an sich preßte.

»Rede!« stieß er heiser hervor, »was soll das alles heißen?«

»Frau von Werter ist auch bei dir gewesen?!« stammelte sie tonlos.

»Ja!«

»Und du?«

Eine Weile hörte man nichts als das Ticken der Wanduhr. Da entwendete sich Erna energisch den sie umschlingenden Armen und ging ruhigen Schrittes hinüber zum Tisch. Jetzt mußte die Entscheidung kommen. Die nächsten Worte mußten ihr namenloses Glück oder namenloses Unglück bringen. Aber wie die Entscheidung auch ausfiele, sie wollte standhaft sein. Ruhig schaute sie hinüber zu dem schönen Mann, den sie mit Leib und Seele liebte.

»Und du? ...

»Ich habe ihr gesagt, daß ich eine Braut habe.«

»Weiter nichts?«

Er stöhnte leise auf.

»Doch. Ich habe ihr auch gesagt, daß ich dich nicht verlassen dürfe, wenn ich ein Ehrenmann sein will – Erna!!!« schrie er plötzlich auf, als das Mädchen zu Boden stürzte.

Als nach längerer Zeit Frau Schirmer heimkam, fand sie Erna noch immer am Boden liegend und Erik damit beschäftigt, sie ins Leben zurückzurufen. Unter den kundigen Händen der Mutter erholte sie sich schnell. Als ihr Blick aber auf Erik fiel, ging ein Schauer durch ihren Körper. Erik war an ihrem Lager niedergekniet und bedeckte die kalten Hände mit wilden Küssen.

»Lieb, Süße, vergib mir. Dich lieb ich, dich nur allein, keine andere als du wird mein Weib. Ich kann nicht ohne dich leben!«

Und immer wilder und leidenschaftlicher wurde sein Flehen.

»Ich will nicht, daß du mir zürnst, du darfst es nicht, hörst du? Du sollst wieder lieb sein, Erna.«

Und heftig schüttelte er sie. Da wandte ihm Erna das Gesicht voll zu.

»Laß mir Zeit, Erik, ich will versuchen –«

»Nein,« unterbrach er sie heftig, »ich lasse dir keine Zeit, ich schwöre dir hier in Gegenwart der Mutter, in drei bis vier Monaten bist du mein Weib. Keine andere Frau soll für mich existieren, keine Frau will ...

»Erik, du bist außer dir. Schweige still!«

»Lieb!«

Er vergrub das Antlitz in den Kissen, der ganze Körper zitterte vor leidenschaftlicher Erregung. Fassungslos stand Frau Schirmer daneben, wußte sie sich doch den Zusammenhang nicht zu erklären. Erna reichte ihr die Hand hin und lächelte.

»Mutti, ja, ja, Liebesleute sind närrisch,« und dann strich sie sanft dem Geliebten über das Haupt.

»Erik, mein Erik!«

Er bedeckte ihre Hände und ihr Antlitz mit wilden Küssen, und Erna hatte Mühe, den Aufgeregten zu besänftigen.

»Laßt mich ein Weilchen allein,« bat sie, »ich fühle mich angegriffen. Am liebsten ist mir's, Schatz, du gehst jetzt heim.«

»Du schickst mich fort?« fuhr Erik auf.

Erna lächelte.

»Nein, Lieb, aber ich möchte etwas ruhen. Morgen komm wieder!«

»Und ich bin schuld daran!« stöhnte er.

»Morgen komme wieder!« bat sie nochmals sanft. »Ruhe auch du dich aus, dann sprechen wir morgen über die Angelegenheit. Willst du?«

»Nein, ich bitte dich, nein, laß alles vergessen sein,« quälte er; aber Erna schüttelte den Kopf.

»Vertrauen ist die Hauptbedingung einer Ehe,« erwiderte sie sanft. »Ich weiß längst, daß du in letzter Zeit nicht offen zu mir gewesen bist. Morgen sollst du mir alles sagen, und ich werde versuchen, dich zu verstehen. Und nun geh', Lieb, ich fühle mich schon wieder etwas besser, morgen aber ist alles gut.«

Wortlos beugte sich Erik über seine Braut, küßte ihr zärtlich die Stirn, verabschiedete sich von Frau Schirmer und stürzte dann wie gejagt davon.

* * *

Den Kopf schwer in die Hand gestützt, saß Geheimrat von Werter in seinem Zimmer. Soeben hatte ihn der berühmte Arzt verlassen, aber der Trost, den er ihm gebracht hatte, war sehr gering.

»Stehen Sie fest zu Ihrer Frau Gemahlin in den kommenden schweren Tagen.« So klang es ihm in den Ohren, und er wußte genau, was der Arzt damit hatte sagen wollen. Binnen kurzem, vielleicht schon in wenigen Tagen würde ihm auch sein letztes Kind genommen werden, das schwach flackernde Lebensflämmchen würde still verlöschen, und er und seine Frau würden allein zurückbleiben. –

Nur zwei Türen von ihm getrennt ruhte sein Liebling, seine Isolde, schwer krank, und doch wußte niemand, worunter sie leidet. Fünf verschiedene Spezialärzte hatte man konsultiert, aber alle hatten kein organisches Leiden finden können. Wohl ahnte der eine oder der andere, daß hier ein Sturm geweht haben mußte, der die zarte Blume entwurzelt hatte, und daß sie nun langsam an den Folgen des Wetters zugrunde gehen mußte. Wohl ahnten sie es, aber Rettung konnten sie ihr nicht bringen.

Isolde hatte hartnäckig geschwiegen, aber die wilden Phantasien der letzten Nächte hatten es den Eltern verraten, daß Erik Santos die Ursache war, daß sie ihn liebte mit allverzehrender Leidenschaft, und daß diese Leidenschaft ihr den Tod brachte. Sie wußte es und sie lächelte, denn sie mochte diese brennenden Qualen nicht länger erdulden, sie wußte, daß sie zu schwach war, um ihnen zu widerstehen. Von der Mutter befragt, hatte sie auch offen ihre Neigung gestanden und die verzweifelte Frau hatte keine Mittel und Wege gescheut, um ihr Kind zu retten. Sie hatte den Sänger aufgesucht, hatte seine Braut gebeten, von ihm zu lassen. Und wenn auch Erik ihr versprochen hatte, sein Möglichstes zu tun, – der heftige Widerstand, den Erna Schirmer ihrem Ansinnen entgegengestellt, hatte ihr alle Hoffnung geraubt. Auch der Geheimrat hatte nichts unversucht gelassen, bittende Briefe hatte er an Santos gerichtet, – er wollte auch das letzte versuchen, er wollte selbst hin, wollte den Sänger bewegen, zu ihm zu kommen. Nur eine fromme Täuschung sollte es sein; vielleicht, wenn Isolde mit dem Geliebten sprach, – vielleicht – – –

Er wußte selbst nicht, was er hoffen sollte, er wußte nur, hier mußte etwas getan werden; und im nächsten Augenblick klingelte er nach dem Diener und befahl, das Automobil vorfahren zu lassen. Dann schritt er langsam hinüber ins Zimmer, in dem auf einem Diwan seine Tochter ruhte.

Mit wachsbleichem Antlitz, geschlossenen Augen lag sie regungslos da, einer Toten ähnlicher denn einer Lebenden. Die Wangen waren eingefallen und die Hände kalt und schmal. Er beugte sich sanft über sie.

»Elfchen!« – –

Sie schlug die Augen auf, dunkle, fieberglänzende Augen, aber sie rührte sich nicht.

»Elfchen, wir bekommen heute Besuch, lieben Besuch, der dich freut.«

Ein wehmütiges Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Ja, ja, Mädel, es schreibt mir da jemand, er hätte dich gerne mal wiedergesehen, er hätte Sehnsucht nach dir.« Seine Stimme zitterte merkwürdig. Tat er nicht unrecht, hier vielleicht falsche Hoffnungen zu wecken? Wie, wenn Santos ihm auch diese letzte Bitte abschlüge?

Isolde aber rührte sich noch immer nicht. Was lag ihr an allem Besuch! Sie sehnte sich nach Ruhe, nach ewiger Ruhe.

Der Geheimrat faßte nach ihrer Hand.

»Ich habe soeben mit dem Arzt gesprochen, ob es dir auch nichts schadet. Elfchen, schon lange will dich jemand besuchen, aber weil du immer leidest, so hab' ich es nicht erlaubt. Er bittet aber so sehr, daß ich nicht länger nein sagen kann. Weißt du, wer es ist?«

»Nein, Väterchen,« kam es wie ein Hauch.

»Jemand, der dich sehr interessiert, Lieb, denke mal nach.«

Sie schüttelte müde den Kopf.

»Ein Künstler, Elfchen!«

Eine fliegende Röte huschte über die Züge, die rasch wieder verging. Dann schloß sie die Augen.

»Mädel, ich glaube, du weißt, wen ich meine,« scherzte er mühsam, während ihm fast die Worte in der Kehle stecken blieben. »Du scheinst mir aber wirklich zu angegriffen, um Besuch zu empfangen. Ich werde also – Herrn Santos noch einmal schreiben.«

Ein Ächzen kam aus dem Munde seines Kindes, sie richtete sich hoch auf, fiel aber gleich wieder zurück. Erschrocken wollte der Geheimrat davonstürzen, Hilfe zu holen, da schlug sie schon wieder die Augen auf, und aus diesen Augen brach ein Strahl des Glücks, daß sich Werter erschüttert abwendete.

»Er will zu mir kommen!?« flüsterte Isolde wie träumend.

Dann ergriff sie die Hand des Vaters.

»O Väterchen, warum ließest du ihn nicht längst kommen, warum hast du mich so lange warten lassen?«

Dann aber schloß sie erschöpft die Augen und lag wie tot.

Nun erst kam dem Geheimrat recht zur Besinnung, was er getan, wenn Santos nun nicht käme? Er muß kommen! Er wollte alles versuchen, und als seine Gattin ins Zimmer trat und ihm sagte, daß der Wagen vorgefahren, ging er bedrückt hinaus.

Aber je mehr er sich der Wohnung des Künstlers näherte, um so schwerer wurde ihm das Herz.

Wie, wenn ihn jener kaltlächelnd abwies?

Der Geheimrat trocknete sich die Stirn. Was sollte er ihm sagen?

Und da hielt auch schon das Auto, und vor Aufregung bebend stieg Werter die Treppen empor.

»Herr Geheimrat –«

Da hatte jener auch schon beide Hände des Künstlers gefaßt.

»Kommen Sie, Herr Santos, kommen Sie mit mir zu meinem Kind, das vor Sehnsucht nach Ihnen vergeht.«

Erik stand unbeweglich.

»Kommen Sie,« drängte der Geheimrat, »jede Sekunde ist kostbar. Ich bitte Sie, und wenn es auch nur ein frommer Betrug ist. Ich habe ihr versprochen, Sie werden kommen.«

Santos schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, daß ich mich schwer an Ihrem Fräulein Tochter vergangen habe; wenn ich aber heute mitkäme, würde ich eine neue Schuld auf mich laden.«

»Nein, nein, keine Schuld, eine Gnade erweisen Sie uns, wenn Sie kommen. Ich habe es meiner Tochter versprochen....«

»Ich kann nicht, ich bin verlobt.«

»Ich weiß es. Aber tun Sie denn ein Unrecht, wenn Sie auf wenige Minuten mein Kind besuchen? Schadet das Ihrer Braut?«

»Ihre Tochter – liebt mich.«

»Ja, und daran geht sie zugrunde. In ihren Fieberphantasien ruft sie nur nach Ihnen.«

Stöhnend wendete sich Erik ab.

»Kommen Sie!« drängte der Geheimrat. »Sie müssen gutzumachen suchen, was Sie verbrochen haben. Elfchen ist krank, die Hauptsache ist, daß sie uns jetzt gesundet – was später ist – das steht bei Gott. Aber vorläufig muß sie gesund werden, und sei es nur durch frommen Betrug. Vielleicht vergeht diese unselige Leidenschaft, wenn ich sie dann herrliche Reisen machen lasse – vielleicht vergißt sie ...

»Und was soll ich ihr sagen?«

»Nichts weiter, sie will Sie nur sehen, dann ist sie schon glücklich.«

Einen Augenblick überlegte Erik. Würde nicht Erna selbst ihn dahinsenden?

»Santos, seien Sie barmherzig!«

Da ergriff er den Hut, und ohne die freudig dargebotene Hand des Geheimrats zu sehen, eilte er so rasch die Treppe hinab, daß jener ihm kaum folgen konnte.

In rasender Eile jagte das Automobil zurück. Schweigend saßen die Männer nebeneinander, nur ab und zu drückte der Geheimrat dem Jüngeren leise die Hand. Und dann geleitete er den Sänger in sein Arbeitszimmer und bat ihn, dort wenige Augenblicke zu warten, während er selbst nach dem Krankenzimmer eilte.

Gespannt schaute ihm seine Frau entgegen und auch Isolde wandte bei seinem Eintreten leicht das Haupt.

»Mein Elfchen,« – und er strich mit der Hand über die Stirn der Tochter, indem er strahlend seiner Frau zunickte, »wie fühlen wir uns denn? Darf ich den Besuch wohl hereinlassen?«

Ein zitternder Jubelruf – beide Hände streckte sie empor, und dann winkte der Geheimrat den bereits Eintretenden heran.

Erschüttert neigte sich Santos über die schmale, weiße Hand und drückte einen langen Kuß darauf. Er sah das marmorweiße Gesicht, sah mit einem Blick, wie unendlich dies Kind seinetwegen gelitten, und er sank wortlos an dem Krankenlager nieder.

Leise verließen der Geheimrat und seine Frau das Zimmer.

Tiefes Schweigen, das nur ab und zu durch einen tiefen Seufzer unterbrochen wurde, herrschte in dem Zimmer. Und als sich Erik endlich erhob, da sah man ihm die tiefe Bewegung deutlich an.

»Wie müssen Sie mich hassen und verachten!« stammelte er, »ich habe mich schwer an Ihnen versündigt.«

Isolde lächelte, ein holdseliges Lächeln.

»O sprechen Sie nicht davon. Sie sind gekommen, wollten schon lange zu mir kommen.«

Ermattet schloß sie die Augen.

»Ich bin schuld, daß Sie so elend sind,« stieß er hervor, »ich weiß, daß Sie seit jenem Abend auf mich warteten, in zitternder Sehnsucht.«

»Ich liebe Sie,« klang es leise zurück, »ja, Erik, ich liebe Sie.« Er faßte ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen.

»Aber ich – ich bin Ihrer unwürdig, ich habe –«

Nein, er vermochte es nicht zu sagen, die dunkeln Augen blickten ihn so rührend an, es war ihm, als würde er mit seinen kalten Worten dieses zarte Leben vernichten, und erschrocken schwieg er. Hatte nicht der eigene Vater um frommen Betrug gebettelt? Durfte er da anders handeln? Hatte nicht der Tod schon allzu deutlich dieser zarten Blume seinen Stempel aufgedrückt? Er sah in Gedanken seine Braut, und auf einmal überkam ihn eine rasende Lust, laut hinauszuschreien, daß er seit Jahren gebunden, daß er nicht frei sei und nicht frei sein wolle. Dann würden sich diese süßen Kinderaugen hier schließen, um sich nie wieder aufzutun. Dann hatte alle Seelenpein ein Ende.

Hatte sie das wirklich? Hatte er nicht ein Leben vernichtet durch seinen Leichtsinn, durch eigene Schuld? Tat er aber nicht auch unrecht, daß er hier am Lager einer anderen saß, während seine Braut seiner harrte? War sein Platz nicht bei jener, die ihm vertrauend von frühester Jugend an alles opferte? Nein, er durfte nicht länger hier weilen, wo sich die Atmosphäre des Reichtums wie ein Alp auf seine Brust legte und ihm die Sinne verwirrte. Er wollte fort, – fort.

Da hörte er eine leise, bittende Stimme:

»Sie bleiben doch noch ein wenig bei mir?«

Er neigte nur schwer das Haupt und ließ sich in den daneben stehenden Sessel fallen.

»Wissen Sie noch,« flüsterte die Kranke, »was Sie mir damals im Palmenhaus sagten? ›Ich sehne mich danach, dich wiederzusehen.‹ Ist das wirklich wahr?«

Erik nickte, die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

»Und dann nannten Sie mich ›Isolde, du Süße!‹ Denken Sie noch daran?«

Nur mühsam unterdrückte der Gequälte einen Seufzer. Da fühlte er, wie zwei weiche Arme sich um seinen Hals legten, fühlte sich herübergezogen und dicht an seinem Ohr flüsterte es:

»Ich liebe dich, Erik, ich liebe dich!«

Da riß er die in weiße Spitzen gehüllte Gestalt an seine Brust:

»Du – du – du –« stieß er hervor und bedeckte ihr Gesicht und ihren Hals mit seinen Küssen.

»Du Süße, hab' Geduld mit mir, die Sehnsucht hat mich krank gemacht, die Sehnsucht nach deiner zarten Schönheit. Küsse mich, du Holde.« –

Jauchzend drückte sie den Geliebten an sich.

»Du liebst mich?«

»Ewig!«

»Und wirst mich nie wieder verlassen?«

»Nie wieder!«

»Mein Santos, mein Held!«

Und Tränen, heiße Tränen rannen Isolde über die Wangen, Tränen des größten Glücks.

»Es ist wie ein schöner Traum,« flüsterte sie an seinem Hals – »O, daß ich nie erwachte!«

Und in inniger Umarmung, süße Worte stammelnd, vergingen die Minuten, bis mit lautem Räuspern der Geheimrat mit seiner Frau dazwischentrat. Und sie fanden ein freudeblühendes, glückstrahlendes Mädchen, dessen Augen überirdisch strahlten.

»Er ist mein – er liebt mich,« jauchzte sie den Eltern entgegen, und in ihrem Glück sah sie nicht, daß beide erschreckt zusammenfuhren.

Zweifelnd blickte der Geheimrat auf Santos, der aber auch eine glückstrahlende Miene zur Schau trug. Wie sollte er das verstehen? Er wußte, daß Santos verlobt war, wußte sogar, daß in Kürze die Hochzeit stattfinden sollte, und nun fand er ihn so? Wohl hatte er ihn vor noch einer Stunde gebeten, sein Kind zu retten – aber diese Verstellung ging zu weit, das konnte niemals zum Guten führen! Und wenn er dann wieder seine glückstrahlende Tochter sah, dann umkrallte sein Herz eine furchtbare Angst.

Mit milden Worten riet jedoch seine Gattin, den heutigen Besuch zu beenden. Es wäre zuviel für die Kranke, und obgleich Isolde sich anfänglich heftig sträubte, machte sich Erik doch bereit, Isolde zu verlassen. Noch eine innige Umarmung und das Versprechen, morgen wiederzukommen, dann fielen die dicken Sammetvorhänge hinter Erik zusammen.

Nach wenigen Sekunden stand er im Arbeitszimmer dem Hausherrn gegenüber.

»Für heute, Herr Santos, lassen Sie mich nochmals Ihnen danken. Ob es der richtige Weg war, den ich einschlug – ich weiß es nicht, ich wollte nur das Beste – ob sie es aber überlebt« – er wandte sich ab.

Hoch aufgerichtet stand Erik vor ihm. Seine Augen schweiften über die vornehme Pracht, die hier herrschte, und seine Stimme klang fest, als er entgegnete:

»Ich habe damals ein Unrecht an Ihrer Tochter begangen, ich werde es gutzumachen suchen.«

Der Geheimrat fuhr herum, er verstand nicht, was der Mann da vor ihm sagte, wollte nicht verstehen, da er das Glück nicht glauben konnte – –

»Herr Santos, Sie sind nicht frei – –«

»Ich weiß, was ich tun muß, Herr Rat, denn –« er stockte etwas, »ich liebe Isolde.«

Ein zitternder Jubelruf kam aus der Brust des Mannes, dann streckte er ihm beide Hände hin:

»Herr Santos, machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber machen Sie mir mein Kind glücklich.«

»Das will ich.«

»Alles, alles sei Ihnen gewährt, ich will für Ihre Freunde und Bekannten königlich sorgen, wenn Sie mir mein Elfchen glücklich machen.«

Ein leichter Schatten legte sich über Eriks Gesicht. »Ich will noch heute oder morgen meiner – ehemaligen Braut schreiben, damit Klarheit herrscht. Und nun gestatten Sie, daß ich mich entferne.«

»Sie kommen morgen wieder?«

»Ja.«

Der Geheimrat geleitete den Sänger hinaus, dann sank er hochatmend in einen Sessel.

»Mein Elvchen, mein Kind! – Du sollst glücklich werden. Aber wie wird es jene andere ertragen?! – –«

* * *

In seinem einfachen Arbeitszimmer, dessen einzige Kostbarkeit ein herrlicher Flügel bildete, saß Erik, den Kopf in die Hand gestützt. Bogen auf Bogen hatte er bereits vernichtet, die richtigen Worte für den Abschiedsbrief an Erna konnte er nicht finden. Nein, es war unmöglich, sie zu verlassen, sie, die Jugendgespielin, die vom ersten Augenblick an ihm geglaubt hatte, die freudig all ihr Erspartes hingegeben hatte und die ihm blindlings vertraute. Fast zehn Jahre lang nannte er sie seine Braut; hatte sie die schlechten Zeiten mit ihm geteilt, dann durfte er sie jetzt nicht verlassen.

Wieder riß er den angefangenen Bogen in Stücke und schleuderte ihn zur Erde. Mit aufgeregten Schritten durchmaß er den Raum und blieb vor Ernas Bild stehen.

»Ich will dich nicht aufgeben, ich darf dich nicht aufgeben, wenn ich nicht selbst zum Schurken werden will.«

Gleich jetzt wollte er dem Geheimrat schreiben, ihm sagen, daß er von Isolde lassen müsse. Vor seinem Geist tauchte die feenhafte zarte Gestalt der Millionenerbin auf, er sah wieder die gediegene Pracht der Zimmer, er atmete die wohlige Atmosphäre des Reichtums und der Vornehmheit. Isolde würde zugrunde gehen durch ihn, durch seine Schuld.

Aufstöhnend warf er sich in den Sessel.

Erna war stark und mutig, – wie aber würde sie eine Trennung tragen? Welch ein Leben voller Glanz winkte ihm an Isoldens Seite! Mit welcher innigen Verehrung blickte sie zu ihm, dem Künstler auf, wie glücklich machte sie seine Nähe! Was er sprach, erschien ihr wie eine Offenbarung, – nie würde ein tadelndes Wort ihrem Mund entfliehen. Und Erna? Wie oft hatte sie in ihrer ruhigen Art den Künstler, dem seine raschen Erfolge zu Kopf stiegen, auf vorhandene Fehler aufmerksam gemacht. Da war er wohl im Augenblick verletzt aufgefahren, um dann, wenn er einsah, wie recht sie hatte, reumütig um Vergebung zu bitten. Ob wohl Erna verstand, als Gattin des großen Künstlers genügend zu repräsentieren? Scheu zog sie sich doch immer zurück, wenn es galt, an die Öffentlichkeit zu treten!

Wie anders Isolde! Aufgewachsen in Reichtum und Luxus, stets gewohnt, in den ersten Kreisen der Gesellschaft zu verkehren, verstand sie es sicherlich, ein großes Haus zu machen. Und für Erik schien es ein erstrebenswertes Ziel, daß man sein Haus gerade in bezug auf vornehme Geselligkeit als eines der ersten der Residenz pries. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge, als er dabei an Erna dachte. Wie würde sie sich in diesem Kreise ausnehmen? Ihr Glück schien eine sogenannte Dreizimmerwohnung, sie selbst am Kochherd stehend, für ihn arbeitend; und Erik erinnerte sich jenes Abends ganz genau, als er mit ihr über die Zukunft gesprochen. Lachend hatte sie versucht, ihm seine Ideen von Jours, Hausbällen und Auto auszureden. Ein trauliches Heim – das war immer der Refrain. Dabei freute sie sich, wenn man ihn oft einlud, und ließ ihn ruhig gehen, trotzdem sie wußte, wie sehr er für Pracht und Luxus empfänglich war. In der Brust dieses Mädchens wohnte kein Neid, keine Eifersucht, sie war edel und treu, sanft und gut und doch –

Da klopfte es, und Frau Winz trat herein mit der Meldung, eine Dame wolle den Künstler sprechen. Nein, er war wirklich nicht in der Laune, Besuch zu empfangen!

»Weisen Sie die Dame ab, ich bin nicht zu sprechen.«

Die Wirtin wollte verschwinden, aber da stand auch schon die Fremde auf der Schwelle. Ein kostbarer Pelz umhüllte eine auffallend große Erscheinung, und unter dem schwarzen Federhut quoll in dichten Locken rotblondes Haar hervor.

»O pfui, Santos, Sie wollen mich nicht empfangen?«

Der also Angeredete fuhr herum. Lachend schritt Vera Reichmann auf ihn zu.

»Ich mußte Sie doch einmal aufsuchen, ich wollte mich einmal überzeugen, wie eigentlich mein Herr Kollege haust;« dabei drehte sie sich im Zimmer herum.

»Hm, nach einem Tenoristen Ihrer Qualität sieht es hier gerade nicht aus.«

Erik stand noch immer schweigend an seinen Schreibtisch gelehnt.

»Sie sind ja ein recht freundlicher Gastgeber. Da, wollen Sie mir nicht wenigstens den Mantel abnehmen?«

»Entschuldigen Sie, aber Sie treffen mich in keiner guten Stimmung an.«

»Ach was, Stimmung, – haben Sie nicht einen vernünftigen Kognak im Hause, es ist draußen kalt –«

Und als Erik die Flasche vor sie hinstellte, hielt Vera ihn fest.

»Menschenskind, was machen Sie denn für ein Gesicht! Hu, hätte ich das gewußt, ich wäre sicher nicht gekommen. Aber jetzt«, dabei zog sie einen zweiten Sessel heran, »hierhergesetzt und mitgetrunken! So, und nun gießen Sie mal ein!«

Lachend schaute ihm das berückendschöne Weib in die Augen. Aus dem schwarzen, eng anschließenden Samtkleid hob sich der weiße Hals leuchtend hervor. Ohne eigentlich schön zu sein, war Vera doch eine interessante Persönlichkeit. Nicht mehr die jüngste, begannen doch Schminke und Puder in dem Antlitz schon ihre Spuren zurückzulassen. Wenn sich Vera auch peinlich pflegte, ganz konnte sie doch die Spuren des beginnenden Alters nicht verwischen.

Das Schönste an ihr waren unzweifelhaft die großen dunklen Augen, die sprühend aus dem weißen Antlitz hervorleuchteten.

»Nun Santos, nun beichten Sie mal, was Ihnen die Stimmung verdarb. Hat der Intendant Sie geärgert? Liebeskummer? Schulden?«

Erik strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Mein Schneider hat mich geärgert!« wich er nervös aus.

»Na na, Schäfchen, ist das so schlimm?« und Vera lachte laut auf.

»Fräulein Reichmann,« stieß der Sänger erregt hervor, indem er aufsprang, »ich weiß, es ist ungezogen von mir, aber ich bitte Sie, lassen Sie mich allein!«

Die Sängerin hatte sich gleichfalls erhoben und legte ihm ihre Hand auf die Schulter.

»Kindchen, nicht so hitzig! Es gibt in jedem Leben Stunden, die entscheidend für unsere ganze Zukunft sind, da heißt es überlegen, da muß der Kopf sprechen und nicht das Herz.«

Erstaunt blickte Erik die vor ihm Stehende an.

»Woher wissen Sie, was mich gegenwärtig bedrückt?«

Vera wies auf den Schreibtisch. Da lagen fünf bis sechs Bogen zerrissen, zerknüllt, und auf der Erde verstreut fanden sich weitere Blätter.

»Das da zeugt von einem kleinen Seelenkampf.«

Betroffen schaute sie der Künstler an.

»Nun, habe ich recht?«

Erik nickte wortlos. Aufmerksam betrachtete Vera ihren Kollegen. Er litt unter einem inneren Zwiespalt, und deutlich prägte sich die Qual auf seinem Antlitz aus. Eine Weile herrschte tiefes Schweigen.

»Hören Sie, Santos,« unterbrach sie endlich die Stille. »Sie wissen, ich bin gegenwärtig in unserer Residenz die gefeiertste und beliebteste Sängerin. Wohin ich komme, jubelt man meiner Kunst zu, denn ich bin eine große Künstlerin. Man beneidet mich, man lächelt verzeihend und nachsichtig über meine Extravaganzen, man beschönigt alle meine tollen Streiche, weil man mich eben als Künstlerin zu hoch achtet. Wer kann sich rühmen, Vera Reichmann anders als mit freundlichem, zufriedenem Lächeln gesehen zu haben? Beneidet man mich nicht überall? Hält man mich nicht für die glücklichste aller Künstlerinnen? Und warum? Weil ich gelernt habe, mein ganzes Leben lang Komödie zu spielen, und weil mich, wenn ich wirklich einmal zusammenzubrechen drohte, meine Kunst hinwegtrug über all das große Elend, all den großen Jammer des Menschenlebens.«

Hoch aufgerichtet, den Blick wie verträumt ins Leere gerichtet stand sie vor ihm, und ein weicher Ton klang durch ihre Stimme, als sie fortfuhr:

»Mein größtes Glück liegt in meiner Kunst. Für sie habe ich alles geopfert. Es ist nicht leicht, gefeiert und berühmt zu werden, der Weg ist so schwer, so unendlich schwer. Vom moralischen Standpunkt, ja vom Standpunkt des Gefühls muß man mich verdammen. Denn ich habe selbst alles zertreten, was sich mir in den Weg stellte: Elternhaus, Heimat, ein treues goldenes Herz, meine eigene Ehre, meine Verwandten, Freunde und Gönner. Tausend Hände strecken sich mir entgegen. Ich habe die Fäuste an die Ohren gepreßt, mein heißes Herz gewaltsam zum Schweigen gebracht, bin meiner Kunst nachgegangen und habe schließlich gesiegt. Daß es kein leichter Sieg war, daß er mich alles, alles gekostet hat, das weiß nur ich.«

Mit immer größerem Staunen hatte Erik der Künstlerin zugehört. Das also war Vera Reichmann! Das war dieselbe, von der man erzählte, sie sei ein Kind des Glücks; was sie beginne, gelinge ihr leicht und mühelos. Das war die beneidete Künstlerin, der Tausende zu Füßen lagen? Das war endlich die Frau, die immer heiter und lachend durch das Leben tänzelte? Man verehrte sie, man schätzte es sich zur Ehre, sie als Gast haben zu dürfen, obgleich man wußte, daß sie so manches Abenteuer hinter sich hatte. Schon zu Anfang seiner Laufbahn hatte er oft von der berühmten Reichmann gehört, die alle Welt durch ihre herrliche Stimme in Entzücken versetzte. Nun war er seit drei Monaten ihr ebenbürtiger Partner, aber obgleich er sie als Künstlerin überaus schätzte, hatte er doch jegliche Annäherungsversuche geschickt abzuwenden versucht.

Und heute hatte sie ihn zum ersten Male in seiner Wohnung aufgesucht, gerade heute, in dem Augenblick, da er sich in einem so gewaltigen Seelenzwiespalt befand! Sie sprach zu ihm ernste, wahre Worte, die ihn tief erschütterten. Das alles also hatte sie geopfert ihrer Kunst zuliebe, und er, dem es doch verhältnismäßig leicht geworden war, er hatte geglaubt, ihm allein sei der Sieg so schwer geworden. Ein warmes Leuchten kam in seine Augen, als er sich Vera zuwandte:

»Sie haben auch mich getäuscht, Fräulein Reichmann!«

Leise lachte die Künstlerin auf.

»Sollte ich mit meinen Kämpfen und Erlebnissen hausieren gehen? Sie sind der erste, der es erfährt, heute will ich Ihnen nur raten in Ihrem Kampfe. Will Ihnen Kamerad sein, einen besseren gibt es nicht!« lachte sie wieder übermütig.

»Ich werde schon allein mit mir ins Klare kommen.«

»Bedenken Sie, Santos, das Glück ist ein launenhaftes Weib, auch der Ruhm ist vergänglich. Wir selbst sind es, die unermüdlich arbeiten müssen, damit unser Stern nicht erlischt. Da heißt es jede Situation ausnutzen; wir müssen achthaben, daß man uns nicht beiseite schiebt. Jetzt stehen wir auf der obersten Sprosse der Ruhmesleiter, aber wer weiß, wie lange! Auch das Publikum ist ein wankelmütiges Volk. Wer uns heute zujubelt, der steinigt uns morgen. Jeder, Santos, jeder, der sich uns in den Weg stellt, der muß zerschmettert werden; gleich im Anfang, wenn es noch Zeit ist! Und wenn ich Schwester und Freundin zertreten müßte – ich würde es tun, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn es gilt, meine Stellung zu behaupten.«

Mit fest zusammengepreßten Zähnen, geballten Fäusten stand Vera da, ein Bild eiserner Energie.

»Nur so habe ich mein Ziel erreicht!«

»Sie werden auch mich vernichten?« fragte Erik scherzend.

Ein heißes Flimmern kam wieder in ihre Augen.

»Ich dich vernichten? Dafür habe ich dich zu gern!«

Eine Weile standen sich die beiden stumm gegenüber, dann fuhr Vera fort: »Und doch, in dem Augenblick, da ich wüßte, daß man mich um deinetwillen vernachlässigt, in dem Augenblick stürzte ich auch dich – obgleich ich dich mag. Aber,« und ihre Stimme wurde heller, »ein Mann und ein Weib, ein Künstler und eine Künstlerin können auch nebeneinander Ruhm und Ehren erlangen.«

»Unheimliches Weib!«

»Nicht doch,« lachte sie lustig auf; »habe ich meinen Tristan erschreckt? O, das wollte ich nicht. Aber jetzt will ich doch gehen, – nun wähle allein und wähle klug!«

»Bleiben Sie noch,« bat er nun, »ich möchte Sie etwas fragen.«

Die Künstlerin ließ sich wieder in den Sessel nieder, während Erik aufgeregt im Zimmer auf- und abging.

»Würden Sie auch den Mann vernichten, dem Sie Ihren Ruhm verdanken?«

»Meinen Ruhm verdanke ich mir ganz allein.«

»Wenn man Ihnen die Mittel zu Ihrer Ausbildung gab, während alle anderen an Ihnen zweifelten, wenn er der einzige war, der an Sie glaubte, der Sie aufrichtete, wenn Sie verzweifeln wollten – würden sie solch ein Herz verraten?«

Vera schloß die Augen, dann hub sie langsam und leise an:

»Es war einmal ein junges Mädchen, das sollte Lehrerin werden und hatte keine Lust. Sie wollte zur Bühne. Und da die Eltern mit ihrem Fluch drohten, lief sie des Nachts heimlich von Hause fort. Gute fremde Leute halfen ihr über die schlimmste Zeit hinweg; sie hatten einen erwachsenen Sohn, einen Buchhalter, der verliebte sich in das rotblonde Mädchen und begehrte sie zum Weibe. Und die Eltern, die sicherlich eine andere Schwiegertochter viel lieber gehabt hätten, willigten ein und gaben ihren Segen. So heirateten sich diese beiden, und ein Jahr hindurch schien es, als sei wirklich das Glück dort eingekehrt, denn auch ein Söhnchen war angekommen. Aber die junge Frau war innerlich untröstlich über ihr Los, und so lief sie eines Tages unter Mitnahme alles Geldes wieder davon und ließ sich als Choristin engagieren. Zwar dachte sie oft des Gatten und ihres Sohnes, aber sie erstickte mit Gewalt alle Reue und warf sich dem ersten besten Sänger an den Hals, der ihr dafür Gesangsunterricht geben mußte. Aber auch das dauerte nicht lange. Unglücklicher denn je schrieb sie in der Verzweiflung einen Abschiedsbrief an den verlassenen Gatten. Zum Sterben aber fand sie den Mut nicht. Vollständig gebrochen fand sie der Mann, der sie in verzeihender Güte wieder an sein Herz nahm. Kein Wort des Vorwurfes, nur Dank, daß sie zu ihm zurückgefunden, kam von seinen Lippen.« Einen Augenblick schwieg die Künstlerin, hastig wischte sie eine herabfallende Träne von der Wange.

»Nun ja, um es kurz zu machen: sie lief ihm nochmals davon, lernte, hungerte, liebte, küßte, strebte, und ist heute die erste Sängerin Deutschlands. Mann und Kind hat sie nie wiedergesehen.«

Die Künstlerin warf den Kopf in den Nacken, als wollte sie etwas Unsichtbares mit aller Gewalt abschütteln.

»So, Santos, so muß man sein, und nun nehmen Sie Ihr zuckendes Herz in die fest zusammengepreßte Faust und wandeln Sie weiter im Lichte des Ruhmes!«

»Aber ich muß mich ja vor mir selbst schämen, muß mich verachten!«

Vera lachte bitter auf:

»Pah! Wir führen ein Leben des Scheines. Was kümmert's die anderen, ob wir uns selbst achten oder nicht! Wir sind doch nur für die anderen da! Lache Bajazzo, kennst kein Gefühl, bist nur ein Spielzeug! So ist's, Santos, nicht anders.«

»Und jene andere?«

»Ach Gott, wie sentimental! Was kümmern uns die anderen! Für uns hat man einen Altar der Kunst entzündet, und dessen Feuer verschlingt unbarmherzig unser eigenes Ich, unsere guten und schlechten Eigenschaften. Alles frißt das Feuer auf, alles, alle Ideale, aber uns bleibt der Ruhm. Ich möchte nicht leben ohne meine Kunst! Sie ist das höchste, das heiligste, und ihr opfere ich alles – alles!«

Mit leuchtendem Blick, die Arme emporgeworfen, stand sie vor ihm, und eine heiße Welle strömte Erik zum Herzen.

»Du hast recht. Unsere Kunst! Der Würfel ist gefallen.«

»So leb' wohl, Santos!«

»Leb' wohl, Vera!«

Mit festem Druck umspannte er ihre Hand. Nachdem die Künstlerin das Zimmer verlassen, setzte er sich an den Schreibtisch, hastig flog die Feder über das Papier. Es war ihm einfach unmöglich, seine Stellung zu behaupten, wenn er die stille, verschämte Erna an seiner Seite hielt. Werters Millionen aber, die zarte, schöne, gewandte Isolde würden ihm den Weg zu weiterem Glück, zum Ruhm ebnen.

Er selbst trug den Brief zum Kasten, und ein erleichterter Seufzer entschlüpfte seinen Lippen, als er wieder die Treppe zu seiner Wohnung hinanstieg. – –

Acht Tage waren vergangen, seit Erna den Abschiedsbrief ihres Bräutigams erhalten hatte, acht furchtbare Tage. Keine Träne hatten diese starr blickenden Augen geweint, keine Klage drang über die blassen, zusammengepreßten Lippen. Mechanisch verrichtete sie die kleinen Hausarbeiten, stundenlang saß sie am Fenster und starrte hinaus, und nur das Jammern und Weinen der Mutter unterbrach die beängstigende Stille. Kaum daß sie das nötigste Essen zu sich nahm; regungslos, die Hände krampfhaft gefaltet, verharrte sie und starrte ins Leere. Die sonst so aufmerksame Tochter hatte keinen Blick, kein Wort für die Mutter, und sie mußte zwei-, dreimal gefragt werden, ehe sie Antwort gab, und auch die war dann oft so verworren, daß Frau Schirmer die Absicht hatte, einen Arzt zu konsultieren. Die unglückliche Mutter wußte sich keinen Rat.

Frau Schirmer hatte damals den vier Seiten langen Abschiedsbrief Eriks gelesen, um klar zu sehen, und Erna hatte es ihr nicht gewehrt. Waren doch die Blätter ihren Händen entglitten und lagen zu Füßen der Regungslosen, die kein Wort der Klage hatte. Nur hin und wieder wurde der Körper wie im Krampf geschüttelt, und ein Stöhnen entquoll den erblaßten Lippen. Die Mutter hatte dem Sänger einen empörten Brief geschrieben und teilte ihm dabei Ernas Zustand mit.

Es war keine Antwort gekommen, und nun empfand sie einen grimmigen Haß gegen den Mann, der ihr Kind so tief unglücklich gemacht hatte. Vergebens redete sie auf Erna ein und schilderte den ehemaligen Bräutigam als den schlechtesten aller Geschöpfe, aber das Mädchen rührte sich nicht, es war fast, als höre oder fasse sie nicht, was die Mutter sagte.

Adele, der Frau Schirmer den Treubruch des Schwagers mitgeteilt hatte, schrieb nur kurz, daß sie das längst vorausgesehen hätte; Erna möge sich das nicht weiter zu Herzen nehmen, die Männer seien eben so. Ratlos schlug Frau Schirmer Erna eine Reise vor, und müde und apathisch stimmte Erna zu. Als sie aber die Sachen einpackte und sich im Zimmer umsah, was noch mitzunehmen sei, da fiel ihr Blick auf das große Bild ihres ehemaligen Bräutigams. Minutenlang starrte sie es an wie ein Gespenst, dann aber schrie sie gellend auf und stürzte wie ein gefällter Stamm zu Boden.

Die Mutter fand sie dort leblos liegen, brachte sie zu Bett, und schon nach wenigen Stunden verfiel die Kranke in wilde Fieberphantasien. Der hinzugerufene Arzt zuckte die Achseln und konstatierte ein heftiges Nervenfieber, meinte aber, daß die gesunde Natur des Fräuleins bald darüber hinwegkommen würde. Tag und Nacht wachte Frau Schirmer an Ernas Lager, kaum vermochte die Pflegeschwester ihr die allernotwendigsten Ruhestunden aufzuzwingen. Als dann endlich die Krisis glücklich überstanden war, als Erna allmählich der Genesung entgegenging, da warfen die großen Überanstrengungen die Mutter aufs Krankenlager. Adele, die man davon in Kenntnis gesetzt und um ihr Kommen gebeten hatte, schrieb, daß sie mit dem Studium einer neuen Partie beschäftigt sei; da die Oper in wenigen Wochen zur Aufführung komme, sei es ihr unmöglich, Urlaub zu erhalten; sie verstände ja ohnehin nichts vom Pflegen, und es würde ja wohl auch nicht gar so schlimm sein.

Und so teilten sich denn zwei Krankenschwestern in die Pflege von Mutter und Tochter, und als nach mehreren Wochen Erna zum ersten Male das Bett verlassen durfte, da kam sie gerade recht, um der sterbenden Mutter die Augen zuzudrücken. Auch Adele, die telegraphisch herbeigerufen wurde, kam und machte der Schwester die bittersten Vorwürfe, daß man sie nicht eher gerufen. Aber Erna schwieg. Es schien überhaupt, als sei ihr alles Leben aus dem Gesicht gewichen. Gleichgültig blickten die erloschenen Augen, nur die tiefen Furchen des Grames sprachen deutlich, daß hier eine Seele übermenschlich gelitten. Sie lehnte es Adelen gegenüber kurz ab, über Santos zu sprechen; nur als diese sich in lauten Schmähungen über den Ungetreuen ausließ, stand sie kurz auf und verließ das Zimmer. Kein Mensch wußte überhaupt, was in dem Mädchen vorging; stumm besorgte sie alles, tränenlos ging sie all die schweren Gänge. Als das stille Begräbnis vorüber war, da reiste auch Adele wieder ab, und Erna blieb in den verlassenen Räumen allein zurück.

Wie eine Statue wandelte sie umher, und auch die treue Magd vermochte nicht, ihre Herrin diesem Zustand zu entreißen. Das dauerte wochenlang. Es war geradezu ein Traumleben, das Erna lebte, sie wußte kaum, daß sie überhaupt existierte. Allmählich, ganz allmählich nach Wochen erwachte sie wieder, doch das steinerne Antlitz veränderte sich nicht, die Augen blickten leer, und interesselos glitten sie im Zimmer umher. Gewaltsam versuchte sie, sich aufzuraffen. War denn alles in ihr gestorben? War sie keiner Gefühlserregung mehr fähig? Wie ruhig konnte sie vor dem Bild des Geliebten stehen, sie empfand nichts – nichts mehr!

Und wie hatte sie ihn geliebt! »Ich träume,« sprach sie dann wohl vor sich hin, »und ich möchte doch so gerne erwachen;« aber sie empfand nichts. Und draußen in der Küche saß die alte Lene und zerbrach sich den Kopf, wie sie ihrer jungen Herrin wohl helfen könnte. »Eine große Freude,« meinte sie, »würde sie sicherlich diesem Zustand entreißen.« Aber woher sollte diese Freude wohl kommen? Sie müßte andere Menschen sehen, und die brave Magd war hocherfreut, als eines Tages eine, schöne, elegante Dame, die sich Frau von Werter nannte, Erna zu sprechen wünschte. Und Erna? Sie strich sich nur müde über die Augen, als sie den Namen hörte, und befahl ruhig und gelassen, die Dame solle eintreten.

Was wollte jene Frau zum zweitenmal von ihr? Man konnte ihr doch nichts mehr nehmen! Sie besaß ja nichts, gar nichts, – was wollte man also noch von ihr?

Die Geheimrätin war eingetreten.

Einen Augenblick standen sich die beiden Frauen stumm gegenüber. Der Geheimrätin sank die ausgestreckte Hand herab, als sie Erna erblickte. Diese überschlanke schwarzgekleidete Dame mit dem gramdurchfurchten Gesicht, den eingefallenen Wangen und erloschenen Augen, – war das dieselbe, die damals so unerschrocken auf die Liebe ihres Bräutigams gebaut hatte? Ein unsägliches Mitleid mit diesem unglücklichen Geschöpf ergriff jetzt die Frau. Gestern erst hatte sie durch den Hausverwalter erfahren, daß Erna krank gewesen, daß sie die Mutter verloren und wahrscheinlich auch selbst nicht mehr lange zu leben habe. Ihr warmes Herz trieb sie, diejenige aufzusuchen, deren Glück man zertreten, um das eigene Kind zu erhalten. Vor ihren Augen tauchte Isoldens Bild auf, die glückstrahlend und gesund an Leib und Seele an der Seite des ihr vor kurzem angetrauten Gatten von Tag zu Tag schöner erblühte. Und hier stand vor ihr jene andere, deren Liebe man geringer geachtet, der man mit dem Bräutigam alles genommen hatte!

Die Augen der Geheimrätin füllten sich mit Tränen, erschüttert wandte sie sich ab. Regungslos, ohne ein Wort zu sagen, stand Erna ihr gegenüber, Da fühlte sie sich plötzlich von zwei Armen umschlungen und geküßt.

Ruhig machte sie sich frei.

»Was wünschen Sie von mir, gnädige Frau?«

»Wir wußten nichts von all dem Schmerz, den Sie erduldet haben, Fräulein Schirmer! Armes Kind, wie müssen Sie gelitten haben! Und Sie leiden noch immer!«

»Und was wünschen Sie von mir?«

»Ich fühlte, daß wir unrecht an Ihnen handelten, und das treibt mich zu Ihnen.«

»Unrecht?« Um Ernas Mund zuckte es weh.

»Fräulein Schirmer, ich möchte gutmachen, was ich an Ihnen verbrochen habe.«

»Sie wollen gutmachen?« Ein Lachen, durch das die Tränen klangen, kam von den Lippen des Mädchens. »Gutmachen. Als ob man hier etwas gutmachen könnte!« Dann schüttelte sie ruhig das Haupt. »Lassen Sie, gnädige Frau; was man mir nahm, das kann man mir niemals wiedergeben.«

»Armes, liebes Kind, ich weiß, wie Sie leiden. Ich möchte Ihnen tragen helfen, es ist so schwer, wenn man allein steht.«

»Ich stünde jetzt nicht allein, hätte man mir den Bräutigam nicht geraubt!«

»Er hat damit ein Leben gerettet!«

»Und eins vernichtet!« Da kam plötzlich Leben in die Gestalt. Ihre Augen blitzten, ihre Fäuste ballten sich. »Wie ein Dieb in der Nacht waren Sie gekommen und hatten ihn an sich gelockt, hatten mir alles genommen, was ich besaß. Ich hatte an ihn geglaubt von meiner Kindheit an. Und Sie? Sie, gnädige Frau, hätten Ihr Kind dem hungernden Tenoristen einer kleinen Vorstadtbühne nicht gegeben. Sie hätten auch kaum in den Geldbeutel gegriffen, um dem Unbekannten zu helfen, vorwärtszukommen. Ich wäre ihm jauchzend in Not und Elend gefolgt und hätte mein Letztes frohlockend geopfert. Und nun, nun kommen Sie und nehmen mir alles; und jetzt, jetzt wollen Sie gutmachen!« Hohnlachend warf sich Erna auf den Sessel. »Wie wollen Sie alles gutmachen? So fangen Sie doch an!«

Schwere Tränen rannen der Geheimrätin aus den Augen. Sie wußte es wohl, sie hatte schwer gesündigt an diesem unglücklichen Geschöpf; aber hatte es nicht das Wohl der eigenen Tochter, ihres letzten einzigen Kindes gegolten? Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, als Erna plötzlich hochaufgerichtet vor sie hintrat.

»Fürchten Sie denn nicht, daß ich mir den Geliebten zurückfordere? Und er wird, er muß kommen, wenn ich ihn rufe!«

»Sie sind seit vierzehn Tagen vermählt.«

Ernas ohnehin schon marmorweißes Gesicht wurde noch um einen Ton blässer.

»Sie sind seit vierzehn Tagen vermählt!« wiederholte sie wie träumend.

»Liebes, liebes Kind!« Frau von Werter trat näher an das junge Mädchen heran. Sie wollte sie stützen. Aber Erna wankte nicht. Regungslos stand sie da, nur ein erstickter Wehlaut drang über die krampfhaft zusammengesetzten Lippen.

»Und er ist glücklich?« Heiser, kaum vernehmlich stieß sie die Worte hervor.

Nur mit Mühe drang Frau von Werter die wiederaufquellenden Tränen zurück. Nein, sie konnte die Antwort nicht geben, sie konnte diesem leidenden Mädchen nicht sagen, daß ihr Kind sein Glück auf den Trümmern dieser Liebe aufgebaut hatte. Ein heißes, unbezwingliches Mitleid überkam sie und sanft legte sie ihre Hände auf Ernas Schulter.

»Mein liebes Kind, ich komme heute mit einer Bitte, die Sie mir nicht abschlagen dürfen: Sie haben Ihre Mutter verloren; auch wir, mein Mann und ich, sind jetzt ganz allein, wir sehnen uns nach einer Tochter. Bleiben Sie nicht so einsam hier, kommen Sie zu uns, in unser Haus als unsere, als meine Tochter. Mein Leben soll ein einziger Dank sein, ein Dank für das, was Sie an uns getan haben.«

Da prallte Erna zurück. »In Ihr Haus? Niemals!«

»Ich bitte Sie darum, wir wollen Sie lieben und pflegen, als wären Sie unser Eigen. Wir sind so tief in Ihrer Schuld, wir möchten wenigstens etwas gutmachen.«

»Nie – niemals,« klang es kurz entgegen. »Ich will es nicht vergessen, daß Sie mich um mein Lebensglück brachten. Sie haben meinem arglosen Bräutigam Schlingen gelegt, aus denen er sich nicht zu lösen vermochte. Haben Sie an einem noch nicht genug? Wollen Sie auch mich noch verderben?«

»Lieben wollen wir Sie, Sie verblendetes Kind, von ganzem Herzen –«

»O, gnädige Frau, auch ich durchschaue Ihre Absicht genau: Sie fürchten für Ihr Kind, Sie fürchten, daß Erik über kurz oder lang die lästigen Ketten abschüttelt, um zu mir zurückzukehren. Sie fürchten meine Macht über sein Herz, und da es das Wohl Ihres Kindes gilt –« ein furchtbarer Hohn klang durch ihre Worte –, »so scheuen Sie vor keinem Mittel zurück. Erna Schirmer kann gefährlich werden. Erna Schirmer muß man unschädlich machen. Solche Leute wie mich steckt man kurzerhand als unheilbar in eine Anstalt, und das Glück Ihrer Tochter ist gesichert.«

»Kind, Kind, um Gottes willen, wohin verirren sich Ihre Gedanken! wie können Sie glauben, daß –«

»Ich konnte auch nicht glauben, daß man mir mein Alles nahm, und es ist doch geschehen!«

Mit großer Herzlichkeit legte die Geheimrätin ihre Arme um Erna.

»Ich bringe Ihnen ein übervolles dankbares Herz entgegen. Mein liebes Kind, stoßen Sie mich doch nicht von sich! Sie stehen allein im Leben, was wollen Sie denn beginnen?«

»Ich werde nicht untergehen, ich kann arbeiten. Ich nehme wieder eine Stellung an und verzichte auf ein Leben in Ihrem Hause.«

»So lassen Sie mich wenigstens eine Stellung für Sie besorgen. Ich habe viele Verbindungen.«

»Ich danke, ich brauche die Vermittelung meiner Feinde nicht, ich werde aus eigener Kraft etwas finden.«

»Aber bis Sie etwas Passendes gefunden haben..

»Muß ich es nochmals wiederholen, daß ich Ihre Hilfe nicht will? Aber freilich, erst den Armen zugrunde richten und dann, wenn er verschmachtend am Wege liegt, reicht Ihr ihm den Beutel voll Gold, kaltes Gold und rühmt Euch dann Eurer Tat! Ich will nicht, ich will nicht! Hier bin ich Herr, hier steht mir das Recht zu, Ihnen zu sagen: Verlassen Sie mich und betreten Sie diese Schwelle nie mehr.«

Die Geheimrätin senkte schwer das Haupt.

»So also soll ich von Ihnen gehen! Ich zürne Ihnen nicht, ich weiß, wie tief das Leid Sie verbittert; aber auch Sie, liebes Kind, werden ruhiger werden und dann, dann bitte ich Sie, erinnern Sie sich, daß Sie eine mütterliche Freundin haben und kommen Sie zu mir und nun – Gott behüte Sie!«

Starr blickte Erna auf die Tür, durch welche Frau von Werter verschwunden war. Ein glühendes Rot der Beschämung stieg ihr in die Wangen und dann warf sie sich vor dem Bild der Mutter nieder und nun kamen zum ersten Male seit Wochen die erlösenden Tränen. Ein wildes Schluchzen durchschüttelte den Körper, und mit krampfhaft gerungenen Händen stammelte sie: »Hilf mir, Mutter, hilf mir, daß ich nicht an mir selbst verzweifle!«

* * *

Graf Bredow hatte kurz vor Schluß der Saison noch einmal die Aristokratie und die Künstler zu einem Frühlingsfest geladen, und der herrliche Garten erstrahlte in vielfarbigem Licht. Das Fest ging jetzt seinem Ende entgegen; die Laune der Gäste war durch den reichlichen Genuß guter Weine auf dem Höhepunkt, lustige Neckereien und mitunter auch gewagte Schmeicheleien durchschwirrten die Luft. In einer künstlich hergestellten Grotte, die mit Fackeln erleuchtet war, saß, den Champagnerkelch in der Hand, Erik Santos, dicht neben ihm Vera Reichmann, deren lebhafte Augen funkelten von Lebenslust und Lebensfreude.

»Gieß ein, Santos!« lachte sie und hielt ihm das Glas hin, »die Liebe soll leben!«

»Ach was, auf die Liebe haben wir heute schon so oft getrunken, Vera, jetzt trinken wir mal auf die Leidenschaft!«

»Gut, auf die Leidenschaft!« und Vera goß das Glas hinunter. »Noch eins!« Sie hielt ihm das Glas wieder hin.

Der Grotte näherten sich Schritte, und deutlich erkannte man die Stimme Isoldens. Sie suchte den Gatten. Nur mit Mühe hielten die beiden den Atem an, um sich nicht zu verraten. Isolde am Arme ihres Vaters ging vorüber, ohne sie zu bemerken. Ein schwüles, bedrückendes Schweigen, dann lachte Vera laut auf und grenzenloser Spott lag in ihren Worten: »Das Kleinchen sucht dich; eile, eile, damit sie nicht wartet!«

»Isolde wartet!« Sein junges zartes Weib hatte er vergessen, vergessen unter dem Einfluß jenes dämonischen Weibes! Fort mit solchen Gedanken! Energisch raffte er sich auf und eilte den Laubengang hinunter, den vorhin seine junge Frau gegangen.

Nach wenigen Minuten hatte er Isolde, die mit einigen Offizieren sprach, erreicht. Mit größter Zuvorkommenheit machten die Herren Platz, und Isolde hing sich lächelnd in seinen Arm.

»Ich habe dich schon lange gesucht, – wo bist du denn gewesen?«

»Ich wurde von einigen Herren über allerhand ausgefragt und konnte doch nicht weglaufen, – na, nun haben wir uns ja wiedergefunden!«

»Du stehst so erhitzt aus, Schatz?«

»Hm, – willst du heim?«

»Ich richte mich nach deinen Wünschen.«

»Aber Kind, ich bitte dich, habe doch auch einmal einen Wunsch.« entgegnete der Sänger gereizt, »ich kann doch nicht wissen, ob es dir nicht zu viel wird.«

Zärtlich streichelte sie seinen Arm: »Ich habe so viele Wünsche, Erik, aber alle gehen nur dahin, daß du zufrieden mit mir sein mögest.«

Nervös strich sich der Sänger über die Stirn. Es war ihm peinlich, daß Isolde hier vor allen Anwesenden so zu ihm sprach; kurz entgegnete er: »So wollen wir gehen!«

Mit leichtem Neigen des Kopfes verabschiedete er sich von den Anwesenden und führte seine Gattin davon.

»Wir fahren heim, Erik?«

»Ja, ich fühle mich abgespannt, außerdem muß ich morgen früh in die Probe.«

»Immer und immer die Probe! Du könntest doch auch einmal sagen, du kämest nicht.«

»Aber Schatz, ich habe doch erst kürzlich vierzehn Tage Ferien gemacht, ich bekomme doch mein Geld nicht fürs Nichtstun.«

»Das dumme Geld, das brauchst du ja gar nicht, wir haben doch genug.«

»Ja du,« versetzte er ärgerlich, »ich nicht.«

»Was mein ist, ist doch auch dein!«

»Aber ich mag mich nicht von dir erhalten lassen. Überhaupt sollten uns deine Eltern nicht so mit allem Luxus überschütten.«

»Aber Erik, sie meinen es doch so gut.«

»Ja gewiß, Kind, aber es bedrückt mich, ich kann meine Frau doch allein ernähren.«

»Nun, nun,« lächelte Isolde, »zwei Autos kannst du mir doch nicht innerhalb vierzehn Tagen kaufen!«

Jäh ließ er ihren Arm los. »Heißt das, daß du dir bei mir Entbehrungen auferlegen mußt? Bist du nicht zufrieden?«

Erschrocken wat die schlanke Frau zusammengezuckt. »Um Gottes willen, Erik, Liebster, was denkst du! Ich sollte bei dir nicht zufrieden sein, wo du mein ganzes Glück bist?«

Zärtlich faßte sie nach seiner Hand, aber die Falten auf seiner Stirn wollten nicht verschwinden.

»Erik, Lieber, Liebster,« flehte sie und die dunklen Augen füllten sich mit Tränen.

»Um Gottes willen, Isolde, mache doch hier keine Szene. Ja doch, ja, es ist alles gut.« Schweigend mit gesenktem Kopf ging sie an seinem Arm, und Erik rief dem vorübereilenden Diener zu, daß man seinen Wagen vorfahren lassen solle. Auf der Terrasse traf er Vera Reichmann.

»Wie, Sie wollen schon heim, meine verehrte gnädige Frau,« rief sie Isolde entgegen.

»Ja, mein Mann hat morgen früh zu tun.«

»Mein Gott, ich auch; ich wußte ja gar nicht, teuerster Kollege, daß Sie so solide sind!«

Ungeduldig wollte Erik ihr den Rücken kehren, da fiel sein Blick auf Isolde, der ein abweisend hochmütiger Zug im Gesicht stand. Er wußte, Isolde konnte Vera Reichmann nicht leiden und schon manches Mal war sie der Künstlerin mit kalter Nichtachtung begegnet. Das reizte Erik, und er wandte sich wieder Vera zu.

»Solide?« Und er lachte laut auf. »Nein, aber meine Frau ist solche Strapazen nicht gewöhnt, sie ist keine so widerstandsfähige Natur wie meine Kollegin Reichmann.«

»Wollen wir nicht gehen?« fragte Isolde.

Erik fuhr herum. Nun gerade nicht! Vera sollte nicht denken, daß er willig allen Launen seiner Frau nachgab. Und mit auffallendem Lachen wandte er sich wieder, ohne Isolde zu beachten, Vera zu.

»Wenn es am schönsten ist, soll man doch aufhören, Kollegin, und dieser Augenblick ist jetzt gekommen!«

Spöttisch blickte Vera auf die schweigende junge Frau an der Seite des Künstlers.

»Der Augenblick war vor kurzem,« tief blickte er der Primadonna in die Augen, die graziös an der Brüstung lehnte.

»Ja, ja,« meinte die dann leichthin, »schöne Augenblicke gibt es wenig im Leben, aber wenn sie einem geboten werden, soll man sie mitnehmen, – meinen Sie nicht auch, gnädige Frau?«

»Ich meine, mein jetziges Leben ist nur ein einziger schöner Augenblick,« sagte Isolde ruhig.

Da lachte Vera laut auf. »Das kann ich verstehen, meine verehrte Frau, an der Seite eines solchen Mannes. Mir sind diese schönen Augenblicke nur auf der Bühne vor den Augen von Hunderten von Menschen beschieden; aber so unter vier Augen im traulichen Stübchen ... laut lachend schlug sie den Sänger auf die Schulter.

»Holla, schönste Kollegin, das erfordert eine fürchterliche Strafe!« scherzte er.

»Laß uns gehen!« flüsterte Isolde ihrem Gatten zu.

»Ja, ja, es ist wirklich besser, verehrte Frau, Sie bringen diesen Mann in Sicherheit, sonst passieren noch fürchterliche Dinge.« Und zu Santos gewendet, fuhr sie fort: »Also amice, es bleibt bei unserer Verabredung. Ob ich Arme wohl auch einmal die Ehre haben werde, Ihre verehrte Gattin in meinem bescheidenen Heim zu sehen?«

Isolde machte eine Bewegung, aber Erik fiel rasch ein:

»Aber selbstverständlich, meine Frau interessiert sich ja so für die Oper und wird gern kommen.«

Vera lachte laut auf. »Na, Santos, sehen Sie sich mal Ihre verehrte Gemahlin an, da wird Ihnen diese Lüge wohl in der Kehle stecken bleiben.«

Isolde errötete tief! Wie richtig hatte die Künstlerin ihre Gedanken erraten! Nein, sie dachte gar nicht daran, diese Dame jemals aufzusuchen, und sie begriff ihren Gatten überhaupt nicht, daß er so lange mit ihr reden konnte. Aber dennoch fühlte sie, sie mußte etwas sagen, zumal ihr Erik einen unwilligen Blick zuwarf. Ein Zittern überlief ihre Gestalt, und dann begann sie stockend:

»Wenn mein Mann es wünscht, dann wird es mir natürlich eine Freude sein –«

»Liebe, gnädige Frau,« unterbrach sie Vera, »nur keinen Zwang, das mag ich nicht, ich kann schon ein ehrliches Wort ertragen. Sie wollen nicht, nun gut, ich nehme Ihnen das nicht übel, Gott bewahre. Ihr Gatte ist darin allerdings anderer Ansicht. Er wird schon kommen, und Sie werden ja wohl dagegen nichts einzuwenden haben.«

Ein spöttischer Blick traf die junge Frau. Vera sah, daß jene die Lippen fest zusammenpreßte, und empfand eine große Freude. Sie hatte sich gerächt, und mit einem entzückenden Lächeln wandte sie sich an Santos:

»Daß Sie Ihre liebe Frau ja nicht zwingen, zu mir zu kommen! Sie wären schon so ein Barbar! Aber auf Sie rechne ich – bald – recht bald! Nicht wahr, Santos, Sie kommen?«

Graziös reichte sie ihm die Fingerspitzen, und Erik drückte einen langen Kuß darauf.

»Ich komme, ich komme gern, wenn Sie es wünschen.«

Isolde kämpfte mit aller Gewalt gegen die hervorbrechenden Tränen. Wie haßte sie in diesem Augenblick das Weib, das da so sicher und selbstbewußt vor ihr stand! Und sie? Die begehrte Erbin von Millionen, die umworbene Tochter des Geheimrats von Werter stand daneben, als wäre sie eine Magd. Ein heftiger Zorn quoll in ihr empor. Wie konnte Erik es wagen, sie so zu behandeln, – hatte sie ihn nicht glücklich gemacht? War er nicht von Glanz und Luxus umgeben, und wem verdankte er das alles? Ihr, einzig und allein ihr! Und nun diese Behandlung! Sie versuchte ihren Arm aus dem des Gatten zu ziehen, aber dessen erstaunter Blick ließ sie ihr Vorhaben nicht ausführen.

»Dann auf Wiedersehen, Kollege! Ich bleibe noch ein Weilchen hier. Süße Träume, meine gnädige Frau!«

Und lächelnd, eine kleine Verbeugung machend, eilte sie in den Garten zurück. Die schillernde Schleppe ringelte sich wie eine Schlange hinter ihr her, und versonnen blickte ihr Erik nach. Welch ein Weib, eine wahre Brünhildengestalt! Diese vollen Formen, dieses Ebenmaß der Glieder und dieser königliche Gang! Dazu das melodische Lachen! Noch nie war ihm Vera Reichmann so schön erschienen wie heute.

Erik starrte noch immer in die Finsternis, dorthin wo Vera verschwunden war. Ein sanfter Druck auf seinen Arm ließ ihn zusammenfahren. Isolde sah ihm zaghaft ins Gesicht.

»Wir wollten doch gehen?«

Ach ja, das hatte er ja ganz vergessen. Er hatte überhaupt die kleine zierliche Gestalt an seiner Seite vollständig vergessen. Welch ein Unterschied! Dieses in Spitzen gehüllte Figürchen, so klein, so schmächtig, daß man es schier mit einer Hand zerbrechen könnte; diese Arme, wenn auch nicht mager, so doch ohne jegliche Fülle! Und plötzlich lachte er auf. »Isolde« hatten sie dieses zierliche Wesen genannt. Die Isolde, mit der er am Aâend auf der Bühne stand, dieses starke, volle Weib, – und hier dieses zarte Pflänzchen! Da überkam ihn eine rasende Lust, Vera wiederzusehen. Aber jetzt mußte er heim, und mit aller Gewalt die Gedanken wegscheuchend wandte er sich seiner Frau zu, die geduldig wartend an seiner Seite stand.

»Komm, wir wollen uns verabschieden!« Als dann der Wagen das junge Paar nach seinem Heim führte, saß Erik stumm neben Isolde, die ihn verstohlen und ängstlich betrachtete; und als er sie ebenso stumm die Treppe hinaufgeleitete und ihr vor der Tür des Boudoirs einen flüchtigen Kuß auf die Stirn drückte, da legte sie zögernd die Arme um seinen Hals.

»Bist du mir böse, Erik?«

»Ich dir, – warum?«

»Weil – weil ich die Einladung nicht annahm.«

»Aber Kind, sie hat dir das ja nicht übel genommen, sie ist ein ganz prächtiger Kerl.«

Isolde schwieg dazu, aber ein bitteres Gefühl stieg in ihrem Innern empor.

»Du hast mir heute abend noch kein liebes Wort gesagt. Wenn ich dich erzürnt habe, so sei wieder gut.«

»Aber Kind, ich – ich – verzeih' mir doch, wenn ich unaufmerksam war.«

»Du bist mir nicht böse, Liebster?«

»Aber Isolde, was soll das, warum sollte ich dir böse sein? Also Schatz, nun schlafe wohl und ruhe dich aus,« er umarmte sie flüchtig und wollte sich entfernen.

»Du bleibst noch wach?«

»Ja, ich habe noch zu arbeiten.«

»Aber Erik, es ist gleich zwei Uhr, komme doch zur Ruhe!«

»Ich kann doch noch nicht schlafen; laß nur, ich komme bald.«

Damit eilte er in sein Zimmer, und traurig schaute ihm Isolde nach. – Lange lag sie noch wach und wartete und horchte, ob er wohl bald käme. Aber vergebens.

»Bühnenprinzessin!« murmelte sie vor sich hin; »schlecht sind sie alle. O wie schön wäre es, wenn er der Bühne entsagte und nur für mich lebte. Er würde dann diese abscheuliche Reichmann nie wiedersehen.« Zornestränen stürzten aus ihren Augen, wieder und wieder horchte sie, es wurde vier Uhr. Da preßte sie den Kopf in die Kissen, damit man ihr Schluchzen nicht hörte, dann nahm ihr ein tiefer Schlaf ihr Leid.

Ruhelos wanderte Erik indessen in seinem Zimmer auf und ab. Er fühlte es, er hatte heute unrecht an Isolde gehandelt, er nahm sich vor, von nun an zärtlich und liebevoll zu sein, war er doch seiner kleinen, reizenden Frau recht gut; aber schließlich konnte man es ihm nicht verdenken, wenn er ein anderes hübsches Weib gerne sah! Was war denn auch weiter dabei, wenn er einmal eine Vera Reichmann küßte! Schon wieder stand deren Bild vor seinem Auge, er fühlte ihre weichen Arme, und mit einem Gefühl der Wonne schloß er die Augen. Was war es doch gewesen, was sie ihm in der Grotte zugeflüstert hatte: »Weil ich dich bis auf den heutigen Tag liebe und dich besitzen möchte.« Gut, Vera Reichmann, dein Wunsch soll dir erfüllt werden; er ergriff das Bild der Künstlerin, das unter vielen anderen auf einem Tischchen stand, und küßte es. Morgen sah er sie in der Probe, und am Abend, nach der Vorstellung, – sie hatte zu tun, er war frei, dann – – –

Sein Blick fiel auf Isoldens Bild. Seine Frau! Er besaß eine Frau, die ihn mit allen Fasern ihres reinen Herzens liebte. Eine Frau, fast noch ein Kind, deren größtes Glück es war, an seiner Seite zu leben, die an ihrer Liebe zu ihm fast zugrunde gegangen wäre. Dort drinnen wartete sie auf ihn, und er – er dachte an eine andere! Mit zuckenden Fingern riß er das Bild der Reichmann in Stücke und warf es in den Kamin.

* * *

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte Erik die Treppe zu seiner Wohnung empor. In fliegender Hast warf er dem Diener den Mantel zu und eilte dann in den Salon seiner Frau. Isolde saß am Schreibtisch und fuhr zusammen, als Erik die Tür aufriß, auf sie zustürzte, sie an sich riß und wie ein Wirbelsturm mit ihr im Zimmer herumtanzte.

»Schatz, Schäfchen, rate, was ich habe?«

Er ließ seine Gattin los und stellte sich lachend vor sie hin.

»Aber Erik, was ist denn los? Du bist ja ganz närrisch!«

»Rate, Kindchen!«

»Ja, was kann das sein? Hast du den Hauptgewinn in der Lotterie gewonnen?«

»Viel mehr!«

»Mehr?«

Staunend schüttelte Isolde den Kopf. Was mag geschehen sein! Diese strahlenden Augen, das glückverklärte Antlitz, diese große Erregung.

»Haben dir meine Eltern etwas Schönes geschenkt?«

Laut lachte Erik auf: »Nein, Schatz, das können deine Eltern nicht schenken, aber hier, sieh' –« und damit zog er einen großen bedruckten Bogen aus der Tasche.

»Da lies!« und aufs neue preßte er Isolde in seine Arme. Verständnislos blickte diese auf die vier engbedruckten Seiten, und dann las sie, las und las. Ja, was sollte denn das sein? Ein Kontrakt: Erik sollte auf vier Wochen nach Amerika, weiter nichts. Der aber stand daneben und wartete auf den Freudenausbruch der Gattin. Ruhig gab ihm Isolde den Kontrakt zurück.

»Ich verstehe nicht –«

Erik schaute sie verwundert an. »Ja, hast du denn nicht gelesen?«

»Gewiß, du sollst auf vier Wochen nach Amerika. Ist das alles?«

»Kind, du bist kostbar,« und der Sänger lachte laut auf. »Freilich ist das alles, das ist aber auch ein Glück für mich, ein seltenes, kaum geahntes Glück.«

»Amerika ist aber auch nicht anders als Europa.«

»Verstell' dich doch nicht, Maus; du kannst ja selbst deine Freude und deinen Stolz kaum unterdrücken!«

»Aber Erik, wo denkst du hin? Ich freue mich gar nicht. Im Gegenteil. Du sollst in Amerika singen, das kannst du hier auch, dazu brauchen wir nicht erst eine solche weite Reise zu machen. Außerdem kann ich Wasserfahrten nicht ertragen. Nicht wahr, Schatz,« und Isolde schmiegte sich zärtlich an ihn, »Du nimmst Rücksicht auf deine kleine Frau und lehnst ab?«

Der Sänger faßte sich mit der Hand an die Stirn. Wie weggewischt war aus seinem Antlitz jeder Schein von Freude, und eine tiefe Furche senkte sich zwischen die Augenbrauen.

»Du hast wohl nicht recht gelesen?« kam es dumpf zurück, und dann zog er sie plötzlich auf seine Knie.

»Isolde, Lieb, denke doch, man ladet mich ein, ich soll zu den weltbedeutenden Wagnerfestspielen nach Amerika kommen, soll dort den Tristan, Siegfried und Tannhäuser singen. Ich – ich! – denke doch, diese Festspiele, die die Augen der ganzen Welt auf sich ziehen, und mich, mich hat man dazu auserwählt! Unter Dutzenden der größten Tenoristen holt man mich! Kind, kannst du das fassen? Mich hat man gewählt, mich mit meinen neunundzwanzig Jahren erklärt man damit für den besten aller Tenoristen!«

Mit aller Leidenschaft umschlang er das zarte Weib, und in fieberhafter Glut brannten seine Wangen.

»Noch kein Jahr bin ich hier an der Hofoper, und schon bin ich berühmt, berühmt wie kaum ein zweiter. O, ich will euch zeigen, was ich kann, ich will euch beweisen, daß ich ein Künstler bin! O, Isolde, Holde, gibt es ein größeres Glück?«

Ängstlich machte sich Isolde frei. Diesen vor Glückseligkeit bebenden Mann verstand sie nicht. Was war das denn weiter! Daß er gut sang, wußte doch die ganze Residenz, auch daß er hier der erste, der beste Sänger war. Den Tristan, den Siegfried, den Tannhäuser hatte er doch auch hier schon oft gesungen, – warum dann auf einmal diese Freude? Und nur, um in Amerika zu singen, sollte er diese weite Reise unternehmen? Sie blickte auf den Gatten, der hochaufgerichtet mitten im Zimmer stand, die strahlenden Augen in die Ferne gerichtet, als sähe er dort ein riesenhaftes Glück. Bewundernd mußte Isolde sich sagen, wie schön, wie erhaben schön dieser Mann ist! Unwillkürlich sah sie in ihm den Gralsritter, der mit verklärtem, verträumten Antlitz in strahlender siegreicher Schönheit das Geheimnis seiner Herkunft preisgab. Ratlos stand sie da, – was sollte sie sagen? Warum war ihm diese Reise solch ein Glück? Leise rief sie seinen Namen, er hörte sie gar nicht. Erst als sie ihm ihre Arme um den Hals legte, wandte er ihr sein glühendes Antlitz zu.

»Ach, Isolde, wie ist diese Welt doch schön!«

Sie hätte etwas sagen mögen, aber sie wagte es nicht, diesen Augenblick zu unterbrechen. So fremd, so weltentrückt erschien ihr der Gatte, und es war ihr, als trennte sie eine breite unüberbrückbare Kluft von ihm. Sie hätte in stummer Anbetung am liebsten ihm zu Füßen stürzen, ihn anflehen mögen: »Komm zu mir, die ich so sehnsüchtig nach dir verlange, entsage diesem Scheinleben,« aber sie konnte es nicht. Unklar fühlte sie, daß ihm die Kunst Leben und Glück bedeutete und daß diese Leidenschaft trennend zwischen ihm und ihrer Liebe stand. Eine heiße Angst erfaßte sie. Sie wollte mit Aufbietung aller Kraft kämpfen, um sich den Gatten zurückzuerobern. Aber wie? Nein, sie durfte ihn nicht ziehen lassen. An ihrer Seite sollte er empfinden, wie schön ein ruhiges Familienglück war ohne Beruf, ohne Ablenkung; er sollte nur für sie leben! Standen ihr nicht Mittel genug zur Verfügung? Je länger er der Bühne angehörte, um so inniger verwuchs er mit ihr. Zaghaft strich sie ihm über die heiße Stirn.

»Erik, mein alles!«

»Liebling!«

»Du willst wirklich nach Amerika?«

Da lachte der Sänger auf:

»Ob ich will! Aber Kleines, nicht erwarten kann ich's, bis es so weit ist. Ich zähle die Tage, die Stunden, aber nun heißt es noch lernen, lernen; ich will ihnen zeigen, was ich kann!«

»Kaum sind wir verheiratet, so müssen wir uns schon trennen!«

»Trennen? Nein, Schatz, du kommst selbstverständlich mit mir. Außerdem haben wir noch weit über sechs Monate Zeit, und dann, dann sollst du sehen, wie man deinen Gatten auch drüben in der neuen Welt feiern wird.«

Isolde verzog schmollend das Gesicht.

»Du wirst hier schon genügend gefeiert; sei nicht so unersättlich. In Amerika ist auch nicht alles so schön, wie man es denkt. Mir sind Land und Leute unsympathisch. Außerdem bin ich zu schwächlich, um eine solche Reise zu überstehen. Ich möchte darum nicht hinüber und ich wünschte, du führest auch nicht.«

Entgeistert starrte er sie an.

»Was sagst du da?«

»Es ist doch einerlei, ob du den Siegfried hier oder da drüben singst.«

»Einerlei? Ich soll nicht hinfahren?«

»Nein!«

Rauh faßte er sie an.

»Besinne dich, was du sprichst,« und dann plötzlich umschlang er sie bebend.

»Scherze nicht damit, Kind, auch im Scherz kann ich solche Worte nicht hören, hier gilt es, meine Kunst, die mir so hoch, so heilig ist wie nichts anderes, und du als meine Frau wirst so manches Mal noch dieser Kunst Opfer bringen müssen. Ich weiß, du meinst es nicht so, – nicht wahr, Kind? Du freust dich mit mir und scherzest nur?«

»Nein, ich scherze nicht!«

»Ja, aber dann verstehe ich dich nicht. Ich soll ablehnen? Ich soll drüben nicht singen?« Seine Stimme klang heiser vor Aufregung.

»Aber Erik,« meinte Isolde gelassen, »was ist denn dabei? Man bietet dir ja, wie ich sehe, ein schönes Geld, aber – ich bin doch die einzige Tochter meines Vaters, und Papa ist nicht geizig, er entschädigt dich reichlich für den Ausfall; ich will heute noch mit ihm darüber sprechen.«

»Schweige!« fuhr er sie an, und krampfhaft ballten sich seine Hände. »Ich brauche euer Geld nicht, ich bin Künstler, und als Künstler holt man mich; und ich gehe der Ehre halber, nicht des Geldes wegen. Ich werde fahren und lasse mich durch niemand zurückhalten! Willst du mich nicht begleiten – nun gut, so bleibe!«

Mit raschen Schritten näherte er sich der Tür.

»Ich wußte nicht,« setzte er grollend hinzu, »daß ich in dir eine so unvernünftige und verständnislose Frau gefunden habe.«

Zornig sprang Isolde auf. »Vielleicht findest du bei deinem Fräulein Reichmann mehr Verständnis.«

Heftig drehte sich Erik um.

»Was soll das heißen?«

Isolde zuckte die Achseln, aber schon war Erik an ihrer Seite und blickte ihr drohend in die Augen.

»Was soll das heißen?«

Ängstlich wich sie zurück. So zornig hatte sie den Gatten noch nie gesehen. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu: er fühlt sich schuldig! Dann aber empfand sie wieder eine heiße Angst, den Geliebten zu verlieren, und sie war sich auch bewußt, zu weit gegangen zu sein, hatten ihr doch die Eltern noch kurz vor ihrem seligsten Tage, dem Tage der Vermählung, gesagt, daß es nicht leicht wäre, mit Künstlern umzugehen, und leuchtenden Auges hatte sie entgegnet, daß sie ihn liebte, daß sie geduldig seine Launen und Heftigkeiten ertragen wollte. Und nun? Sie hatte ihn gereizt, sie mußte einlenken.

»Verzeih'!« stammelte sie erglühend. »Ich wollte nichts Böses sagen, aber du hast dich in der letzten Zeit so oft mit ihr unterhalten.«

»Willst du mir das vielleicht verbieten?«

»Du hast mich sogar über Fräulein Reichmann vernachlässigt.«

»Da ich bei meiner Frau kein Verständnis finde, muß ich mich an andere wenden.«

»Sei wieder gut, Erik!« flehte sie rührend. »Ich weiß ja, ich bin ein dummes Ding, aber ich bin so unglücklich, wenn du so oft mit all den Sängerinnen zusammen bist. Man sagt so manches über diese Theaterdamen.«

»Ja, – dummes Zeug!« fuhr er auf.

»Erst gestern abend – o ich habe es wohl gemerkt; die Orlanda hat sich so fest an dich geschmiegt, und du hast sie auch wirklich geküßt. Auf der Bühne brauchtest du doch nicht richtig zu küssen.«

»Sei nicht albern!« fiel ihr der Gatte ins Wort. »Es ist übrigens ein Unsinn von dir, bei meinem jedesmaligen Auftreten im Theater zu sein. Du wirst das künftig unterlassen!«

»Nein!«

»Du wirst es unterlassen, sage ich. Ich habe nicht Lust, fortwährend deine Eifersüchteleien anzuhören.«

Isolde brach in Tränen aus.

»Ich will nicht mit allen teilen, ich will dich allein haben.«

»Warum hast du dann einen Künstler geheiratet?«

»Weil ich dich liebte, Erik, Liebster, Einziger, ich habe dich ja doch so lieb, o mach' mich doch ganz glücklich, lasse das dumme Singen, geh' fort von der Bühne und lebe nur für mich.«

Schallend lachte der Künstler auf. »Bist du von Sinnen?«

»Ich bitte dich, wir haben doch genug zum Leben.«

»Ich will dein Geld nicht, – wie oft soll ich dir das wiederholen?«

»Du liebst mich nicht!«

»Reize mich nicht, Isolde! Glaubst du denn wirklich, mich könnte ein Leben locken ohne meinen Beruf? Ich bin mit Leib und Seele Sänger, alles andere gilt mir nichts.«

»Auch ich nicht?«

»Nein, auch du nicht, denn selbst wenn deine Liebe riesengroß wäre, sie könnte mir das nicht ersetzen.«

»Erik!«

»Du kennst ja das Glück nicht, groß zu sein; du kannst freilich nicht wissen, was es bedeutet, ein Künstler zu sein. In dem Augenblick, da ich meiner Kunst entsagen müßte, würfe ich das Leben als wertlos von mir.«

»Warum machtest du mich da zu deiner Frau?«

»Ja, du hast recht. Frei sein müssen wir, wenn wir ganz Künstler sein wollen. Wärst du klug, du würdest mir nicht hindernd im Wege stehen.«

»Erik – mein Gott – tue ich das?«

»Ja!«

Ein wehes Aufschluchzen, Isolde schlug fassungslos die Hände vor das Antlitz. »Und ich glaubte, dir den Weg ebnen zu können, denn Geld ist Macht.«

»Ruhm ist Macht!«

»Ruhm ist vergänglich.«

»– und Geld ein Götze, den das Herdenvieh anbetet! Mit Geld könnt ihr alles erkaufen, nur nicht Talent, Genie; und wem das ein Gott in den Schoß warf, der muß es treulich bewahren als Höchstes, Heiligstes.«

Der eintretende Diener unterbrach das Gespräch.

»Verzeihung, ich hatte bereits zweimal geklopft.«

»Was gibt's?«

Der Bediente reichte Erik auf silbernem Tablett eine Karte.

»Graf Ohrdruff-Illinghausen. Das ist wohl Besuch für dich?« und der Sänger reichte seiner Frau die Karte.

»Wünschest du, daß ich ihn empfange?«

»Das liegt doch an dir.«

»Ich meinte nur, daß es dir vielleicht nicht recht ist.«

»Aber liebes Kind, das ist doch deine Angelegenheit. Mich entschuldige, ich habe noch zu studieren.«

»Du machst dich so selten, Erik. – Führen Sie den Herrn hinüber ins gelbe Zimmer!«

Der Diener verschwand lautlos.

»Komm doch mit hinüber, Ohrdruff ist gar zu drollig.«

»Ich mag ihn nicht, er ist langweilig. Aber unterhalte dich nur solange du willst mit ihm; ich muß dich jetzt ohnehin allein lassen.«

»Aber du bist mir nicht böse, wenn ich ihn allein empfange?«

Ein ungeduldiger Seufzer kam über Eriks Lippen.

»Mein Gott, empfange doch, wen du willst, es ist mir vollständig einerlei.«

»Und du bist nicht eifersüchtig?«

»Ich eifersüchtig? Etwa auf den da drüben?«

Er lachte verächtlich, Isolde aber erhob sich gekränkt.

»Er verehrt mich aber sehr und würde mich nie vernachlässigen.«

»Nun gut, dann lade ihn dir öfters ein, er soll kommen, so oft es ihm gefällt.«

»Er hat wenigstens immer Zeit für mich.«

»Nun gut, dann lasse ihn wenigstens jetzt nicht gar zu lange warten,« und ohne sich noch weiter nach Isolde umzusehen, verließ er das Zimmer.

Die junge Frau stampfte mit dem Fuße auf.

»Jeder andere ist glücklich, bei mir zu sein, und er, er läuft jeden Tag mit so einer Theaterprinzessin herum. Aber ich werde es doch noch fertig bringen, – er muß der Bühne entsagen.«

Und dann zupfte sie sich noch schnell vor dem Spiegel die Haare zurecht und schritt hinüber nach dem gelben Zimmer, um den Grafen zu empfangen.

* * *

»Gottlob, endlich sind sie alle fort!« Mit diesen Worten kam Geheimrat von Werter ins Zimmer zurück, wo sich seine Frau, seine Tochter und Erik befanden.

»Na, Kinder, dann wollen wir euch auch zur Ruhe kommen lassen. Es ist,« und der Geheimrat zog seine Uhr, »wirklich schon vier Uhr vorüber. Das war ja ein glänzend gelungenes Fest.«

»Liebes Väterchen,« und Isolde hing sich zärtlich an ihn, »ich danke dir von Herzen, du hast für alles so reichlich gesorgt, ohne deine Hilfe hätten wir es kaum so schön machen können.«

»Die Hauptsache ist ja doch, Elfchen, daß es euren Gästen gefallen hat, und das hat es, das hab' ich aus aller Munde gehört und ich glaube, man wird noch lange von eurem ersten Ball reden.«

»Meinst du wirklich, Väterchen?«

Der Geheimrat lächelte. »Natürlich, Kindchen, das war ja heute beinah' überirdische Pracht.«

»Ja, und all diese auserlesenen Delikatessen, den Tafelschmuck aus Orchideen, die Illumination, alles das hast du uns gestiftet, du guter, lieber Papa!«

»Nun, man soll doch nicht sagen, daß eure erste offizielle Gesellschaft pauvre war. Für einen solchen berühmten Schwiegersohn,« lachend klopfte der Geheimrat dem Sänger auf die Schulter, »ist mir nichts zu viel.«

»Ja, Papa, Sie haben wirklich nicht gespart, selbst ich war geblendet.«

»Und Ihre Frau, Erik, die hat man nicht schlecht hofiert. Ich war stolz auf dich, mein Mädel, hast tadellos die Honneurs gemacht.«

»Es war jedenfalls ein sehr wohlgelungenes Fest,« mischte sich jetzt auch Frau von Werter ein. »Es freut mich, daß jeder so wacker ausgehalten hat, – das ist immer ein gutes Zeichen.«

»Sogar Se. Königliche Hoheit sind erst gegen drei Uhr abgefahren,« bemerkte Isolde stolz.

»Ja, ihr seid gegenwärtig stark Mode, ihr habt wohl nicht eine Absage bekommen?«

»Nein, im Gegenteil, man legte es mir sogar nahe, noch einige hochangestellte Persönlichkeiten zu laden.«

»Und wie herrlich haben Sie wieder gesungen, Erik!«

»Na, Mamachen, Sie schmeicheln.«

»O nein, Sie sahen ja selbst die Wirkung. Ja, ja, Sie sind ein gottbegnadeter Künstler.«

Erik quittierte für dieses Lob mit einem Handkuß.

»Nun aber, Kinder,« unterbrach der Geheimrat, »unser Auto wartet, wir sind alte Leute und gehören ins Bett. Ruht' ihr euch nur auch auf euren Lorbeeren aus!«

»Ich bin aber noch gar nicht müde, Väterchen.«

»Ja, Goldkind, du bist ja auch noch so jung, aber wir –«

»O Väterchen, wie kannst du so etwas sagen? Du bist der schönste aller Männer.«

»Na, na, das laß mal deinen Mann hören!«

»Hab' ich nicht recht, Erik?«

»Ja, Schatz, und der beste auch.«

»Nun mache ich aber, daß ich fortkomme; das ist zu viel Lob. Aber nun fahren wir wirklich. Wir kommen in den nächsten Tagen mal wieder und dann erzählt ihr uns von eurer Reise. Es hat euch ja so sehr gefallen?«

»Es war überwältigend schön. Erst die gewaltige See, dann Norwegens steinerne Pracht,« versetzte Erik.

»So, so, ich wußte ja gar nicht, daß Sie ein so begeisterter Naturschwärmer sind.«

»Ich habe die Welt bis heute nicht gekannt. Ich hatte noch keine Gelegenheit, all diese Herrlichkeiten zu sehen, für mich hieß es bis jetzt lernen und abermals lernen und – sparen. Und nun, da mir Fortuna hold ist, nun hab' ich zum erstenmal all die Pracht geschaut, die ich nur von Bildern her kannte, und es hat mich überwältigt.«

»Darum kamt ihr auch gar nicht heim.«

»Die dumme Oper war wieder daran schuld. Sonst wären wir auch jetzt noch nicht gekommen, aber Erik muß zurück. Nun ist die schöne Zeit wieder vorüber, und ich bin wieder ganze Tage lang allein, während wir uns in Ostende und Norwegen den ganzen langen Tag hatten. O, das war schön!«

»Aber liebes Kind,« meinte Frau von Werter, »der Beruf geht doch nun einmal vor.«

»Ja, Mama, davon will meine Frau nichts wissen. Gewiß war es schön, die Ferien zu genießen als freier Mann, an der Seite meiner Frau, aber es ist doch mindestens ebenso schön, jetzt neu gestärkt und gekräftigt wieder arbeiten zu können.«

»Kannst du dir nicht bald wieder Urlaub nehmen?«

»Nein, Schatz, jetzt heißt es sogar scharf arbeiten.«

»Aber Kinder, jetzt macht, daß ihr schlafen kommt, wir gehen jetzt. Also, gute Nacht!«

Noch einmal ging es an das Abschiednehmen, und die glückstrahlende Isolde brachte die Eltern hinunter an den Wagen.

»Habt tausend Dank, ihr Guten!«

Mit einem Gefühl frohen Stolzes schritt Erik nochmals durch die hell erleuchteten Räume. Welch eine Pracht, welch blendende Helle! Halb verwelkt und zertreten lagen die prächtigen Orchideen umher, die der Tafel ein so vornehmes und prächtiges Gepräge verliehen hatten. Schon diese Blumen allein hatten Tausende gekostet, dazu das schwere Silber, die teuersten Delikatessen. Da zu Anfang des Herbstes das Wetter noch warm und klar war, hatte man im Garten, der durch Tausende von Lämpchen erhellt war, einen zweiten Tanzplatz aufgeschlagen, und hier hatte die Jugend bei den herrlichen Klängen einer guten Kapelle die Nacht durch getanzt und gelacht; ein entzückendes Feuerwerk hatte dann eine willkommene Erholungspause gebracht.

Der Gastgeber hatte sich herbeigelassen, den Gästen zwei Lieder zu singen, ein Genuß, der begeistertes Entzücken ausgelöst. Dazwischen, unter all den Gästen hatte Isolde mit unnachahmlicher Grazie und Sicherheit ihres Amtes gewaltet, und so manches uneingeschränkte Lob hatte der Künstler aufgefangen, das seiner jungen Frau gegolten. Die zarte Gattin des Künstlers hatte heute gar so hold ausgesehen; daran war nicht nur die kostbare Toilette schuld gewesen, nein, Isolde hatte geradezu vor Glück gestrahlt, war sie doch jetzt acht Wochen lang an der Seite ihres Gatten auf Reisen gewesen und hatte den Gatten jede Stunde um sich gehabt. Auch auf Erik war diese köstliche Zeit nicht ohne Eindruck geblieben. Die übergroßen Summen, die ihm jetzt immer zu Gebote standen, der ungewohnte Luxus, das Erfüllen jeglichen Wunsches blendeten ihn förmlich, und erst jetzt kam es ihm immer deutlicher zum Bewußtsein, daß Reichtum ein unschätzbares Gut sei. Und so kam es, daß er zärtlicher denn je zu seiner Gattin war, wußte er doch, daß er ihr indirekt all diese vielen Annehmlichkeiten verdankte. Isoldens Eltern versagten ihnen nie einen Wunsch. Der Geheimrat selbst war es auch, der, als man bald nach der Rückkehr des Paares von der Sommerreise eine Gesellschaft bei Santos plante, dem heutigen Fest den kostbaren Stempel aufgedrückt hatte. Unter Isoldens Händen, die immer noch hoffte, den Gatten der Bühne entfremden zu können, zerflossen die goldenen Berge, und nicht ohne Absicht. Sie hatte längst bemerkt, daß Erik dem Luxus und Wohlleben zugetan war, und sie scheute kein Opfer; galt es doch, sich den Gatten ganz zu gewinnen, und das konnte sie nur durch ihr Vermögen erreichen.

So hatte sie auch zum heutigen Tage eine unbeschreiblich kostbare Toilette gewählt. Eine breite Bordüre aus kostbaren Steinen bildete den Saum des weichen, hellen Seidenkleides und wie verstreute Tautropfen glitzerten Brillanten hin und wieder an dem Chiffonüberwurf. Einer Märchenfee erschien sie ähnlicher denn einem Wesen aus Fleisch und Blut, und immer und immer wieder glitt Eriks Blick durch die Tür wie gebannt zu seiner Frau, die durch die Räume zu schweben schien. Die blitzenden Steine in ihrem hellblonden schönen Haar leuchteten einer Krone gleich, und Isolde schien es beinahe zu verstehen, Kronen zu tragen, denn das Köpfchen war stolz erhoben. Ein glückliches Lächeln hatte während des Abends auf ihren lieblichen, kindlichen Zügen gelegen, und Erik hatte manchmal das Verlangen empfunden, die holde Blume an sich zu drücken.

Nun ging er hinüber in ihr kleines Boudoir und wartete. Er wollte noch eine Weile mit ihr plaudern, die so kindlich zu lachen verstand. In voller Toilette, nur einen leichten Schleier über das Haar geworfen, trat sie ein.

»Meine Mondscheinfee!« Und Erik zog sie auf seine Knie.

»Sie sind fort, ich soll dich nochmals grüßen.«

»Wie schön du bist, wie ein Märchen so schön.«

»Dummer Mann, fandest auch du das heutige Fest so schön?«

»Ja, und dich am schönsten.«

»Brr, das hat mir Graf Ohrdruff auch gesagt.«

»Ach der,« und Erik zog langsam Nadel für Nadel aus dem lose aufgesteckten Haar seiner Gattin.

»Du Nichtsnutz, laß doch das sein!«

Er hielt sie fest, als sie aufstehen wollte und lächelnd ließ sie es geschehen, daß er ihr das Haar löste, das in leichten Wellen über ihre Schulter fiel und ihr süßes Kinderantlitz lieblich umrahmte.

»Mein Elfchen!« In zitternder Erregung drückte er seinen Kopf in ihre Locken.

»Hast du mich lieb, Erik?«

»Zweifelst du noch, mein Kleines?«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn.

»Ich dich auch,« und er flüsterte ihr süße Liebesworte ins Ohr, die ihr wie Musik klangen.

»Hast du mich wirklich lieb?«

»Meine süße Mondscheinfee!«

»Ich hab' eine Bitte an dich, – erfüllst du sie mir?«

»Freilich, alles, was du willst, aber auch ich habe eine Bitte an dich.«

»Und die ist?«

Er biß sie lachend ins Ohr und flüsterte ihr etwas zu.

Verwirrt wandte sie sich ab.

»Aber Erik!«

»Gewährt?«

Sie senkte den Kopf noch tiefer. »Erst meine Bitte, dann – ja.«

»Nun sag' schnell!«

Sie schmiegte sich enger an ihn. »Geh' im Januar nicht nach Amerika, Erik!« Und als sie sah, daß er finster die Stirn faltete, setzte sie hinzu: »Bitte, bitte, dein Mondscheinchen bittet dich so herzlich.«

»Aber Kind, zerstöre uns doch nicht den schönen Abend, komm und sei meine liebe Frau.«

»Du hast es mir versprochen.«

»Nein.«

»Aber doch, Erik!«

»Elfchen, laß das; ich habe zugesagt, es geht nicht mehr anders.«

»Doch, durch Geld kannst du dich losmachen.«

»Nein, und ich will auch nicht.«

Sie wand sich aus seinen Armen und setzte sich schmollend in einen Sessel. Eine Weile war es still im Zimmer, dann erhob sich der Sänger ungeduldig.

»Du bist ein törichtes Kind.«

»Und du ein eigensinniger Mann.«

»So nimm doch Vernunft an!« Und Erik trat wieder zu ihr und strich ihr sanft über das Haar. »Du mußt doch endlich einsehen, daß ich in allererster Linie Sänger und Künstler bin.«

»Du sollst aber in allererster Linie mein Mann sein.«

»Aber Schatz, nun mache nicht länger so ein böses Gesicht, komm und sei vernünftig!«

Isolde wandte sich schroff ab. »Nicht den kleinsten Gefallen erweisest du mir!«

»Und das nennst du einen kleinen Gefallen?« Er strich sich nervös über die Stirn und zwang sich gewaltsam zur Ruhe.

»Streiten wir heute nicht weiter darüber, der Tag war so herrlich, warum soll der Schluß unerquicklich sein. Komm, mein Kind, denke, wir hatten uns jetzt doch wochenlang, nichts hat uns getrennt. Komm hinüber, es ist spät.«

Sie antwortete nicht. Finster zog Erik die Stirn zusammen.

»Nun?«

»Laß mich!«

»Was soll der Trotz! Ich fahre nach Amerika, das steht fest. Ich habe es dir freigestellt, mitzukommen; du willst nicht, gut, so fahre ich allein.«

»Vielleicht nimmst du dir statt meiner die Reichmann mit.«

»Isolde!«

»Nun ja, du schätztest sie ja so hoch, diese – Theaterprinzessin!«

»Isolde!«

»Du dürftest mit einer solchen Person überhaupt nicht reden, wenn du etwas Stolz besäßest.«

»Schweig'!«

»Also ist sie dir doch wohl lieb und wert?« höhnte die junge Frau. »Kaum waren wir von der Reise zurück, so warst du auch schon wieder bei ihr.«

»Schreibe ich dir vor, mit wem du zu verkehren hast? Fräulein Reichmann ist meine Kollegin und als solche schätze ich sie.«

Isolde erhob sich. »Ich bin mir zu gut, um mich über solch eine Person zu unterhalten.«

Mit einem Wutschrei war Erik aufgesprungen und vor sie hingetreten.

»Was sagst du da! Als Künstlerin steht sie bergehoch über dir, über euch allen mit euren beschränkten Ansichten. Ich dulde es nicht, daß man sie in meiner Gegenwart schmäht ...

»Weil du sie liebst!«

»Schweige endlich mit deinen unsinnigen Verdächtigungen!«

»Pah! Verdächtigungen? Meinst du denn, ich hätte keine Augen im Kopf, ich hätte nicht längst gemerkt, daß sie dich in ihre Netze zu ziehen versucht?«

»Ich weiß allein, was ich zu tun habe.«

Um Isoldens Lippen zuckte Hohn. »Ich glaube, das weißt du nicht immer, du hast schon einmal deine Braut verlassen, vielleicht machst du es über kurz oder lang mit deiner Frau ebenso, um einer Theaterprinzessin nachzulaufen.«

Eine marmorne Blässe verbreitete sich über das Antlitz des Sängers, seine Hände suchten nach einer Stütze, und unter seinen fest zusammengeschlossenen Händen ächzte die Lehne des Stuhles. Ein qualvoller dumpfer Ton. Es war ihm, als drehe sich das Zimmer mit ihm, er wollte auf Isolde zustürzen, aber die Füße versagten ihm den Dienst. Die junge Frau starrte auf den Gatten in namenlosem Entsetzen. Was hatte sie eigentlich gesagt? Was war es denn so Fürchterliches gewesen? Sie sah, daß Erik sich nur mühsam aufrecht hielt, und da brach sie in leidenschaftliche Tränen aus.

»Erik, was ist dir? Um Gottes willen, so sprich doch!« Sie wagte nicht, sich ihm zu nähern, und doch hätte sie am liebsten ihm zu Füßen sinken mögen. Flehend streckte sie ihm die Hände entgegen. »Erik, Liebster, so rede doch!«

»Elende!«

Ein heiserer Hauch nur, aber Isolde hatte das fürchterliche Wort doch vernommen.

»Vergib mir, Erik, ich wußte nicht, was ich sagte, vergib, o vergib,« stammelte sie unter Tränen; sie stürzte auf ihn zu und umklammerte seinen Hals.

Mit einem Wutschrei stieß er sie von sich.

»Vergeben, dir? Dir?« Höhnisch lachte er auf. »Du wagst es, andere zu schmähen, du? So höre!« Mit teuflischem Lächeln trat er dicht an Isoldes Seite und rief, jedes Wort schwer betonend:

»Ich freue mich auf die Zeit, da ich einmal wieder frei und mein eigener Herr sein werde, ich freue mich auf Amerika, weil – auch – Vera Reichmann zu den Festspielen geladen ist!«

Er sah, wie sie zusammenzuckte, sah, wie sie die Hände vor das Gesicht schlug, dann verließ er mit schnellen Schritten in heftigster Erregung das Zimmer. Er wußte, er hatte sie damit getroffen, furchtbar getroffen, aber ein süßes Gefühl der Befriedigung hatte in seinem Herzen Platz gefunden. Auch sie hatte an eine noch nicht geschlossene, ängstlich verheimlichte Wunde gerührt und hatte alles mit roher Hand ans Licht gezerrt. Deutlich stand nun Ernas Bild vor seinen Augen.

»Du hast schon einmal deine Braut verlassen,« so hatte sie gesprochen, und nur allzu wahr. Er hatte die Jugendfreundin, die so fest auf ihn gebaut, ihm so über alle Maßen vertraut, verlassen, ein brennendes Gefühl der Scham überkam ihn. »Einen goldenen Götzen habe ich dafür eingetauscht und dein treues, reiches Herz mit Füßen getreten.«

Er eilte hinüber in sein Zimmer, verriegelte die Tür und warf sich auf den Diwan. Aber obwohl er sich zur Ruhe zwang, die anklagende Stimme wollte nicht schweigen. Das einzige Wort seiner Frau hatte die Vergangenheit wieder hervorgezaubert, hatte ihm die Ruhe und den Frieden geraubt, eine Kluft aufgerissen, die nie zu überbrücken war.

Während dieser Zeit lag Isolde in ihrem Boudoir auf den Knien und schluchzte herzbrechend.

»Er liebt mich nicht mehr!«

Unbeachtet schleifte die kostbare Toilette am Boden. Er war von ihr im Zorn gegangen, sie hatte ihn gereizt, erzürnt. Sie wollte gutmachen. Von Herzen wollte sie ihn um Verzeihung bitten, er würde gewiß nicht widerstehen können. Schnell entschlossen trocknete sie ihre Tränen und eilte hinüber. Leise, bittend rief sie seinen Namen vor der verschlossenen Tür und flehte um Einlaß. Wohl hörte Erik ihre süßen Worte, aber er schüttelte sich wie im Ekel.

»Ich würde sie erwürgen, wenn sie jetzt käme,« preßte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Besser, sie bleibt draußen.«

Und immer weiter flehte Isolde, aber die Tür blieb verschlossen. Da schlich sie gebrochen davon. Morgen – morgen wollte sie reumütig seine Vergebung erflehen, und dann sollte nie, nie wieder ein Streit ihr junges Eheglück trüben.

* * *

Isolde hatte sich ein zartes, duftiges Negligé übergeworfen. Sie wollte heute schön sein, galt es doch, den erzürnten Gatten zu besänftigen und zu versöhnen. Die wenigen Nachtstunden hatte er drüben in seinem Zimmer verbracht, und seufzend beendete die junge Frau ihre Toilette. Sie wußte, daß Erik gegen halb zehn das Haus verließ, das Frühstück war auf halb neun Uhr bestellt, und sie hoffte, daß beim Morgenkaffee die Versöhnung stattfinden würde. Dann aber wollte sie sich für die Zukunft zusammennehmen, damit dergleichen nicht mehr vorkäme.

Vergeblich wartete sie. Auf ihre Frage wurde ihr der Bescheid, daß der Gatte schon vor einer Stunde gefrühstückt und die Villa verlassen hätte. Nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück, und nun wählte sie für das Mittagsmahl die Lieblingsspeise des Gatten aus. Trübe schlichen die Vormittagsstunden hin. Sie blieb daheim und ließ sich bei den Besuchen verleugnen. Dann wartete sie mit fieberhafter Spannung auf Erik. Aber die gewohnte Zeit war längst vorüber. Immer weiter und weiter rückte der Zeiger, schon zweimal hatte die Köchin fragen lassen, ob man nicht auftragen dürfe. Und als wieder eine Stunde verstrichen, da wußte Isolde, daß sie nicht länger zu warten brauche. Allein, eine unendliche Bangigkeit im Herzen, setzte sie sich nieder, aber nichts wollte ihr munden.

Wo er wohl weilen mochte? Ob er bei der Reichmann war? Ob er an seine harrende Frau dachte? Ob er ahnte, daß sie sich die größten Selbstvorwürfe machte? Fast unberührt wurde alles wieder in die Küche getragen. Ruhelos schritt sie durch die Räume, stand wartend im Zimmer des Gatten und schaute auf die Straße.

Nichts zu sehen. Seufzend setzte sie sich an seinen Schreibtisch nieder. Und plötzlich lächelte sie. Briefe, weiße, rosa, blaue, lagen in großen Massen auf dem Tisch, unordentlich hingeworfen, dazwischen Noten, Federn, Bleistifte, Bücher, Kataloge – ein wahres Tohuwabohu. »Künstlerordnung«. So sah es aber immer hier aus, und nur mit Mühe hatte Isolde es durchgesetzt, daß er wenigstens hin und wieder die überflüssigen Papiere ins Feuer warf. Wie oft schon war es vorgekommen, daß er Bücher oder Noten nicht gefunden, in nervöser Hast alles durcheinander geworfen hatte, weil eben in seinem Arbeitszimmer alles bunt durcheinander lag. Isolde versuchte ein wenig Ordnung zu schaffen; sie legte die Bücher zusammen, sortierte die Notenblätter aus und trennte geöffnete von den geschlossenen Briefen. Ärgerlich warf sie mehrere in den Papierkorb.

»Solch eine Dreistigkeit; immer wieder und wieder bitten sie um Unterschriften!«

Voller Zorn zerriß sie Schreiben auf Schreiben, nahm die Photographien des Gatten aus den Umschlägen in der Absicht, den Bittenden solche wortlos, ohne Unterschrift zurückzusenden. Sie sollten ihren Erik nicht fortwährend belästigen, sie sollten sich nicht aufdrängen, – sie wollte es nicht, Erik gehörte ihr und keiner anderen.

Immer eifriger war sie bei der Arbeit. Ein dicker Brief fesselte ihre Aufmerksamkeit. Eine steile, schöne Frauenhandschrift. Isolde drehte das Schreiben nach allen Seiten, und ein unbehagliches Gefühl überkam sie. »Was mag wohl da drinnen stehen? Wer mag es sein?« Das Briefpapier strömte einen zarten Fliederduft aus, und mit einem Male wußte sie, wer den Brief geschrieben hat. Das war Vera Reichmanns Parfüm! Und mit bebenden Händen schleuderte sie das Schreiben von sich.

Wie gebannt hingen ihre Augen an dem Brief. Was hatte diese Person ihrem Gatten zu schreiben? Er sah sie doch fast jeden Tag, und wer wußte, wie lange sie schon mit ihm korrespondierte! Wieder nahm sie das Schreiben zur Hand. Es waren wenigstens sechzehn Seiten. Es war nicht möglich, den Brief unbemerkt zu öffnen, er war fest verklebt. O, Schlimmes mußte es sein, was dieser Brief enthielt, sonst wäre er nicht mit so auffallender Sorgfalt verschlossen worden. Der Brief brannte ihr in den Händen, ihre Finger zuckten. Nein, öffnen durfte sie ihn nicht! Wie wäre es, wenn sie sagte, aus Versehen wäre das Schreiben in ihre Hände gelangt? Nein, Erik würde dann nur noch mehr zürnen. Seufzend legte sie das Kuvert aus der Hand. Wollte man sie vielleicht betrügen? War Erik nicht außer sich gewesen, als sie verächtlich von dieser Theaterprinzessin gesprochen? Gewiß, er liebte jene und vernachlässigte deshalb seine Frau.

Brennende Tränen rannen ihr über die Wangen, und ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit kam über sie.

Die junge Frau ballte die Fäuste.

»Ich werde mich rächen.« Wie, wenn sie zu dem Intendanten ginge – sie kannte ihn flüchtig – und Vera Reichmanns Entlassung forderte? Aber das ging wohl nicht an. Oder wenn sie der Sängerin Hunderttausend, ja vielleicht das Doppelte bieten würde, damit sie die Residenz verließe? Aber sie fürchtete sich vor dem spöttischen Lächeln der Künstlerin. Also ging das auch nicht. Oder wenn sie an Vera Reichmann schriebe, daß ihr Gatte sich abfällig über sie geäußert habe, daß ihm andere lieber seien, – das würde sie sicher kränken, sie würde dann von Erik lassen, und sie hätte den Gatten wieder. Ja, das wollte sie tun!

Schnell entschlossen griff sie zur Feder. Briefpapier fand sie wohl dort in der Schublade; sie zog diese auf. Aber das waren keine leeren Bogen, nein, da lagen Dutzende von Briefen in Paketen, sorgsam geordnet. Mit einem Schrei griff Isolde danach. Mit zitternden Händen löste sie das Band. Wahrhaftig, Liebesworte, innige Liebesworte fanden ihre Augen. War es wirklich schon so weit gekommen? Betrogen nach kaum halbjähriger Ehe! Sie mußte Klarheit haben. Brief auf Brief wollte sie lesen, wissen mußte sie, wie weit man hinter ihrem Rücken gegangen war. Aber nicht hier, wo man sie so leicht ertappen konnte – in ihrem Zimmer, hinter verschlossenen Türen, da wollte sie ihr ganzes Unglück kennenlernen, da wollte sie sich Gewißheit verschaffen.

Eines der Päckchen nahm sie an sich, dann schob sie die Schublade wieder zu. Wie unvorsichtig, dergleichen Zeugen der Schuld nicht besser aufzubewahren! Schublade auf Schublade öffnete sie, – nichts Verdächtiges! Aber hier – drei Kästchen waren verschlossen. Was mochten diese enthalten? Für heute hatte sie genug. Die Briefe in ihrer Hand brannten wie Feuer. In fieberhafter Aufregung eilte sie in ihr Zimmer, verschloß die Tür und widmete sich der Lektüre.

Doch das war nicht Vera Reichmann, das war ja eine andere! Das waren auch nicht wilde Ausbrüche einer ungezügelten, verzehrenden Leidenschaft, das waren so warme, gute, inhaltsreiche Worte, so gütige Lehren. Aus diesen Zeilen sprach ein felsenfestes Vertrauen, sprach so frohe Hoffnung auf die kommenden Zeiten, und nun wußte Isolde auf einmal, wer die Schreiberin dieser Briefe war. Kurz vor ihrer Vermählung hatte ihr die Mutter erzählt, daß Erik um ihretwillen ein gutes, braves Mädchen, die Jugendgespielin, verlassen habe. Sie aber hatte nicht lange darüber nachgedacht; sie hatte sich den Geliebten errungen; die andere, die würde sich schon zu trösten wissen. Sie selbst hatte den Eltern vorgeschlagen, der jungen Dame einige tausend Mark zu schicken, sie würde damit schon einen anderen Mann bekommen. Mit keinem Gedanken hatte Isolde mehr an diese andere gedacht; nur gestern in ihrer Aufregung war ihr jene Anspielung entschlüpft, und heute fand sie gar die Briefe. Merkwürdig oder ob Erik jene andere vielleicht noch immer liebte? Ob er mit ihr noch in Verbindung stand? Er blieb oft so lange fort, vielleicht besuchte er die Verlassene. Sicherlich hatte er heute nacht in diesen Briefen gelesen und dann vergessen, das Fach zu verschließen. Also doppelt betrogen! Wie gut verstand es diese »Erna«, schöne Worte zu machen, wie begeisterte sie sich an seiner Kunst, wie zärtlich redete sie ihm Mut zu! Und wahrhaftig, sie schickte ihm sogar Geld, diese Schlange, um ihn noch fester an sich zu fesseln; so eine raffinierte Person! Und mit brennenden Wangen las sie weiter und weiter, ein heftiger Widerwille gegen diese »Kokotte« wuchs in ihr groß, gegen dieses Bürofräulein, das es wagte, die Augen zu dem Künstler zu erheben.

Schweratmend band sie die Briefe wieder zusammen. Wahrscheinlich lagen da drüben noch mehr, vielleicht waren auch noch einige darunter, die er nach seiner Vermählung von ihr erhalten hatte. Jene Erna war viel zu schlau, sie würde gewiß den berühmten Mann nicht aus den Fingern lassen. Sicherlich stellte sie Forderung über Forderung an ihn und verlangte ihre wenigen Groschen jetzt mit Zins und Zinseszins zurück. Dabei lebte sie wohl gar nun in Saus und Braus, und Erik mußte das alles bezahlen!

Erik war noch immer nicht zurück. Die Briefe lagen längst wieder am alten Platz und Isolde wartete mit dem Abendessen.

Nichts. Auch den Abend verbrachte die junge Frau einsam, obwohl Santos heute nichts zu tun hatte. Aber die Reichmann sang! Entweder war er jetzt bei ihr in der Garderobe oder er hielt sich bei jener Erna auf.

Der Morgen graute. Da hörte Isolde ihn heimkehren. Aber er zog sich in sein Zimmer zurück, um dort den Rest der Nacht zu verbringen. Nein, jetzt wollte sie auch nicht hinüber zu ihm, erst morgen, – dann mußte alles gut werden, koste es, was es wolle.

Hoffnungsvoller denn je begann sie den Tag. Erik hatte zwar den Morgenkaffee wieder allein eingenommen, blieb aber daheim und übte. Hochklopfenden Herzens stand Isolde an der Tür des Musikzimmers und lauschte dem ewigen Einerlei: Tonleitern, Kadenzen, Solfeggien, Dreiklänge; und dennoch, heute klang ihr alles wie himmlische Musik. Wenn sie jetzt die Tür öffnete, dann flog sie an seinen Hals, und alles war wieder gut.

Dennoch zitterte sie. Da wurde drinnen ein Stuhl gerückt. Noch einmal preßte sie die Hände aufs Herz, atmete hoch auf und drückte die Klinke nieder. Erik hörte sie nicht, weil er auf dem Flügel das Vorspiel zu einer Arie übte. Da eilte Isolde zu ihm und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Sei gut, sei wieder gut!« stammelte sie.

Er war nervös zusammengefahren und hatte das Spiel unterbrochen.

»Hab' mich doch wieder lieb, Erik!« klang es an sein Ohr.

»Stör' mich doch nicht immer!« fuhr er sie hart an.

»Du sollst wieder gut zu mir sein, ich bitte dich!«

Zornig sprang der Künstler auf.

»Du siehst, ich bin beim Studium, lasse mich endlich allein!«

»Nein, erst sei wieder gut mit mir!«

»Ja doch!« stieß er undeutlich hervor, »aber nun geh' endlich!«

»Nicht so, Erik!«

»Mein Gott, was soll ich denn noch? Da!« und flüchtig küßte er sie auf die Stirn. »Aber nun geh'.«

»Laß mich doch bei dir bleiben!«

»Nein, du müßtest es doch längst wissen, daß ich das nicht liebe. Außerdem dürfte es dich langweilen.«

»Sei doch nicht so häßlich zu mir, hast du mich denn gar nicht mehr lieb?«

Unruhig wanderte er im Zimmer auf und ab.

»Mein Gott, ich habe doch zu arbeiten.«

»Kommst du wenigstens zu Tisch?«

Er zog die Stirn in Falten. »Ich habe noch immer keine Lust, an einem Tisch mit dir zu sitzen.«

»Aber Erik –« stammelte Isolde erschreckt.

»Vielleicht habe ich es bis morgen überwunden, für heute aber laß mich noch allein!«

Aus Isoldens Augen stürzten Tränen.

»Mein Gott, heulst du schon wieder!« Erik lief zur Tür und verschwand in seinem Zimmer.

Isolde hörte, daß er von innen den Schlüssel umdrehte, – sie war wieder allein! Er hatte sie zurückgestoßen, und sie war doch mit so übervollem Herzen gekommen und hatte seine Verzeihung erbitten wollen.

Tränenüberströmt warf sie sich auf den Diwan, und so fand sie der Geheimrat, der sein Kind aufsuchte und bestürzt nach der Ursache ihres Kummers fragte.

Der Wahrheit getreu, ohne ihre Worte zu beschönigen, erzählte Isolde den nächtlichen Zwist. Bedrückt durch den Kummer seiner Tochter machte Werter ihr keine weiteren Vorwürfe.

»Er ist eben ein Künstler, und Künstler sind nicht leicht zu behandeln, sie leben in einer anderen Welt; du mußt Rücksicht auf ihn nehmen, mein Kind. Er hat ein leidenschaftliches Temperament, dem mußt du Rechnung tragen. Ich will sehen, was sich tun läßt.«

Isolde schüttelte hoffnungslos das Köpfchen.

»Es wird alles schon wieder gut werden, mein Liebling,« fuhr der Geheimrat fort. »Sturm bringt jede Ehe mit sich, nachher scheint die Sonne um so heller. Ich werde deinen Mann jetzt aufsuchen, und dann könnt ihr Versöhnung feiern.«

»Er hat sich jetzt eingeschlossen.«

»O, er wird mir schon öffnen,« und beruhigend strich Herr von Werter seiner Tochter über das Haar. »Paß' auf, in fünf Minuten bringe ich dir den Bösewicht!«

Erik öffnete sofort, als er die Stimme des Schwiegervaters hörte. Erstaunt blickte der Geheimrat in das finstere Antlitz des Künstlers.

»Sie können sich wohl denken, was mich zu Ihnen führt, mein Sohn, Machen Sie es mir nicht gar zu schwer, für meine Tochter zu bitten. Isolde bereut ihre Worte längst, sie waren in der Aufregung gesprochen, sie leidet sehr. Ich möchte sie so gerne wieder fröhlich sehen.«

Finster blickte Erik vor sich nieder. »Sie hat mich schwer beleidigt.«

»Lieber Erik, sie ist ein verzärteltes Kind. Ihre Heftigkeit hatte sie gereizt.«

»Isolde hat keinen Grund, sich über mich zu beklagen; ihre Eifersucht ist lächerlich, sie verbittert sich zwecklos das Leben.«

Lachend legte der Geheimrat ihm die Hand auf den Arm.

»Ja, ja, mein lieber Sohn, darin sind sich die Frauen alle gleich, Böses trauen sie uns immer zu; aber Isolde bereut wirklich von ganzem Herzen und will so gerne wieder ihren gestrengen Gatten versöhnen. Na, nun kommen Sie hinüber zu ihr!«

»Es tut mir leid, Papa, daß ich es sagen muß, aber es ist so: Isolde hat kein Verständnis für meinen Beruf. Sie peinigt mich, ich solle der Bühne entsagen. Sie will,« und unnatürlich lachte Erik auf, »sie will sogar, ich soll ihr zuliebe das Engagement für Amerika rückgängig machen. – Und das ist meine Frau!«

Der Geheimrat wurde ernst: »Aber bedenken Sie doch, Erik, sie hat nie in Künstlerkreisen verkehrt, sie ist sich all dessen gar nicht bewußt.«

»Dann hätte sie eben keinen Künstler zum Mann nehmen dürfen!«

Seufzend schüttelte der Geheimrat das Haupt: »Kann Sie wirklich ein unüberlegtes Wort so tief verstimmen?«

»Verstimmen? Mein ganzes Glück kann es vernichten, solch ein Wort. Was mir meine Frau damit angetan hat, das kann so schnell nicht wieder gutgemacht werden.«

»Erik!« Erschrocken trat der Geheimrat dem Erregten näher.

»Mein Erstes und Heiligstes ist mir meine Kunst,« fuhr jener heftig fort, »das muß meine Frau bedenken, und sie muß diese Kunst achten. Wie sollen wir glücklich leben, wenn sie kein Verständnis für das hat, was mein ganzes Leben ausmacht! Was kümmert mich das Geld, mit dem sie mich, o, ich merke es wohl, langsam meiner Kunst entfremden will! Ich will den Mammon nicht, ich brauche ihn nicht, und meine Frau muß einsehen lernen, daß mir an dem Geld nichts liegt ...

»Haben Sie doch noch Geduld mit ihr, Isolde muß sich erst an dieses alles gewöhnen.«

»Dann wird es aber die höchste Zeit.«

»Und nun verrennen Sie sich nicht weiter in blinden Zorn! Kommen Sie mit mir hinüber zu ihr. Sie wartet schon lange geduldig, um Ihnen ein liebes Wort sagen zu können.«

»Und um mich aufs neue zu verletzen!«

»Aber Erik, so seien Sie doch vernünftig!«

Aufseufzend strich sich der Künstler die dunklen Locken aus der Stirn.

»Ihnen zuliebe, nur Ihnen, Papa, will ich's tun. Aber sie soll sich hüten, mich nochmals so zu kränken.«

Mit finsteren Blicken betrat er das Boudoir seiner Frau. Bei seinem Eintritt flog sie ihm an den Hals.

»Erik, Liebster, Bester, hab' mich wieder lieb! Ich bitte dich herzlich. O ich weiß, ich war recht ungezogen. Ich habe es mir fest vorgenommen, ich will anders werden, – nur hab' mich wieder lieb,« und sie schlug die schönen, von Tränen verdunkelten Augen zu ihm auf.

Etwas ungeduldig machte er sich frei. »Laß es gut sein, ich will versuchen, es zu vergessen.«

»Du sollst nicht mehr böse sein, Liebster!«

»Nur deinem Vater zuliebe – –«

»Dem Vater zuliebe? Nein, das lasse ich nicht gelten. Sei wieder mein guter, herziger Mann, komm und küsse mich.« Sie umschlang ihn aufs neue. Leise hatte der Geheimrat das Zimmer verlassen, er wollte seiner Tochter die Beschämung ersparen, Zeuge ihrer Abbitte zu sein. Finster schaute der Künstler auf seine Frau herab. Da sah er auch in ihrem Antlitz die Spuren des Grames, und eine weiche Regung beschlich ihn.

»Laß es jetzt gut sein und höre auf mit deinen Liebkosungen und deinen Tränen –«

»Und du bist wieder gut?«

»Ja doch, lasse mich jetzt aber gehen, denn ich habe noch vieles zu erledigen.«

»Wie du es wünschest.« Isolde trat gehorsam von ihm fort.

»Darf ich bei dir sein, wenn du studierst?«

»Ich übe nur, das ist dir ja langweilig. Geh' lieber zu Papa, er hat jedenfalls mit dir manches zu besprechen.«

Nur flüchtig reichte er ihr die Hand und verließ dann das Zimmer, während Isolde ihm seufzend nachblickte.

* * *

Müde und abgespannt, das Haupt in die Hände gestützt, sah Erna Schirmer am Fenster ihres Stübchens und schaute in die kalte Winternacht hinaus. Wozu lebte sie eigentlich noch? Hatte denn ihr Dasein überhaupt noch einen Zweck? Alles würde so weiter gehen, auch wenn sie nicht mehr wäre: nur das Grab der Mutter, die nun schon fast ein ganzes Jahr ruhte, würde vom Efeu überwuchert werden und dann langsam verfallen.

Die gute Mutter! Und doch, wie war sie zu beneiden! Sie hatte Ruhe und Frieden, und danach sehnte sich auch Erna. Was sollte sie eigentlich noch hier auf der Welt? Sie hatte eine Schwester, aber diese ließ kaum etwas von sich hören. All die flehenden Briefe Ernas, ihr öfter Nachricht zu geben, blieben ohne Antwort. Erna wußte nur, daß Adele vor einigen Monaten nach Kurland gegangen war, wo man ihr, wie sie in kurzen Worten schrieb, ein glänzendes Engagement angeboten hatte.

Erna selbst hatte wieder eine Stelle angenommen. In einer großen Aktiengesellschaft war sie als Korrespondentin und Privatsekretärin angestellt worden. Seit vier Monaten war sie dort tätig und mit ihrer Stellung auch zufrieden. Ihr Direktor, Herr Radatus, ein älterer Herr war von größter Liebenswürdigkeit, und er hatte, was Erna ihm besonders hoch anrechnete, noch nie irgendwelche Fragen nach ihrem Privatleben an sie gerichtet. Das Gehalt war über alles Erwarten groß, und um mehr Beschäftigung hatte sie erst bitten müssen. Nun aber hatte sie von morgens bis abends angestrengt zu tun, und allmählich begann sie auch innerlich wieder ruhiger zu werden. Äußerlich hatte man ihr freilich die Kämpfe nicht angemerkt, ja, ihr stilles Wesen hatte ihr bereits den Spitznamen »Der steinerne Gast« eingetragen; nur bisweilen hatte es ihr geschienen, als ruhten die strengen Augen ihres Direktors mit tiefem Mitgefühl auf ihrem blassen Antlitz. Aber sie hatte sich wohl geirrt.

Radatus verkehrte nur streng geschäftlich mit ihr, unterhielt sich allerdings viel über Neuerfindungen und Verbesserungen, fragte nach ihrer Meinung, und sie mußte sich stark anstrengen, um seinen fachlichen Vorträgen folgen und sie verstehen zu können. Nicht selten kam es vor, daß er ihr wissenschaftliche Bücher gab, die sie lesen sollte, um dann ihre Meinung darüber zu äußern; und Erna tat das nur zu gern, vergaß sie dann doch für Stunden ihren Schmerz um den verlorenen Geliebten und um die Mutter. Fast kam es ihr vor, als beabsichtigte der Chef, ihren Gedanken gewaltsam eine andere Richtung zu geben, Hatte er vielleicht gemerkt, daß sie gar oft mit diesen in der Vergangenheit weilte? Daß sie Schweres durchgemacht hatte?

Erna wußte freilich nicht, daß Radatus ein Bruder der Geheimrätin von Werter war, daß diese ihm alles erzählt und ihn gebeten hatte, Erna zu helfen. Das war für ihn allerdings nicht so leicht, denn das stolze Mädchen wies ja alle Hilfe zurück. So waren denn damals in verschiedenen Zeitungen große Annoncen losgelassen worden, daß die Aktiengesellschaft Radatus & Co. eine Korrespondentin suche. Hunderte von Bewerbungen waren eingegangen, die alle unbeachtet geblieben waren, da doch die Annonce nur der einen gegolten, die nicht geschrieben hatte. So war das Inserat immer und immer wieder veröffentlicht worden, bis eines Tages Erna, die sich wieder eine Stellung hatte suchen wollen, aufmerksam geworden war und ahnungslos sich um den Posten beworben hatte. Sie hatte ihn erhalten. Nach einem Monat schon hatte sie ein bedeutend größeres Gehalt bekommen, und der Direktor, der in Erna die Lebensretterin seiner geliebten Nichte sah, tat nun sein Möglichstes, um dem verhärmten Mädchen die Vergangenheit vergessen zu machen.

Darum besprach er mit ihr selbst die wichtigsten Sachen und mit Freuden konnte er feststellen, daß Erna für alles ein reges Interesse hatte. Auch Frau von Werter ließ Erna nicht aus den Augen. Nur mußte man sehr vorsichtig zu Werke gehen, damit das Mädchen von all dem ja nichts merkte.

Und Erna merkte nichts. Tagsüber gab es wohl Stunden, in denen sie ihren Schmerz vergaß; aber wenn dann die Abende kamen, an denen sie so allein zu Hause saß, dann brach all das Leid mit doppelter Gewalt hervor.

Erna hatte Erik lange nicht mehr gesehen. Wohl war ihr aus den Zeitungen bekannt, daß man ihn zu den Wagnerfestspielen nach Amerika berufen hatte. Und sie las dann auch mit glühenden Wangen, daß er da drüben gefeiert wurde, wie kein anderer vor ihm. Spaltenlange Artikel brachten die Blätter über seine großartigen Leistungen, der Ruhm der anderen Mitwirkenden verblaßte gegen den seinen, wehmütiger Stolz durchdrang die Brust der Einsamen, und heiße Tränen des Glücks und der Freude weinte sie beim Lesen dieser Berichte. Sie sah ihn wieder vor sich, sie hörte seine herrliche Stimme, und ein heißes Gebet flüsterten ihre Lippen für sein Glück, für sein Wohl. Dann aber wieder packte sie namenlose Verzweiflung und in wildem Schmerz durchwachte sie manche Nacht. Dann schrie wohl eine innere Stimme in ihr nach einem Wiedersehen, aber nur von der Ferne wollte sie ihn schauen.

Als Erik von seinem Gastspiel zurückwar, rannte Erna manchesmal am Abend nach Geschäftsschluß zum Opernhaus, um ein Billett zu erstehen, wenn sie es aber dann in Händen hielt, war es ihr, als versagten die Kräfte. Sie brachte es nicht über sich, das Theater zu betreten; nach fürchterlichen Minuten drehte sie dem Hause den Rücken und wanderte ihrem einsamen Heim zu, das unbenutzte Eintrittsbillett zwischen den erkalteten Fingern haltend.

Nein, nein, sie konnte ihn nicht sehen. Noch nicht! Vielleicht kam später eine Zeit, später, wenn sie überwunden hatte. Ob er wohl glücklich war? Ob jene Frau, die damals an ihrer Liebe zu ihm fast gestorben wäre, ihn wohl wunschlos glücklich machte und ob er der verlassenen Jugendfreundin hin und wieder gedachte? Vielleicht war er so glücklich, daß er sie ganz vergaß. Dann litt er wenigstens nicht, und das war gut. Und hatte er denn nicht seine Kunst, seine herrliche Kunst? Mußte er da nicht glücklich sein? Wie stolz mochte seine Frau beim Lesen der Zeitungen gewesen sein, und wie groß war wohl die Freude, als sich beide nach einer Trennung von sechs Wochen wiederhatten, denn Erna hatte erfahren, daß Frau Isolde die Reise nach Amerika nicht mitgemacht hatte, wie mochten die beiden nun zusammensitzen und erzählen ohne Aufhören! Die Gattin fragte gewiß unermüdlich, und er beantwortete ihr alles unter Küssen, erzählte von seinen Erfolgen, von seinem Ruhm.

O, daß sie ein einziges Mal all das hören, daß sie ein einziges Mal hätte teilnehmen dürfen an solchem Glück! Und doch etwas Anteil hatte auch sie; war sie es doch gewesen, die an ihn geglaubt, ehe noch die Welt von seinem Talent wußte. War sie es nicht, die ihm geholfen hatte, die ihn aufrichtete, wenn er verzagen wollte, mußte er nicht immer ihrer gedenken, wenn er seinen Lebenslauf erzählte oder Vergangenes vor seinem Auge aufstand? O, daß sie ihm doch jetzt noch alle Hindernisse aus dem Wege hätte räumen dürfen! Aber es war anders beschlossen worden, sie konnte nichts mehr für ihn tun. Der anerkannt größte Sänger, der Schwiegersohn eines vielfachen Millionärs, der glückliche Gatte einer schönen jungen Frau, – was fehlte ihm wohl? Nichts, nichts: Wozu war sie noch aus der Welt? »Aber,« sagte sie sich, »ich habe noch eine Schwester, Adele könnte mich doch noch brauchen; ich darf noch nicht!«

Und eintönig verfloß für sie Tag auf Tag, gewissenhaft ging sie ihren Pflichten nach, das unruhige Herz mit aller Gewalt zur Ruhe zwingend. Aber die Erinnerungen an eine vergangene glückliche Zeit wollten sich nicht bannen lassen, und Kampf auf Kampf focht sie in stiller Einsamkeit aus. Durften doch die Menschen nicht ahnen, wie unsäglich sie noch bis auf den heutigen Tag litt!

* * *

Lustig wirbelten die Schneeflocken durcheinander. Eine dicke weiße Schicht lagerte bereits auf der Erde, und die Bäume und Sträucher boten einen reizenden Anblick.

Schnee in der Residenz, – welch seltener Anblick! In den Straßen verwandelte er sich leider allzu schnell in Wasser, aber hier draußen, in der Villengegend, konnte man länger seine Freude daran haben. Die Dächer der eleganten Häuser flimmerten, als sei eine Silberschicht auf sie gelegt, und die Gärten glichen einer schlafenden Jungfrau.

Die wenigen Fußgänger schienen es gar nicht eilig zu haben, heimzukommen, mancher Blick flog über die weiße Landschaft, und der Fuß zögerte, voranzuschreiten.

Es schien fast, als wollten die hohen Bäume die ungewohnte Last abschütteln, denn sie streckten ihre kahlen, dürren Zweige gen Himmel empor, gleichsam als wollten sie Klage führen: aber die Flocken fürchteten sich nicht, sie tanzten lustig ihren Reigen in der Luft, um sich dann ruheheischend auf die Zweige niederzulassen. Und mehr und mehr kamen dazu, und toller und toller wurde ihr Wirbeln.– – –

Den Pelzkragen hochgeschlagen, die Hände in den Manteltaschen vergraben, schritt Erik seinem Heim zu. Er liebte solches Schneegestöber und diese hübsche Winterlandschaft, wie gerne erinnerte er sich dabei an seine Jugendzeit, an das kleine Städtchen, das im Winter fast immer meterhohen Schnee aufzuweisen hatte. Wie oft hatte er sich als Knabe mühsam seinen Weg durch die dichten Massen gebahnt, wie oft hatte er mit vor Kälte geröteten Wangen im Schnee herumgestampft, hatte riesenhafte Schneemänner gebaut und war selbst einem Schneemann gleich heim zum Pflegevater gelaufen, lachend voller Jugendmut und Jugendlust.

Heute, da es auch hier einmal schneite, als könne es nie mehr aufhören, hatte er den Wagen verschmäht, um gleich einem Kinde fröhlich durch den Schnee zu stampfen. Ein toller Übermut hatte ihn erfaßt: am liebsten hätte er hier aus offener Straße eine Schneeballschlacht eröffnet.

Ein Knabe kam ihm entgegen. Lachend bückte sich der Sänger, formte im nächsten Augenblick einen Schneeball und mit einem übermütigen Ruf flog dieser hinüber, dem Knaben gerade an die Mütze. Der griff das frohe Spiel begeistert auf und nun entwickelte sich ein richtiger Zweikampf. Ein frohes Rufen hin und her, ein lautes Jauchzen und Lachen, und als endlich Erik das Werfen einstellte, da mußte er sich das nasse Gesicht und den Hals trocknen, denn der Knabe hatte nicht schlecht getroffen, vor sich hinlachend ging er weiter. Wenn man ihn erkannt hätte, wenn man gesehen hätte, wie knabenhaft vergnügt er war! Ach was, was schadete es, – war er nicht Erik Santos, der Gefeierte? Und aufs neue ergriff er einen großen Schneeball und schleuderte ihn mit geschicktem Wurf gegen das erstbeste Fenster.

Lachend eilte er weiter, wenn er noch ein Kind wäre, wenn er herumtollen dürfte hier im Garten mit den Kameraden, den Freunden! Und daheim – –?!

Ein Schatten flog über sein Gesicht. Dort weilte Isolde und wartete gewiß mit dem Mittagbrot. Gang auf Gang würde wie immer von dem Diener serviert werden, man würde kühle, höfliche Redensarten tauschen und jedes dann sich zurückziehen. Und doch war sein Herz so voll, so übervoll. In seinem eigenen Hause fand er kein Verständnis, würde er es nie finden, und so würde es fortgehen ein ganzes Leben lang! Die Welt beneidete ihn, und doch war er so arm, so grenzenlos arm! Wie hatte er heimlich gehofft, seine wochenlange Abwesenheit von der Gattin würde alles bessern, – aber er hatte eine bittere Enttäuschung erfahren. Wohl hatte sie ihn von der Amerikareise nicht mehr zurückzuhalten versucht, doch er hatte täglich wahrgenommen, daß sie seine Reise als eine persönliche Zurücksetzung betrachten würde. Und wenn es auch keine heftigen Szenen mehr gegeben hatte – erregte Worte, versteckte Bosheiten waren an der Tagesordnung gewesen und hatten das Zusammenleben nicht gerade erquicklich gemacht.

Isolde hatte sich mehr denn je ihren früheren Bekannten gewidmet, und so hatte die Santossche Villa täglich Besuch gesehen. Es war vielleicht so das beste gewesen, denn vor den Fremden hatte man sich Zwang auferlegen müssen, und wenn auch Isolde hin und wieder versucht hatte, die Kunst des Gatten vor versammelten Gästen herabzusetzen, es war ihr nicht gelungen, ihren Zweck zu erreichen. Erst hatte er lachend protestiert, dann ihre Einwürfe mit einem Achselzucken abgetan, um sie schließlich vollständig zu ignorieren.

Ebenso kühl wie der Abschied war auch der Empfang nach der Rückkehr von Amerika gewesen. Isolde hatte ihm innerlich gegrollt. Sie hatte gefunden, daß andere Männer besser zu ihr paßten als der eigene Gatte. Nun hatte sie ihm zeigen wollen, daß sie von allen Seiten umschwärmt werde und daß er es sich als Gnade anrechnen mußte, wenn sie seinerzeit eingewilligt hatte, die Frau des Sängers zu werden.

Aber Erik hatte es gar nicht verstehen wollen, daß ihre Heirat doch eigentlich ein Opfer gewesen war. Sie, die Millionenerbin, hätte leicht eine Grafen-, wenn nicht gar eine Fürstenkrone erheiraten können; statt dessen hatte sie sich ein ganzes langes Leben an einen Bühnenkünstler gekettet!

Waren es nicht ihre Mittel gewesen, die ihm ein solches Leben möglich gemacht hatten? Wenn auch seine Gage groß gewesen war, – doch was hatte das gegen ihr eigenes großes Vermögen gegolten! Und dann wieder, wenn sie ihn in seiner ganzen siegreichen Schönheit gesehen, dann hatte ihre leidenschaftliche Liebe die Oberhand gewonnen, und in schlaflosen Nächten hatte sie sich mit dem Gedanken gequält: Wie erringe ich mir ihn zurück?

Sie hatte die Entfremdung gefühlt und doch nichts dagegen tun können, auch nicht gewußt, was zu tun wäre, um das erste kurze Eheglück wiederzugewinnen. Wenn sie ihn eifersüchtig gemacht hätte? Eifersucht ist ein Zeichen von Liebe. Und nun hatte es fast geschienen, als wollte sie sich selbst verlieren. Sie hatte Dutzende von Nichtstuern in ihr Haus geladen, sich mitunter mit zusammengebissenen Zähnen die gewagtesten Schmeicheleien sagen lassen, um später bittere Tränen darob zu vergießen. Und Erik, der einmal eine gar zu kecke Andeutung gebührend zurückgewiesen, hatte von seiner Gattin eine spöttische Bemerkung erhalten. Da hatte er geschwiegen und sich dann immer mehr und mehr von ihr zurückgezogen. Immer kühler war das Zusammenleben geworden. –

Seine ungewöhnlichen Erfolge in Amerika hatten ihn dann wieder in eine versöhnliche frohe Stimmung versetzt. Er hatte zärtliche Briefe an Isolde geschrieben, ihr darin von seinen und der Reichmann Erfolgen erzählt und ihr sein überglückliches Herz ausgeschüttet.

Nur kurz und kühl waren die Antworten zurückgekommen. Isolde hatte aus den Briefen nur Künstlerhochmut, Einbildung, Überschätzung des eigenen Ichs gelesen, auch nicht recht an den fanatischen Jubel, an seine beispiellosen Erfolge geglaubt.

Und so war es gekommen, daß auch Eriks Briefe kühler und kürzer geworden waren und der Gedanke, nach Deutschland in sein Heim zurückzukehren, nicht viel Verlockendes für ihn gehabt hatte. Bei der Kollegin hatte er allerdings schrankenlose Anerkennung gefunden. Stundenlang hatten die beiden Künstlerseelen zusammensitzen können und waren dabei nicht müde geworden, ihre Leistungen bis ins kleinste durchzusprechen, jedes von sich und des anderen Kunst voll und ganz eingenommen, jedes ein ganzer Künstler. Auch war Erik wirklich nicht viel Zeit geblieben, an Isolde zu denken, denn in jeder freien Stunde hatte er einer ehrenvollen Einladung zu folgen gehabt. Sein ganzer Aufenthalt in Amerika war ein wochenlanger Glückstaumel gewesen.

Als er sich aber nach Wochen der heimatlichen Scholle genähert hatte, hatte er es doch kaum erwarten können, bei seiner Gattin zu sein. Unruhig war er im D-Wagen auf- und abgeschritten, und als der Zug endlich in die Halle eingefahren war, da war er auch schon auf den Bahnsteig gesprungen. Wohl hatte ihn Isolde am Bahnhof erwartet, aber sie war nicht allein gekommen. An ihrer Seite hatte Graf Ohrdruff gestanden, einer ihrer eifrigsten Verehrer. Wie hatte Isolde in solch einem Augenblick einen so gleichgültigen Menschen bei sich haben können! Der Empfang war daher auch ganz anders ausgefallen: Erik hatte seine Frau flüchtig auf die Stirn geküßt und sich leicht vor dem Grafen verneigt. Gleichgültig hatte sie sich nach der Überfahrt erkundigt, und Erik, der sichtlich verstimmt gewesen war, nur kurze Antworten gegeben.

Als man dann im Auto nach dem Vorort hinausgefahren war, da hatte sich zwischen Isolde und Ohrdruff eine lebhafte Unterhaltung entspannen, während Erik mit finster gerunzelter Stirn im Wagen gelehnt hatte.

Daheim, nachdem Ohrdruff endlich gegangen war, hatte Isolde ihm liebevoll über die Wange gestrichen.

»Nun fährst du aber so schnell nicht wieder fort; es war manchmal recht langweilig ohne dich.«

Sie hatte ihn dabei nicht zu Worte kommen lassen, ihm von ihren Gästen erzählt, die Neuigkeiten aus der Gesellschaft besprochen, ihm ihre neuesten Toiletten gezeigt, doch nach seinen Erfolgen hatte sie nicht gefragt. Als er endlich nicht länger hatte an sich halten können und leuchtenden Auges sein Auftreten drüben geschildert hatte, da hatte sie, zwar nicht unfreundlich, aber doch gelangweilt abgewehrt. Er hatte wohl geschwiegen, aber in seinem Innern hatte es gebrannt und tief geschmerzt.

Die nächsten Tage hatten allabendlich Gäste gebracht, er hatte kaum Zeit gefunden, allein mit seiner Frau zu reden. Wohl hatten die Fremden wie gebannt an seinen Lippen gehangen, wenn er von drüben erzählt hatte; mehr und immer mehr hatten sie wissen und hören wollen, und wenn auch Erik freundlich und gerne ihre Bitten erfüllt hatte, so hatte er doch manchmal mitten im Satz abgebrochen, sobald seine Frau in die Nähe gekommen war.

Ein unerklärliches Gefühl hatte ihn davon abgehalten, in ihrer Gegenwart von seiner Kunst zu reden. Selbst wenn Isolde hin und wieder Fragen gestellt hatte, hatte er nur kurze Antworten gegeben und war froh gewesen, wenn sie das Gespräch auf andere Themata gelenkt hatte.

Sein erstes Auftreten nach der Rückkehr war geradezu ein Ereignis gewesen. Ungezählte Male hatte man ihn vor den Vorhang gerufen, die Bühne war ein einziger dicker Blumenteppich gewesen, denn unaufhörlich waren Sträuße ihm zugeflogen, die Theaterdiener hatten kostbare Kränze und Arrangements herangeschleppt.

Auch Isolde war im Theater gewesen, war aber allein zurückgefahren, da es Erik unmöglich gewesen war, durch die dichtgedrängte Menge, die ihn auf der Straße erwartet hatte, zu seinem Wagen zu gelangen. Ein unbeschreibliches Gefühl des Glückes war in ihm aufgestiegen, als er die tausend Jubelnden gesehen hatte, und am liebsten würde er ihnen zum Dank hier auf offener Straße nochmals die ganze Partie gesungen haben. Er hatte ungezählte Hände gedrückt, Blumen verteilt, ja im Überschwang seines Glückes einem jungen schönen Mädchen, die in Verzückung seinen Mantel küßte, einen lauten Kuß auf die Wange gedrückt, was ihm ein brausendes Hurra eingetragen hatte. Hätte er jetzt ein Wesen gehabt, zu dem er sich hätte aussprechen können, dem er stammelnd sein Glück hätte schildern dürfen!

Lange noch hatte andern Tages der stolze Rausch in ihm nachgezittert. Alles, alles hätte er Isolde verzeihen können, aber ihr hatte er ja nicht erzählen können, was sein Herz bewegt hatte, und so war auch dieser Tag vergangen und hatte die beiden einander nicht näher gebracht – –

Verflogen waren die fröhlichen Gedanken, und auch die lustig weiterwirbelnden Federn Frau Holles konnten ihm heute seine heitere Laune nicht wiedergeben. –

Jetzt stand er vor seinem Hause und blickte hinauf. Er hatte sich etwas verspätet. Der Intendant hatte ihm soeben persönlich seine vollste Anerkennung ausgesprochen über sein gestriger Auftreten. Wie stolz machte ihn das jedesmal. Mit keinem Könige mochte er tauschen, und die Worte Lohengrins kamen ihm in den Sinn: »Böt' mir ein König seine Krone, ich dürfte sie mit Recht verschmäh'n.« Ja, er war glücklich, doch bis auf seine Ehe! Und es war doch seine eigene Schuld. Wenn Erna nur ein einziges Mal gesehen hätte, wie man da drüben, wie man ihm jetzt hier zujauchzte! –

Fort mit dem furchtbaren, quälenden Gedanken! Auch seine Ehe würde besser werden. Er würde sich hineinfinden, und Isolde auch! Sie müßten es eben versuchen, sich einander wieder zu nähern, um zusammenzukommen. Sicherlich liebte ihn Isolde noch immer, er verstand sie vielleicht nur nicht. »Wenn wir uns aussprechen würden?« Und plötzlich griff er den Gedanken auf. Ruhig und vernünftig wollte er mit ihr reden, gleich heute, gleich jetzt sollte es geschehen. O, es würde, es müßte ja wieder gut werden!

Er warf dem ihm entgegeneilenden Diener den Mantel entgegen.

»Wo ist meine Frau?«

»Die gnädige Frau haben Besuch: Herr Graf von Ohrdruff, Herr Hauptmann von Lossen. Die Herren bleiben zum Diner.«

Verstimmt zog sich Erik in sein Zimmer zurück. Wieder war die Gelegenheit verpatzt, wieder Besuch! Hatte denn Isolde gar keine Zeit mehr für ihn? Und gerade heute, wo er so versöhnlich gestimmt war, wo der gestrige Erfolg noch in ihm nachzitterte!

Als man ihn dann zu Tisch rief und er die beiden Herren begrüßte, als er seine Gattin in der hellen, lose anliegenden Robe sah, da erfaßte ihn ein heftiger Widerwillen. Am liebsten hätte er aufspringen und davonlaufen mögen! Mochten die drei doch hier sitzen und ohne ihn speisen! Was kümmerte es ihn! Aber dann wieder zwang er sich mit Gewalt zur Ruhe, und nur spärlich beteiligte er sich an der Unterhaltung, die sich um kommende Bälle, Soupers, bevorstehende Verlobungen und dergleichen drehte.

Das Mahl war beendet, man erhob sich. Ob sie nun wohl bald gehen würden? Als man sich aber anschickte, hinüber in den kleinen Salon zu gehen, da verabschiedete sich Erik.

»Bitte, lassen Sie sich nicht stören, aber ich habe noch zu arbeiten.«

»Sie müssen sicherlich noch stundenlang »Lalala« und »Tralala« singen,« lachte Herr von Ohrdruff.

Spöttisch blickte ihn der Sänger an. »Ich staune über Ihren Scharfsinn, Herr Graf!«

»Sagen Sie mal, mein bester Herr Santos, ist das nicht furchtbar langweilig, ein solches Leben zu führen?«

»Das finde ich nun gerade nicht,« entgegnete der Künstler gelassen, »mir dagegen wäre es äußerst langweilig, von einem Besuch zum anderen zu laufen und eine Gesellschaft nach der anderen zu absolvieren.«

»Gut gebrüllt, Löwe!« fiel Hauptmann von Lossen ein, »sehen Sie, lieber Graf, jetzt haben Sie Ihre Pille!«

Ohrdruff biß sich auf die Enden seines Bärtchens, dann lächelte er malitiös.

»Ja, mein lieber Herr von Santos, pardon, Herr Santos, es wäre doch wirklich nicht angängig, wenn ich, Graf Udo Erwin Friedrich von Ohrdruff-Illinghoven, Besitzer dreier riesenhafter Güter, allabendlich dem Volk etwas vorgaukeln würde. Jeder, wie sich's gebührt!«

»Ja, aber es wäre nicht das erstemal, daß aus einem feudalen Herrn ein Kunstreiter geworden ist. Zum Sänger aber reichen die Fähigkeiten dieser Herren selten aus.«

»Merkwürdig, mein bester Herr Santos, – warum sind eigentlich die Künstler alle so eingebildet?«

»Weil sie ihr gutes Recht dazu haben, weil sie aus eigenem Verdienst und eigener Kraft sich einen Namen geschaffen haben. Viel schwieriger ist die Frage zu beantworten: Warum sind die Menschen ohne jegliches Talent stolz auf ihren hochmögenden Titel? Sie haben doch absolut nichts dazu getan, als der Sohn ihres Vaters zu sein und mit dem Vermögen den Namen zu erben!«

»Verehrter Herr Santos, Sie entpuppen sich ja hier als Nihilist vom reinsten Wasser.«

»Die Herren haben übrigens meinen neuen Rokokosalon noch gar nicht gesehen,« mischte sich Isolde, die mit wachsendem Unbehagen dem Gespräch gefolgt war, ablenkend ein. »Ich habe mir die Möbel erst im Laufe der vorigen Woche angeschafft. Ich bin nämlich eine große Freundin von Rokoko.«

»Ist auch für Sie, hochverehrte gnädige Frau, das einzig richtige; Rokoko wirkt immer vornehm, zart und graziös und –«, Ohrdruff verneigte sich leicht, »nichts könnte besser zu Ihnen passen als Rokoko.«

Isolde errötete leicht.

»Immer Schmeicheleien, Graf, – können Sie denn gar nichts anderes sagen?«

»Wie kann eine Wahrheit jemals als Schmeichelei ausgelegt werden?«

»Wollen die Herren mir nun folgen?«

»Einen Augenblick, Kind!«

Isolde wandte sich flüchtig dem Gatten zu. »Du wünschest?«

»Vergiß nicht, heute abend acht Uhr sind wir geladen.«

»Ich habe vorhin absagen lassen.«

»Absagen – weshalb?«

»Ich habe keine Lust, und da wir heute so lieben Besuch haben –«

Ein heftiges Wort schwebte Erik auf den Lippen, warum war er nicht gefragt worden! Galt sein Wunsch denn gar nichts? Gerne wäre er heute abend zu dem geistvollen Gelehrten gegangen, der einen kleinen Kreis von Freunden geladen hatte. Statt dessen hatte seine Gattin einfach abgesagt!

»Nun gut,« meinte er gelassen, »ist mir auch recht, dann sind wir wenigstens einen Abend mal unter uns. Bis jetzt,« und er wandte sich mit leichtem Lächeln an den Hauptmann, »haben wir seit meiner Rückkehr, und das sind jetzt schon über acht Tage, keine Viertelstunde für uns allein gehabt. Also mir ist's recht so, und ich freue mich auf den ungestörten Abend.«

Isolde zuckte zusammen. Wie konnte Erik nur so ungezogen sein! Das hieß ja geradezu die Gäste hinauswerfen! Eben noch hatte sie erklärt, daß sie die Gesellschaft heute wegen ihres Besuches abgesagt hätte, und nun redete Erik eine so unverblümte Sprache!

Aber auch die beiden Herren hatten es verstanden. Der Hauptmann ergriff zuerst das Wort.

»Das muß allerdings schrecklich für Sie sein: da nennen Sie eine so scharmante junge Frau Ihr Eigen, und doch rauben Ihnen die anderen Menschen oft den Genuß, ungestört mit dieser entzückendsten aller Frauen zu plaudern.«

»Auch ich verstehe das vollkommen,« mischte sich jetzt Graf Ohrdruff ein, »ich hielte eine so lange Trennung von einem Engel überhaupt nicht aus.«

Eriks Augen funkelten: »Wie meinten Sie, Herr Graf?«

»Aber Verehrtester, Sie stehen hier doch nicht auf der Bühne. Was machen Sie denn für ein fürchterliches Gesicht?«

»Ich weiß es nur zu genau, wo ich augenblicklich stehe, Graf Ohrdruff. Ich bezweifle es aber sehr, daß es Ihnen augenblicklich ganz klar ist, wo Sie sich befinden.«

Ohrdruff lachte gezwungen: »Mein liebster, teuerster Santos, ich bin viel zu sehr Kavalier, um Ihnen jetzt eine passende Antwort zu geben. Die Gegenwart von Damen macht mich immer zum schweigenden Dulder.«

»Diese Rolle habe ich allerdings bis jetzt noch niemals an Ihnen bemerkt. Ich fand vielmehr, daß Sie in Gegenwart von Damen den Kavalier leicht vergessen.«

»Wenn dem so ist, dann ist natürlich die Schönheit des weiblichen Geschlechtes daran schuld,« griff Hauptmann von Lossen vermittelnd ein. »Unser lieber Graf ist sehr leicht enthusiasmiert und verliert zuweilen den Kopf.«

»Aber nun kommen Sie, meine Herren, und zollen Sie meinem Geschmack gebührende Bewunderung.« Hiermit schritt Isolde rasch voran in das anstoßende Erkerzimmer. Die beiden Herren folgten.

Erik blieb mit finster zusammengezogenen Brauen stehen. An der Gesellschaft dieser Herren fand seine Frau Gefallen, stundenlang konnte sie sich mit ihnen unterhalten, während sie für ihn nur wenige Minuten übrig hatte! Er schlug krachend die Tür hinter sich zu und ging auf sein Zimmer. Hier war er ungestört, hier lebte er als Künstler, nur als Künstler, und hier fühlte er sich am wohlsten.

* * *

Es dunkelte bereits, und noch immer war Isoldens Besuch im Hause. Warum schickte sie diese beiden nicht einfach fort? Erik sehnte sich ja direkt nach einer Aussprache, – noch kein Jahr waren sie verheiratet, und schon diese ungeheure Entfremdung! Wie war das nur möglich? Trug nicht auch er Mitschuld? Von nun an mußte es anders werden! Zärtlich und liebevoll wollte er über Isoldens Eigentümlichkeiten hinwegsehen, und auch sie sollte ihm versprechen, duldsamer zu werden, damit aufs neue Frieden und Eintracht einkehrte.

Da klopfte es. Der eintretende Diener meldete, eine Dame wolle durchaus den gnädigen Herrn sprechen.

»Eine Dame? hat sie ihren Namen nicht genannt?«

»Nein, gnädiger Herr!«

Damenbesuche waren dem Künstler zwar nichts Seltenes. Wie so oft schon, wollte er auch heute die Dame abweisen lassen. Er hatte augenblicklich nicht die geringste Lust, sich langweilige Schmeicheleien sagen zu lassen, und so ließ er sich kurzerhand verleugnen. Aber schon nach wenigen Minuten erschien der Bediente erneut mit dem Bemerken, die Dame lasse sich nicht abweisen, sie sei direkt aus Amerika nach Deutschland gekommen, um den Künstler zu sprechen.

»So führen Sie sie nebenan ins Erkerzimmer.«

Eine Dame, direkt aus Amerika! Was die nur wollte?

Nach wenigen Minuten ging er hinüber. Bei seinem Eintritt erhob sich eine große, überschlanke Gestalt in grauer Reisetoilette. »Good day, Mister Santos!«

»Guten Tag, gnädige Frau!«

»O, Sie kennen mich nicht mehr, Mr. Santos? Sie haben vergessen, wer ich bin!«

Santos betrachtete die Dame näher. Dieses hagere Gesicht mit dem schlicht zurückgestrichenen Haar kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht erinnern, wo und wann er ihre Bekanntschaft gemacht hatte.

»Ich bin Mabel Leather aus Newyork. Ich habe Sie im vorigen Monat bei Ihrem Gastspiel kennengelernt, und Sie haben mir sehr gefallen. Ich habe gleich gemacht die Reise nach Ihrem Deutschland und meinem Vater gesagt: »O, ich liebe Mister Santos, ich werde ihn mir holen her zu uns.«

Santos lachte belustigt auf: »O, mein gnädiges Fräulein –«

»Nicht so, nennen Sie mich Miß Leather.«

»Wie Sie befehlen, Miß Leather, das ist allerdings eine große Ehre für mich, daß Sie die weite Reise meinetwegen gemacht haben.«

»Ja, ich bin gleich mit dem nächsten Schiff gefahren, weil Sie mir so gefallen haben.«

Der Sänger verbeugte sich stumm.

»Erst heute früh bin ich gekommen an in Kuxhaven und dann gleich hierher und habe Ihre Wohnung erfragt. Sie haben eine Frau?«

»Jawohl, Miß Leather.«

»O, das ist eigentlich dumm, aber es schadet nichts. Sie können sich ja lassen scheiden.«

»Ich – scheiden? Ja, aber warum denn?«

»Nun, ich habe doch gesagt, daß ich Sie liebe und daß ich gekommen nach hier, um Sie zu heiraten und mit herüberzunehmen.«

»Aber Miß Leather – –«

»Ich weiß, Ihnen kommt das merkwürdig vor; aber bei uns drüben ist das anders. Ich werde sicher eine gute Frau für Sie. Erstens, Sie gefallen mir gut, ich liebe sehr die Musik und dann, ich bin sehr reich. Mein Vater hat eine der größten Schuhfabriken drüben und hat ein ungeheuer großes Vermögen. Ich habe nach die deutsche Geld über vier Millionen Vermögen, davon läßt sich schon leben und später bekomme ich noch mehr. Mein Vater hat nichts dagegen. Sie sind ein großer Sänger und können auch verdienen viel Geld. Mein Vater versteht gut Geschäfte zu machen, er wird Ihnen helfen können.«

Erik ließ die Dame ruhig zu Ende reden. Im ersten Augenblick allerdings wollte er ihr mit kurzen zornigen Worten die Tür weisen, als er aber ihre ruhigen leidenschaftslosen Auseinandersetzungen hörte, verflog sein Zorn, um einer belustigten Laune Platz zu machen.

»Ja, aber Miß, was meinen Sie wohl, was meine Frau zu dieser Angelegenheit sagen würde?«

»O, Ihre Frau, – nun – ich werde mit ihr sprechen.«

Nun aber brach Erik doch in ein frohes Gelächter aus. »Miß Leather, Sie sind wirklich eine energische und zielbewußte Dame; ich glaube aber doch, daß Sie diese weite Reise umsonst gemacht haben werden.«

»O Mister Santos, sagen Sie nicht so schnell Ihre Entscheidung. Bedenken Sie doch, wenn Sie heiraten eine Mabel Leather. Sie sind bei uns drüben eingeführt in die ersten Kreise. Sie sind ein großer Künstler und Sie werden sehr gefeiert, viel mehr als hier in dem kalten Deutschland, wo die Menschen nicht viel von Ihrem schönen Gesang verstehen.«

»Verehrteste Miß, da muß ich aber energisch widersprechen.«

»Und dann – ich habe gesagt meinem Vater, ich werde mir allerdings einen Teil meines Geldes sicherstellen, aber einen großen Teil sollen Sie haben. Überlegen Sie, Künstler brauchen immer viel Geld. Ich bleibe acht Tage in Deutschland, hier haben Sie meine Adresse. Also, überlegen Sie wohl! Ich habe Sie gerne, ich möchte Sie heiraten. Schreiben Sie mir, wann ich wiederkommen soll. So, und nun führen Sie mich zu Ihrer Frau, damit ich mit ihr sprechen kann.«

»Setzen Sie sich nur ruhig wieder, Miß. Sehen Sie, bei uns ist das ganz anders als bei Ihnen drüben. Wenn wir in Deutschland heiraten, dann spricht bei uns nicht nur das Geld; wir heiraten hier, weil wir uns lieben; das ist die Hauptsache. Und wenn man sich liebt, dann achtet man auch das Geld nicht.«

»O Mister Santos, ich weiß sehr genau, daß Deutsche haben einen kleinen Kopf und eine große Herz. Immer erst das Herz und dann der Kopf, aber das ist so falsch. Wir bei uns in Amerika sagen erst: Wie ist es mit das Auskommen? Und wenn zwei haben gut zu leben und sie sind auch sonst nicht gerade böse aufeinander, dann sollen sie heiraten, es wird immer gut.«

»Und wenn sie dann eine unglückliche Liebe zu einem anderen erfaßt?«

»O, das kommt selten, sehr selten vor. Wir kümmern uns mehr um unser eigenes Geschäft und unser Fortkommen als um fremde Männer, und wenn es wirklich einmal passiert, dann lassen wir uns einfach scheiden. Alles im guten. Wir reden dann mit unsere Mann und gehen als gute Freunde voneinander, und jeder heiratet wieder aufs neue«.

»Das ist eben bei uns anders. Wir geloben Treue bis in den Tod.«

»Ja eben, darum quälen Sie sich auch gegenseitig manchmal bis in den Tod. Aber das ist ganz falsch, das ist eine große Unsinn, zusammenzubleiben, wenn man sieht, daß es nicht mehr stimmt.«

»Sie mögen ja recht haben, Miß Leather, aber bei uns sind eben die Einrichtungen anders. Eine Scheidung ist hier nur sehr, sehr schwer durchzusetzen.

»O, ich werde das schon erreichen, lassen Sie mich nur ruhig machen, ich gehe zu Ihre Minister, wenn es sein muß.«

»Es ehrt mich ja ganz außerordentlich, daß Sie –«

»Reden Sie doch keine solche Unsinn, Sie sind ein großer Künstler, haben noch eine große Zukunft und werden noch bekommen viel Geld. Lassen Sie nur meinen Vater für alles sorgen. Und ich – nun, Sie gefallen mir. –«

»Aber trotzalledem, Miß, es geht so wirklich nicht. Ich kann mich von meiner Frau unmöglich scheiden lassen.«

»Warum?«

»Weil –« Erik zögerte eine Weile, dann sah er die Amerikanerin fest an, »weil ich meine Frau liebe.«

»O, Sie komischer Mann, Sie sentimentaler Deutscher. Von der Liebe ist noch keiner satt geworden. Aber – vielleicht – Sie müssen erst überlegen. Gut, ich lasse Ihnen Zeit, Sie werden mir schreiben?«

»Ich fürchte, Miß Leather, ich muß Ihnen auch dann eine Enttäuschung bereiten.«

»O, das wäre schlimm. Nun – überlegen Sie.«

Sie hatte sich erhoben, reichte Erik die Hand, und der Sänger geleitete sie zur Tür.

»Also auf Wiedersehen, Mr. Santos, ich denke, wir werden doch noch einig werden.«

Kein Zug von Enttäuschung oder Hoffnungslosigkeit war in ihrem Gesicht zu bemerken, ruhig und kalt blickten die grauen Augen und freundlich ihm zunickend verließ sie das Haus. Sinnend ging Erik zurück.

»Wie merkwürdig,« murmelte Erik, »welch eine Zumutung!«

* * *

Inzwischen hatten auch Graf Lossen und Graf von Ohrdruff die Villa verlassen. Die Worte Eriks, er freue sich auf den heutigen ungestörten Abend, hatten ein beklemmendes Gefühl bei Isolde hervorgerufen. Sie war ihrem Gatten in letzter Zeit bewußt ausgewichen, mit aller Gewalt wollte sie ein Zusammensein vermeiden. Nur vor Zeugen fand sie ihre alte Sicherheit wieder und auch da machte sie ein forschender Blick des Gatten verwirrt. Wie von einer schweren Last hatte sie aufgeatmet, als Erik seine Reise nach Amerika angetreten hatte, um doch dann wieder bittere Tränen darüber zu weinen, daß er fern war. Und ebenso litt sie insgeheim unendlich unter seiner Kälte und wünschte von ganzem Herzen, seine Liebe wiederzugewinnen. Aber ein übertriebener Stolz hielt sie davon zurück, ihm zu zeigen, wie nahe ihr alles ging.

Und so lernte sie heucheln und lügen, so trug sie ihre anscheinende Kälte zur Schau, um sich doch wieder in bitteren Selbstvorwürfen zu quälen. Ob er sie wohl zurückstoßen würde, wenn sie sich leidenschaftlich zu seinen Füßen würfe und aufs neue um seine Liebe bettelte? Ob er sie wohl verhöhnen würde, wenn sie ihm ihre nach Liebe lechzende Seele offenbarte? Ein fremder Ton hatte sich freilich in ihre Gefühle eingeschlichen, der nicht mehr wich, der immer lauter, immer vernehmlicher klang; das war der Haß, den sie auf seinen Beruf hatte. Wie anders wär' es, wenn Erik gleich Ohrdruff den ganzen Tag nichts zu tun gehabt hätte und nur für sie lebte! Und so konnte eine einzige begeisterte Lobrede Eriks auf seine Kunst all ihre edleren Regungen wieder ersticken, und das Wort, das die beiden vielleicht nähergebracht hätte, blieb ungesprochen.

Und heute empfand er selbst das Verlangen nach einer Unterredung? Sie zitterte in dem Gedanken daran. Würde ihr der heutige Tag den ersehnten Frieden oder dauernde Seelenqualen bringen? Träne auf Träne rann über ihre Wangen und tief wühlte sie den Kopf in die Kissen, damit man ihr leidenschaftliches Schluchzen nicht hören sollte.

Wie, wenn sie jetzt gleich zu ihm hinüberginge, wenn sie sich gleich Gewißheit holte? Sie sprang auf, sie huschte zaghaft durch die Räume und trat in sein Zimmer. Es war leer, aber aus dem Nebenraum schallten Stimmen. Er hatte Besuch. Eine Dame war bei ihm! Und wieder überkam sie ein bitteres Gefühl des Schmerzes. Er vernachlässigte seine eigene Frau und holte sich Damenbesuch! Und wie fröhlich er lachte! Die Worte selbst konnte sie freilich nicht verstehen, sie wollte auch nicht horchen, und seufzend begab sie sich zurück in ihr Zimmer.

Warum verstand sie es nicht, sich mit seinem Beruf abzufinden, warum mußte ihr der Gedanke daran all die schönen Stunden verderben? Und dabei hatte sie doch auch den Künstler in ihm verehrt und geliebt! War es nicht gerade seine Kunst, die sie so bezaubert hatte? Warum war jetzt alles so anders? Warum empfand sie geradezu einen Widerwillen, wenn andere von seinem Auftreten sprachen? War es denn eine Schande, daß er auf der Bühne stand und von Hunderten bejubelt wurde? Und dennoch, er blieb und blieb trotz seiner großen Kunst ein Komödiant.

Und dies Wort, das Graf Ohrdruff so oft mit höhnischem Lächeln einwarf, brannte ihr in der Seele. Ein Komödiant, ein Gaukler, der sich allen Menschen zur Schau stellte! Fühlte Erik denn nicht selbst, daß seine Kunst etwas Entwürdigendes für ihn hatte? Wie anders ihre Bekannten! Welch chevalereske Vornehmheit lag in dem Wesen eines Grafen Ohrdruff, und wie sympathisch berührte die feine Nonchalance des Barons Buttenheim!

Wie theatralisch dagegen das Wesen ihres Gatten! Es konnte ja auch gar nicht anders sein. Wenn er Tag für Tag den Leuten etwas vorsang, das mußte ja abfärben. O, daß er doch einsehen lernte, daß das höchste Glück in einer harmonischen Ehe liegt, und daß er diesen unwürdigen Beruf von sich warf. Wie mußte ihn der Verkehr mit all diesen Kollegen herabziehen! Wie konnte ein Mann wie er überhaupt daran Gefallen finden?

Eine brennende Röte stieg in ihre Wangen, als sie zurückdachte an den einen Tag, da sie mit ihrem Gatten durch die Straßen geschritten war. Zwei Damen, geschminkt und übermäßig auffallend gekleidet, laut gestikulierend und lachend kamen ihnen entgegen. Und Erik, ihr Gatte, grüßte diese Personen! »Zwei Kolleginnen,« hatte er erklärt. So etwas nannte ihr Mann Kolleginnen! Und mit dergleichen mußte er verkehren, ihnen mußte er vielleicht zärtliche Worte singen, sie sogar in den Armen halten!

Auch Graf Ohrdruff, dem sie ihr Leid geklagt hatte, gab ihr recht und bestärkte sie darin, daß Erik unbedingt verpflichtet sei, einen solchen Beruf aufzugeben. Gewiß, er brauchte nicht sofort abzubrechen, er könnte ja bei Gesellschaften und Soireen noch singen, aber die Bühne sollte er verlassen.

Bei den Eltern fand sie kein Verständnis. Außerdem weilten diese, da die Mutter sich angegriffen fühlte, seit vielen Wochen im Süden. Daß sie ihren Gatten noch immer unverändert liebte, das merkte sie an den heißen Schlägen ihres Herzens, merkte sie an den Qualen, die sie erduldete, wenn er mit anderen Damen freundlich sprach. Wie, wenn er es selbst jetzt eingesehen haben sollte, daß es nicht so weitergehen könne, wenn er ihr heute abend mitteilen wollte, daß er mit ihr ein neues Leben beginnen wolle? Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Ach nein, er, der so begeistert von seinem Beruf redete, der mit so großer Liebe und Hingebung an ihm hing, er gab ihn nie auf! Und so würde es denn bleiben – ein trostloses, jahrelanges, vergebliches Kämpfen.

Der hereinbrechende Abend hüllte das Zimmer in tiefes Dunkel. Isolde entzündete kein Licht, wozu auch? Im Finstern war ihr mitunter am wohlsten. Da konnte keiner ihre todtraurigen Augen sehen, da bemerkte keiner das verräterische schmerzliche Jucken der Mundwinkel. Wie schön ließ es sich dann träumen von vergangenen Zeiten, von vergangenem Glück und von vergangener Liebe!

Schritte näherten sich der Tür. Sie zuckte zusammen, erkannte sie doch ganz genau, daß es ihr Gatte war. Das Kammermädchen mochte ihm wohl gesagt haben, daß die Besuche das Haus verlassen hätten. Ihr Herz klopfte in wilden, heftigen Schlägen, wenn er doch vorüberginge, wenn er sie doch nicht bemerkte! Und richtig, die Schritte verklangen: Erik entfernte sich. Sie sprang empor. Er sollte nicht ahnen, daß sie hier im Dunkeln geträumt hatte. Rasch drehte sie das Licht an, glättete ihr Haar und eilte hinüber in ihr Toilettenzimmer. Ob sie jetzt noch ausfuhr? Ob sie ein Theater besuchen sollte, um der Aussprache zu entgehen? Noch einen Versuch, einen einzigen wollte sie machen; gelang es ihr auch heute nicht, den Gatten zurückzugewinnen, dann war alles verloren.

Eine leise Hoffnung keimte in ihr empor. Wie, wenn sie ihm ihr süßes Geheimnis verriete, jenes Geheimnis, welches sie so glücklich und doch so schwermütig machte? Noch ahnte er ja nicht, welch ein Glück ihm bevorstand.

Wenn sie ihn dadurch aufs neue bezaubern könnte! Wie begehrlich hatten oft seine Augen an ihr gehangen, wenn sie sich geschmückt hatte. Und plötzlich eilte sie zu den Schränken und wühlte in eiliger Hast ihre verschiedenen Toiletten durch. Wo fand sie etwas, das sie besonders reizvoll erscheinen ließ? Da griffen ihre Hände in eine Fülle weichen Seidenchiffons. Ja, dieses weiße, weiche Morgengewand, das war das richtige. Sie schellte dem Kammermädchen und bald war die Toilette beendet. Einer zarten Duftwolke glich das kostbare Gewand, das Hals und Arme halb freiließ. Lächelnd beschaute sie ihr Ebenbild im Spiegel. Nein, nicht diese kunstvolle Frisur, nicht das strahlende Diadem, in losen Locken steckte sie sich selbst die Haare zusammen. Jeglichen Schmuck verschmähend, ließ sie sich von dem Gärtner einige frisch erblühte Druschki-Rosen aus dem Treibhaus holen. Weiße Rosen, die sie ihm damals immer sandte. Diese befestigte sie an ihrer Brust und wie sie so dastand, das Haupt leicht zur Seite geneigt, die Hände lose ineinander geschlungen, glich sie einem holdseligen Engel der Unschuld. Noch einen bewundernd verstohlenen Blick warf das Kammermädchen auf ihre Herrin, deren Wangen so fieberhaft glühten, dann verließ sie lautlos das Zimmer.

Nun würde sie bald Gewißheit haben. Wenn nur das Herz nicht gar so heftig und ängstlich pochen wollte! Warum denn? War sie nicht seine Gattin, die ein Recht hatte, zu fordern? Und wenn er sie von sich stieß? »Ich will es noch einmal, noch ein einziges Mal versuchen.«

Immer langsamer wurde ihr Schritt, als sie sich dem Zimmer ihres Gatten näherte. Und dann trat sie ein. Erik hatte sie nicht kommen hören. Er stand am Fenster und schaute sinnend in den schweigenden Abend hinaus. Was er jetzt wohl denken mochte? Ihre Füße zitterten und sie lehnte sich, gleichsam Halt suchend, an die schweren Portieren, die hinter ihr zusammenschlugen. Die strahlende Helle des Zimmers tat ihr fast weh. Erik liebte es, sämtliche Lampen zu entzünden. Sie senkte den Kopf und ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen.

Erik aber hatte den Laut doch vernommen und wandte sich um. Mit einem Ausruf der Überraschung blieb er stehen. Seinem für Schönheit so empfänglichen Auge bot sich ein wunderbarer Anblick: von dem dunklen Hintergrund der Samtportiere hob sich die weiße Frauengestalt plastisch ab, einer Engelsgestalt Raffaels ähnlicher denn einem Menschen.

Das Licht reflektierte auf dem Haar, das gleich einem Heiligenschein das feine Köpfchen umrahmte. Sekunden vergingen, die beiden Gatten standen sich regungslos gegenüber – Isolde unbewußt, welchen Eindruck sie gerade jetzt auf den Gatten machte, Erik geblendet von soviel Liebreiz. Er hätte jetzt zu ihr hinstürzen und zu ihren Füßen niederknien mögen, wagte sich jedoch nicht von der Stelle aus Furcht, diesen wunderbaren Traum zu zerstören.

Nun aber trat Isolde einen Schritt vor. Vergeblich versuchte sie ihrer Stimme Festigkeit zu geben, zitterte doch die Erregung zu deutlich in jedem ihrer Worte.

»Der Besuch ist fort, du wünschtest mich zu sprechen.«

Gleich wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, strich sich Erik über die Stirn. Auch seine Stimme klang heiser, als er antwortete:

»Wenn du Zeit hast, dann möchte ich wohl einiges mit dir besprechen.«

»Ich habe Zeit – bitte, was wünschest du?«

Wie kühl sie das sagte! Er schob ihr einen Sessel hin; sie aber schüttelte den Kopf.

»Ich danke.«

Wieder tiefes Schweigen. Der holde Anblick verwirrte seine Sinne, wie gebannt schaute er auf die zarte Gestalt und fand keine Worte. Isolde wartete in fieberhafter Angst und hätte doch an seinen Hals fliegen mögen. Sie sah das Flimmern in seinen Augen, sie sah auch den Kampf, den er kämpfte, um zur Ruhe zu kommen. Und sie senkte den Kopf noch tiefer, war das Haß, grenzenloser Haß?

»Du hattest heute abend die Einladung abgesagt?«

»Ja.«

Wieder ein sekundenlanges Schweigen.

»Blendet dich das Licht?«

»Nein.«

»Ich will aber doch ... – er drehte einige Lampen ab. Aufgeregt wanderte er im Zimmer umher. warum erleichterte ihm Isolde nicht diese Aussprache! Wenn sie ihm doch wenigstens Vorwürfe machen wollte; aber still, fast regungslos stand sie da und wartete.

»Der Besuch ist fort?«

»Ja, vor etwa einer halben Stunde sind sie gegangen.«

Erik kam sich selbst unsäglich lächerlich vor. Da stand er nun endlich einmal wieder seiner Frau unter vier Augen gegenüber und fand die richtigen Worte nicht, verstand es nicht, das Gespräch auf das zu lenken, was ihm am Herzen lag.

»Möchtest du nicht wenigstens Platz nehmen?«

Da setzte sich Isolde einem schüchternen Kinde gleich auf den Sessel.

»Du siehst blaß aus; ich fürchte, die vielen Gesellschaften strengen dich an.«

Sie schüttelte verneinend das Haupt.

»Es ist ja aber auch wirklich zu viel, was du dir vornimmst. Bedenke doch, in den letzten acht Tagen haben wir uns kaum einmal allein gehabt.«

Wieder keine Antwort.

Immer rascher fuhr er nun fort: »Du hast dich sehr gegen früher verändert. Wenn ich an unsere Norwegenreise zurückdenke, damals waren wir froh, wenn wir allein sein konnten; heute« – eine leise Bitterkeit tönte aus seinen Worten, »heute kommt es mir fast vor, als weiche der eine dem anderen aus.«

Noch immer hielt Isolde den Kopf gesenkt. Erik blieb dicht vor ihrem Sessel stehen und betrachtete ihren kleinen Fuß, der in dem feinen, seidenen Strumpf und den Atlasschuhen unter dem Rocksaum hervorsah. Wie zierlich war doch alles an dieser Frau, wie fein und zart! Am liebsten hätte er sich niedergebeugt und diesen kleinsten aller Frauenfüße geküßt.

Mit Gewalt riß er seinen Blick davon los.

»Wir sind beide jung, wir haben noch ein langes Leben vor uns, ein Leben, das wir gemeinsam gehen wollen, mitunter aber denke ich – es wäre am besten –«

Erschrocken schlug Isolde die dunklen Augen auf. Jetzt mußte es kommen, das furchtbare Wort, jetzt würde er von der Trennung sprechen, jetzt würde sie ihn ganz verlieren!

»Es wäre am besten – wenn –?« wiederholte sie fragend.

Sein Antlitz war wie in Blut getaucht ... »Wenn wir uns gegenseitig entgegenkämen, wenn wir diesem häßlichen Zusammensein ein Ende machten, wenn –«

Isolde hatte sich erhoben. Fest preßte sie die Hände aufs Herz, vor ihren Augen flimmerte es und tonlos kam es von ihren Lippen: »Denkst du an Scheidung?«

Erik starrte sie an. Hatte er ihr nicht soeben die Hand zur Versöhnung reichen und diese stumme Feindseligkeit begraben wollen? Und sein Weib dachte an Scheidung! Vielleicht hatte sie sich längst mit diesem Gedanken vertraut gemacht, während er, der Narr, der er war, sich mit Versöhnungsgedanken getragen hatte! Er hätte laut auflachen mögen, aber er ballte nur die Fäuste in ohnmächtiger Wut. Er hätte sich jetzt am liebsten auf dieses verführerisch schöne Weib stürzen mögen, die so unschuldsvoll aussah und doch so zu quälen verstand. Sein Blick fiel auf die weißen Rosen an ihrer Brust und er dachte zurück an den Tag, da sie ihm zum ersten Male die herrlichen Blüten geschenkt hatte.

Isolde faßte sich zuerst. Ihre Hand umklammerte die Lehne des Sessels, aber ihre Stimme klang ruhig: »Wenn du an eine Scheidung gedacht hast, so kann ich heute nicht mehr darein einwilligen.«

» DU sprachst das Wort zuerst.«

»Ich glaubte deine Gedanken zu erraten.«

»Das ist nicht wahr,« fuhr er fort, »Du hattest keine Ursache, meine Worte falsch zu deuten.«

»Ich glaubte ja nur – um so besser, wenn ich mich irrte.«

»Aber so ein Leben, wie wir es führen, ist gar keins, so kann und will ich es nicht weiter ertragen. Noch vor wenigen Monaten machtest du mich glauben, daß du mich wirklich liebest, und heute? Was tat ich dir, daß du mich so hassest?«

»Ich hasse dich nicht.«

»Warum dann solch ein Betragen? Warum weichst du mir aus. Warum lädst du alltäglich Gäste ein? Nur, weil du ein Zusammensein mit mir vermeiden willst, weil es dir entsetzlich ist, mit mir auch nur eine einzige Stunde zu verbringen.«

Isolde lächelte bitter.

»Ich möchte dich zurückfragen: Warum gönnst du mir kein gutes Wort? Warum suchst du mein heißes Herz mit soviel Kälte zu töten?«

»Bist du es nicht gewesen, die mich zum Äußersten getrieben hat? Hast du nicht mit grundlosen Verdächtigungen mich bitter gekränkt? Hast du seit meiner Rückkehr von Amerika schon Zeit gefunden, mich zu begrüßen? Interessiert dich überhaupt mein Leben? Eifersüchtig bist du auf meine Kolleginnen, auf meine Bekannten, auf meinen Beruf, und diese grundlose Eifersucht verbittert mir jede freie Stunde.«

»Du hast stets wenig Zeit für mich übrig. Dein Beruf gilt dir mehr als deine Frau.«

»Mein Beruf ist mir unendlich teuer, aber auch dich, dich habe ich einst geliebt.«

»Du hattest mich geliebt?« Schmerzlich kam es von Isoldens Lippen.

»Du selbst,« fuhr Erik erregt fort, »bist schuld, wenn es anders wurde. Ich habe es ehrlich versucht, ich gab dir keinen Grund zur Klage und so ist denn aus unserer Ehe das geworden, was sie heute ist: zwei Menschen, die nur mit innerem Widerstreben denselben Weg gehen, die –«

»Das ist nicht wahr!«

»Das ist wohl wahr. Oder betrachtest du es vielleicht auch heute noch für ein Glück, den Sänger deinen Gatten zu nennen?«

»Ja.«

Erik trat einen Schritt zurück, hatte er recht gehört? Dann aber lachte er laut und schneidend auf.

»Und warum weichst du mir dann aus? Worin besteht denn dein Glück jetzt noch?«

Sie senkte den Kopf, und eine Blutwelle ergoß sich über ihr Gesicht.

»Mein Ruhm lockt dich nicht, mein Geld – du selbst hast ja mehr denn ich, also auch das ist es nicht, worin liegt also dein Glück?«

»In der Zukunft.«

»In der Zukunft? Ich glaube nicht, daß sich unsere Ehe in der Zukunft anders gestalten wird, denn – eine Scheidung, sagtest du selbst, willst du nicht eingehen. Oder,« fuhr er erregt fort, »könntest du wirklich noch immer glauben, ich entsagte der Bühne? Diese Hoffnung will ich dir für alle Zeit nehmen. So wahr ich heute noch dein Gatte heiße, so wahr entsage ich meiner Kunst nicht. Und will es das launige Glück, daß ich einmal die Stimme verliere, dann werfe ich auch das Leben hin. Ich lebe und sterbe mit meiner Kunst.«

Ein leises Frösteln überlief Isolde. Nein, es würde ihr niemals gelingen, den Gatten der Bühne abzuwenden. Der kleinste Hoffnungsschimmer schwand dahin. Es würde ihr wohl nichts übrigbleiben, als sich seufzend in ihr Schicksal zu finden. Die höhnische Stimme Eriks unterbrach sie in ihren Gedanken:

»Nun, teures Weib, wie denkst du dir unsere Zukunft?«

Ihre Augen blickten träumerisch ins Leere, und leise kam es von ihren Lippen: »An den Tagen, an denen der Beruf meinen Gatten mir fernhält, wird mir mein Kind ein Ersatz sein.«

Ein Aufschrei, dann ein sekundenlanges Schweigen. Isolde hatte die Hände vor das erglühende Antlitz geschlagen, und schwere Tränen rannen durch ihre Finger.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Erik auf seine Frau, ein Freudestrom durchflutete ihn, gepreßt stieß er hervor: »Was ist? Ich habe wohl nicht recht verstanden. Oder ist's wahr?«

Sie nickte. Da lag er zu ihren Füßen und umschlang in zitternder Erregung sein Weib. »Das habe ich nicht gewußt, nicht geahnt, vergib, o vergib mir. Wie konnte ich dir so wehe tun!« Dann sprang er auf, zog ihr die Hände von dem tränenüberströmten Antlitz und küßte sie. Es war ihm so wundersam, so heilig zumute. Er hätte aufjauchzen und auch wieder stumm die Hände falten mögen. Sanft führte er die Willenlose zum Diwan.

»Sieh' mich an,« bettelte er, »sieh' mich doch nur ein einziges Mal an!«

Isolde schaute ihm ergriffen in die Augen.

»Mein Erik, nun habe ich dich endlich, endlich wieder!«

»Mein Weib!«

Stumm hielten sie sich umschlungen. Einen heiligen Schwur legte der Künstler in dem Augenblick ab. Dieses zarte, süße Wesen, das er hier im Arm hielt, sein Weib und bald die Mutter seines Kindes, sollte von nun an einen liebevollen, verstehenden und verzeihenden Gatten finden; nie wieder sollte eine Klage über diese süßen Lippen kommen, sein heißes, wildes Temperament wollte er zügeln und dauernd Frieden, Eintracht und Glück in sein Haus bannen.

»Du liebst mich noch, meine Isolde?«

»Ich liebte dich immer, immer, Erik, und jetzt mehr denn je.«

»Du Engelsbild!«

»O nicht doch,« lächelte sie träumerisch, »und nun küsse mich, ich habe es ja so lange entbehren müssen.«

Vorsichtig, als könnte er sie zerbrechen, drückte er sie an sich. In seinem Herzen war ein Singen und Klingen, er schloß die Augen, als blendete ihn die Fülle des Glücks.

* * *

Die Probe war beendet. Klappernd und lärmend räumten die Orchestermitglieder ihre Instrumente zusammen. Der Kapellmeister wischte sich die Tropfen von der Stirn. Auf der Bühne standen die Künstler, lebhaft plaudernd. Dieser in eifrigem Gespräch mit dem Regisseur, jener lächelnd mit den Kolleginnen. Erik lehnte müde an der Kulisse und blickte in den leeren Zuschauerraum, der ihm unheimlich schwarz entgegengähnte. Er war unzufrieden mit sich. Die Stimme hatte nicht recht gehorchen wollen, die wuchtigsten dramatischen Szenen waren ihm mißglückt. Auch der Kapellmeister mußte es bemerkt haben, denn mehr als einmal war dessen Blick forschend über ihn hingeglitten, und manche Stelle war nochmals durchgenommen worden. Doch war Erik auch wieder davon überzeugt, daß ihm bis zum Tage der Aufführung eine einwandfreie Leistung gelingen würde. Nur üben, rastlos arbeiten hieße es.

Die Theaterarbeiter standen wartend da, warteten, daß der Künstler die Bühne verließe. Neckend rief ihm eine Kollegin zu:

»Santos, schlafen Sie mit offenen Augen?«

Er erwachte wie aus einem Traum. Richtig, es war Zeit. Er eilte ins Konversationszimmer, um seine Noten zu holen. Dort fand er Vera Reichmann und die anderen Kollegen.

»Na, da ist ja der Ausreißer,« rief der Bassist dem Eintretenden entgegen.

»Na, Reichmännchen, die Intendanten-Exzellenz machte ein Gesicht, als sie Ihren Brief erhalten hatte – kostet sicher Strafe! – und unser Regiematz schimpfte, daß die Wände wackelten. Mir selbst gingen die Haare aus vor Kummer, daß Sie nicht da waren.«

»Ja, Kindchen, wo haben Sie denn gesteckt?«

»Ausgerissen ohne Urlaub.«

Lachend schob die Künstlerin die sie umdrängenden Kollegen beiseite.

»Kinderchen, seid doch vernünftig. Ich bin eben auf drei Tage verschwunden gewesen, ich habe doch der Exzellenz geschrieben!«

»Ja, freilich, eine ganze Viertelstunde vor Beginn der Oper!«

»Na, mein Himmel, mögen doch auch einmal andere singen!«

»Aber keine so schön.«

»Affe!« meinte Vera und schlug mit dem Schirm nach dem Bassisten.

»Na warte, du Racker, der Intendant wird dich schon anhauchen.«

»Immer Ruhe, sonst werde ich sofort krank und singe drei Monate lang nicht.«

»Aber süßes Vieh, das wirst du mir doch nicht antun.«

»Ach Santos – hu, Mensch, wie sehen Sie angegriffen aus!«

»Die Trennung von dir, Verchen!« mischte sich wieder der Bassist ein.

»So halte doch endlich deinen großen Mund, Kurtchen, ich rede doch jetzt mit dem Santos.«

»Na ja, da können wir ja wohl gehen, holde Göttin.«

»Ja freilich.«

Unter Lachen und Scherzen verließen die anderen Künstler das Zimmer, Erik und Vera blieben allein zurück.

»Nun erzählen Sie doch einmal,« begann Erik. »Was war Ihnen denn eingefallen, so heimlich davonzulaufen?«

»Mein Gott, nur drei Tage bin ich weggewesen.«

»Warum haben Sie sich vorher keinen Urlaub geben lassen?«

»Weil es mir am Dienstag so ganz plötzlich in den Sinn gekommen war, zu verreisen. Da hatte ich schnell den Koffer genommen, gepackt und war noch am selben Abend abgereist. Im Wartesaal hatte ich dem Intendanten eine Karte geschrieben, daß ich in drei Tagen wieder da wäre.«

»War denn die Reise so wichtig gewesen?«

Die Augen der Künstlerin senkten sich. »Ja. Aber kommen Sie, hier ist es so eng, kommen Sie hinaus. Sehen Sie, Santos, wie herrlich die Sonne lacht. Kommen Sie, ich begleite Sie ein Stück, und dabei – erzähle ich Ihnen alles.«

Schweigend schritten die beiden eine Weile nebeneinander her. Es war ein herrlicher Maitag; ringsum das frische Grün der Bäume, blühende Blumen und das Zwitschern der Vögel. Vera atmete schwer.

»Scheußlich dieser Mai! Findest du das nicht auch, Santos?«

»Nein. Man nennt ihn mit Recht den wunderschönen, den schönsten Monat.«

»Aber ich kann ihn nicht leiden, das mag daher kommen, weil des Lebens Mai für mich schon verflossen ist.«

»Sie sind sentimental, Vera, das ist mir neu an Ihnen.«

»Wissen Sie, wo ich war?«

»Nein, wie sollte ich wohl!«

»Daheim!«

»Daheim? Wo? Ich verstehe nicht.«

»Nun, daheim, bei meinen Kindern.«

»Vera!«

Sie lachte rauh auf. »Ja, ja, starren Sie mich nur an wie ein Gespenst! Ich bin nicht wahnsinnig, ich bin ganz normal. Ich war daheim in A. Ist das nicht ein toller Spaß?«

Sie lachte laut auf, dennoch lief ein Zittern durch ihren Körper.

»Vera, warum quälen Sie sich so?«

»Ich konnte nicht mehr, es ging über meine Kräfte. Ich hatte gekämpft Tag und Nacht. Es hatte mir keine Ruhe gelassen. Am Mittwoch wurde mein Hans einundzwanzig Jahre, da hielt ich es nicht mehr aus, ich mußte hin. Und ganz ungesehen war ich dort, und nur von weitem habe ich ihn gesehen, dann – dann bin ich wieder abgereist, er hat seine Mutter nicht gesehen.«

Ihre Züge verzerrten sich wie im Krampf, dann aber lachte sie wieder auf. »Na Santos, was meinen Sie, bin ich nicht verrückt?«

Erik sah, daß sie sich nur mühsam aufrechthielt, und winkte einen Wagen heran.

»Sie fahren jetzt heim, Vera, ich bringe Sie nach Hause, Sie brauchen Ruhe.«

»Nein, nein, lassen Sie uns planlos herumfahren, dann bin ich bald wieder die alte.«

Sie stiegen ein, und nun ergriff Santos ihre Hände.

»Vera, Sie leiden.«

»Nein, ich habe schon wieder alles verschmerzt.«

»Sie belügen sich selbst, Vera!«

Da schlug sie die Hände vor das Gesicht, und in abgebrochenen, stöhnenden Lauten kam es von ihren Lippen: »Meine Kinder, mein Hans, mein Gert, – ich darf sie nicht einmal ans Herz drücken, ich bin tot für sie; o, hätte ich sie nicht wiedergesehen, jetzt gehe ich an der Sehnsucht zugrunde. Sehnsucht hatte mich verrückt gemacht. Um mich zu betäuben, war ich dir nachgelaufen, wollte deine Frau Venus, deine Isolde sein. Du warst der Vernünftigere. Und das hat mir geholfen, mich wiederzufinden. Ich suchte die Kraft dazu bei meinen Kindern! Und nun frißt die Sehnsucht in mir wie ein Wurm am Lebensmark.«

Erschüttert beugte sich Erik zu ihr. »Vera, und Ihre Kunst?«

»Meine Kunst?« Ein wehes Lächeln ging über ihrs Züge.

»Du hast recht, man kann wohl keine gute Mutter und Künstlerin zugleich sein, – eins oder das andere. Und doch, als ich ihn gestern sah in seiner jungen, starken Schönheit, so ganz meine Züge tragend, da riß etwas in meinem Herzen; und nun glaube ich, daß diese Wunde nie mehr heilt.«

»Armes Kind, wie müssen Sie leiden!«

»Wenn ich sie bei mir haben könnte, o wie wollte ich sie lieben, Erik! Ich wollte, ich wäre gestern, als ich da hinter den Bäumen wie eine Verbrecherin stand, tot hingefallen; dann hätte alle Qual ein Ende gehabt.«

Plötzlich lachte sie gellend auf. »Hahaha Erik, Sie hätten sehen sollen, wie ich da so heimlich stand, ich, die berühmte Reichmann, hinter dem Zaun, in dem elenden Nest. Es ist zum Totlachen! Oder malen Sie sich aus: Vera Reichmann kehrt reumütig in das Haus des Gatten zurück, stopft ihren Jungen die Strümpfe und wäscht für den Mann die Kragen und Manschetten und flickt ihm die Hosen, die er auf dem Kontorstuhl zerrissen hat.«

»Hören Sie damit auf, Vera, ich kann das nicht mehr hören.«

»Pah, und wollen Sie glauben, daß ich wirklich einen Augenblick im Ernst daran dachte, in sein Heim zurückzukehren? Ich, eine kleine Beamtenfrau!«

Sie lachte, lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Ich sänge dann meinen Enkelkindern die schönsten Wiegenlieder, damit meine Stimme nicht einrostete, oder aber sänge daheim irgendein Volkslied, und mein Gatte begleitete mich auf der Ziehharmonika! Ist das nicht geradezu zum Lachen? Aber so lach' doch auch, Erik –«

»Du bist außer dir, Vera. Ich kenne dich doch, mich kannst du so leicht nicht täuschen. Denkst du denn, ich kann es nicht nachempfinden, wie dir zumute ist? Aber bei uns heißt eben, der Kunst ihren Tribut zahlen; das ist bitter schwer, aber es muß sein.«

»Ja, das ist bitter, habe keine Sorge, Erik, ich finde mich schon wieder zurück. Einmal wieder umrauscht vom Beifall der Menge, und jenes kleine rosenumrankte Haus versinkt wie ein Traum. Nur meine Kinder, die möchte ich um mich haben, sie würden mein Glück sein.«

»Dein Glück sei dein Beruf!«

»Ja, Erik. Ich will und ich werde vergessen. Ich habe ja leichtes Blut in den Adern. So, und jetzt fahren wir heim.«

»Nicht doch, Vera, beruhige dich ganz, dann werde ich dich heimgeleiten.«

Sie schüttelte den Kopf. Erik rief dem Kutscher die Adresse der Sängerin zu, und aufatmend lehnte sich diese in die Polster des Wagens zurück.

»Und nun vergiß das alles, was ich soeben gesagt habe, Erik. Ich bin eben ein törichtes Weib. Erzähle mir lieber, wie es dir geht.«

»Danke, gut.«

»Das klingt nun allerdings ganz wie das Gegenteil. Und was macht die Gattin?«

»Danke, gesund.«

»Brrr, da wird einem ja Angst, ist sie noch immer so – nun wie soll ich sagen – so nervös?«

»Sie hat arg zu leiden.«

»Und wann trittst du deine Stelle als Papa an?«

»Ich denke Anfang Juli.«

»So, das trifft sich ja recht ungünstig, gerade zu Beginn der Ferien; hast es dir nicht gerade sehr bequem ausgesucht. Rücke nur beizeiten aus, denn Frauen machen bei solchen Ereignissen die Männer verdreht. Freut sie sich sehr?«

»Ja.«

»Um Gottes willen, sei doch nicht so unglaublich zugeknöpft. Erzähle mir doch mal etwas von eurem Daheim. Wie steht ihr denn jetzt zusammen?«

»Laß nur, Reichmann, es ist besser, wir reden von etwas anderem.«

Eine Weile herrschte Schweigen, plötzlich aber strich die Sängerin zärtlich über Eriks Gesicht. »Laß es gut sein, Schaf, wir haben eben alle beide bei unserem Wettrennen um den Ruhm ein gewaltiges Hindernis zu nehmen. Bei mir ist es ein rosenumranktes Haus, aus dem zwei blonde Jünglingsköpfe herausschauen, bei dir ist es eine goldene Kette, die man dir um den Fuß legt. Vielleicht brechen wir uns, wenn wir darüber hinwegzuspringen versuchen, beide das Genick; vielleicht aber auch nehmen wir das Hindernis spielend, – warten wir ab.«

»Was willst du, Reichmann? hast du nicht längst das gesteckte Ziel erreicht?«

»Nein, solange ich diese Schranke nicht durchbrochen habe –«

»Es war verkehrt von dir, alte Erinnerungen aufzufrischen.«

»Kann ich gegen mein eigenstes Ich ankämpfen? Es war auch von dir verkehrt, diesen großen Geldsack zu heiraten.«

»Vera!«

»Ja, fahre mich nur ruhig an, ich sage dir doch, es war verkehrt. Sei auf der Hut, daß dich deine Frau nicht von deiner Höhe herunterzieht zu sich und ihrem goldenen Kalb.«

»Höre damit auf!«

»Ich habe wohl gemerkt, daß du der alte nicht mehr bist. Ich warne dich, Erik. Noch ist es nicht zu spät.«

»Ich kann jetzt nicht anders.«

»Haha, Rücksichten auf das Kind?«

»Ja, Vera. Es ist etwas Heiliges um ein Weib, das Mutter wird. Ich kann sie jetzt nicht kränken.«

»Und habt doch so oft Skandal!«

»Ja, weil ich zu leicht heftig werde, weil mich ihre grundlosen Verdächtigungen verbittern, vor allem aber, weil sie dauernd meinen Beruf schmäht. Das kann ich, das will ich nicht hören. Sehe ich dann aber wieder das tränenüberströmte Antlitz und bedenke, welche Leiden und Schmerzen ihr bevorstehen, was sie für mich noch alles wird dulden müssen, dann gebe ich nach, obgleich ich schon manchmal stark mit dem Gedanken, umgegangen bin, der ganzen Qual ein Ende zu machen.«

»Santos!«

»Ja, Vera, so weit ist es mit mir. Es kostet mich übermenschliche Anstrengungen, ruhig zu bleiben: sie quält mich bis aufs Blut, und ich bin auch nur ein Mensch. – Pass' auf, es gibt ein Ende mit Schrecken.«

»Sie hat doch kein Recht, dich zu knechten!« fuhr Vera auf. »Im übrigen: wer sich meinem Ruhm in den Weg stellt, der wird zertreten.«

»Aber sie ist meine Frau, – das bedenke!«

»Das ist keine Frau, die so handelt.«

»Quäle mich nicht auch noch, es ist ohnehin alles wund und aufgewühlt in meinem Innern. Ich wollt', ich lebte nicht.«

»Und warum hast du nicht den Mut, ein neues Leben zu beginnen?«

»Und was wird aus meinem Kind?«

»Opfer zu bringen, fordert unser Beruf.«

Erik schüttelte das Haupt. »Nein, ich kann sie jetzt nicht verlassen.«

»Schäme dich, für so schwach hätte ich dich nicht gehalten. Schon mancher ist an einem Götzen zugrunde gegangen. Hüte dich, Erik, es wäre schade um dich.«

Der Wagen hielt.

»Sieh', ich bin wieder die alte, setze auch du dich mutig über alles hinweg. Du bist Künstler, sollst nichts weiter sein, versprich es mir, Erik, fang' ein neues Leben an!«

»Nein, nicht jetzt.«

»Dann aber ist's zu spät.«

»Leb' wohl!« Sie sprang aus dem Wagen und verschwand in der Tür. Kurz nannte der Sänger dem Kutscher seine Adresse und in schwere Gedanken versunken fuhr er seinem Heim zu.

* * *

»O weh, jetzt habe ich dich mit dem Essen warten lassen.« Mit diesen Worten trat Santos in das Eßzimmer, in dem seine Frau am Fenster saß und nervös mit den Fingern gegen die Scheiben trommelte. Sie sah blaß aus.

»Jawohl, seit einer vollen Stunde warte ich schon.«

»Und da ist die Suppe kalt geworden und der Braten zähe, nicht wahr?« lachte er.

»Es ist doch keine Art, deine Frau so lange warten zu lassen,« entgegnete Isolde gereizt, indem sie nach dem Essen schellte.

»Mein Gott, am Essen hängt nicht unsere Seligkeit. Du glaubst auch nicht, wie wenig man Herr seiner Zeit ist. Man denkt, man werde heute pünktlich heimkommen, da klappt entweder ein Ensemblesatz nicht, oder man trifft Bekannte, die einen aufhalten und denen man Rede stehen muß. Dann versperrt einem irgendein Backfisch den Weg, und so geht es fort; manchmal ist es wirklich das reine Spießrutenlaufen.«

»Dir dürfte dieses Spießrutenlaufen wohl Spaß machen?«

»Aber Kind, sei doch nicht gleich wieder so übel gelaunt, weil die Suppe kalt wurde; sei lieber froh, daß ich jetzt da bin. Kaum bin ich zur Tür hereingetreten, da schmollst du schon wieder.«

»Du hast aber auch für jeden anderen Menschen mehr Zeit als für deine Frau. Hast du nicht in jeder freien Stunde Besuch? Es ist überdies wieder ein Blumenkorb abgegeben worden. Du solltest dir eigentlich diese Anhimmelungen energisch verbitten.«

Erik lachte laut auf. »Verbitten! Nein, mein Kind, mich freut es; je mehr, je besser. Wer es schickt, ist natürlich ganz gleichgültig; aber Anerkennung muß ich haben, hier bei dir finde ich sie ja doch nicht.«

»Ich finde es aber auch wirklich zu viel. Man behandelt dich ja wie einen Halbgott.«

Behaglich dehnte sich Erik in seinem Stuhl: »Na, ich kannte eine junge Dame, die stiftete mir nach jedem Auftreten einen großen Strauß weißer Rosen. Nun, was sagst du dazu?«

Unwillig wandte sich Isolde ab, aber lachend ergriff Erik ihre Hände und drückte einen Kuß darauf.

»Nun, Maus, nun kannst du nichts mehr sagen, wie?«

»Das war damals etwas ganz anderes. Du warst unverheiratet; heute aber müßten sich diese vielen Verehrerinnen doch sagen, daß das deiner Frau unangenehm ist.«

»Das darf es eben nicht sein. Du als Frau eines Künstlers müßtest dich freuen, wenn man ihm huldigt.«

»Freuen? Mir ist das unangenehm.«

»Ja, ja, Schatz, du bist wirklich eine merkwürdige Frau. Ich ernte Ruhm und Ehren, und du nimmst dir nicht einmal die Mühe, die Berichte darüber zu lesen. Interessierst du dich wirklich so wenig für mich und meine Kunst?«

»Mein Gott,« entgegnete Isolde nervös, »ich weiß ja gar nicht, was sie alles wollen. Du singst sehr schön, gut, aber andere können das doch auch. Und schließlich ist doch jeder große Baumeister, jeder Erfinder, jeder Maler auch ein Künstler.«

Verstimmt schwieg Erik. Da war man ja wieder auf dem alten Thema. So ging es jeden Tag und fast schien es, als fände Isolde ein Vergnügen daran, ihn zu reizen.

Schweigend wurde das Essen eingenommen. Als sich Erik erhob, rief Isolde pikiert: »Hast du vielleicht heute nachmittag auch keine Zeit?«

»Ich möchte jetzt eine Stunde ruhen, dann muß ich üben.«

»Lieber Gott, heute morgen hast du bis zehn Uhr geschlafen und nun willst du schon wieder ruhen. Als großer Künstler müßtest du es doch kaum nötig haben, immer und immer noch zu üben.«

Erik würgte eine heftige Entgegnung herunter. »Darüber darfst du dir kein Urteil anmaßen, denn das verstehst du einfach nicht.«

»Wenn du wenigstens noch etwas Vernünftiges singen wolltest, aber diese immerwährenden langweiligen Tonleitern machen mich vollständig nervös.«

»Du dürftest das, wenn du in deinem Zimmer bist, wohl kaum hören.«

»Etwas leiser könntest du schon singen.«

Ärgerlich lachte Erik auf. »Wie ein dummes Mädchen sprichst du. Im übrigen werde ich üben, wann und wie es mir gefällt.«

»Du bist wirklich äußerst liebevoll zu deiner Frau.«

»Dann soll meine Frau nicht so törichtes Zeug sprechen.«

Da trat der Diener ein und brachte einen riesenhaften Korb der herrlichsten roten Rosen ins Zimmer. Mit einem Ausruf des Entzückens neigte Erik den Kopf in die Blüten.

Mit finsterer Stirn blickte Isolde auf das kostbare Arrangement.

»Von wem denn?«

Gleichgültig erbrach Erik den beigefügten Brief und schlug ein heiteres Lachen an.

»Nun?« fragte Isolde.

»Ach Gott, eine verdrehte Amerikanerin. Vor einem Vierteljahr hatte sie mich drüben einmal besucht und mir so eine halbe Liebeserklärung gemacht; jetzt ist sie hier in Deutschland und schreibt mir da ein paar überschwengliche Zeilen.«

Isolde nahm den Brief und las. Mit einem Wutschrei ballte sie das Schreiben zusammen und schleuderte es zu Eriks Füßen.

»Unverschämtheit, – was soll das heißen?«

»Was denn, Kind?«

»Spiele nicht den Unschuldigen. Sie fragt hier an, ob du es dir mit der Scheidung überlegt hättest.«

»Aber Kind, so höre mich doch an!«

»Nein, nein, ich will nichts hören, du betrügst mich,« und sie brach in leidenschaftliches Weinen aus.

»Aber liebes Kind –«

»Fort, rühre mich nicht an! Hinter meinem Rücken redest du von Scheidung. O, ich ärmste aller Frauen!«

»Aber so laß dir doch die Sache erzählen!«

»Nein, nein, ich will nichts hören!« Sie stampfte wild mit dem Fuß auf den Boden. »Du betrügst mich, das ist sonnenklar.«

»Rede keinen Unsinn, höre mich an –«

»Schweige!«

»Isolde!«

»Ja, nun spiele noch den Beleidigten. Hahaha, damit kommst du schlecht bei mir an. Deine Theatermätzchen mache nur auf der Bühne, aber nicht hier bei mir. Ich weiß es ja längst, daß du mich schon zehnmal betrogen hast.«

»Und wenn ich dich betrügen würde, wer könnte es mir verdenken? Habe ich nicht ein Weib, das mich geradezu dazu zwingt? Bringst du meiner Kunst auch nur das geringste Verständnis entgegen? Ist es dir nicht vollständig einerlei, was ich leiste? Mit Freuden würdest du es hören, wenn ich der Bühne »Ade« sagen müßte, wenn ich meine Stimme verlieren würde. Und an der Seite einer solchen Frau soll ich glücklich sein?«

»Du gehörst mir und keiner anderen,« schrie Isolde auf, »den Tag will ich segnen, an dem du deine Stimme verlierst!«

Mit eisernem Griff packte er sie und schleuderte sie von sich. »Natter,« zischte er, »den Triumph sollst du nicht erleben, eher erwürge ich dich mit diesen meinen Händen!«

»Wer bist du denn?« schrie ihn Isolde an. »Ein hergelaufener Junge, der sich das Geld zu seiner herrlichen Kunst von anderen erbetteln mußte!«

Ein unterdrückter Schrei tönte durch den Raum. Keuchend hielt Erik an sich; am liebsten hätte er sich auf diese Frau stürzen mögen. Isolde außer sich, fuhr fort:

»Und glaubst du, ich wüßte nicht, daß du da drinnen in deinem Schreibtisch wohlverschlossen ganze Stöße von Liebesbriefen hast, daß eine gewisse Erna bis auf den heutigen Tag deine Geliebte ist? Ich habe alle diese Briefe gelesen.«

Weiter kam sie nicht. Erik war auf sie zugestürzt.

»Verfluchtes Weib!«

Isolde wankte, fiel der Länge nach auf den Boden. Erik aber stürzte davon, riß Mantel und Hut vom Ständer und stürmte hinaus. Seine Brust keuchte, seine Füße versagten ihm den Dienst, taumelnd lehnte er sich an einen Baum. Seine Hände tasteten nach den Taschen, aber der erlösende Revolver war nicht zu finden. Da schlug er die Hände vor das Gesicht und weinte wie ein Kind.

* * *

Es dunkelte bereits, als Erik, einem müden Wanderer gleich, heimkehrte. Die Pflicht zwang ihn, er mußte heute abend singen. Wie aber sollte ihm das möglich werden? Sein Hals war trocken, noch zitterte die furchtbare Erregung in ihm nach. Wenn er jetzt vor sein Weib hinträte und ihr in knappen, kalten Worten mitteilte, daß er nun für immer von ihr gehe?

Nein, noch will und kann er sie nicht sehen.

Das Haus lag merkwürdig still – kein Laut war zu hören. Wahrscheinlich war sie ausgefahren; Erik atmete bei diesem Gedanken erleichtert auf. Wenn er jetzt frei wäre oder Isolde tot! Er schauerte zusammen. Welch fürchterliche Gedanken waren das! Nur schnell das Nötigste zusammengerafft und dann fort, fort in die Oper! Dort, in dem seiner geliebten Kunst geweihten Tempel würde er die Ruhe wiederfinden.

Auch dort herrschte noch wenig Leben. Es war noch zu früh. Wohl eilten die Theaterarbeiter hin und her, ihn achtungsvoll grüßend, wohl lief ihm der Inspizient in den Weg: »Herr Santos, schon so früh?« Erik durchwanderte nervös die Garderobe. In schönster Ordnung lagen die silberne Ritterrüstung, der lange Mantel und all die Sachen, die er heute abend als Lohengrin zu tragen hatte. Im Scheine des elektrischen Lichtes leuchteten Helm und Schwert, und Erik strich liebkosend über den Schwanenhelm. Leis begann er die ersten Töne der Gralserzählung zu singen; da fühlte er eine brennende Trockenheit im Halse. Auf sein Klingeln erschien der Inspizient selbst.

»Berner, besorgen Sie mir doch einen Kognak oder besser zwei; ich fühle mich heute nicht recht wohl.«

»Soll besorgt werden, vielleicht legen Sie sich erst ein Weilchen nieder.«

»Danke schön, es wird schon werden.«

Selbst beim Sprechen klang seine Stimme rauh und heiser. Die furchtbare Aufregung hatte ihn zu stark mitgenommen. Er warf sich ruhelos auf dem Diwan umher und stürzte mehrere Gläser Wasser herunter; doch die innere Nervosität legte sich nicht.

»Ich möchte absagen für heute.« Doch dann wieder schüttelte er den Kopf. »Nein, daheim in meiner Hölle würde mir noch elender werden. Ich singe.«

Und vorsichtig, gleichsam tastend kam Ton auf Ton aus der Kehle; und obgleich sie klangen wie Glockengeläut, wußte Santos schon, daß er heute nicht Herr seiner Stimme sein würde.

Allmählich wurde es um ihn lauter und lebhafter. Garderobier, Diener und Frisör fanden sich ein, nebenan lachte und kicherte es, und ein Kollege pfiff vergnügt die allerneuesten Schlager. Vor seiner Tür rannte es hin und her, polterte, schrie, schimpfte und lachte es bunt durcheinander.

»Zum Donnerwetter, welcher Halunke hat mir meinen Teint gestohlen!« wetterte es nebenan, und dazwischen dröhnte der tiefe Baß des Theatermeisters, der einen schiefstehenden Baum gerade rücken ließ. Das alles hatte Erik schon hundertmal mitgemacht, heute machte ihn dieses Hasten und Schreien nervös. Wütend sprang er auf, riß die Tür auf und rief: »Ruhe da draußen!«

Vergebliches Verlangen. Es lärmte weiter und der Diener hatte es heute nicht leicht, seinen Herrn zufriedenzustellen. Aber auch er kannte das Temperament des Künstlers und hob gelassen die Dosen und Bürsten wieder auf, die Erik auf die Erde schleuderte.

Es klopfte. Der Bediente ging nachzusehen, was es gäbe. Einen Blumenstrauß und einen Brief. Achtlos warf der Künstler beides beiseite.

»Ist Sinding schon da?«

»Ich werde sogleich nachsehen.«

Nach einer kleinen Weile ließ der Diener den Kapellmeister eintreten. »Bester Doktor, ich kann heute abend nicht singen. Nehmen Sie mich in Ihren besonderen Schutz.«

»Hallo, Santos, was machen Sie denn? Es wird schon gehen.«

»Es muß, aber schwer.«

»Seien Sie ganz ruhig, ich werde schon achtgeben. Was haben Sie denn?«

»Ach, ich bin heute über alle Maßen nervös.«

»Ja, ja, es wird Zeit, daß der Urlaub herankommt.«

»Wieso?«

»Nun – wenn Sie so nervös sind.«

»Ja, aber, finden Sie, daß meine Stimme angestrengt klingt?«

»Nein, das nicht, aber Sie selbst sind nervös.«

»Ach was, das gibt sich wieder.«

»Nun, dann um so besser. Also auf Wiedersehen, ich muß noch zu unserer schönen Reichmann, die hat auch etwas auf dem Herzen.«

»Also nicht wahr, Doktor, scharf die Einsätze!«

»Gewiß, gewiß, Sie sind doch aber sonst immer so bombensicher, und nun gar im Lohengrin!«

»Ja – aber wie gesagt, – heute nervös.«

»Es wird alles gemacht, adio.« Und damit verließ der Kapellmeister lächelnd die Garderobe. Er war ein äußerst gutmütiger Mensch, der es vorzüglich verstand, mit seinen Sängern umzugehen. Warf er auf den Proben reichlich mit Grobheit um sich, so hatte er doch ein feines Kunstverständnis; und willig beugte man sich seinen Anordnungen. –

Nun war es so weit. Erik, der sonst wenig unter dem Lampenfieber zu leiden hatte, zitterte heute vor Aufregung. Wohl bemerkte er, daß allein sein Erscheinen genügte, um das Publikum zu begeistern, aber es kam doch, wie er vorausgesehen: spröde und rauh kamen die Töne aus der Kehle und raubten seinem Auftreten viel von der sonstigen Wirkung. Vergeblich war sein Bemühen, der Stimme den festen Klang wiederzugeben; heute war er nicht Lohengrin, er war der gepeinigte Gatte seiner eifersüchtigen Frau. Statt Elsa sah er nur sein Weib, das ihn mit höhnischen Worten verletzte, und nur mit größter Mühe gelang es ihm, weiterzusingen. In den Pausen stürzte er einen Kognak nach dem anderen hinunter; aber er wurde dadurch nur aufgeregter, und obgleich das Publikum wie in wildem Taumel ihm zujubelte, fühlte er doch, daß er heute nicht singen konnte. Spöttisch blickte Vera Reichmann, die als Ortrud verführerisch und dämonisch aussah, auf den erregten Kollegen. Als sie aber sah, daß Erik kaum imstande war, sich aufrechtzuerhalten, eilte sie in der Pause in seine Garderobe.

»Santos, was ist mit dir?«

Heftig schüttelte jener den Kopf, »laß nur, ich werde schon wieder zur Ruhe kommen.«

»Menschenskind, wie kannst du heute nur so miserabel singen!« Liebevoll strich sie über seine Hand. »Nimm dich zusammen, zeige, was du kannst, – du bist doch ein Künstler!«

Stolz und schön stand sie vor ihm. »Noch hast du Zeit, den schlechten Eindruck zu verwischen, – denk' an Amerika, du, der größte Künstler der Welt!«

Da richtete sich Erik empor, und als er wieder auf der Bühne erschien, war er wie verwandelt. Er hatte sich wiedergefunden, er war der alte, und als er dann mit einem Unterton tiefen Wehes die Gralserzählung beendete und sich zur Fahrt bereitmachte, da blieb kaum ein Auge im ganzen Theater trocken. Mit übermenschlicher Gewalt hatte er sie alle, alle in seinen Bann gezwungen; und ein Aufschluchzen ging durch den Raum, als er verschwand. Eine Zeitlang herrschte Totenstille im ganzen Hause, dann aber brach ein Tumult los, daß Erik immer und immer wieder vor dem Vorhang erscheinen mußte.

»So war's recht,« flüsterte Vera ihm zu.

Die sich Sträubende zog Erik mit vor den Vorhang und mit ausgestreckten Händen auf sie weisend, gleichsam als gehöre ihr der Beifall, verneigte er sich immer und immer wieder vor dem nicht müde werdenden Publikum. Als er dann endlich in seine Garderobe wollte, trat ihm Vera nochmals in den Weg. Erik ergriff ihre Hände und drückte einen langen Kuß darauf.

»Du hast mir heute einen großen Dienst erwiesen, Reichmann, ich danke dir herzlich.«

Lachend schlug ihm die Künstlerin auf die Schulter. »Santos, du bist ein dummes, weiches Kind, du mußt dich ändern,« und dann verschwand sie in ihrer Garderobe.

Während Santos sich auskleidete, umdüsterte sich seine Stirn mehr und mehr. Nun mußte er wieder in das Haus, in dem auch Isolde weilte. Er empfand ein heftiges Gefühl des Widerwillens, als er an sie dachte. Sie glaubte ja fest an seine Untreue, glaubte, er brächte seine freie Zeit bei seiner Geliebten, bei Erna, zu. Die Briefe, die sie heimlich aus seinem Schreibtisch entwendet haben mußte, jene zärtlichen Briefe, die Erna in der glücklichsten Zeit seines Lebens ihm geschrieben, sie sollten der Beweis seiner Untreue sein!

Und plötzlich stand die Gestalt der Jugendgespielin vor seinem Auge. Immer und immer wieder hatte er die Gedanken an die Freundin mit aller Gewalt aus seinem Gedächtnis verdrängt. Wie mochte sie die Trennung überstanden haben? Und nun kam es ihm zum Bewußtsein, daß er die verlorene immer noch liebte, heiß und leidenschaftlich, und daß die Ehe mit Isolde ein großer Irrtum gewesen. Jene hatte an ihn geglaubt; wie glücklich wäre sie über seine Erfolge gewesen und wie mochte sie ihn jetzt hassen und verachten! Sie, die ihm geholfen hatte, die Leiter des Ruhmes zu erklimmen, sie hatte er fortgestoßen, weil er sie einst nicht mehr notwendig gehabt hatte. Qualvoll stöhnte er auf. Wie war das überhaupt möglich gewesen, daß er so hatte handeln können, hatte er gar nicht mehr gewußt, was Recht und Unrecht war? Hatte ihn wirklich Reichtum und Luxus so verblenden können, daß er nicht mehr Recht von Unrecht hatte unterscheiden können? Nie wieder hatte er von Erna und ihrer Mutter gehört; – ob sie wohl noch hier wohnten?

In fieberhafter Eile beendete er seine Toilette. Eine heiße Sehnsucht erfaßte ihn, er wollte wenigstens ganz heimlich das Haus sehen, in dem sie gewohnt hatte. Eilig bestieg er ein Auto und gab dem Wagenführer jenes Haus an. Wild klopfte ihm das Herz, als er ausstieg und den Wagenführer ablohnte. Wie gebannt stand er auf der anderen Seite der Straße und starrte sehnsüchtig hinauf zu den Fenstern der ersten Etage. Alles war finster, und doch konnte er den Ort nicht verlassen.

»Ich will sie wiedersehen, mag sie mich auch von sich stoßen; doch sehen muß und will ich sie noch einmal. Ich will ihre weiche dunkle Stimme hören, ich möchte den verlorenen Frieden bei ihr finden.« Aber würde sie ihn empfangen? Verachtend würde sie ihm die Tür weisen und ihm vielleicht höhnische Worte zurufen. Brennenden Auges starrte er immerfort hinauf. Dort wohnte sein Glück, das er einst eines Phantoms halber von sich gestoßen hatte. Da entrang sich ein gequälter Seufzer seinen Lippen, er wandte sich ab, und mit raschen Schritten eilte er seiner Wohnung zu.

Mitternacht war längst vorüber, als er vor seinem Hause ankam. Finster zog er die Stirn zusammen. Die ganzen Bäume waren erleuchtet. Also wieder Besuch! Nun gut, er würde in seinem Zimmer bleiben, mochten die anderen feiern, solange sie wollten.

Kaum hatte er die Korridortür geöffnet, als ihm das Kammermädchen seiner Frau entgegeneilte:

»Gott sei Dank, gnädiger Herr, daß Sie kommen!«

»Was ist's?« Es war ihm auf einmal, als griffe eine kalte Hand nach seinem Herzen.

»Der Arzt ist schon seit vier Stunden bei der gnädigen Frau und Herr Professor Degler kam auch.«

»Was ist denn los?«

»Die gnädige Frau haben Unglück gehabt: das Knäblein ist tot.«

Erik zuckte zusammen, dann eilte er die Treppen empor. Oben traf er mit Frau von Werter zusammen.

»Mama,« rief er, »sagen Sie mir, was ist vorgefallen?«

»Seien Sie ruhig, Erik, kommen Sie,« und sie zog ihren Schwiegersohn in ein Zimmer.

»Sprechen Sie, Mama, erbarmen Sie sich –«

»Aber Erik, was haben Sie denn, es ist ja alles vorüber. Das Kindlein war leider tot. Aber so beruhigen Sie sich doch!«

»Wann ist es gewesen?«

»Gegen acht Uhr.«

»Warum rief man mich nicht?«

»Isolde wollte es nicht.«

»Tot, tot – und ich habe die Schuld!«

»Um Gottes willen, Erik, sind Sie von Sinnen? Dafür kann kein Mensch, das steht in Gottes Hand.«

»Nein, nein, ich bin schuld, – wo ist sie?«

» So dürfen Sie nicht zu ihr, erst beruhigen Sie sich.«

»Nein, nein, ich muß,« und Erik stürzte an der Geheimrätin vorüber nach Isoldens Schlafzimmer.

Einer Toten gleich lag sie in den weißen Kissen. Die Augen waren geschlossen und die wachsbleichen Hände über der Decke gefaltet. Am Bett saßen der Geheimrat und der Arzt.

Mit einem unterdrückten Wehruf eilte Erik zu seiner Gattin und ergriff die schlanken Hände.

»Isolde!«

Es war mehr ein Aufschluchzen. In dem einen Wort lag eine Welt von Schmerz, lag grenzenloser Jammer.

Den Geheimrat traf dieser wehe Ton bis ins Herz. Isolde aber schlug die Augen auf.

»Du? – Weg von mir, du Mörder meines Kindes!«

Herr von Werter fuhr empor. »Um Gottes willen, Isolde!«

»Weg von mir!« Stöhnend schloß sie erneut die Augen.

Erik machte eine Bewegung, als wollte er sich auf die Kranke stürzen, dann lief ein Zittern durch seine Gestalt; wortlos wandte er sich zur Tür. Noch einen langen, todwunden Blick warf er zurück, der Geheimrat erhob sich, um Erik nachzueilen. Isolde aber hielt ihn mit flehender Gebärde zurück.

»Bleib, Väterchen!«

»Kind, Kind, was hast du gesagt!«

»Später, Väterchen, will ich dir alles erzählen. Laß ihn nicht wieder zu mir – jetzt nicht – mir graut vor ihm.«

»Nicht so viel sprechen, gnädige Frau!« mahnte der Arzt. Gehorsam verstummte Isolde, der Geheimrat aber nahm seufzend seinen Platz am Bett seines Lieblings wieder ein.

* * *

Sonntag nachmittag. Erna war soeben vom Kirchhof heimgekommen. Sie hatte auf den im jungen Grün prangenden Hügel der Mutter einige Blumen getragen. Wundersam gestärkt und ruhig fühlte sie sich. Es war ein schöner, heller Tag gewesen, nun aber senkten sich die Schatten der Dämmerung langsam hernieder. Sie war allein in der Wohnung, da die noch immer treu zu ihr haltende Magd ausgegangen war. Zaghaft öffnete sie den Flügel. Sie hatte das Instrument nicht mehr geöffnet, seit Erik hier zum letzten Male geweilt. Heute aber zog es sie schier mit Gewalt hin. Leise, ganz zaghaft ertönten die ersten Akkorde, dann wurde ihr Antlitz steinern und starr, während sie Schuberts »Am Meer« begann, jenes Lied, das ihr Erik so oft gesungen. Bald sprang sie auf. Nein, nein, sie konnte es nicht singen, – warum immer aufs neue diese schrecklichen Erinnerungen heraufbeschwören! Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen und wie gejagt durcheilte sie die leeren Räume. –

Da klingelte es. Wer konnte heute am Sonntag etwas von ihr wollen! Bekannte, die sie besuchten, hatte sie nicht. – –

Es klingelte zum zweiten Male, lauter und heftiger. Wahrscheinlich ein Telegramm der Schwester, die in letzter Zeit ihre Korrespondenz durch Telegramme erledigt hatte, da, wie sie geschrieben. Briefe ihre knapp bemessene Zeit immer zu sehr in Anspruch nähmen. Sie ging selbst, um zu öffnen. Auf dem dunklen Flur konnte sie nicht den Herrn erkennen, der in einen Mantel gehüllt vor ihr stand. Und da er schwieg, fragte sie zögernd nach seinem Begehr. Keine Antwort, nur ein aufstöhnender Laut. Unruhig trat sie einen Schritt zurück. Da klang ihr Name halb erstickt.

»Erik!« schrie sie auf. »Du kommst zu mir?«

»Laß mich eintreten oder jag' auch du mich davon!« Dann lehnte er sich gegen sie und Erna fühlte, wie der Geliebte zitterte. Schweigend geleitete sie ihn in das ihm wohlbekannte Zimmer, und schwer fiel er auf den ihm hingeschobenen Sessel.

»Erik! Erik!«

»Ja, nun ist's aus mit mir. Das ist das Ende!«

»Um Gottes willen!«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie den Mann an, der gänzlich gebrochen in dem Sessel lehnte.

»Was ist's? – Nein, ruhe dich aus, sprich jetzt nicht, hier sollst du deine Ruhe wiederfinden,« und Erna kniete vor ihm nieder, umschlang ihn sanft und lehnte sein Haupt an ihre Brust.

»So liegst du gut, nun wird alles wieder recht werden.«

Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Wachte sie, träumte sie? War das wirklich ihr Erik, der sie einst verlassen hatte? In ihr war nichts als Glück und Glückseligkeit, daß sie ihm helfen, ihn trösten durfte. Keine Frage kam über ihre Lippen, sie fühlte, daß Furchtbares auf ihm lastete, und sie wollte ihm nichts als Ruhe und Frieden geben. Ein Dankgebet schickte sie dafür zum Himmel, daß er gerade jetzt den Weg zu ihr gefunden, und im heißen Flehen bat sie, daß er ihr die Kraft verliehe, ihn zu trösten, zu retten.

»Mein Erik!« Immer und immer wieder flüsterte sie den geliebten Namen, und er lauschte auf die zärtlichen Worte. Allmählich ward auch er ruhiger, die Spannung ließ nach und plötzlich richtete er sich empor.

»Weißt du auch, was du tust, Erna? Ich hatte dich von mir gestoßen und nun, da ich am Untergang bin, komme ich wieder zu dir zurück.«

»Gott sei Dank, daß du dich in der letzten Stunde noch meiner erinnert hast.«

»Ich habe dich doch verlassen, so bedenke das doch – nicht diese Güte ...

»Sprich nicht davon, ich habe dir ja längst vergeben.«

»Erna!« Er riß sie wild in seine Arme. »Warum, o Gott, mußte ich so verblendet sein!«

Zärtlich strich sie ihm über das Haar. »Mein Erik, daß ich dich wiederhabe!«

Auf einmal drängte er sie von sich, sprang auf und floh in die äußerste Ecke des Zimmers.

»Rühre mich nicht an, Erna, ich bin ein Mörder!«

Einen Augenblick starrte sie ihn fassungslos an, dann lächelte sie und eilte auf ihn zu: »Du? – Nein, Erik, du bist krank, weiter nichts. Komm« und sie zog ihn fast mit Gewalt zum Sessel zurück. »Hier setze dich nieder und wenn du in Wahrheit zehnmal gemordet hättest, ich liebte dich doch. Aber,« und sie drückte seine Hände zärtlich, »diese liebe Hand ist einer solchen Tat nicht fähig.«

»Erna, so erbarme dich, quäle mich nicht mit deiner grenzenlosen Güte – Mein Weib hat – ich habe mein eigenes Kind umgebracht!«

Da zuckte Erna doch zusammen und senkte den Kopf.

»Komm erst zur Ruhe, du Lieber, ich bitte dich.«

»Gib mir etwas zu trinken,« stöhnte er und mit gierigen Zügen stürzte er Glas auf Glas hinunter. Die hellen Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, die Augen waren mit trostlosem Ausdruck ins Leere gerichtet.

»Du warst meine einzige Rettung, ich wußte gar nicht, was ich tat, ich kam zu dir –«

»Und das will ich dir immer danken. Hier meine Hand. Aufs neue reiche ich sie dir zu einem heiligen Gelöbnis. Treu und fest will ich in Kummer und Leid zu dir halten. Vertraue mir, ich bitte dich, ich will dir eine Freundin sein, auf die du dich verlassen kannst. Dein Glück sei mein Glück, dein Leid mein Leid. Und wenn du in frohen und glücklichen Stunden meiner auch vergißt, so komme ruhig, wenn ein geheimer Kummer dich bedrückt. Hier findest du ein offenes Ohr. Ich kenne dich ja doch so genau, weiß wie schwer und heiß dein Blut dir in den Adern rinnt, ich kenne dein goldenes Herz, weiß auch von den Stürmen des Lebens, die da versuchen, das Glück zu vertreiben. Sei standhaft, Erik, in jedem Leben gibt es schwere Tage, aber es folgt dann auch wieder Sonnenschein.«

»Das ist alles dahin!«

»Das wolle Gott verhüten, Erik, du hast ein Weib« – ihre Stimme zitterte leise, »ein junges, schönes Weib, sie liebt dich –«

»Höre auf! höre auf!« stöhnte Erik.

Mit weichen Händen strich sie ihm über die erhitzte Stirn. »Leiden müssen wir alle, das ist Menschenlos; und wenn man es auch im Anfang nicht meint ertragen zu können, es geht doch –«

»Habe ich dir damals sehr wehe getan?«

Da stieg es Erna heiß in die Augen und sie wandte sich ab.

»Erna, du weinst – O, ich Elender!«

»Nein, nein, laß nur! Du kamst zu mir, um getröstet zu werden. Ich habe ja überwunden, aber du – du bist krank.«

»Ja, Erna, krank an meiner Seele.«

»Du wirst wieder gesunden.«

Müde schüttelte er sein Haupt. »Das ist vorüber.«

»Sprich nicht so, Erik, das Leben bietet dir alles, –warum bist du so undankbar?«

»Alles?« Er lachte schneidend auf. »Weißt du, was mir dieses Leben gab? Das ist kein Leben, was ich führe, das ist die Hölle auf Erden. O, ich wollte, ich wäre – – –« und wie rasend sprang er auf. Erdrossele mich doch, das tätest du jetzt, wenn du es wirklich gut mit mir meintest.«

»Erik, komm zu dir, du bist von Sinnen. So sei doch ruhig. Liebster, schau' mich nicht so entsetzt an,« ihre Stimme bebte vor namenloser Angst. Sollte sie einen Arzt holen? Sie konnte aber nicht weg, und wie eine Mutter bettete sie den erschöpften Mann auf den Diwan, schob ihm einige Kissen unter den Kopf und setzte sich an seine Seite. Ruhig nahm sie seine Hand in die ihre. »Und nun sei recht ruhig und still. Sieh' doch nur, wie friedlich es bei mir ist. Schau, nichts hat sich geändert in all der Zeit; du erkennst sicherlich noch alles wieder. Sogar dein Bild steht noch drüben« – die Stimme wollte ihr schier versagen und doch redete sie weiter und immer weiter, in der Absicht, seine Gedanken zu zerstreuen und in andere Bahnen zu lenken. In ihrer zitternden Angst wußte sie kaum, was sie sagte.

»Weißt du noch, wie wir als Kinder immer bei deinem Pflegevater in der Laube saßen und uns allerlei Märchen erzählten? Von dem verwunschenen Prinzen; du sagtest dann immer, du selbst seiest solch ein verzauberter Prinz, und dann schnitt ich dir eine Krone aus Goldpapier, – weißt du es noch?«

»Sprich weiter, du Süße, o das tut gut, so gut,« und obgleich sich ihr Herz vor bitterem Weh zusammenkrampfte, plauderte sie mit heiter lächelndem Munde von längst vergangenen schönen Jugendtagen, mit träumerischen Augen lauschte ihr der Mann.

Ernas Hirn arbeitete fieberhaft. Nur jetzt ihm keine Zeit lassen, an Gegenwärtiges zu denken! Sie fürchtete für seinen Verstand, und immer heiterer wurden ihre Erinnerungen und mit zuckenden Lippen brachte sie es fertig, in ein fröhliches Lachen einzustimmen. Immer weiter plauderte sie, obgleich ihre Kräfte schier versagten. Endlich beteiligte sich Erik und gedachte all der tollen Jugendstreiche; und Erna zitterte in Glück und Freude. Aber schon im nächsten Augenblick schrie er auf: »Und jetzt? O, ich Elender!«

Und unermüdlich begann sie wieder und immer wieder, ihm beruhigend zuzusprechen.

Es herrschte längst vollkommene Dunkelheit im Zimmer, da kündeten ihr seine gleichmäßigen Atemzüge, daß er in tiefen Schlaf gesunken. Sie brach in die Knie und faltete wie in stummem Dankgebet die Hände, dann verweilte sie regungslos bei dem Schläfer, Stunde auf Stunde verging. Eine leise Beklemmung legte sich Erna auf die Brust. War es wohl recht, daß er hier bei ihr war, da er doch eine Frau sein eigen nannte? Und doch, er war ein Unglücklicher, ein Hilfesuchender, – durfte sie ihn von sich stoßen? Nein, vielleicht gelang es ihr, seine kranke Seele zu heilen und ihm das verlorene Glück neu zu erringen. Seine Freundin wollte sie sein – sie wollte ja nichts, gar nichts weiter als sein Glück.

Immer weiter und weiter rückte der Zeiger der Uhr. Da erhob sie sich leise und begann den Tisch zu decken. Ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Er würde wieder wie einst an ihrer Seite sitzen, würde gemeinsam mit ihr die Mahlzeit einnehmen; und geschäftig brachte sie das beste, was die Küche bot. Da lächelte sie friedlich. Er, der verwöhnte Feinschmecker, würde kaum an ihrer kalten Platte Gefallen finden. Doch barg ihr Keller auch einen leichten Tischwein. Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß Erik noch immer schlief, eilte sie hinab, um bald mit zwei Flaschen zurückzukehren. Sie riß den auf dem Tisch stehenden Vergißmeinnichtstrauß auseinander und streute die Blumen über die gedeckte Tafel. Nun wartete sie. Endlich, als Erik sich regte, entzündete sie die Lampe und alle Leuchter, so daß sich plötzlich eine strahlende Helle über den kleinen Raum ergoß.

Verwundert rieb sich Erik die Augen.

»Wo bin ich? Träume ich?«

Schon stand Erna neben ihm und reichte ihm herzlich beide Hände. »Du bist bei mir, heute abend wollen wir fröhlich sein.«

Da kam ihm alles wieder zum Bewußtsein, und erneut trat ein finsterer Ausdruck in seine Augen.

»Mein Erik –«

»Erna!«

Da umschlang sie ihn innig: »Du bist nun bei mir, jetzt wird alles wieder gut werden, das verspreche ich dir.«

»Wie sollte das wohl möglich werden?«

»Doch, vertraue mir nur.«

»Laß mich dich küssen, du Einzige!«

Da wich Erna zurück. »Nein Erik, nicht so. Laß uns recht handeln vor Gott und vor den Menschen, ich will zu dir stehen in allen Zeiten – aber nur als deine Freundin und Schwester.«

»Ich aber liebe dich, liebe nur dich!«

Sie lächelte wehmütig. »Unser Herz ist ein eigentümliches Ding. Heute denkt es so, morgen so. Nein, nein, mein Erik, ich bin wohl ein ganz gutes Hausmütterchen, aber keine Frau zur Liebe.«

»Du? Dich sollte man nicht lieben können? Dich?«

»Laß doch,« wehrte sie ängstlich ab und wich aufs neue zurück. »Komm, laß uns zu Tisch gehen. Es sind keine großen Genüsse, die ich dir bieten kann, aber vielleicht schmeckt es dir in meinem Heim.«

»Wo ist die Mutter?«

»Tot,« kam es schwer von Ernas Lippen.

Erik seufzte schwer auf: »Du Ärmste, was mußt du gelitten haben!«

Und nun erst betrachtete er das Mädchen näher. Da sah er mit erschreckender Deutlichkeit die tiefen Falten, die Kummer und Gram in ihr Antlitz gegraben hatten. Die Hauptschuld trug er, der sie um einer anderen willen verlassen hatte. Wie war es nun überhaupt möglich, daß sie mit unendlicher Güte ihn tröstete, der ihr all das Leid zugefügt hatte. War das nicht übermenschlich groß? Leidenschaftlich ergriff er ihre Hand.

»Was tust du alles für mich! Wie soll ich dir das je danken?«

»Indem du Vertrauen zu mir hast.«

»Ich liebe dich!« schrie er plötzlich auf und riß sie mit wilder Gewalt an sich. »Ich liebe dich, dich habe ich immer geliebt, ich habe dich nie vergessen können.« Er bedeckte ihr Antlitz mit heißen, leidenschaftlichen Küssen. Willenlos lag Erna in seinen Armen, sie konnte nichts denken, nichts fühlen als ein übergroßes Glück. Selbstvergessen küßte sie ihn immer und immer wieder, und in ihrem Innern jauchzte und frohlockte es:

»Ich hab' dich wieder, hab' dich wieder!«

»Du Süße! Liebst du mich?«

»Immer, mein Erik, immer und ewig.«

»Du Einzige, du Beste!«

Erschreckt entwand sich ihm Erna. »Um Gottes willen, Erik, was tun mir?«

»Erna, laß, o laß uns vergessen –«

»Nein!« Mehr ein verzweifelter Schrei war es, und dann richtete sie sich hoch auf.

»Nun mußt du gehen!«

»Ich soll jetzt von dir gehen?«

»Es muß sein, Erik.«

»Du stößt mich fort, auch du?«

»Komme ein anderes Mal wieder, wenn wir beide ruhiger geworden sind. Ich will ehrlich vor mir selbst bleiben, und auch du sollst nichts zu bereuen haben.«

»Erna!«

»Ich habe mich vergessen, Erik, aber es soll nicht mehr vorkommen.«

»Laß mich noch ein wenig hier sein,« bettelte er.

»Es ist besser, du gehst.«

Da fiel sein Blick auf den Tisch. »Nein, mein Kind, ich gehe nicht, heute laß mich bei dir, ich bin ja krank, bei dir finde ich den langentbehrten Frieden wieder, ich brauche ihn so notwendig. Sieh' die blauen Blümchen Vergißmeinnicht. Komm, laß uns niedersitzen, ganz ruhig, ganz brav, wie zwei artige Kinder wollen wir nebeneinander sitzen und plaudern von längst verklungenen Zeiten, da wir beide noch glücklich waren.«

Zögernd trat Erna näher.

»Sag' nicht nein, du hast mir versprochen, zu helfen, nun hilf, laß mich noch ein Weilchen hier.«

»So bleibe!«

»Dank dir,« jauchzte er auf und preßte einen heißen Kuß auf ihre Hand. »Ich komme mir vor wie ein Wandersmann, der sich jahrelang in der Irre herumgetrieben und nun müde und erschöpft die Heimat wiedergefunden hat.«

»Aber der Wandersmann macht in seiner Heimat nur kurze Rast, um dann wieder zu seinem Glück zurückzukehren.«

»Nicht so, Erna, nicht heute, schweige davon!«

»Ist's nicht wie ein Traum? Wir beide uns hier gegenüber!«

»Ein schöner Traum; o, daß ich nie erwachte. – Sieh', was du alles für Delikatessen hast!«

»Hätte ich gewußt, daß ich dich als Gast haben würde, so hätte ich mich besser versorgt.«

»Nein, das alles ist so herrlich. Seit Wochen hat es mir nicht so geschmeckt wie heute,« und Erik langte immer aufs neue zu und die Gläser klangen zusammen. »Sogar Wein, Erna, du Verschwenderin!«

Sie lächelte: »Schade, es müßte Champagner sein.«

»Morgen will ich dir welchen schicken, dann wollen wir –«

»Nein Erik, habe vielen Dank, aber schicke nichts, ich würde es nicht annehmen. Ich selbst kann mir kaufen, was ich brauche. Ich könnte dich nicht mehr empfangen, wenn du mir Geschenke machtest.«

»Aber Erna!«

»Nein, nein, Erik, du kennst mich ja. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.«

»Nun gut denn, aber – ich darf wiederkommen?«

»Gewiß Erik, du sollst sogar kommen, denn ich will dich gesund machen.«

»Das ist unmöglich.«

»Nein, nein, komme, wenn dich etwas bedrückt. Als treue Freundin will ich dir raten und helfen, so gut ich es vermag.«

»Und aus den Trümmern meines Glückes rette ich dich und mich hinüber in eine neue Welt voll Sonnenschein und Wonne!«

Ernst schaute ihm Erna in die Augen.

»Versteht mich mein Jugendgespiele so schlecht? Nein Erik, ich habe überwunden. Nur etwas erwarte ich jetzt noch vom Leben, und das ist dein Glück.«

»Kind, Kind,« Erik lachte leise auf, »ich kenne dich wohl. Meinst du denn, ich wüßte es nicht, daß du mich noch immer liebst? Hast du es mir nicht selbst noch vor wenigen Minuten gesagt?«

Eine dunkle Blutwelle ergoß sich über Ernas Antlitz.

»Liebe ist ewig. Du hast recht, aber meine Liebe ist nicht mehr jene begehrliche Liebe; still wohnt sie nun in meinem Herzen, und ich will nicht rasten noch ruhen, bis auch du wieder glücklich geworden bist an der Seite deiner Frau.«

Er schüttelte heftig den Kopf.

»Es wird mir gelingen,« fuhr sie fort, »ich kenne dich, nur mußt du mir dabei helfen. Nicht jetzt, nicht heute; erst werden vielleicht frisch geschlagene Wunden verheilen müssen – dann aber, dann, Erik, wird es einem neuen und ruhigen Glück entgegengehen. Die ersten Stürme sind die leidenschaftlichsten, dann aber kommt auch zu dir der Frieden.«

»Du meinst es gut, Erna. Aber laß das jetzt, für heute wollen wir nur der Gegenwart leben.«

Sie lächelte sanft. »Ihr Künstler seid ein anderes Völkchen als wir einfachen Menschen. Was euch heute unmöglich erscheint, dünkt euch morgen ganz selbstverständlich. Und darum hoffe ich auch für dich. Komm Erik, laß uns anstoßen darauf.«

Heftig ergriff Erik sein Glas. Die Gläser klirrten. Und Ernas Glas zersprang.

»Na siehst du, mit meinem Glück ist es vorbei.«

»Scherben bringen doch aber Glück,« preßte Erna mühsam hervor.

»Aber nicht mir.«

»Laß mir den Aberglauben, lassen wir auch die Gegenwart. Willst du nichts mehr essen?«

»Nein, danke, aber bei dir bleiben will ich noch.«

»Erik, es ist schon spät.«

»Ach, daß ich doch nie von dir fortzugehen brauchte. Weißt du, was ich mir wünsche?«

»Nun?«

»Daß ich jetzt recht schwer erkrankte, dann müßtest du mich pflegen, und ich könnte bei dir bleiben.«

»Aber Erik!«

»Deine weichen Hände würden mir über die schmerzende Stirn streichen, deine süße Stimme würde ich durch meine Fieberphantasien singen hören, und ich schaute in deine lieben, lichten Augen, wenn ich dann wieder zur Besinnung käme. Aber so –« er wandte sich schaudernd ab.

»Erik, Erik, du versündigst dich.«

»Weißt du denn, wie es um mich steht? Weißt du denn, wie mein vielbeneidetes Glück aussieht? Hast du eine Ahnung, was es heißt, allstündlich eine Larve tragen zu müssen? So höre denn, wie es mir geht, wirf einen Blick in mein glänzendes Elend, und dann sage noch einmal, du glaubst an ein neues Glück für mich.«

»So sprich dich aus,« murmelte Erna.

Und nun brach all der lang zurückgehaltene Jammer wie ein Strom aus seiner Brust. Erschauernd vernahm Erna die Geschichte dieser bis ins Innerste zerrütteten Ehe, hörte seine Selbstanklagen, seine Vorwürfe, vernahm den tragischen Abschluß und das gräßliche Wort, das ihm die eigene Gattin heute ins Gesicht geschleudert hatte. Da freilich wollte es ihr scheinen, als vermöchte hier menschliche Macht nichts mehr. Noch wußte sie nicht, was sie beginnen würde, um die beiden Gatten wieder zusammenzuführen, wußte nicht, ob es wirklich ein Glück werden könnte, wenn diese zwei Menschen, deren Interessensphären so weit auseinandergingen, wieder vereinigt würden. Sie fühlte nur ein grenzenloses Erbarmen mit dem Mann, der da vor ihr stand und vor Aufregung bebte. Immer und immer wieder strich sie liebkosend über seine Hände und flüsterte sanfte, begütigende Worte; aber es dauerte lange Zeit, ehe Erik wenigstens äußerlich seine Ruhe wiederfand.

Als sie dann endlich zum Aufbruch mahnte, war Mitternacht längst vorüber.

»Komme bald wieder, mein Freund,« flüsterte sie beim Abschiednehmen, »trage es geduldig, harre aus, es wird alles, alles wieder gut werden.«

»Ich werde an dich denken, wenn ich verzweifeln will.«

»Denke, daß du eine Freundin hast, die versucht, dir aufs neue dein Glück zu schaffen.«

»Du mein guter Engel, du Heilige!«

»Harre aus, das ist meine einzige Bitte an dich, Erik. Finde vorläufig Trost und Hoffnung in deinem herrlichen Beruf.«

»Ich will es versuchen, dir zuliebe.«

»So ist's recht, mein Freund, und nun leb' wohl!«

»Habe Dank für all deine Güte!«

Sie geleitete ihn die Treppe hinab und schaute ihm noch lange nach. Oben aber verließ sie ihre mühsam bewahrte Fassung, und aufschluchzend drückte sie ihr Antlitz in die Kissen.

»Ich liebe dich noch immer! Herrgott, laß mich stark bleiben, gib ihm den Frieden seiner Seele und sein Glück zurück!«

* * *

Mit rührender Sorgfalt und Liebe hatte sich Frau von Werter gänzlich der Pflege ihrer Tochter gewidmet und konnte mit Freuden feststellen, daß Isolde sich täglich mehr und mehr erholte. Bald konnte auch der Arzt seine Besuche einstellen, und die junge Frau durfte wieder im Garten herumwandern, um den herrlichen Sommer zu genießen.

Der Geheimrat und seine Gattin hatten sich in letzter Zeit vollständig in der Santosschen Villa einlogiert, um ihrem Kinde immer nahe zu sein; nun erhielten sie den Einblick in das Eheleben der Tochter. Isolde hatte ihnen alles erzählt, und auch Santos, der wiederholt von den Schwiegereltern befragt wurde, verschwieg nichts. So gewannen die Eltern ein klares Bild, und sie versuchten nun nach Möglichkeit, alles in das alte Gleis zu bringen.

Anfänglich sträubten sich die beiden Gatten heftig. Als Frau von Werter in ihrer gütigen Art aber nicht abließ, brachte sie es doch nach langen Versuchen so weit, daß Erik, wenn auch formell, einige höfliche Worte an seine Gattin richtete und von ihr eine Antwort erhielt. Doch zu herzlichen Worten kam es nicht. Bis auf einige konventionelle Redensarten konnten sich die beiden stundenlang stumm gegenübersitzen.

Die Eltern hatten dann das junge Paar sich selbst überlassen, in der Hoffnung, daß sich beide nun von selbst wieder zusammenfinden würden. Aber der tiefe Riß ließ sich nicht überbrücken, und so lebten die Gatten kalt nebeneinander. Wohl schwebte Isolde manchmal ein freundliches Wort auf den Lippen, aber sie unterdrückte es; sah sie doch, daß ihr Mann sich ganz wesentlich verändert hatte. Der sonst so lebhafte Erik konnte schweigend hinausstarren in die Nacht. Und dabei kam ein so seltsames Flimmern in seine dunklen Augen, daß es Isolde oft kalt überlief. Sie kannte diesen Blick aus der ersten, allerersten Zeit ihrer Liebe, und eine innere Stimme sagte ihr, daß seine Gedanken jetzt zu einer anderen hinschweiften und daß sein ihr gegenüber so fest verschlossener Mund jener anderen nun heiße leidenschaftliche Worte zuflüsterte.

Schweigend verließ sie dann das Zimmer, um nicht laut hinauszuschreien. Und doch hatte sie selbst das alles verschuldet! Während ihrer Krankheit war es ihr klar geworden, daß sie viel zu weit gegangen; die wohlmeinenden Worte der Mutter waren nicht auf ganz unfruchtbaren Boden gefallen, und manchmal hatte sie schon bitter bereut. Dann aber wallte es wieder zornig in ihr auf: er betrog sie – die weichen Regungen verflogen. So kämpfte sie mit sich selbst einen verzweifelten, aufreibenden Kampf. Es war ihr nun sonnenklar: sie hatte den Gatten verloren! Er war nicht mehr der alte; und brennenden Auges starrte sie ihm nach, wenn er das Haus verließ. Das tat er in letzter Zeit mehr denn je. Selbst die freien Abende, wo ihn sein Beruf nicht fortführte, brachte er außerhalb zu. Isolde litt dann furchtbare Qualen.

Wie oft hatte sie schon beschlossen, heimlich dem Gatten zu folgen, doch schauderte sie immer davor zurück. Wenn er es dann bemerken würde, geschähe der völlige Bruch. Und doch wurde der Gedanke, ihm einmal zu folgen, immer mächtiger in ihr. Sie wußte, wo die Reichmann wohnte. Ob sie sich wohl in der Nähe ihres Hauses aufhalten könnte, um zu beobachten, ob da ihr Gatte weilte? Ja, sie hatte sich sogar schon mit dem Gedanken beschäftigt, die gegenüberliegende Wohnung ohne Wissen ihres Mannes zu mieten, um, versteckt hinter Gardinen, die Besucher der Künstlerin zu beobachten. Aber sie schämte sich dessen doch wieder und quälte sich Tag für Tag weiter.

Der Mutter hatte sie sich anvertraut, und diese hatte Erik offen gefragt. Ruhig, ohne Erregung hatte er erklärt, daß er genau wüßte, was er seiner Frau schuldig wäre, daß er es nicht nötig hätte, von jedem seiner Schritte, der Gattin Rechenschaft abzulegen. Etwas Unrechtes beginge er nicht. Diese Auskunft müßte genügen. Sie genügte der Geheimrätin auch vollkommen. Dieses offene Auge, das bei jeder Gelegenheit seine Seelenstimmung widerspiegelte, log nicht; aber sie versuchte umsonst, Isolde zu beruhigen.

»Ich kenne ihn besser, Muttchen,« meinte sie. »Ich weiß, daß jemand zwischen uns steht: ich werde nicht eher ruhig werden, bis ich weiß, was in ihm vorgeht.«

Und um der Tochter willen ließ die Geheimrätin den Künstler eine Zeitlang beobachten. Zu ihrem Erschrecken und Entsetzen mußte sie es dann erfahren, daß er manche Abende in der X-Straße Nr. 10 verbrachte. Dort wohnte Erna Schirmer. Sollten diese beiden wirklich ihr Glück heimlich genießen? Sollte sie sich in jener so getäuscht haben? Ein Bild der Reinheit und Seelengröße hatte sie in Erna gesehen, und auch Erik hatte ihr unschuldig geschienen. So sollte sie sich wirklich haben narren lassen?

Sie mußte Aufklärung, Gewißheit haben; ohne weiteres Besinnen suchte sie ihren Bruder auf. Dort wurde ihr Verdacht bestärkt: Direktor Radatus berichtete seiner Schwester von der merkwürdigen Wandlung in dem Wesen seiner Sekretärin. Er selbst hätte sich lebhaft gewundert, als er eines Tages den Leidenszug aus dem blassen Gesicht Fräulein Schirmers weggelöscht, dagegen ein ihre Züge verschönendes glückliches Lächeln bemerkt hätte. Und dieses stille Lächeln des Glückes wäre nicht gewichen, es hätte dem Antlitz vielmehr etwas Madonnenhaftes verliehen. Er selbst hätte sich schon zu seinem Kompagnon geäußert, daß Fräulein Schirmer jetzt aussähe wie die verkörperte Jungfrau Maria, aus deren Antlitz Schmerz, Liebe und Glück strahle. Vor einigen Tagen hätte sie gebeten, man möchte sie etwas früher weggehen lassen.

Unwillig schüttelte Radatus den Kopf, als Frau von Werter ihm ihre Beobachtungen mitteilte.

»Aber Irene, wie konntest du das tun, – wie kannst du deinen Schwiegersohn beobachten lassen?!«

»Um meines Kindes willen.«

»Und du könntest wirklich glauben, daß diese beiden Menschen einer schlechten Tat fähig wären? Du weißt, Irene, ich bin ein guter Menschenkenner, – so etwas tut Fräulein Schirmer nicht.«

»Aber ich habe doch die Beweise, daß er sie besucht.«

»Du hast nur die Beweise, daß er in das Haus hineingegangen ist.«

»Aber Paul, ich bitte dich!«

»Ich aber glaube nicht daran, daß sie etwas Unrechtes tut.«

»Ich hatte auch auf sie geschworen.«

»Warte! Tritt für einen Augenblick hier ins Nebenzimmer – ich will sie fragen.«

»Um Gottes willen, Paul, das geht doch nicht!«

»Warum nicht? Meinst du, ich werde dich verraten?«

»Nein, nein, laß das!«

»Wir wollen Gewißheit haben,« und damit drückte Herr Radatus auf die Klingel.

Dem eintretenden Diener gab er den Befehl, Fräulein Schirmer zu rufen; dann schob er seine Schwester ins Nebenzimmer und ließ die schweren Portieren herunter. Nach kurzer Zeit trat Erna ein. Das schwarze Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper; mit einer Bewegung forderte Radatus sie zum Sitzen auf.

»Haben Sie schon die kleine Broschüre gelesen, die ich Ihnen gestern gab?«

»Noch nicht.«

»Schade, ich hätte gern mal gehört, was Sie dazu meinen.«

»Ich will das Versäumte heute abend sofort nachholen.«

»– falls Sie nichts Besseres vorhaben sollten.«

»O nein,« sagte Erna lächelnd.

»Nun, nun, Sie sehen in letzter Zeit so – so anders aus, als hätten Sie ein großes Glück erlebt.«

Verwundert schaute Erna auf. Es war das erste Mal, daß ihr Direktor so mit ihr redete.

»Nun, ist's nicht so?«

»Ja, denn nun weiß ich wieder, wozu ich auf der Welt bin, Herr Direktor, es ist ein großes Glück, nicht zwecklos zu leben.«

»Da haben Sie recht. Aber wußten Sie denn bisher nicht, wofür Sie lebten?«

»Nein, denn ich verlor ja alles.«

»Ich glaube Ihnen gern, daß Sie Schweres im Leben haben durchmachen müssen, aber nun scheint Ihnen wohl doch das Glück noch zu lächeln.«

»Das Glück? Andere glücklich machen zu können, ist doch auch ein Glück.«

»Ich verstehe Sie nicht recht, Fräulein Schirmer, haben Sie denn noch Verwandte?«

»Ja, eine Schwester.«

»Und um diese sorgten Sie sich?«

»Jetzt geht es ihr gut, leider höre ich sehr selten von ihr.«

»Ja aber, wer ist es denn, an dem Sie sonst solchen Anteil nehmen?«

»Ein Jugendfreund,« versetzte Erna leise, und ihre Stimme zitterte ein wenig, »der sich verlieren wollte. Ich habe ihm den Glauben wiedergegeben.«

»Und das allein sollte Sie so glücklich machen? Oder wird er der zukünftige Gatte?«

Ernst blickte Erna ihren Direktor an: »Er ist vermählt.«

Mit Mühe unterdrückte Radatus seine Erregung. Er mußte mehr erfahren. Schalkhaft drohte er mit dem Finger.

»Es ist immer eine riskante Sache, einen verheirateten Mann zu trösten. Wenn das die Frau erfährt!«

»Ich vergesse nie, daß er eine Frau hat, und mein schönster Lohn sollte es sein, wenn ich diese beiden, die sich nach kurzem Glück durch Mißverständnisse entfremdet haben, wieder zusammenführen könnte; wenn ich einmal sehen könnte, daß sie glücklich sind.«

»Und Sie selbst? War Ihnen denn dieser Jugendfreund nicht teuer?«

Erna senkte den Kopf.

»Verzeihen Sie, Fräulein Schirmer!«

»O nein, es ist nichts. Er war mir lieb und wert, aber die größte Liebe ist die, die schweigend entsagt, damit er glücklich wird.«

»Und er sollte nichts von Ihrem Edelmut wissen?«

»Ich will nur seine Freundin sein, er wird es glauben.«

Bewegt reichte Radatus dem Mädchen beide Hände: »Fräulein Schirmer, Sie haben ein seltenes Wesen; ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß auch zu Ihnen selbst noch einmal ein großes Glück kommt.«

Ein wehes Zucken ging über ihr Antlitz. Stumm wandte sie sich ab.

»Und nun helfe Ihnen Gott, Sie gutes Kind, daß Ihr Werk gelingen möge.«

Erna hatte das Zimmer verlassen, und wieder stand Frau von Werter ihrem Bruder gegenüber.

»Nun wird mir manches klar,« flüsterte die Geheimrätin erschüttert, »wie konnte ich an diesem reinen Mädchen zweifeln!«

»Nun, habe ich nicht wieder recht?«

»Wenn es nur gut ausgeht, wird sie die Kraft haben, ihm zu widerstehen? Erik hat leidenschaftliches Blut, es gibt für jeden Menschen schwache Stunden.«

»Und wenn sie sich vergessen könnte, Irene, selbst wenn ihre Leidenschaft stärker als ihr Wille sein sollte, – auch dann brauchten wir nichts zu fürchten.«

»Das gebe Gott!«

* * *

Auf Eriks heftige Bitten hin hatte sich Erna bereit erklärt, hin und wieder bei seinem Auftreten die Oper zu besuchen, und so saß sie jetzt oft und immer öfter im Hintergrund einer Loge. Immer deutlicher kam es ihr zum Bewußtsein, daß die herrliche Stimme des Geliebten unfrei klang und viel von dem früheren Schmelz eingebüßt hatte. Sie verheimlichte dem Freunde ihre Beobachtung nicht, sie merkte, daß er sich beim nächsten Male noch mehr anstrengte; und doch wollte es ihm nicht gelingen. Das Publikum allerdings raste vor Entzücken bei seinem Auftreten, sie vergötterten ihren Liebling und nach wie vor häuften sich Briefe und Blumenspenden in seiner Garderobe. Was lag ihm jetzt noch an diesem Jubel? So schnell als irgend möglich eilte er zu Erna, um aus ihrem Munde das Urteil zu hören. Er fühlte wohl, daß sie recht hatte, und doch wollte es ihm nicht gelingen, seine Leistungen zu verbessern, und so mußte Erna öfters die leidenschaftlichsten Ausbrüche anhören, daß er zugrunde gehe an diesem Leben, und daß Isolde schuld habe an seinem Mißgeschick.

»Ich fühle es ja selbst, seit jenem furchtbaren Abend ist eine Saite in meinem Innern gesprungen.«

Da bedurfte es schon übermenschlicher Anstrengung von seiten Ernas, um ihn vor der Verzweiflung zu bewahren.

»Wenn ich dich nicht hätte,« stammelte er nur immer wieder, »ich wäre längst nicht mehr.«

Und immer heißer wurde sein Begehren, Erna ganz zu besitzen.

»O du, du bist die einzige, die mich vor dem Untergang retten könnte. Ich fühle, an deiner Seite würde ich wieder der alte. Erna, noch einmal singen zu können wie einst –«

Erschüttert von dem grenzenlosen Jammer in seiner Stimme, legte sie ihm die Arme um den Hals.

»Erik, mein Erik!«

»Du hast mir schon so unendlich viel geopfert, warum nicht auch das letzte?«

Sie schauderte zusammen, aber in ihrem Innern reifte ein letzter Entschluß: es mußte nun endlich anders werden zwischen den beiden Gatten, sie wollte selbst heimlich den schweren Gang gehen, sie wollte zu Isolde, vielleicht konnte es noch gelingen, den beiden ein neues Glück zu schaffen.

»Es wird ja alles wieder gut werden, Erik, habe nur noch wenige Tage Geduld!«

»Geduld und immer wieder Geduld, ich ertrage das Leben nicht länger. Ja bei dir, wenn ich bei dir wäre!«

Sie wehrte ihm nicht, als er sie heftig an sich riß, sie fühlte es: heute durfte sie ihn nicht im Gefühl seines Unglückes von sich gehen lassen.

»Singe morgen für mich, nur für mich, passe auf, dann bist du wieder ganz der alte.«

»Ja für dich, Erna, nur für dich,« rief er mit leuchtenden Augen, »und dann hole ich mir noch am selben Abend dein Urteil.«

»Nein, Erik!«

»Doch, sei still! Erwarte mich am Bühnenausgang. Nein, nicht da, da sind so viele. Warte auf mich am Königsdenkmal und dann fahren wir gemeinsam heim.«

»Nein, nein,« wehrte sie angstvoll.

»Lieb!« Er schloß ihr mit einem Kuß den Mund. »Kennst du mich so schlecht?«

»Nicht das, Erik, aber bedenke, die Oper endet erst nach elf Uhr.«

»Macht nichts, du wartest.«

»Vielleicht.«

Laut lachte er auf. »Ja, du mußt, du darfst nicht nein sagen, ist doch der ganze morgige Abend dir geweiht.«

Glückstrahlend schloß er sie in seine Arme und eilte davon.– – –

* * *

»Aber Santos, nun hören Sie endlich mit dem vielen Trinken auf!« Mit diesen Worten nahm Vera Reichmann dem Kollegen ein gefülltes Likörglas aus der Hand. »Das ist ja gräßlich mit dir. Gestern abend schon schienst du mir bekneipt und heute hast du auch schon wieder Augen, so klein wie Schweineritzen. Schäme dich doch, denkst du denn, daß das deiner Stimme besonders dienlich ist?«

»Laß mal, du kleiner Affe, im Wein liegt Wahrheit nur allein.«

»Quatsch doch keinen Blödsinn. Was hast du denn?«

»Ein Herz voll Liebe!«

»Dazu aber brauchst du nicht die ewige Sauferei, wenn das so weiter geht, dann wirst du bald fertig sein.«

»Das macht nichts.«

»Und wenn es mit dir nicht anders wird, dann sage ich es dem Intendanten, dann wird man hinter die Kulissen überhaupt keinen Alkohol mehr bringen dürfen.«

»Aber Reichmännchen!«

»Schäme dich, ich habe so viel von dir gehalten –« und Tränen der Wut traten der Sängerin in die Augen.

»Nun weine mal nicht gleich!«

»Wie du aussiehst! Vergißt du denn ganz, was du dem Publikum, was du dir selber schuldig bist?«

»Hahaha!« lachte Erik laut auf. »Nun sieh' mich nicht gar so wütend an. Komm, gib mir einen Kuß!«

»Schäme dich, du einer der größten Künstler,« sie schluchzte leidenschaftlich auf. »Geradeaus in dein Verderben rennst du!«

»Da sitze ich schon lange drin. Alle haben sie mich von sich gestoßen, auch die einzige ist mir ausgerückt.«

»Siehst du denn nicht ein, daß du so zugrunde gehen mußt?«

»Ach was, fange du auch noch an. Komm, trinke noch einen mit, und dann wollen wir lustig sein.«

Vera schickte sich an, nach beendeter Probe das Theater zu verlassen. Einen zornigen Blick noch warf sie auf den Kollegen, der Glas auf Glas hinuntergoß.

»Komm mit mir, bringe mich heim,« herrschte sie ihn an.

»Nein, ich habe Verpflichtungen.«

»Du willst nicht –«, fuhr sie ihn an.

»Du willst mir Vorschriften machen? Aber Verachen, was tust du denn?«

Mit flammenden Augen trat sie dicht vor ihn hin.

»Weißt du, was ich tun müßte? Dich ruhig dem Verderben entgegengehen lassen – aber – ich habe dich zu lieb. Ich kann und will nicht sehen, wie du uns verloren gehst; und darum flehe ich dich an: kehr' um, leb' so nicht weiter, laß ab von dem Leben, wie du es in den letzten Tagen geführt hast. Und wenn die andere von dir nichts wissen will« – sie holte tief Atem – »so komme zu mir, ich will dich wieder emporziehen.«

Wieder brach ihre Stimme in heftigem Schluchzen.

»Du?« Mit gerötetem Gesicht blickte er sie an.

»Ist das wahr?«

»Ja.«

»Warte, ich komme.«

Fest gestützt auf Veras Arm schritt er mit ihr dem Ausgang zu. Sie winkte einen Wagen heran, lachend stieg Erik ein.

Erschöpft von all den durchfeierten Nächten war Erik im Heim der Kollegin bald in einen tiefen, festen Schlaf gesunken. Darauf hatte sie nur gewartet. Eilends ließ sie ihren Wagen vorfahren. Es galt schnell zu handeln.

In der Weinlaune hatte ihr Erik so manches verraten, was sonst nie über seine Lippen gekommen wäre; die Künstlerin hatte dann mit ihrem Scharfsinn bald die Situation erfaßt. Nun hieß es helfen; ihr würde es kaum gelingen, – es gab hier nur eine, und die hieß Erna Schirmer. Der Sänger hatte der Fragenden die Adresse verraten, nicht ahnend, daß Vera in der nächsten Stunde jene aufsuchen würde.

Mit klopfendem Herzen fuhr sie nach der benannten Straße. Wie, wenn sie sie nicht anträfe! Es war um die Mittagsstunde und noch dazu Sonntag. Angstvoll preßte sie ihre Hände ineinander. Sie mußte sie finden und wenn sie stundenlang nach ihr suchen sollte!

Sie flog die Treppen empor und zog bebend die Klingel. Erna selbst öffnete der Sängerin.

»Gottlob, Fräulein Schirmer, Sie sind es selbst?«

»Ja, aber darf ich fragen –«

»Reichmann, die Kollegin Ihres Freundes.«

»Ah, Fräulein Reichmann,« und Erna ließ erstaunt die Künstlerin eintreten.

»Sie wundern sich vielleicht, daß ich zu Ihnen komme,« ergriff Vera das Wort, als sie dem Mädchen gegenübersaß. »Lassen Sie mich keine langen Einleitungen machen, – die Zeit drängt. Ich weiß, Sie sind die Freundin Santos'. Er ist in Gefahr. Sie müssen ihm helfen!«

»Um Gottes willen, was ist mit ihm?«

»Bleiben Sie ganz ruhig! Keine augenblickliche Gefahr ist es, aber wenn es so weiter geht, dann ist er Ihnen, mir, ja uns allen verloren.«

»Reden Sie!« preßte Erna angstvoll hervor.

Und nun schilderte die Künstlerin der erstaunt Zuhörenden Eriks gegenwärtigen Lebenswandel und was ihn dazu getrieben.

»Sie sind die einzige, Fräulein Schirmer, die helfen kann, – Sie müssen ihn retten.«

»Und wie soll ich das?«

»Er liebt Sie, er verzehrt sich in Sehnsucht nach Ihnen, – warum stoßen Sie ihn von sich?«

»Er besuchte mich doch in der letzten Zeit fast täglich, nur kürzlich hatte ich eine wichtige Reise unternehmen müssen, so sah ich ihn allerdings seit vierzehn Tagen nicht mehr.«

»Sie lieben ihn?«

»Ja.«

»Dann helfen Sie ihm!«

»Ich will es versuchen, vielleicht gelingt es meinen Worten.«

»Sie machen ihn toll mit Ihrer Zurückhaltung. Er liebt Sie, – warum schenken Sie ihm nicht ein volles Glück?«

»Fräulein Reichmann!«

»Nun, weichen Sie nicht so zurück, als wäre ich ein Gespenst, wenn Sie ihn lieben,« und in Veras Stimme kam ein angstvolles Flehen, ... »... so opfern Sie sich für ihn.«

»Er ist vermählt.«

»Pah, das ist keine Ehe. Sie allein können ihm helfen.«

»Nein, nein,« schrie sie auf.

»So lieben Sie ihn nicht!«

»Ich liebe ihn, ich könnte für ihn sterben, hier auf der Stelle.«

Ein verächtliches Lächeln kräuselte die Lippen der Künstlerin.

»Für ihn sterben! Als ob das etwas nützte! Leben sollen Sie für ihn!«

»Ich kann nicht.«

»Ich wünsche Ihnen, daß Sie sich niemals Vorwürfe deswegen zu machen brauchen. So gehe er denn zugrunde!«

Mit schrillem Auflachen verließ sie das Zimmer, Erna wie gebrochen zurücklassend.

»Nein, nein, ich will dich nicht verderben, du Einziger; aber so Gott will, gibt es auch noch andere Mittel, dich zu retten.« Rasch entschlossen sprang sie auf. Eine kurze flehende Einladung erging an Erik: sie erwarte ihn morgen nachmittag. Dann strich sie sich das Haar glatt und machte sich zum Ausgehen fertig. –

Schwer, furchtbar schwer wurde ihr der Weg. aber es galt das Glück des Geliebten, und so mußte es sein.

Die Bahn brachte sie in den eleganten Villenvorort, und nach mehrmaligem Fragen hatte sie den Weg zur Santosschen Villa gefunden. Heiß stieg es ihr in die Schläfen, als sie nach Isolde fragte. Nach wenigen Minuten kam der Diener mit dem Bescheid zurück, die gnädige Frau wolle das Fräulein nicht empfangen. Fest biß Erna die Zähne aufeinander, dann wiederholte sie ihre Bitte, dringender, flehender – und richtig, man ließ sie vor.

Als sie dann wartend in dem kleinen Zimmer stand, das mit raffiniertem Luxus ausgestattet war, da war es ihr, als wollte sie doch der Mut verlassen. Minuten qualvollen Wartens vergingen, ehe Isolde über die Schwelle trat.

Ohne Erna zum Sitzen aufzufordern, nahm sie selbst auf einem der Sessel Platz.

»Was haben Sie mir zu sagen?«

Das klang so verletzend, daß Erna das Blut zu Kopfe stieg. Ihre Hand krampfte sich fest um die Lehne des Sessels.

»Gnädige Frau, ich bin seit meiner Kindheit mit Ihrem Gatten befreundet gewesen, ich kenne ihn genau,« die richtigen Worte konnte sie nicht mehr finden. Zehnmal hatte sie sich auf dem Wege ihre Worte zurechtgelegt, und nun, da sie vor dieser kühlen jungen Frau stand, waren sie wie weggewischt.

»Sie haben Ansprüche auf meinen Mann?«

»Ich bin gekommen, um – Sie – zu bitten –. Er liebt Sie – nur ein Mißverständnis –. O gnädige Frau, bleiben Sie, verzeihen Sie, wenn es Ihnen vielleicht merkwürdig erscheint, daß ich es wage, hier so zu Ihnen zu reden. Aber ich bin in namenloser Angst. Sie sind seine Gattin, in Ihrer Hand liegt es, ihn zurückzuhalten –«

»Wie können Sie sich erdreisten, mir solche Worte zu sagen.«

»In namenloser Angst bin ich zu Ihnen gekommen.«

»Sie fürchten für ihn?«

Erna wollte den Hohn nicht hören, der durch diese Worte klang.

»Ja, gnädige Frau, Sie selbst müssen es sehen, daß er zugrunde geht, daß er seine Stimme verlieren muß, wenn er ein solches Leben länger weiter führt.«

»Und wenn dem so wäre, – was schadete es?«

Alle Farbe wich aus dem Antlitz des Mädchens. Eriks Worte fielen ihr ein. Nichts wünschte ja seine Frau sehnlicher, als daß er die Bühne verließe. Und plötzlich ward ihr bewußt, welch eine lächerliche Rolle sie hier spielte.

Isolde hatte sich erhoben und ging zur Tür. Dort wandte sie sich nochmals um.

»Sie fürchten, Fräulein, daß er, wenn er erkrankt, seinen Verpflichtungen Ihnen gegenüber nicht mehr nachkommen kann. Ich werde dafür sorgen, daß Sie eine entsprechende Abstandssumme erhalten.«

Ein heiseres Ächzen aus Ernas Mund, es wurde Nacht vor ihren Augen, nur mit Mühe hielt sie sich aufrecht, wie gehetzt eilte sie fort, blickte sich nicht um, nur fort von hier, wo man sie so unsäglich verletzt hatte. Draußen aber, unter Gottes freiem Himmel, in der lachenden Natur, da konnte sie die hervorstürzenden Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Worte Isoldes schmerzten und brannten in ihrer Brust, und scheu verbarg sie das Antlitz vor den Blicken der Menschen, meinte sie doch, man könnte ihr die Schmach deutlich vom Antlitz lesen.

»Ich tat's nur für ihn,« murmelte sie; »und auch dieses Opfer umsonst!«

* * *

Wieder einmal sagte Erik für heute abend sein Auftreten ab. Es war ihm nicht möglich zu singen, denn alles an ihm befand sich in fieberhafter Aufregung, mittags die kurze flehende Bitte von Erna: »Komme heute nicht,« die man ihm durch Eilboten zugestellt, – und dann die höhnenden Worte der Gattin, die ihn ersucht hatte, seine Liebschaften von ihrer Wohnung fernzuhalten. Mit zuckenden Fäusten, aber ohne ein Wort zu sagen, hatte er schweigend von dem Besuch Ernas vernommen. Eine innere Stimme schrie es ihm deutlich in die Ohren, welch ein Opfer das geliebte Mädchen mit diesem Gang ihm gebracht haben mußte, und in seinem Zimmer angekommen, küßte er in wilder Leidenschaft ihr Bild. »Warum stößt du mich so zurück?« Das war die quälende Frage, die ihm die Ruhe und Besinnung raubte, die ihn zum Alkohol trieb. Er wollte üben, wollte in seiner Kunst das Bild der Jugendfreundin wenigstens auf kurze Zeit vergessen, es gelang ihm nicht. Heisere Töne kamen hervor, und kurz entschlossen sagte er für heute wieder ab.

»Ich kann nicht mehr singen, ich kann nie mehr singen«, ächzte er und warf sich verzweifelnd hin und her. Und je mehr sich der Abend herabsenkte, um so heißer klopfte sein Herz. Da hielt es ihn nicht länger.

»Ich muß zu ihr, koste es, was es wolle.«

Mit brennenden Augen starrte Erna in die Nacht. Die gestrige Szene wollte nicht aus dem Gedächtnis. Wie, wenn sie Erik nie mehr wiedersehen würde? Würde Isolde dann zufrieden sein? Aber durfte sie denn dem Künstler die einzigen wenigen glücklichen Stunden rauben? Hatte nicht sogar Vera Reichmann ganz anderes von ihr gefordert? Nein, nein, das nicht. Noch hatte sie ein Recht, stolz jede Verleumdung von sich zu weisen.

Er sang jetzt gewiß. Ob er wohl an sie dachte? Da klingelte es. Mit einem Aufschrei prallte sie zurück!

»Du Erik? Jetzt? Was ist's?«

Kaum erkannte sie ihn, so hatten ihn die letzten Wochen verändert. Die Augen hatten den strahlenden Glanz verloren, die Haut hatte einen grauen Schein und der ganze Mann machte eher den Eindruck eines Schwerkranken denn eines im besten Alter stehenden Mannes.

»Ich wollte zu dir, ich mußte dich sehen.«

»So komm!«

»Was hat sie dir angetan?«

»Du weißt darum?«

»Sie hat es mir erzählt.«

Erna senkte den Kopf.

»Ich werde sie töten, jetzt ist ja doch alles einerlei.«

»Erik, du bist von Sinnen!«

»Nein, nein, habe nur keine Angst,« sagte er müde. »Ich hoffe, es dauert nicht mehr lange mit mir. Ich fühle es, der halbe Wahnsinn hat mich schon gepackt.«

»Sprich nicht so!« flüsterte sie leise.

Er betrachtete sie schweigend. In seinen Augen lag ein wildes Lodern, Erna wandte sich ab.

»Bleib! Laß dich umarmen!«

»Nein, Erik, komm, setze dich hier nieder.«

»Du bist schön, Kind.«

Sie fuhr zusammen. Dieser heisere Ton, dieser stiere Blick!

»Erik!« schrie sie auf.

Er fuhr sich über die Stirn.

»Was ist's, was willst du?«

»Komm setz' dich zu mir, du singst heute abend nicht?«

»Nein, ich kann nie mehr singen.«

»Erik!« flehte sie angstvoll.

»Für dich, da könnte ich wohl noch einmal singen, nur für dich –«

Erna sprang auf und eilte zum Flügel.

»Singe mir ein Lied, singe mein Lieblingslied. Du weißt ja: Das Meer erglänzte ...

Traurig schüttelte er den Kopf. »Laß nur, ich kann nicht.«

»Ich bitte dich, Lieber, Liebster. Singe mir das Lied, wie einst. Komm!«

Willig ließ er sich zum Flügel geleiten, zagend begannen ihre Finger, und dann setzte er ein, erst leise, dann immer lauter und lauter, aber es war mehr ein Stöhnen als ein Gesang. Da warf sich Erna in leidenschaftlichem Weinen zu seinen Füßen nieder.

»Siehst du,« murmelte er dumpf, »es geht nicht mehr. Der Sänger hat versungen.«

»Nein, nein, das geht vorüber. Erik – ach Erik!«

»Weine doch nicht, mein Kind, es ist zu schade um die Tränen, die da für mich fließen.«

»Ich liebe dich!«

»Laß, laß, es ist zu spät. Ich bin verloren.«

»Nein, nein, du bist nicht verloren, das darfst du nicht sein. O könnte ich dir den Glauben an dich selbst wiedergeben.«

Müde schüttelte er sein Haupt.

»Laß, laß, es ist vorbei!«

Erna brach in fassungsloses Schluchzen aus.

»Ich will es nicht glauben,« schrie sie wild auf. »Ich glaube es nicht, das geht vorüber, und du wirst wieder der alte sein. Ich glaub's nicht!« Ihre tränenverdunkelten Augen funkelten ihn heiß an, ihr Körper zitterte. Da umschlang sie Erik und zog sie an sich.

»Du glaubst auch jetzt noch an mich?«

»Auch jetzt noch, immer und immer.«

»Vielleicht, vielleicht könnte alles wieder gut werden,« flüsterte er träumerisch, den Duft ihres Haares einatmend.

Und dann verharrten beide schweigend in stummer Zärtlichkeit.

Endlich zog er Ernas Kopf fest an seine Brust.

»Würde es dir sehr schmerzlich sein, wenn ich nicht mehr wäre?«

»Erik! Kannst du noch fragen, da mit dir doch mein ganzes Glück dahinginge?«

»Du liebst mich?«

»Ja, ich liebe dich.«

Erik atmete schwer. »Ich habe dich auf ewig verloren.«

Wieder herrschte drückendes Schweigen. Endlich begann Erik leise: »Ich weiß es wohl, sie gibt mich nicht frei, sie wartet auf meinen Ruin. Dann bin ich ihr verfallen, und so muß es ja kommen und dann ist mein Künstlertraum ausgeträumt. Aber das ertrage ich nicht. Noch einmal will ich ihnen allen beweisen, daß ich ein Künstler von Gottes Gnaden bin, noch ein einziges Mal, und dann hinab in die ewige Nacht!«

»Kannst du diese schrecklichen Gespenster nicht bannen?«

»Nein, das vermag nur der Engel des Lichts.«

»Auch dir naht noch diese Stunde.«

»Du – du – Küsse mich!«

»Laß mich, o laß mich!«

»Nein, nie mehr, nie mehr; willst du, daß ich wahnsinnig werde?« Er stürzte auf sie und bedeckte ihren Hals und ihre Hände mit heißen Küssen.

»Erik!« stöhnte sie vergehend.

Noch ein letztes mattes Wehren, dann senkte langsam die Nacht ihre schwarzen Schwingen über zwei in seligem Finden sich verlierende Menschenkinder.

* * *

»Verzeihung, Irene, daß ich nicht zu dir komme, sondern dich zu mir bitten ließ; aber meine Zeit ist äußerst knapp, und da dir ja ganz besonders das Wohl meiner Sekretärin, Fräulein Schirmer, am Herzen liegt, so will ich dich doch benachrichtigen.«

Frau von Werter, die ihrem Bruder gegenübersaß, hob gespannt den Kopf.

»Was ist's mit Fräulein Schirmer?«

»Sie will durchaus ihre Stelle bei mir aufgeben. Irgendwelche Gründe hat sie zwar nicht genannt, doch es muß etwas Besonderes vorgefallen sein. Nicht umsonst ist sie in letzter Zeit so auffallend elend.«

»Sie ist krank?«

»Krank im eigentlichen Sinn wohl nicht. Aber du würdest sie kaum wiedererkennen, so hat sie sich in den letzten drei Monaten verändert. Du weißt ja, daß sie damals, als sie mit dem Sänger zusammengetroffen war und so heroisch sich unserer Isolde hatte opfern wollen, voller Hoffnungen und voller Glück gewesen. Das hatte jedoch nicht lange gedauert. Als sie im Sommer auf Urlaub gegangen war, mochte sie schon an irgendeinem Kummer gelitten haben. Und jetzt ist das anscheinend noch schlimmer geworden. Ich habe vergeblich versucht, etwas von ihr selbst zu erfahren. Mir tut dieser todwunde Blick – anders kann ich es gar nicht bezeichnen – weh, mit dem sie mich dann ansieht; ich bringe es nicht fertig, dann weiter in sie zu dringen.«

Frau von Werter seufzte tief auf.

»Du weißt ja, Paul, wie es um Erik steht, vielleicht geht ihr das so nahe.«

»Was denn? Daß er so ausschweifend lebt und daß seine künstlerischen Fähigkeiten darunter leiden? Meinst du, das könnte der Grund sein?«

»Vielleicht.«

»Nein, das glaube ich nicht, dieser Kummer steckt tiefer.«

»Es scheint auch ihren Vorstellungen und Bitten nicht gelungen zu sein, ihn von diesem Lebenswandel abzuhalten. Man erzählt sich fürchterliche Dinge von ihm.«

»Man übertreibt, Irene, wie bei allen Künstlern. Wenn er auch wirklich mal einen Seitensprung macht und ein Glas über den Durst trinkt –«

»Nein, nein, Paul, ich würde nicht darüber sprechen, wenn ich es nicht aus zuverlässiger Quelle wüßte. Wie oft schon ist er sinnlos betrunken heimgekommen und hat im Rausch dann die scheußlichsten Geschichten erzählt.«

»Ja, aber Isolde?«

»Das ist ja eben das Rätselhafte. Ich selber habe ihr zur Scheidung geraten, Erik selbst hat sie schon oft dazu aufgefordert, sie aber bleibt starrköpfig bei ihrem Nein.«

»Wie kann sie aber dulden, daß er – na – du weißt ja.«

»Sie klagt nicht im geringsten, sie liebt ihn nach wie vor und hofft immer noch auf eine Zukunft.«

»Ob er und Fräulein Schirmer sich veruneinigten?«

»Fast glaube ich das auch. Sie schien doch sozusagen sein guter Engel. O Paul, was ist aus diesem Mann geworden!«

»Aber Irene, so weine doch nicht. Gewiß, es ist traurig, nimm du ihn doch einmal ins Gebet.«

»Wie oft habe ich das schon getan, es hat alles keinen Erfolg. Wer weiß, was er auch jetzt während der vier Wochen, die er verreist gewesen, alles getrieben hat.«

»Isolde versteht nicht, mit ihm umzugehen, hat es nie verstanden.«

»Da hast du recht, aber deswegen hätte es nicht so weit zu kommen brauchen. Selbst in den Zeitungen, die noch immer seines Ruhmes voll sind, merkt man deutlich zwischen den Zeilen einen Mißton. Mein armes Kind hat unsagbar zu leiden.«

»Liebste Irene, Isolde ist nur zu helfen, wenn sie in eine Scheidung willigt.«

Die Geheimrätin preßte die Hände zusammen. »Das kann ich bei ihr nicht durchsetzen.«

Radatus strich sich den Bart, »Hm, wenn unser Santos wirklich ein solches Leben führen sollte, wie du es meinst, dann könnte das allerdings auch der Grund für Fräulein Schirmers Traurigkeit sein.«

»Ob sie denn gar keinen Einfluß mehr auf ihn hat?«

»Es scheint fast so.«

»Und du sagst, sie hätte dir gekündigt?«

»Ja, Gründe konnte ich wie gesagt nicht erfahren. Es tut mir wirklich aufrichtig leid, sie zu verlieren. Ich bot ihr einen einjährigen Urlaub an, sie lehnte auch das ab. Halten kann ich sie nicht, so muß sie ziehen.«

»Sie hat mich damals zwar zurückgestoßen, aber ich hätte Lust, sie erneut aufzusuchen und sie zu bitten, Erik zu retten.«

»Und wenn sie dich wieder hinauswiese?«

»So hätte ich das eben für mein Kind unternommen. Für Isolde bin ich zu jedem Opfer bereit.«

»Du bist eine seltene Mutter, Irene. Fast möchte ich sagen: ja, versuche es, gehe zu ihr und ergründe dabei auch ihren Kummer.«

»Ich möchte erst noch einmal mit Isolde reden, vielleicht hat sie sich inzwischen anders besonnen.«

»Es wäre das beste für sie.«

»Und einst liebten sich diese beiden –«

»Es ist niemals gut, wenn ein Künstler eine Frau freit, die dem Bühnenleben fernsteht.«

»Sie waren doch aber glücklich gewesen.«

»Wie lange! Das Verhältnis hatte sehr schnell einen Riß bekommen.«

»Ob es wohl jemals wieder gut werden könnte?«

Radatus zuckte die Achseln und unruhiger als sie hergekommen, verließ die Geheimrätin das Privatkontor ihres Bruders.

* * *

Diejenige aber, über die sich Radatus so schwere Gedanken machte, saß am Abend desselben Tages in ihrem Zimmer und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Nur hin und wieder durchbrach ein leises Stöhnen die unheimliche Stille. Warum war gerade sie vom Schicksal ausersehen, so übermenschlich zu leiden? Seit jenem Tage, da sie sich seinem Glück geopfert, war Ruhe und Frieden aus ihrer Brust gewichen. Wie innig hatte sie ihn gebeten, wieder in alter Freundschaft zu ihr zurückzukehren und diese eine Stunde der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Erst lachend, dann zornig hatte er ihren Wunsch zurückgewiesen, so blieb ihr nach langem schweren Entschluß nur die Selbsthilfe. Vergeblich eilte Erik des Tages mehrmals zu ihr, er fand verschlossene Türen, seine leidenschaftlichen Briefe blieben unbeantwortet. Da packte den sich tief verletzt fühlenden Mann das Verlangen, alles zu vergessen. Mit wilder Unbesonnenheit warf er sich wieder in den Strudel des Lebens und seine Ausgelassenheit steigerte sich fast bis zur Unmöglichkeit. Ja, mitunter schrieb er verletzende, ironische Briefe an Erna. In ihrer Verzweiflung suchte diese Fräulein Reichmann auf, die ihr alle Schuld an Eriks Untergang zuschrieb. Nun kämpfte Erna schon seit Tagen einen furchtbaren Kampf. Was sie gelitten, stand deutlich auf ihrem Antlitz und doch galt es, schweigend zu dulden, schweigend zu leiden für ihn. Viele Male war sie schon daran gewesen, dieses Leben von sich zu werfen, was aber würde dann aus ihm? Hatte sie es sich nicht zur heiligen Pflicht gemacht, ihm zu helfen, ihn zu retten? Was läge denn an ihr, – wenn nur er wieder der alte wäre!

Fröstelnd schauderte sie zusammen. »Darf Liebe so weit gehen?« Und immer und immer wieder schrie es in ihr: »Du darfst solche Opfer nicht bringen. Er ist ihrer nicht wert!« Diese Erkenntnis traf ihren Frauenstolz am härtesten; ihr Opfer war umsonst gewesen. Nicht in einer idealen Liebe – in Spiel und Trunk suchte er Vergessen!

Ihre Stellung hatte sie gekündigt. Nur keinen Menschen mehr sehen! Scheu schlich sie an allen Menschen vorüber, sie konnte niemandem mehr frei in die Augen blicken.

Vor dem Bild der Mutter warf sie sich auf die Knie. Die gute Mutter, sie konnte ihr nicht mehr raten. Was würde sie wohl auch geraten haben? Wohl hatte auch sie dem Gatten viel zuliebe getan und seinetwegen große Opfer gebracht. Durfte sie aber den Gatten mit dem Fremden vergleichen? Blickten die Augen der Mutter nicht drohend auf sie herab? »Gib mir ein Zeichen, was ich tun soll, hilf deinem verirrten Kinde! –« Vergeblich flehte sie und trostlos erhob sie sich. »Nein, nein, du sollst meine Schmach nicht sehen«, und mit brennenden Augen entfernte sie das Bild von der Wand. Es mit heißen Küssen bedeckend, verschloß sie es sorgfältig in die Truhe. »Bis heute durfte ich dich noch berühren, trotz meiner Sünde war ich noch rein – aber nun ist's vorbei. Leb' wohl, du gutes Mütterchen, und vergib mir – ich kann nicht anders.«

* * *

Ein trüber Tag; der Regen schlug an die Fenster. Das schlechte Wetter wirkte auf die Stimmung der trostlos in sich hineinweinenden verstärkend. Erna schlug die Hände vor die Augen und verharrte stundenlang in ihrer Verzweiflung.

Der Abend brach herein.

Das Mädchen erhob sich mühsam. Mit Watte verstopfte sie alle Türritzen und öffnete den Gashahn. Dann begab sie sich leise wimmernd zur Ruhe ....

* * *

»Nun, das lasse ich mir gefallen! Heute macht mein Mädel ja endlich wieder einmal einen ganz vergnügten Eindruck.« Mit diesen Worten begrüßte Geheimrat von Werter seine Tochter. »Ich habe heute früh hier draußen zu tun und da komme ich schnell einmal herauf, um nach dir zu sehen. Also es geht gut, ich brauche ja gar nicht erst zu fragen.«

»Ja, Väterchen.«

»Das freut mich, freut mich wirklich. Ich habe dir auch etwas mitgebracht.«

»Ei, du gutes Väterchen. Du kommst doch nie, ohne mir etwas zu bringen, was ist's denn nun schon wieder?«

»Na, denke mal nach, was sich mein Mädel vor einigen Tagen wünschte.«

»Vor einigen Tagen? Ich weiß es wirklich nicht.«

»Nun, was hat die Fürstin Pleß neulich gehabt?«

»Ach, Papa,« und Isolde sprang freudig auf. »Du hast mir das Brillantenkollier gekauft?«

Der Geheimrat zog ein Paket hervor und überreichte es seiner Tochter.

»Da, hoffentlich gefällt es dir?«

Isolde brach in einen Ruf des Entzückens aus, als sie die funkelnden Steine erblickte, die sich wirkungsvoll von dem schwarzen Samt abhoben; dann warf sie sich dem Vater an den Hals.

»O du goldenes Papachen. Und hast mich doch zum Geburtstag schon so überreich beschenkt; nun sind kaum drei Wochen vorüber, da bekomme ich das. O, Papa, wie freue ich mich! Warte, das trage ich gleich in der nächsten Woche.«

»Gefällt es dir?«

»Über alle Maßen. Nein, was habe ich für einen guten Papa. Das ist ja heute ein Glückstag.«

»So? Hast du noch mehr Glückliches erlebt?«

»Ja.«

»Na; laß doch hören, da bin ich wirklich gespannt.«

Isolde hatte indessen den Schmuck am Hals befestigt.

»Ist er nicht schön, Väterchen, steht er mir nicht vortrefflich?«

»Aber natürlich, Elschen, was sollte dir nicht stehen!«

»Nun will ich ihn aber gleich wieder zurücklegen. Ach nein, ich trage ihn noch ein Weilchen, er ist gar so schön.«

»Nun erzähl', – was ist dir noch Schönes passiert.«

»Dort,« Isolde wies auf einen Stoß Zeitungen. Der Geheimrat blickte sie verständnislos an.

»Hast du nicht gelesen, Väterchen?«

»Was denn, Kind?«

»Die heutigen Kritiken der gestrigen Premiere.«

»Ach, über die neue Oper? Nein.«

»So lies!«

»Was ist's damit?«

»Nun, mein Mann ist gründlich heruntergerissen worden in allen Blättern.«

»Aber Kind!«

»Ja, und das geht nun schon seit einiger Zeit so. Da schreibt der eine: die Stimme ist passé, ein anderer meint, er brauche Schonung, der dritte bedauert, daß ein noch so junger Mensch schon versungen und so weiter. Und hast du denn nicht bemerkt: seit Anfang der Saison tadeln sie an ihm herum, und obgleich er seit mehreren Wochen täglich stundenlang übt, gelingt es ihm nicht mehr. Ich habe ihn mir ohne sein Wissen in letzter Zeit auch einige Male angehört, – die Zeitungen haben recht, er hat viel verloren.«

Der Geheimrat blickte ernst vor sich nieder.

»Aber, Kind, und das freut dich?«

»Ja, Väterchen, das freut mich. Jetzt kommt bald meine Ernte. Bis jetzt habe ich ihn in der Zeit meiner Ehe nur entbehren müssen, mußte ruhig zusehen, wie sein Beruf ihn mir stundenlang stahl. Jetzt komme ich daran. Er erträgt das nicht, daß ihn die Kritik verspottet. Ich kenne ihn doch. Er übt und übt jetzt unermüdlich, ich glaube aber nicht, daß alles wiederkommt, was er verloren hat. Und dann ist es vorbei. Dann zieht er sich zurück von der Bühne, Geldmittel besitzt er nicht, das luxuriöse Leben ist er gewöhnt, – was bleibt ihm also übrig? Er kehrt dann reuevoll zu mir zurück und ist dann mein!«

»Und wenn du dich irrst?«

»Ich irre mich nicht, Väterchen. Darum habe ich nichts gesagt, als er das Geld mit vollen Händen von sich warf. Im Gegenteil, ich habe mich gefreut. Er ist nicht gewöhnt, sich Entbehrungen aufzuerlegen, er hat den Reichtum kennengelernt, er kann ihn nicht mehr missen.«

»Er liebt aber seinen Beruf. Wie, wenn er eher sein Leben als seine Kunst lassen sollte?«

»Da kennst du ihn schlecht, Väterchen. Wohl glaubte auch ich das eine Zeitlang, aber dem ist nicht so. Hatte er nicht sogar seine Kunst gänzlich vergessen, als er sich nächtelang herumtrieb? Nein, nein, sein Beruf ist ihm nicht mehr alles, längst nicht mehr, und nun komme ich bald an die Reihe.«

»Ich wünsche dir das von Herzen, hoffentlich hast du dich nicht in Erik getäuscht, Elfchen; aber ich fürchte, es kommt doch anders. Er liebt seine Kunst sehr. Sagtest du nicht selbst, daß er tagelang üben kann?«

»Das ist eine Augenblickslaune, Väterchen, die wird nicht lange vorhalten. Und dann, er scheint übrigens dieselben Gedanken zu haben wie ich, denn er ist in den letzten Wochen wieder viel freundlicher und zugänglicher. Bedenke doch, im vorigen Herbst habe ich ihn wochenlang nicht gesehen, und jetzt ist er doch viel häuslicher geworden. Er will sich wahrscheinlich einen ehrenvollen Rückzug sichern, er fühlt gewiß auch, daß es mit seinem Gesang am längsten gedauert hat und daß der Beruf, Mann seiner Frau zu sein, schließlich doch auch ganz nett ist.«

»Elschen, Elschen, wie du nur so reden kannst!«

»Ach, Papa, das bringt das Leben so mit sich. Ich bin heute kein unerfahrenes Mädchen mehr. Die zwei Jahre meiner Ehe haben mich vieles gelehrt. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr allzu fern –«

»Du wünschest ihm also den Verlust seiner Stimme?«

»Ja, Väterchen, schon seit langem.«

»So sieh' dich nur vor, daß er dir dann nicht gänzlich verloren geht.«

»O nein, ich erringe mir ihn zurück.«

»Armes Kind, du liebst ihn also noch immer?«

»Ja, Papa, heiß und leidenschaftlich, und es wird sich gewiß alles zum Guten wenden, wenn sein Beruf uns nicht mehr trennt.«

»Du hast ihm all seine Sünden verziehen?«

»Sie waren mir Mittel zum Zweck.«

»Elschen, ich kenne dich nicht wieder. Du bist fürchterlich!«

»O nicht doch, Papachen, aber sind in der Schlacht nicht alle Mittel erlaubt?«

»Man darf aber nie die Achtung vor sich selber verlieren.«

»Wenn man aber liebt, Papa, wenn man so heiß liebt wie ich? Jetzt warte ich noch geduldig, vielleicht dauert es noch Monate, vielleicht Jahre, vielleicht kommt es auch bald. O, Papa, wenn deine Tochter doch nicht mehr allzulange zu warten brauchte!«

»Hättest du denn nicht auch das Glück finden können, wenn ihm Erfolg und Ruhm zur Seite gestanden hätte?«

»Nein,« versetzte sie hart. »Ich will ihn ganz allein haben, ich will ihn mit niemandem teilen.«

»Kind, Kind, wenn das nur nicht dein Verderben wird!«

»Nein, fürchte nichts. Das Schwerste ist überwunden, für mich liegt die Zukunft in rosigem Licht.«

»Das will ich dir wünschen: Gebe Gott, daß du dich nicht täuschest!«

»Du gutes Väterchen, mache dir keine Sorgen. Zwar rasen sie noch immer vor Entzücken, wenn sie ihn hören, aber hin und wieder hört man doch die Enttäuschung durch ihre Worte. Und die, die ihr »Hosianna!« schreien, die rufen ihm bald ein »Kreuziget ihn!« entgegen. Freilich wird er verzweifelt sein, dann aber wird er sich willig und freudig in meine weit geöffneten Arme stürzen – dann halte ich ihn fest.«

»Ich wünsche, Kind, ich könnte gleich dir so vertrauensvoll in die Zukunft sehen.

»Da höre, Väterchen,« und Isolde öffnete die Tür. »Da quält er sich nun heute schon den ganzen Vormittag, singt Tonleitern und doch scheint er mit sich nicht zufrieden zu sein, denn er fängt immer und immer wieder von vorne an.«

»Vielleicht ist das Ganze nur eine vorübergehende Ermattung. Die Ferien sind ja gottlob nicht mehr fern, vielleicht erholt er sich im Sommer wieder.«

Isolde schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, Väterchen. Diese Ermattung, wie du sagst, hält schon zu lange an. Seit dem vorigen Herbst ist er nicht mehr der alte. Wahrscheinlich ist er selbst schuld daran, denn damals trieb er es gar zu arg. Nun hat er noch mehrere Gastspielreisen vor, die werden ihn auch anstrengen. Ich glaube, die Ferien werden ihm nichts mehr nützen.«

»O Kind, Kind, wie macht das alles mir das Herz schwer!«

»Sei ganz ruhig, Väterchen, ich finde meinen Weg schon.«

»Und wenn dein Va-banque-Spiel falsch ist?«

Gedankenvoll blickte Isolde in die Ferne.

»Nun dann, Väterchen, dann habe ich ein paar Jahre meines Lebens einem Phantom geopfert, dann wird es an euch liegen, euer armes, verirrtes Kind wieder auf den rechten Weg zu bringen.«

»An uns soll es nicht fehlen. Du weißt ja, mein Kind, in dir liegt unser Glück.«

»Guter, guter Papa!«

»Soll ich vielleicht mal zu ihm hinübergehen?«

»Laß, Väterchen! Er liebt es nicht, wenn man ihn stört.«

»Nun, dann lebe wohl, mein Kind. Deine Mutter wollte übrigens heute noch zu dir kommen.«

»Wie nett! Ja, sie soll kommen, mich in meinem herrlichen Schmuck zu bewundern.«

»Nun, dann bleibe wohlauf, mein Kind!«

»Und du habe nochmals Dank und grüße die Mama.«

Noch ein paar zärtliche Umarmungen, dann war Isolde allein.

* * *

Mit einem markerschütternden Aufschrei war Erik an dem Totenbett Ernas zusammengesunken. Keinem gelang es, ihn auch nur für wenige Minuten von der Entschlafenen zu entfernen. In dumpfem Brüten saß er Stunde um Stunde, um wieder und immer wieder die erkalteten Hände der Geliebten zu küssen. Am zweiten Tage hatte er auf dringendes Zureden der Geheimrätin einige Bissen zu sich genommen, aber am liebsten war es ihm, wenn er ganz allein mit der Toten blieb. Dann legte er sein heißes Haupt auf Ernas wachsbleiche Hände und hielt Zwiesprache mit der Geliebten. Er schauderte bei dem Gedanken, daß man sie nun bald hinwegtragen, und er dieses geliebte Antlitz nie mehr sehen würde. Unerreichbar für ihn würde sie in der kühlen Erde ruhen, befreit von allem Jammer. Dann grübelte er wieder stundenlang, was er der Teuren noch Liebes erweisen könne. »Ich kann dich nicht begleiten auf deinem letzten Gang,« schrie es dann in ihm auf. »Ich will nicht sehen, wie sie dich in den hölzernen Kasten verschließen, ich kann es nicht ertragen, daß man auf dich und deinen geliebten Körper die dunkle Erde wirft. In Rosen, in weiße, duftende Rosen soll man dich betten und soll dir, du beste aller Menschen, Dank- und Loblieder singen.« Stunde auf Stunde faß er und hielt bei einbrechender Nacht treulich die Totenwacht.

»Die letzte Nacht! Morgen ruhst du schon draußen in der Erde, morgen sehe ich dich nicht mehr.« Tiefes Schweigen herrschte im Zimmer.

Die Hunderte von Blumen, die umherlagen, verbreiteten betäubenden Duft, und durch die geöffneten Fenster drang die milde Nachtluft. Die Lichter zu Häupten der Entschlafenen flackerten unruhig.

»Die letzte Nacht, – es gilt Abschied zu nehmen, du treueste Freundin – Abschied für immer!«

Sanft und zärtlich strich er ihr über das gelöste Haar.

»Mein ganzes Leben sei deinem Andenken geweiht, treu bleiben will ich mir, wie du es wünschtest. Ich will dir zum Abschied dein Lied singen, dein Lieblingslied – mehr kann ich dir nicht mitgeben auf den Weg, den du morgen antrittst.« Und Erik begann mit leiser Stimme – einer Totenklage gleich klang das Lied durch die Stille der Nacht – zu singen: »Das Meer erglänzte weit hinaus –«

Erschütternd und furchtbar anzuhören waren diese Klagetöne, kein Gesang mehr, ein heiseres Ächzen war es, das er hervorstieß. Ehe er noch das Lied beendet, sank er ohnmächtig zu Boden.

Am anderen Morgen war er davongestürzt, und als man am Nachmittag den überreich mit Blumen geschmückten Sarg hinaustrug, begleitete ein großes Gefolge die so einsam im Leben Gestandene. Am bittersten weinte wohl Vera Reichmann und die alte Magd; aber auch Radatus, der von fast allen seinen Angestellten umgeben war, ließ seinen Tränen freien Lauf, als man unter den Klängen des Trauermarsches den Sarg in die Erde senkte.

Erik aber lief inzwischen im Freien herum wie ein rasendes Tier und schlug die Fäuste vor die Stirn, um am Abend schweißgebadet in die Oper zu stürzen.

»Ich singe heute, ich bin zwar beurlaubt, aber ich singe. Teilen sie Herrn Hellmers das mit, er braucht nicht zu singen, heute singe ich den Tristan.«

Angstvoll wich der Regisseur zurück. »Nein, mein Herr Santos, um Gottes willen, wie sehen Sie aus – Sie sind krank!«

»Ich singe, habe ich gesagt,« schrie er heraus und stürzte dann in die Garderobe, um sich fertigzumachen.

Der Intendant wurde benachrichtigt. Die Kollegen versuchten Erik abzuhalten. Vera Reichmann, die gerade vom Grabe kam, bat und flehte – umsonst. Mit trotziger Festigkeit blieb er dabei; voller Angst sahen alle dem Auftreten entgegen.

Wohl gehorchte ihm die Stimme nicht immer, aber es ging doch besser, als man dachte. Nur Vera, die ihm als Partnerin den ganzen Abend gegenüberstand, verging vor namenloser Angst. Dieses glühende Auge, die fieberheißen Hände und dann dieses mühsam unterdrückte fürchterliche Ächzen! Daß doch endlich dieser Abend vorbei wäre!

Nach dem zweiten Aufzug eilte sie, selbst erschöpft, sofort zu ihm:

»Erik, laß genug sein für heute. Hellmers ist da. er mag weitersingen. Sieh', das Publikum ist so unruhig. Schone dich, ich bitte dich.«

»Ich darf nicht,« stieß er dumpf hervor.

»Doch, doch!«

»Nein! Was weißt denn du? Ich muß mein Gelöbnis erfüllen.«

»Was für ein Gelöbnis?« kam es angstvoll aus der Künstlerin Munde.

»Ich gab es gestern nacht – ihr.«

»Was ist's?«

Seine dunklen Augen starrten sie geistesabwesend an, dann flüsterte er leise vor sich hin:

»Für dich singe ich noch einmal, dann – nie mehr. Mein letzter Ton gilt dir.«

Vera schauderte zusammen.

»Erik!« schrie sie in namenlosem Entsetzen.

»Was ist?« – und wie aus einem Traum erwachend strich er sich das Haar aus der Stirn.

»Singe nicht weiter!«

»Ich muß!«

Dann verließ Vera bebend die Garderobe. Aber eine unsägliche Angst schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie wich nicht aus der vordersten Kulisse, aus der sie die Bühne übersehen konnte. Es begann der letzte Akt.

Träumt sie, wacht sie, ist das Erik Santos, der da singt? Der sich todwund in sehnender Qual nach der Geliebten verzehrt? Noch niemals hatte sie so herrliche, so süße Töne gehört. Ist das derselbe, der in letzter Zeit so oft versagte? Ihr war, als müßte ihr das Herz brechen bei den Tönen:

»Wie sie selig hehr und milde
Wandert durch des Meers Gefilde,
Auf sonnigen Blumen, lichten Wogen
Kommt sie sacht ans Land gezogen.
Sie lächelt mir Trost und süße Ruh',
Sie führt mir letzte Labung zu.«

Vera stürzte davon. Nein, nein, das konnte sie nicht hören; um ihre Fassung war es geschehen, sie preßte die Hände an die Ohren, um diese bestrickende Stimme nicht zu hören. Eine beklemmende Stille war im Theater, kaum wagte man zu atmen, wie Todesgrauen lag es über allen, und während oben auf der Bühne der sterbende Tristan Isolden entgegenjubelte, lagerte unten im Zuschauerraum eine grausige Beklemmung.

Vera als Isolde eilte Erik entgegen, kaum hörte sie vor Aufregung die letzten Worte: »Die Leuchte erlosch! Zu ihr!«

Sie fing den sterbenden Tristan auf, und während sie ihn sanft zu Boden gleiten ließ, sah sie stieren Auges, wie ein breiter Blutstrom aus der Brust des Künstlers hervorquoll, den herabsinkenden Händen entfiel ein spitzes Messer, das sich Erik mit sicherem Stoß ins Herz gesenkt hatte.

Ein fürchterlicher Schrei gellte durch den Raum, aber schon hatte man auch hinter der Bühne Eriks furchtbare Tat gesehen.

Und während sich der Vorhang schnell senkte, tobte draußen ein fanatischer Jubel, wie man ihn noch nie erlebte.

Behutsam hatte man den Sterbenden in das zunächstliegende Zimmer getragen, während das Toben und Rufen kein Ende nehmen wollte, Da öffnete Erik noch einmal die schon halb geschlossenen Augen:

»Mein Lieb, ich folge dir!«

Ein letztes Röcheln noch, und aufschluchzend stürzte sich Vera Reichmann über den Toten.

Ende.

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Flemming-Wiskott AG, Glogau, Berlin, Breslau.

 


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