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10.

Beiläufig um dieselbe Zeit kam derjenige, der sich Pjankow-Pitkjewitsch genannt hatte, in einem geschlossenen Einspänner an einen der unbebauten Plätze der Petersburger Storona angefahren, nahe dem Kleinen Prospekt – bezahlte den Kutscher und ging den Fußsteig entlang des unbebauten Platzes. Die Straße war leer – an einem Bretterzaun öffnete er ein Pförtchen, ging über einen Hof, wo zwischen Asphaltresten Gras zu wachsen begann und stieg über die schmale Treppe des rückwärtigen Eingangs eines Hauses in den fünften Stock hinauf. Mit zwei Schlüsseln sperrte er die Tür auf, hängte in dem leeren Vorzimmer auf den einzigen vorhandenen Nagel Hut und Mantel, trat in das Zimmer, dessen vier Fenster zur Hälfte mit Kreide verschmiert waren, setzte sich auf den Diwan und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Erst hier, in dem einsamen Zimmer, das mit Wandschränken, worin Bücher und physikalische Apparate aufbewahrt waren, eingerichtet war, konnte er sich endlich der furchtbaren Aufregung, fast Verzweiflung, hingeben, die ihn seit dem gestrigen Tage erfaßt hatte.

Seine Hände, die das Gesicht umklammerten, zitterten. Er war sich bewußt, daß die Todesgefahr noch nicht vorbei war. Er war umringt. Einige kleine Kombinationen sprachen noch zu seinem Vorteil, aber zu fünfundzwanzig Prozent schien es eher wahrscheinlich, daß alles schief gehen würde.

»Wie unvorsichtig, ach, wie unvorsichtig …« flüsterte er. Er steckte den Polster unter den Kopf, warf sich rücklings hin und schloß die Augen. Die Muskel, von der Anspannung durch die intensive Gedankentätigkeit müde geworden, streckten sich, ruhten aus. Ein paar Minuten todähnlicher Unbeweglichkeit erfrischten ihn. Er stand auf, goß sich ein Glas Madeira ein und leerte es auf einen Zug. Nachdem sich diese heiße Welle in seinen Körper ergossen hatte, machte er eine Bewegung, als wollte er sich mit Luft durch Handbewegung die Hände waschen und schritt mit systematischer Langsamkeit durch das Zimmer, während er die kleinen Möglichkeiten erwog, die ihm noch zu seiner Rettung geblieben waren.

Vorsichtig bog er einen Streifen der alten Tapeten auseinander, nahm hinter ihnen einige Blätter mit Zeichnungen heraus und rollte sie zusammen. Dann nahm er alle physikalischen Geräte aus den Wandschränken, wählte einige Bücher aus und legte das alles, zusammen mit den Zeichnungen, in einen Koffer. Alle Minuten anhaltend, trug er den Koffer treppabwärts und versteckte ihn im Holzkeller des Hauses unter einer halbverfaulten Bastmatte. Dann stieg er wieder in seine Wohnung hinauf, nahm aus der Schreibtischlade den Revolver und steckte ihn in die rückwärtige Tasche.

Es war dreiviertel fünf Uhr. Er legte sich nochmals hin, rauchte eine Zigarette nach der anderen, während er die abgebrannten Stummel in eine Ecke warf. »Selbstverständlich haben sie es nicht gefunden!« schrie er beinahe und spreizte die Beine von dem Diwan fort. Wieder lief er das Zimmer auf und ab, wieder wusch er mit Luft die Hände. Bei hereinbrechender Dämmerung zog er derbe Stiefel und einen Segeltuchmantel an und ging aus dem Haus.

11.

Um Mitternacht wurde der Diensthabende der sechzehnten Milizabteilung ans Telephon gerufen. Eine eilige Stimme sprach ihm ins Ohr:

»Senden sie sofort in das Sommerhäuschen auf der Krestowskij-Insel, wo vorgestern der Mord begangen wurde, dringende Hilfe …«

Die Stimme riß ab. Der Diensthabende fluchte ins Telephon und rief die Kontrolle an. Es erwies sich, daß man aus dem Ruderklub telephoniert hatte. Er rief dort an. Lange klingelte das Telephon, bis sich der Ruderklub meldete. Eine verschlafene Stimme sagte:

»Was wollen Sie?«

»Man hat eben von Ihnen aus angerufen!«

»Ja, man hat angerufen!« sagte die Stimme gähnend.

»Wer hat angerufen? Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein … das elektrische Licht funktioniert nicht bei uns … Man hat nur gesagt, es geschehe im Auftrage des Genossen Schelga – und so ließ ich ihn ein …«

Eine halbe Stunde später sprangen vier Milizionäre vor dem vernagelten Sommerhäuschen auf der Krestowskij-Insel aus dem Lastauto. Hinter den Birken sah man späte, purpurrote Abenddämmerung. Durch die Stille drang leises Stöhnen. Ein Mensch im Bauernpelz lag nahe der Außentreppe, mit dem Gesicht gegen die Erde, auf dem Boden. Man drehte ihn herum – es stellte sich heraus, daß es der Wächter war. Neben ihm lag ein Wattebausch, mit Chloroform durchtränkt.

Die Tür an der Außentreppe stand sperrangelweit offen, das Schloß war fortgerissen. Als die Milizionäre ins Innere des Sommerhäuschens eingedrungen waren, hörten sie eine halbdumpfe, schreiende Stimme aus dem Keller:

»Die Luke, macht die Luke auf, Genossen … in der Küche …«

Tische, Kisten und schwere Säcke waren in der Küche zu einem Berg, nächst der Mauer, aufgetürmt. Man warf sie auseinander, hob den Deckel der Luke. Aus dem Keller sprang Schelga. ganz in Staub, mit Spinnweben behangen, und wilden Augen:

»Schneller … hierher!« schrie er und verschwand hinter der Tür: »Licht, schneller!!«

In dem Zimmer, wo das eiserne Bett stand, sah man im Licht der Taschenlampe auf dem Boden zwei ausgeschossene Revolver, eine braune Samtmütze und es herrschte ein ekliger, beißender Geruch. Auch Spuren von Brechreiz waren bemerkbar …

»Vorsicht!« schrie Schelga, »atmet nicht, geht fort – das ist der Tod!«

Während er sich zurückzog, die Milizionäre vor sich herdrängend, blickte er voll Entsetzen mit Abscheu auf das auf dem Boden herumwälzende Metallröhrchen in der Größe eines menschlichen Fingers.

12.

Wie alle Geschäftsleute großen Maßstabes, empfing der chemische König Rolling geschäftlich in einem eigens hierzu gemieteten Raum, einer »Office«, wo seine beiden Sekretäre die Besucher filtrierten, den Grad der Bedeutung des Besuches feststellten, Gedanken lasen, alle Fragen mit ungeheuer Liebenswürdigkeit beantworteten, wo die Stenotypistinnen Rollings Worte in Kristalle verwandelten. Rollings Ideen (wenn man ihr arithmetisches Mittel nimmt und es mit dem Geldäquivalent multipliziert) kosteten ungefähr fünfzigtausend Dollar pro Abschnitt, pro Gedankengang, die in der Sekunde das Gehirn des großen anorganischen Königs durchströmten. Die mandelförmigen Nägel der vier Stenotypistinnen rasten ohne Unterlaß über die Tastaturen der vier Underwoodmaschinen. Der Boy mit den vielen Metallknöpfen tauchte stets unverzüglich nach dem Klingelzeichen Rollings vor dessen Augen auf, die verkörperte Materie seines Willens.

Die Office Rollings auf dem Boulevard Malesherbes war ein finsterer und ernster Raum. Dunkler Damast an den Wänden, dunkle Teppiche auf dem Fußboden, dunkle Ledermöbel, auf dunklen Tischen, die mit Glas überdeckt waren, Sammlungen von Reklamen, Auskünften, Büchern in braunem Juchtenleder, Prospekte chemischer Werke, ein verrosteter Bombenwerfer, der vom Kriegsschauplatz mit nach Hause gebracht worden war und nun eine Art Kaminverzierung vorstellen sollte.

Hinter den hohen, dunklen Nußholztüren saß inmitten von Diagrammen, Kartogrammen und Photographien der chemische König in seinem Arbeitszimmer. Die bereits filtrierten Besucher traten unhörbar über den Teppich in das Wartezimmer, setzten sich auf einen der ledernen Sessel und blickten mit dumpfer Aufregung auf die Tür aus Nußholz: dort saß der chemische König. Man mußte die Luft, die hier herrschte, tief in sich einsaugen, denn sie allein schon kostete pro Gedanke und Sekunde fünfzigtausend Dollar, so wertvoll waren die Gedanken dieses Menschen …

Welches Menschenherz würde nicht erbeben, wenn inmitten der tiefen, ernsten Stille des Wartezimmers sich plötzlich die bronzene Kugel der Türschnalle, die von einer Pfote gehalten zu werden schien, an der Nußtür plötzlich zu bewegen beginnt, die hohe Tür sich öffnet und dort ein kleiner Mensch in grauem Sakko erscheint, mit einem Bart, den die ganze Welt kennt, der fast die ganze Wange bedeckt. Sein Gesichtsausdruck ist barsch, unfreundlich, sein Wesen scharf wie ein Dorn. Er durchbohrt gerade den, den er braucht, mit dem stechenden Blick und sagt mit stark amerikanischem Akzent: »Bitte!«

Schon vor Rolling hat es zweifellos große Männer gegeben. Aber nehmen wir z. B. an, daß in dieses Wartezimmer auf dem Boulevard Malesherbes Dschingis-Chan, Karl der Große oder selbst Napoleon kommen würden – sie wären sicher im nächsten Augenblick bestürzt, schüchtern, wie arme Teufel, grundlos würden sie plötzlich beginnen, verwirrt zu lächeln und im Handumdrehen, kaum nach Ablauf einer einzigen Minute würde derselbe große Mensch, von dem wir in der Geschichtsstunde so viel erfahren haben, still und bescheiden auf seinem ihm zugewiesenen Ledersessel sitzen, ohne die Augen von der Nußtür zu lassen, er würde es nicht einmal wagen, zu blinzeln, um ja den Augenblick nicht zu verpassen, wann sich die braune bronzene Pfote bewegen wird, die die Kugel hält.

13.

Mit außerordentlicher Höflichkeit fragte der Sekretär, zwischen den Fingern den goldenen Bleistift haltend:

»Entschuldigen Sie, Mr., wie war doch Ihr Familienname?«

»Oberst Schapowalow, Russe … Emigrant, wie Sie sehen. Ein Großgrundbesitzer.«

Zornig hob der Antwortende seine Schultern und fuhr sich mit einem verdrückten Taschentuch über den grauen Schnurrbart.

Der Sekretär flog mit seinem Bleistift über das Notizbuch und fragte lächelnd, als hätte man eine der angenehmsten, freundlichsten Erinnerungen berührt, sehr behutsam:

»Was für eine Absicht liegt Ihrem Gespräch mit Mr. Rolling zugrunde, Mr. Schapowalow?«

»Es ist eine außerordentlich wichtige Sache …«

»Vielleicht könnte ich sie auszugsweise Mr. Rolling auseinandersetzen, wenn Sie so freundlich sein wollten, mir die ganze Sache …«

»Sehen Sie – der Zweck ist … sozusagen … die Sache ist sehr einfach … der Plan … ein beiderseitiger Vorteil …«

»Der Plan berührt voraussichtlich den chemischen Kampf gegen die Bolschewiki, wenn ich recht verstehe?« fragte der Sekretär.

»Sehr richtig … ich möchte Mr. Rolling vorschlagen …«

»Ich fürchte,« begann der Sekretär, während sein angenehmes Gesicht sogar etwas wie Mitleid ausdrückte, »ich fürchte, daß Mr. Rolling mit solchen Plänen ein wenig überladen sein dürfte. Seit voriger Woche sind bei uns allein von den Russen hundertvierundzwanzig Projekte chemischer Kriegführung gegen Rußland eingetroffen. Wir haben in unseren Portefeuilles ausgezeichnete Vorschläge, darunter sogar einen eines gleichzeitigen Luftangriffes mit Gasen auf Charkow, Moskau und Leningrad. Der Autor hat außerdem eine sehr scharfsinnige Aufstellung der angreifenden Kräfte in den Pufferstaaten ausgearbeitet – wirklich sehr, sehr interessant. Er hat sogar einen Kosten- und Materialvoranschlag gemacht: 6850 Tonnen Senfgas für die vollständige Vernichtung der Einwohner dieser Hauptstädte …«

Puterrot von dem eben erfolgten Blutandrang, unterbrach ihn der Oberst Schapowalow:

»Um was handelt es sich dann also, Mr.? Wie heißen Sie? Mein Plan ist allerdings auch nicht schlecht, aber dieser Plan ist ausgezeichnet. Man muß bald beginnen. Vom Wort – zur Tat … Was für Hindernisse gibt es eigentlich da noch zu überwinden? …«

»Verehrter Herr Oberst, das Hindernis besteht darin, daß Mr. Rolling vorläufig noch kein Aequivalent für seine Ausgaben sieht!«

»Was für ein Aequivalent?« fragte der Oberst

»6850 Tonnen Senfgas aus Aeroplanen über diese Städte zu entladen, macht Mr. Rolling keinerlei Schwierigkeiten, aber hierzu wird man gewisse Ausgaben bestreiten müssen. Krieg kostet doch Geld, nicht wahr? Und in diesen Vorschlägen sieht Mr. Rolling vorläufig nichts als Ausgaben allein. Aber das Aequivalent, den Gewinn dieses Unternehmens, darauf wurde in allen diesen Vorschlägen durch einen ärgerlichen Zufall vergessen …«

»Aber das ist doch so klar, daß man darüber kaum ein Wort verlieren braucht … Die Einnahmen … kolossale Einnahmen für jeden, der Rußland seine gesetzmäßige Regierung wiedergibt – Goldberge werden diese Menschen bekommen, die das zuwege bringen …«

Wie ein Adler richtete der Oberst seinen Blick von unten auf den Sekretär – »aha … also auch die Einnahmen muß man anführen?«

»Ganz genau sogar, mit Ziffern belegt, links die Passiven, rechts die Aktiven, dann einen Strich unter die ganze Sache und die Differenz, mit einem Pluszeichen versehen: sehen Sie, die könnte Mr. Rolling allenfalls interessieren!«

»Aha!« sagte der Oberst schnaubend, drehte den staubigen Hut in der Hand herum und ging zur Tür.

»Gut – er braucht ein Aequivalent, nun so will ich ihm auch das Aequivalent vorrechnen!«

14.

Kaum war der Oberst fortgegangen, als in der Eingangstür die protestierende Stimme des Boys hörbar wurde. Eine andere Stimme erklärte, den Jungen möge der Teufel holen – und im nächsten Augenblick erschien vor dem Sekretär mit aufgeknöpftem Mantel, in der Hand Hut und Stock, im Mund eine angekaute Zigarre – Semjonow.

»Guten Morgen, Freundchen,« sagte er eilig zu dem Sekretär und warf Hut und Stock auf den Tisch –, lassen Sie mich außer der Reihenfolge zu dem ›König‹ vor!«

Der goldene Bleistift des Sekretärs blieb in der Luft hängen:

»Aber Mr. Rolling ist heute besonders intensiv beschäftigt!«

»Ach, Freundchen, Unsinn … In meinem Auto unten wartet ein Mann, der eben aus Warschau angekommen ist … Sagen Sie Rolling, wir kommen in Angelegenheit Garin!«

Die Augenbrauen des Sekretärs flogen nach oben. Mit seinen Lackschuhen den Teppich kaum berührend, trat er durch die Nußtür bei Rolling ein.

Zwei Zehntel der wartenden Leute erhoben sich, hielten den Atem an – dann setzten sie sich wieder auf ihre Ledersessel. Fast sofort darauf glitt der Sekretär wieder aus Rollings Zimmer. Mit noch höher gezogenen Augenbrauen lief er in leichtem Trab über den Teppich, rief Semjonow und führte ihn durch die Nußtür. Erst dann nahm er aus seiner Seitentasche sein seidenes Taschentuch und führte es an die Lippen.

Semjonow blieb gegenüber dem chemischen König Rolling stehen. Er zeigte keinerlei Anzeichen besonderer Aufregung, erstens weil er eine geborene Lakaiennatur war und zweitens, weil ihn in dieser Minute der ›König‹ nötiger hatte, als er ihn.

Rolling durchbohrte ihn mit seinen grünen Augen. Auch dadurch nicht eingeschüchtert, setzte sich Semjonow ihm gegenüber auf der anderen Seite an den grünen Tisch.

Rolling sagte:

»Nun?«

»Die Sache ist gemacht!«

»Die Zeichnungen?«

»Wissen Sie, Rolling, da ist ein Irrtum unterlaufen …«

»Ich frage: Wo sind die Zeichnungen? Ich sehe sie nicht!« preßte er grausam zwischen den Zähnen hervor und schlug mit der Handfläche dreimal auf den Tisch.

»Hören Sie mich an, Rolling! Wir haben vereinbart, daß ich Ihnen nicht nur die Zeichnungen allein verschaffen werde, sondern auch den Apparat selbst … Ich habe kolossal viel unternommen … ich habe die Leute ausfindig gemacht … sie nach Petersburg geschickt … sie sind in das Laboratorium Garins eingedrungen. Sie haben die Tätigkeit des Apparates beobachten können … Aber dann, verdammt noch mal, ist etwas dazwischen gekommen … Erstens erwies es sich, daß es zwei Garins gibt …!«

»Das habe ich von allem Anfang an vermutet!« sagte Rolling angewidert.

Es ist uns gelungen, einen von den Beiden zu beseitigen …«

»Ermordet?«

»Wenn Sie wollen – ja, so etwas ähnliches … Jedenfalls ist er tot. Sie brauchen sich deshalb nicht zu beunruhigen. Die Liquidation dieser Sache ging in Petersburg vor sich, er war russischer Untertan … kurz: eine Lappalie … Aber dann ist sein Doppelgänger aufgetaucht … wir machten ungeheure Anstrengungen …«

»Kurzum: der Doppelgänger – oder Garin selbst – lebt, und Sie haben mir weder die Zeichnungen noch den Apparat selbst verschafft, trotz der von mir hierzu aufgewendeten großen Gelder!!« unterbrach ihn Rolling schroff.

»Wenn Sie wollen, rufe ich Stasij Tiklinsky – er sitzt unten im Auto – er ist selbst an der großen Sache persönlich beteiligt und kann Ihnen ausführlich berichten …«

»Ich wünsche keinen Tiklinsky kennen zu lernen – ich wünsche die Zeichnungen und den Apparat zu besitzen … ich staune über Ihre Verwegenheit, so ohne weiteres mit leeren Händen vor mir zu erscheinen …«

Trotz der Kälte dieser Worte – von der ungefähren Temperatur des interplanetarischen Raumes – trotzdem Rolling aufgehört hatte zu sprechen, trotzdem er derart überzeugend und vernichtend auf den grindigen Russen blickte, was bedeuten sollte, er möge so rasch als möglich spurlos verschwinden – blinzelte ihm Semjonow zu, steckte die angekaute Zigarre in den Mund und sagte lebhaft:

»Wenn Sie nicht wünschen, Tiklinsky zu sehen – sollen Sie ihn nicht sehen. Sie kommen damit nur um ein kleines Vergnügen. Aber es handelt sich noch um etwas: ich brauche Geld. Rolling, ungefähr zwanzigtausend Francs. Wollen Sie mir einen Scheck geben – oder Bargeld?«

Trotz seiner riesigen Erfahrung und Menschenkenntnis war Rolling eine derartige Unverschämtheit zum ersten Male im Leben begegnet. Rolling trat sogar so etwas ähnliches wie ein gelinder Schweiß auf die fleischige Nase, einer derartigen Selbstbeherrschung bedurfte er, um Semjonow nicht das Tintenfaß in die Fresse zu werfen. Abgesehen davon, wieviele kostbare Sekunden Gedankenarbeit à fünfzigtausend Dollar durch dieses nutzlose Gespräch vergeudet worden waren. Sich beherrschend, wandte er sich jedoch um, wollte auf den Knopf der elektrischen Klingel drücken.

Semjonow, der mit den Augen seiner Hand gefolgt war, sagte:

»Es handelt sich nämlich um folgendes, teurer Mr. Rolling: Ingenieur Garin ist gegenwärtig in Paris!

15.

Rolling sprang auf, seine Nasenflügel bebten, zwischen den Augenbrauen schwoll eine Ader. Er lief zur Tür, versperrte sie mit dem Schlüssel, dann trat er ganz nahe vor Semjonow, packte die Lehne des Sessels, klammerte sich mit der anderen Hand an den Tischrand und beugte sich tief über das Gesicht Semjonows:

»Sie lügen!!«

»Warum sollte ich denn lügen? Die Sache war so: Stasij Tiklinsky ist diesem Doppelgänger Garins auf dem Postamt in Petersburg begegnet, eben, als er ein Telegramm aufgab … Er merkte sich die Adresse: Paris, Boulevard Batignolle. Gestern kam Tiklinsky aus Warschau hier an, sofort liefen wir auf den Boulevard Batignolle, stießen im Café Nase an Nase – mit Garin zusammen – oder seinem Doppelgänger, der Teufel kennt sich da aus …«

Rollings Augen krochen über das mit Sommersprossen bedeckte Gesicht Semjonows. Dann richtete er sich auf und heißer Atem preßte sich aus seinen Lungen:

»Sie haben die Situation glänzend durchschaut, daß Sie sich so sehr bewußt sind, daß wir uns nicht in Sowjetrußland, sondern in Paris befinden,« sagte er, »wenn Sie ein Verbrechen begehen, werde ich Sie nicht vor der Guillotine retten, aber wenn Sie versuchen sollten, mich zu betrügen, werde ich Sie niedertreten …«

Er kehrte auf seinen Platz zurück und öffnete angeekelt sein Scheckbuch:

»Zwanzigtausend gebe ich nicht – fünf werden genügen!«

Er schrieb den Scheck, warf ihn mit einem Nagel über den Tisch Semjonow zu und war wieder der ausgeglichene, undurchdringliche König der anorganischen Chemie.

Semjonow verließ das Arbeitszimmer durch eine kleine Tapetentür.

16.

Selbstverständlich war es nicht der Wille des Zufalls, daß Zoe Montrose die Geliebte des chemischen Königs geworden war.

Nur Dummköpfe und jene, die nicht wissen, was Kampf und Sieg bedeutet, sehen überall den Zufall.

»Tja, so einer hat Glück, der Teufel soll ihn holen …« sagt man voll Neid, »was er nur beginnen mag – in allem hat er Glück, die Taschen voll Geld, die Frauen hängen sich an seinen Hals – ein Glückspilz …«

Zoe Montrose war eine kluge und entschlossene Frau. Sie hatte einen derart scharfen Verstand, daß sie in ihrer näheren Umgebung bewußt die Ueberzeugung nährte, Fortuna habe ihre ausschließliche Neigung Zoe Montrose zugewandt.

In dem Viertel, wo sie wohnte (am linken Ufer der Seine, Rue Siena) hielt man sie in sämtlichen Krämerläden, Kolonial-, Wein-, Kohlen- und Delikatessengeschäften für eine Heilige, die im Schatten des Glückes wandelt. Beinahe religiöse Begeisterung lösten in dem Quartier ihre erlesenen Schätze aus: ihr Alltagsauto, eine schwarze Limousine, 24 HP, ihr Tourenwagen, ein göttlicher 8 HP-Rolls-Royce, ihr Elektromobil – im Innern mit Lilaseide gesteppt, Blumenvasen und silbernen Beschlägen und besonders ihr Kasinogewinn in Deauville: anderthalb Millionen Francs …

Die Hälfte dieses Spielgewinns hatte Zoe Montrose umsichtigerweise bei der Pariser Presse »angelegt«.

Seit Oktober (Beginn der Pariser Saison) hatte die Presse »die schöne Zoe Montrose« auf ihren Schild erhoben. Zuerst war in einer kleinbürgerlichen Zeitung ein Pasqueville über die durch Zoe Montrose zugrunde gerichteten Liebhaber der Schönen erschienen. »Die Schöne ist zu teuer …« schrie dieses Blatt. Hierauf begann ein einflußreiches, republikanisches Blatt unvermittelt wegen dieses Pasquevilles gegen die kleinen »Bourgeois« zu donnern, die mit ihren Krämern und Weinhändlern, die sie ins Parlament schicken, den Horizont nicht weiter haben wollten, als ihren eigenen Regierungsbezirk. »Und selbst wenn Zoe Montrose ein Dutzend Ausländer zugrunde gerichtet hat,« rief die Zeitung, »sie setzt diese Gelder in Paris um. Für uns ist Zoe Montrose nur ein Symbol der Lebensbejahung, der ewigen Bewegung: wo einer fällt, erhebt sich ein anderer …«

Porträts und Biographien Zoe Montroses erschienen in sämtlichen Zeitungen: »Ihr verstorbener Vater war Mitglied der kaiserlichen Oper in St. Petersburg. Mit acht Jahren kam die reizende kleine Zoe in die Ballettschule. Knapp vor Beginn des Weltkrieges beendete sie ihre Studien und debütierte im Ballett mit einem Erfolge, wie ihn die nördliche Hauptstadt schon seit langem nicht zu verzeichnen hatte. Aber da kam Krieg – und Zoe Montrose, mit einem jungen, von Mitleid zu dem Nächsten übervollen Herzen, zog das schlichte Kattunkleid der Roten-Kreuz-Schwester an und eilte an die Front. An den gefährlichsten Schlachtorten konnte man ihr begegnen, über einen verwundeten Soldaten gebeugt, im Orkan eines Hagels feindlicher Geschosse. Sie wurde verwundet, doch ohne ernstlich Schaden zu erleiden. Nach Petersburg gebracht, lernt sie einen Kapitän der dortigen französischen Mission kennen. Revolution. Rußland verrät seine Alliierten. Zoe Montroses Seele ist erschüttert von den Bedingungen des Friedens von Brest-Litowsk. Gemeinsam mit ihrem Freunde, dem französischen Kapitän, flieht sie nach dem Süden, wo sie zu Pferde, mit dem Gewehr im Arm, wie eine wunderschöne, erzürnte Göttin gegen die Bolschewiki kämpft. Ihr Freund stirbt an Flecktyphus. Französische Matrosen brachten sie auf einem Torpedoboot nach Marseille. Nun ist sie in Paris. Sie tut einen Fußfall vor dem Präsidenten Frankreichs, bittet ihn, französischer Untertan werden zu dürfen. Sie tanzt zugunsten der Unterstützung der heimgesuchten Bewohner der Champagne. Auf allen Wohltätigkeitsveranstaltungen begegnet man Zoe Montrose. Sie gleicht einem blendenden Stern, der auf die Trottoirs von Paris gefallen ist …«

In großen Zügen war diese Biographie richtig. Zoe hatte sich in Paris sehr bald zurecht gefunden und verfolgte eine einzige Richtlinie: immer höher, aufwärts, auch wenn es um den Preis schwerer, allerschwerster Kämpfe geschehen mußte. Sie hat tatsächlich ein Dutzend von Schiebern zugrunde gerichtet. Kurz gewachsene Stutzer mit behaarten, mit Ringen überladenen Fingern, entzündeten Wangen. Zoe war eine kostspielige Frau und sie alle gingen zugrunde, weil sie zu riskiert spielen mußten.

Sie erkannte sehr bald, daß diese schieberischen Stutzer ihr nicht den schicken Komfort des Pariser Lebens bieten könnten. Sie nahm einen Modejournalisten als Liebhaber, betrog ihn mit einem Parlamentsvertreter der Schwerindustrie und erkannte, daß das wichtigste, das schickste des zwanzigsten Jahrhunderts sich in einer Sache verkörpere – der Chemie.

Sie engagierte einen Sekretär, der ihr täglich Berichte über die Erfolge der Chemie überbringen mußte und gab ihm entsprechende Aufträge. Auf diese Weise erfuhr sie von der geplanten Europareise des chemischen Königs Rolling.

Sofort fuhr sie nach New York. Dort angekommen, kaufte sie sich sofort den ersten Reporter einer großen Zeitung – mit Leib und Seele. Er war eine ganz unverantwortliche Persönlichkeit und bald darauf erschienen in der New Yorker Presse Berichte über die Ankunft der klügsten und schönsten Frau Europas, die mit ihrer hinreißenden Kunst als Ballerina umfassende Kenntnis der modernsten Wissenschaft – der Chemie verbinde. Sie trage sogar abends statt der banal gewordenen Brillanten Kristallkugeln, die mit einem leuchtenden Gas gefüllt wären, als Halsschmuck. Diese Kugeln hatten es der Phantasie der Amerikaner angetan.

Als Rolling das gigantische Schiff bestieg, das ihn nach Frankreich bringen sollte, saß Zoe Montrose bereits auf dem Oberdeck, zwischen breitfächerigen Palmen, die in der Meerbrise rauschten und blühenden Mandelbäumen, auf einem Korbsessel. Rolling wußte, daß sie die allermodernste Frau Europas war – abgesehen davon, daß sie ihm wirklich außerordentlich gut gefallen hatte. Er schlug ihr vor, seine Geliebte zu werden. Zoe stellte als Bedingung, einen vierzehn Monate dauernden Vertrag zu unterfertigen, bei dessen Nichterfüllung er sich verpflichtete, ihr eine Million Dollar auszubezahlen.

Dieses neue Verhältnis Rollings und der Inhalt des außerordentlichen Vertrages wurde noch von hoher See aus per Radio in alle Welt hinausgefunkt. Der große Empfänger am Eifelturm nahm diese Sensationsmeldung auf und am nächsten Tage war Zoe Montrose und der chemische König Rolling das Tagesgespräch von ganz Paris.

17.

Rolling hatte in der Wahl dieser Liebhaberin keinen Fehlgriff getan. Noch auf dem Ozeandampfer hatte Zoe zu ihm gesagt:

»Lieber Freund, es wäre allzu albern von meiner Seite, die Nase in Ihre Geschäfte zu stecken. Aber Sie werden bald zu der Ueberzeugung kommen, daß ich ein weitaus besserer Sekretär als eine Liebhaberin bin. Weibergewäsch interessiert mich wenig. Ich bin ehrgeizig. Sie sind ein großer Mann, ich glaube an Sie. Sie müssen siegen. Vergessen Sie nie, daß ich die russische Revolution mitgemacht habe. Ich habe Flecktyphus gehabt, habe gekämpft. Eines Tages saß ich auf meinem Pferde, das Gewehr quer über den Sattel und habe zugesehen, wie man auf einem Brückenpfeiler vier rote Kommissäre gehenkt hat. Ich trug damals eine russische Bluse, mit den Initialen des ermordeten Zaren. Dieser Augenblick bleibt mir unvergeßlich. Meine Seele ist von Haß erfüllt … Rächen, rächen … schonungslos … Ganz Rußland aus den Wolken mit giftigen Gasen übergießen … Ich will, daß Sie Beherrscher der ganzen Erde werden …«

Rolling wurde durch ihre eisige Leidenschaft angezogen. Dieser finstere Haß imponierte ihm. Er berührte mit der Fingerspitze ihr Nasenstümpfchen und sagte:

»Kleine! Für den Sekretär eines großen Geschäftsmannes haben Sie zu viel Temperament, Sie sind überspannt –, in Politik und Geschäften werden Sie zeitlebens eine Dilettantin bleiben …«

In Paris begann er mit den Unterhandlungen zwecks Organisation eines chemischen Trusts. Amerika sollte ungeheure Kapitalien in die Industrie der alten Welt investieren. Rollings Agenten kauften insgeheim Aktien. In Paris nannte man ihn den »amerikanischen Büffel«. Tatsächlich glich er inmitten der europäischen Industriellen einem Riesen. Er ging geradeaus auf sein Ziel los. Der Strahl seines Blickes war kurz: er sah ein einziges Ziel vor sich: in seiner Hand die gesamte chemische Industrie der Erde zu konzentrieren.

Zoe Montrose hatte seinen Charakter bald bis auf den Grund studiert, die Kniffe seines Kampfes erfaßt. Sie verstand sehr rasch seine Stärken und seine Schwächen. Er verstand sich sehr schlecht auf Politik und sagte einige Male Dummheiten über Revolution und Bolschewismus. Unmerklich umgab sie ihn mit wichtigen und einflußreichen Persönlichkeiten, führte ihn in der Journalistenwelt ein, wobei sie stets selbst das Wort führte. Sie kaufte kleine Chroniker, denen er keinerlei Aufmerksamkeit schenkte – aber sie erwiesen ihm bessere Dienste, als die Journalistenkanonen, da sie wie Moskitos in alle Spalten des Lebens einzudringen vermochten.

Als sie im Pariser Parlament eine kleine Rede eines rechtsstehenden Abgeordneten organisierte, der »von der Notwendigkeit eines engen Kontaktes mit der amerikanischen Industrie zwecks chemischer Verteidigung Frankreichs« gesprochen hatte, schüttelte ihr Rolling zum ersten Male männlich und wohlwollend die Hand:

»Sehr gut – ich engagiere Sie als Sekretärin mit einer Gage von 27 Dollar pro Woche!«

Rolling begann an die Nützlichkeit Zoe Montroses zu glauben und vertraute ihr von nun an alle Geschäftsgeheimnisse an.

18.

Zoe Montrose unterhielt Verbindungen mit einigen russischen Emigranten. Einer von ihnen, Semjonow, stand bei ihr in fixer Anstellung. Er war Ingenieur der Chemie, hatte während der Kriegszeit seine Studien beendet, war später Fähnrich, weißer Offizier, trug in der Emigration den Rang eines Obersten und beschäftigte sich mit kleinen Kommissionen, angefangen vom Wiederverkauf abgetragener Kleider der Boulevardmädchen.

Bei Zoe Montrose leistete er gewissermaßen Gegenspionagedienste. Er brachte ihr Sowjetzeitschriften und -zeitungen, überbrachte ihr allerhand Klatsch und Gerüchte. Er hatte gewandte Allüren, war pünktlich und schreckte vor nichts zurück.

Zoe geriet in Wut, als sie von der Gründung privater chemischer Industrien in Sowjetrußland erfuhr. Rolling beruhigte sie: »Unsinn, sie haben doch kein Geld dazu. Es wird wohl bei den Zeitungsmeldungen bleiben.«

Sie konnte sich nicht beruhigen. Nun verschaffte ihr Semjonow durch Mittelsmänner sämtliche Sowjetzeitungen. Aufmerksam las sie diese Zeitungen durch. Eines Tages zeigte sie Rolling, höchst aufgeregt, eine Meldung m der »Prawda«: In Leningrad wird an dem Bau eines Apparates von riesiger Vernichtungskraft gearbeitet …

Rolling lachte:

»Unsinn, keinem Menschen wird es einfallen, darüber zu erschrecken … Sie sind einfach übernervös geworden, teure Kleine.«

Zoe lud Semjonow zum Frühstück ein und auf Grund dieser Notiz erzählte er ihr eine sonderbare Geschichte:

»Im Jahre neunzehn, in Petrograd, kurz vor meiner Flucht, begegnete ich auf der Straße einem Freunde, einem Polen, mit dem ich gemeinsam das Technologische Institut absolviert habe – Stasij Tiklinsky. Er trug einen Rucksack auf dem Rücken, die Füße waren in Teppichfetzen gewickelt, auf dem Mantel stand eine Kreideziffer – Spuren des Stehens in der Schlangenlinie vor Nahrungsmittelgeschäften … Mit einem Worte, alles, wie es sich für die damaligen Zeiten gehörte. Aber sein Gesicht war sehr lebendig. Er blinzelte mir munter zu. »Was gibts?« »Tja,« sagt er, »ich bin jetzt in ein Geschäft verwickelt … tralala. Millionen, sag' ich dir, übrigens: hunderte von Millionen – Gold natürlich.« Und er schlug sich mit der flachen Hand auf die Tasche seines bis zur Unmöglichkeit zerfetzten abgetragenen Mantels. Ich kann mich natürlich nicht von ihm freimachen, ersuche ihn, zu erzählen. Er aber lacht nur. Dann gingen wir auseinander. Zwei Wochen später ging ich über die Wassiliewskij-Insel, wo Tiklinsky wohnte. Ich erinnerte mich seiner geplanten Goldgeschäfte und dachte noch, ich würde dem werdenden Millionär um ein halbes Pfund Zucker und geselchtes Fleisch bitten. Ging zu ihm. Ich treffe ihn, fast auf den Tod verwundet, Hand und Brust verbunden.

»Wer hat dich denn so zugerichtet?«

»Warte nur, die Mutter Gottes wird schon helfen … und wenn ich genesen bin … werde ich ihn erschlagen!«

»Wen?«

»Garin!«

Und sehr schleierhaft, unklar, erzählte er mir, widerwillig, Einzelheiten seines Geheimnisses preisgebend, wie ihm sein alter Bekannter, Ingenieur Garin, vorgeschlagen hatte, Kohlenkerzen, Pyramidchen aus Kohle herzustellen für irgendeinen Apparat von kolossaler Vernichtungskraft. Um Tiklinsky für diese Arbeit zu gewinnen, hatte er ihm Prozentanteile am Reingewinn versprochen. Er beabsichtigte, nach Abschluß der Experimente mit dem fertigen Apparat aus Rußland nach der Schweiz zu fliehen, dort das Patent zu erwerben und selbst die Fabrikation zu übernehmen.

»Eifrig begann Tiklinsky damals mit den Pyramidchen zu arbeiten. Die Aufgabe, die zu lösen war, bestand darin, bei möglichst geringem Umfang die höchsten Quantitäten von Wärme zu erzielen. Die Konstruktion des Apparates selbst hielt Garin aber streng geheim. Er meinte, das Geheimnis dieses Konstruktionsprinzips sei so außerordentlich einfach, daß schon die winzigste Andeutung genügen würde, um alles zu verraten. Er führte seine Experimente irgendwo, außerhalb der Stadt, durch. Tiklinsky lieferte ihm die Pyramidchen, aber es gelang ihm kein einziges Mal, an den Experimenten persönlich teilnehmen zu dürfen.

Dieses Mißtrauen versetzte Tiklinsky nach und nach in Raserei. Oefters stritten sie miteinander. Tiklinsky aber forschte im geheimen den Ort aus, wo Garin experimentierte. Es war dies ein halbverfallenes Haus in einer der öden Straßen auf der Petersburger Storona. Langsam verfolgte ihn Tiklinsky bis in das oberste Stockwerk, wo Garin in einem verwahrlosten Zimmer hauste. Endlich hörte er eines Tages im Keller dieses Hauses starkes Zischen, wie von einem Dampfstrahl und den ihm bekannten Geruch brennender Pyramidchen.

Vorsichtig kroch er in den Keller hinunter, stolperte aber unvorsichtigerweise über einen zerbrochenen Ziegel und fiel hin. Dreißig Schritte vor sich sah er in dem Kellergewölbe vor einer russenden kleinen Petroleumlampe Garins Gesicht. »Wer ist da?« schrie Garin außer sich. Er war ganz wild geworden und im nächsten Augenblick schnitt Tiklinsky ein blendender Strahl, nicht dicker als eine Stricknadel, schräg über Brust und Arm.

Tiklinsky kam erst in der Morgendämmerung wieder zu sich, rief lange vergeblich um Hilfe, kroch auf allen Vieren aus dem Keller, blutüberströmt. Passanten hoben ihn auf einen Handwagen und führten ihn nach Hause. Als er genas, begann der Krieg Sowjetrußlands gegen Polen und er mußte lange Beine machen, um rechtzeitig über die Grenze in die Heimat zu entkommen …«

Diese Erzählung machte auf Zoe Montrose außerordentlich starken Eindruck. Rolling lächelte mißtrauisch. Er seinerseits glaubte an nichts als an die Kraft der Stickgase. Panzerschiffe, Festungen, Kanonen, Riesenarmeen – das waren seiner Meinung nach nichts als Ueberbleibsel einer barbarischen Zeit. Aeroplane und Chemie seien die einzig mächtigen Kriegswaffen. Und irgendwelche geheimnisvollen Apparate in Leningrad – Unsinn, nichts als Unsinn …

Aber Zoe Montrose konnte sich nicht beruhigen. Sie schickte Semjonow nach Finnland, um von dort aus nähere Auskünfte über Garin einzuholen. Ein weißer Offizier wurde für Geld gewonnen, die Grenze heimlich auf Skiern zu übersetzen. Er sammelte tatsächlich Daten über Garin, geriet aber auf dem Rückweg in die Hände der Tscheka. Ein zweiter Mann wurde gedungen, dem es sogar gelang, Garin persönlich zu sprechen. Er schlug ihm vor, gemeinsam zu arbeiten. Garin benahm sich sehr zurückhaltend. Sichtlich witterte er, daß das Ausland auf ihn aufmerksam geworden war. Von seinem Apparat sprach er allerdings in demselben Sinne, wie seinerzeit – wer ihn erwirbt, dessen harrt märchenhafte Macht. Die Experimente hätten ausgezeichnete Resultate gefördert. Er erwarte nur noch den Abschluß einiger Arbeiten seiner wissenschaftlichen Freunde und Mitarbeiter auf dem Gebiete der Kohlenpyramiden-Experimente.

19.

Eines regnerischen Sonntagabends spiegelten sich die Lichter der Fenster und der zahllosen Laternen in dem Asphalt der Pariser Straßen. Es war zu Anfang des Frühlings.

Wie über finstere Kanäle sausten die ledernen, nassen Automobile durch das Lichtermeer, stießen aneinander; Regenschirme wurden vom Wind umgedreht. Die Finsternis war von öder Feuchtigkeit der Gemüse- und Konditorgeschäfte getränkt, von Benzin, Brandgeruch und Parfüms.

Der Regen strömte über Graphitdächer, Balkongitter und die riesigen, gestreiften Plachen, die vor den Kaffeehäusern aufgespannt waren. Trüb flackerten die Lichtreklamen der verschiedenen Vergnügungslokale durch das dämmerige Nebellicht.

Kleine Leute, Arbeiter, Verkäufer und Verkäuferinnen, Beamte und kleine Angestellte zerstreuten sich an solchen Tagen so gut es eben ging. Die großen Leute aber saßen zu Hause, gemächlich, vor ihren Kaminen. Der Sonntag war ein Tag der Plebs, den man ihr hingeworfen hatte, damit sie ihn zerreißen könne.

Zoe Montrose saß mit eingezogenen Beinen inmitten eines Berges von Polstern auf dem breiten Diwan. Sie rauchte und blickte in das Kaminfeuer. Rolling, in Frack und Lackschuhen, saß in einem schweren Lehnstuhl, die Beine auf einem Bänkchen, rauchte ebenfalls und blickte auf die Kohlen.

Sein vom Kamin beleuchtetes Gesicht schien glühend rot zu sein. Seine Wangen waren von dem kurzen Barthaar fast vollkommen bedeckt, die entzündeten Augenlider halbgeschlossen – der Herrscher des Weltalls! Er gab sich einer wohltuenden Langeweile hin, deren er einmal in der Woche bedurfte, um Gehirn und Nerven auch Ruhe und Sammlung zu geben.

Zoe Montrose reckte die schönen, bloßen Arme und sagte:

»Rolling, seit dem Diner sind schon zwei Stunden vergangen!«

»Ja,« antwortet er, »ich bin Ihrer Meinung: die Verdauung ist bereits beendet!«

Ihre durchsichtigen, beinahe träumerischen Augen glitten über sein Gesicht. Leise, mit ernster Stimme, rief sie ihm beim Namen. Ohne sich zu bewegen, antwortete er aus seinem erwärmten Lehnstuhl:

»Ja, ich höre Sie, meine Kleine!«

Die Erlaubnis zum Sprechen war erteilt. Zoe setzte sich an den Rand des Diwans, umschloß die Knie mit den Armen:

»Sagen Sie, Rolling, bedeuten die chemischen Werke eine große Explosionsgefahr?«

»Oh ja, die vierte Steinkohlenverbindung, Trotyl, ist ein außerordentlich explosiver Stoff, die achte, Pikrin- Hm … um z. B. aus Steinkohlenharz sagen wir, eine Oblate Pyramidon zu machen, die Ihre Kopfschmerzen vertreiben soll, muß man eine ganze Reihe von Reaktionen tätigen … Auf dem Wege von der Steinkohle bis zum Pyramidon oder bis zu einem Flacon Parfüm, »der hellblaue Marquisentraum«, oder bis zu einem gewöhnlichen photographischen Apparat, da liegen so verteufelte Dinge wie Trotil und Pikrinsäure, so prachtvolle Sachen wie Brombenzolzyanid, Chlorpikrin usw., Kriegsgase, von denen man lachen, weinen, niesen muß, sich schließlich die Gasmaske vom Gesicht reißt, um mit Abzessen bedeckt, lebend zu verfaulen …«

Da es Rolling an diesem regnerischen Sonntagabend ohnedies langweilig war, gab er sich voll Vergnügen seinen Plänen über die große Zukunft der Chemie hin:

»Ich glaube,« er sog an seiner Zigarre und schnalzte durch den Goldzahn, »ich glaube, daß Gott Zebaoth Himmel, Erde und alles Lebende aus Steinkohle und Kochsalz erschaffen hat. In der Bibel steht direkt allerdings nichts darüber, aber man kann es ahnen. Wer Steinkohle und Salz besitzt, der beherrscht die Welt. Die Deutschen haben im Jahre 14 sich nur deshalb in diesen Krieg eingelassen, weil neun Zehntel der chemischen Werke auf der ganzen Erde Deutschland gehören. Aber, es gibt etwas, das noch wirksamer ist: Tetril!«

»Und was ist das, Rolling?«

»Ebenfalls Steinkohle! Benzin (C5H6), das man in gerader Ableitung erhält (Kohle, Harz, Benzol), bei 80 Grad mit Salpetersäure (HNO3) gemischt, ergibt Nitrobenzol. Die Formel des Nitrobenzol lautet C5H5NO2. Ersetzen wir nun die zwei Teile Sauerstoff (O2) durch zwei Teile Wasserstoff (H2), das heißt, wenn wir Nitrobenzol langsam bis auf 80 Grad mit gußeisernen Spänen mit einer kleinen Menge von Salzsäure erhitzen, entsteht Anilin (C6H5NO2). Anilin mit Holzspiritus gemischt, bei fünfzig Atmosphären Druck, ergibt Dimetylanilin. Dann wird eine große Grube gegraben, die mit Erdwällen umgeben wird, ins Innere dieser Grube stellen wir einen Schuppen mit Dimetylanilin und dort wird die Reaktion mit Salpetersäure durchgeführt. Die Thermometer kann man in diesem Falle nur mit dem Fernrohr beobachten. Diese Reaktion ergibt das Tetril. Dieses Tetril ist der leibhaftige Teufel: aus unbekannten Gründen explodiert es mitunter bereits während seiner Entstehung und ist imstande, ganze Fabriken binnen Minuten in Schutthaufen zu verwandeln. Bedauerlicherweise aber haben wir stets mit ihm zu tun. Mit Phosgen verarbeitet, ergibt es blaue Farbe – Kristallviolett. Diese Sache hat mir voriges Jahr ein schönes Stück Geld eingebracht. Sie haben mir da eine spaßige Frage gestellt … Hm, ich dachte, Sie wären in der Chemie mehr versiert … Die Deutschen haben sich auf das Geheimnis der Steinkohle und des Kochsalzes verstanden. Sie waren die einzige Kulturnation unserer Zeit. Nur in einer Hinsicht haben sie sich verrechnet: sie glaubten nicht daran, daß Amerika imstande sein würde, innerhalb von neun Monaten das Edgewood-Arsenal zu bauen. Die Deutschen haben uns die Augen geöffnet, wir wußten, wo wir unser Geld anlegen sollten und nun werden wir die Welt beherrschen, aber nicht sie, denn das Geld ist nach dem Kriege bei uns und die Chemie ebenfalls bei uns. Ihnen blieb nur die Arbeitskraft. Wir werden zunächst Deutschland und später auch andere Länder, die sich auf Arbeit verstehen, in eine einzige, große Fabrik verwandeln. (Jene Länder, die sich nicht auf Arbeit verstehen, werden in natürlicher Gesetzmäßigkeit aussterben, wobei wir sie unterstützen werden.) Die amerikanische Flagge wird von Pol zu Pol wehen.«

»Rolling,« unterbrach ihn Zoe, »Sie selbst rufen das Unglück herbei … Die Leute werden dann einfach alle Kommunisten werden … Es wird der Tag kommen, wo sie alle erklären werden, sie brauchen euch nicht mehr, sie wollten von nun an für sich selber arbeiten … O, ich habe dieses Entsetzen schon einmal im Leben mitgemacht … Sie werden sich einfach weigern, Ihnen Ihre Millionen zurückzugeben.«

»Dann, meine Kleine, werde ich einfach ganz Europa von oben aus mit Senfgas überschwemmen!«

»Rolling, es wird zu spät sein!« Zoe preßte die Arme um ihre Knie, beugte sich nach vorne, blaß vor Aufregung.

»Glauben Sie mir, Rolling, mein Rat war noch nie schlecht! Ich habe Sie gefragt, ob die chemischen Werke eine große Explosionsgefahr bedeuten … In den Händen der Arbeiter, der Revolutionäre, der Kommunisten … in den Händen Ihrer Feinde wird sich – das weiß ich genau – eine Waffe von ungeheurer Macht vorfinden … Die Arbeiter werden imstande sein, von der Ferne aus die chemischen Werke in die Luft zu sprengen, Pulverkeller zur Explosion zu bringen, Eskaders von Aeroplanen zu verbrennen, Gasvorräte zu vernichten – kurz, alles, was explosibel und brennbar ist!«

Rolling nahm seine Füße von dem Bänkchen, seine rötlichen Augenlider blinzelten, eine Zeit lang betrachtete er aufmerksam das junge Weib.

»Wenn ich recht verstehe, deuten Sie an, daß …«

»Ja, Rolling, ich meine den Apparat des Ingenieurs Garin … Alles, was man über ihn gemeldet hat, haben Sie unbeachtet an sich vorbeigleiten lassen. Aber ich, ich weiß, wie ernst diese Sache ist … Semjonow hat mir ein sonderbares Stück gebracht. Er hat es aus Rußland bekommen …«

Zoe klingelte. Ein Diener trat ein. Sie verlangte etwas von ihm und kurz darauf kam er mit einer kleinen Kiste aus Fichtenholz zurück. Darin lag ein Stahlstück, ungefähr anderthalb Zoll dick. Zoe nahm das Stück Stahl in die Hand und hielt es vor den Lichtschein, der aus dem Kamin drang. Durch die ganze Dicke des Stahlstückes waren mit irgendeinem feinen Werkzeug dünne Spiralen herausgesägt und schräg, wie mit einer Schnellschriftfeder, stand, ebenfalls das Stahlstück vollständig perforierend: »Eine Kraftprobe … Garin.« Von einigen Buchstaben waren die kleinen Stahlstücke herausgefallen. Lange betrachtete Rolling dieses Stück.

»Sieht aus wie eine ›Federprobe‹,« sagte er halblaut, »als hätte man mit einer Nadel in weicher Butter geschrieben!«

»Das wurde während eines Experimentes mit dem Modell des Garinschen Apparates gemacht, auf eine Entfernung von dreißig Schritten,« sagte Zoe, »Semjonow behauptet, Garin hoffe einen Apparat bauen zu können, der auf eine Entfernung von zwanzig Kabellängen einen Dreadnought wie Butter durchsägen würde … Entschuldigen Sie, Rolling, aber ich bestehe darauf, daß Sie sich dieses furchtbaren Apparates bemächtigen!«

Nicht vergebens hatte Rolling seine Schule des Lebens in Amerika durchgemacht. Er war bis in die Fingerspitzen auf derartige Kämpfe trainiert.

Training ruft bekanntlich eine allgemeine, auf sämtliche Muskel des Körpers verteilte Anspannung der Kräfte hervor. So begann bei Rolling, da er einen Kampf aufnehmen wollte, zunächst die Phantasie zu arbeiten. Sie hatte sich in das jungfräuliche Dickicht der Unternehmungen geworfen und dort erspäht, was der Beachtung wert war. Halt! Hier war die Arbeit der Phantasie zu Ende. Der gesunde Verstand kam zu Wort, er schätzte ab, verglich, erwog, machte Voranschläge nützlich: halt! Jetzt kam der praktische Verstand an die Reihe. Es wurde nachgerechnet, Abzüge gemacht, die Bilanz gezogen: aktiv, stopp! Dann kam der Wille, fest wie Molybdänstahl, der schreckliche Wille Rollings und wie ein Büffel stürmte er auf sein Ziel los und erreichte es, egal, was es ihm oder einem anderen kosten mochte.

Beiläufig derselbe Vorgang spielte sich jetzt im Innern Rollings ab. Mit dem Blick durchdrang er das Dickicht des unbekannten Zieles, der gesunde Verstand sagte ihm: Zoe hat Recht. Der praktische Verstand machte die Bilanz: das vorteilhafteste ist es, Zeichnungen und Apparate zu rauben. Garin zu beseitigen. Punkt. Das Schicksal Garins war besiegelt, der Kredit eröffnet, jetzt kam der Wille.

Rolling erhob sich aus dem Lehnstuhl, stellte sich vor das Feuer im Kamin und während er seine Frackschöße mit den Händen auseinanderhielt, um sich das Gesäß zu erwärmen, was höchst überflüssig war, da es in dem kleinen Salon ohnedies sehr heiß war, und, indem er das Gebiß vorstreckte, sagte er:

»Morgen um viertel elf Uhr erwarte ich Semjonow auf dem Boulevard Malesherbes.«

 

* * *


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