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Sewastopol im Mai 1855.

I.

Sechs Monate sind schon verflossen seit dem Tage, da die erste Kanonenkugel pfeifend von den Bastionen Sewastopols geflogen kam und die Erde auf den Wällen des Feindes aufwühlte, und Tausende von Bomben, von Kanonen- und Flintenkugeln sind seit jener Zeit von den Bastionen in die Laufgräben, aus den Laufgräben auf die Bastionen geflogen, und der Engel des Todes hat beständig über ihnen geschwebt.

Tausendfach ist hier inzwischen menschliche Eitelkeit gekränkt, tausendfach befriedigt und großgezogen, tausendfach in den Umarmungen des Todes zum Verstummen gebracht worden. Wieviel rosafarbene Särge, wieviel linnene Leichentücher! Und immer noch ertönen dieselben Laute auf den Bastionen, immer noch blicken die Franzosen in unwillkürlichem Zittern und Schrecken an klaren Abenden aus ihrem Lager auf die gelbliche, aufgewühlte Erde der Bastionen von Sewastopol, auf die schwarzen Gestalten unserer Matrosen, die sich darauf bewegen, und zählen die Schießscharten, aus denen die gußeisernen Kanonen drohend hervorragen; immer noch beobachtet ein Steuermann-Unteroffizier vom Telegraphenhügel aus durchs Fernrohr die bunten Gestalten der Franzosen, ihre Batterien, Zelte, Truppenkolonnen, die den grünen Berg hinaufrücken, und die Rauchwölkchen, die in den Laufgräben aufqualmen, – und immer noch mit derselben Begeisterung eilen Menschenmassen jeder Art aus verschiedenen Weltgegenden und mit noch verschiedeneren Wünschen zu dieser Schicksalsstätte. Und die Frage, die von den Diplomaten nicht gelöst worden ist, wird auch durch Pulver und Blut noch immer nicht gelöst.

*

II.

In der belagerten Stadt Sewastopol spielte neben dem Pavillon auf dem Boulevard die Regimentsmusik, und Scharen von Militärpersonen und von Frauen bewegten sich müßig auf den Wegen. Die helle Frühlingssonne war am Morgen über den englischen Festungswerken aufgegangen, hatte dann – für alle gleich freundlich – über den Bastionen, über der Stadt, der Nikolajkaserne geleuchtet und senkte sich nun zum weiten, blauen Meere hinab, das, leise wogend, im Silberglanz schimmerte.

Ein hochgewachsener, etwas untersetzter Infanterie-Offizier trat, einen nicht ganz weißen, aber saubern Handschuh über die Hand ziehend, aus dem Pförtchen eines der kleinen Matrosenhäuschen, die auf der linken Seite der Seestraße erbaut waren, und schritt, nachdenklich vor sich hinschauend, bergauf zum Boulevard. Der Ausdruck des unschönen Gesichtes dieses Offiziers verriet keine großen Geistesfähigkeiten, aber Geradheit, Besonnenheit, Ehrenhaftigkeit und Ordnungsliebe. Er war nicht schön gewachsen und in seinen Bewegungen ein wenig ungeschickt und gewissermaßen geniert. Er trug eine noch wenig gebrauchte Mütze, einen feinen Offiziersmantel von etwas sonderbarer, ins Violette spielender Farbe, unter dem eine goldene Uhrkette sichtbar wurde, Beinkleider mit Strippen und saubere, glänzende Stiefel aus Kalbsleder. Man hätte ihn für einen Deutschen halten können, wenn seine Züge nicht seine echt russische Herkunft verraten hätten, oder für einen Adjutanten oder einen Regiments-Quartiermeister (doch dann hätte er Sporen getragen), oder für einen Offizier, der sich für die Dauer des Feldzugs aus der Kavallerie, vielleicht auch aus der Garde hatte herversetzen lassen. Und er war in der Tat ein aus der Kavallerie übergetretener Offizier, und während er jetzt zum Boulevard hinaufschritt, dachte er an einen Brief, den er soeben von einem früheren Kameraden, der jetzt außer Dienst und Gutsbesitzer im Gouvernement T. war, und von dessen Gattin, der blaßblauäugigen Natascha erhalten hatte. Er gedachte einer Stelle des Briefes, wo der Kamerad schrieb:

»Sobald uns ›Der Invalide‹ gebracht wird, stürzt Pupka (so nannte der ehemalige Ulan seine Frau) Hals über Kopf ins Vorzimmer, ergreift die Zeitung und läuft damit auf die Chaiselongue in der › Laube‹ im Salon, in welcher wir – erinnerst Du Dich noch? – so gemütlich die Winterabende verbrachten, als Dein Regiment bei uns in der Stadt lag, und liest mit solchem Eifer von Euren Heldentaten, daß Du Dir's kaum vorstellen kannst. Sie spricht oft von Dir; ›Michailow‹ – sagt sie – ›ist doch eine Seele von Mensch! Ich könnte ihn abküssen, wenn ich ihn sehe! Er kämpft auf den Bastionen und wird sicherlich das Georgskreuz bekommen, und man wird in den Zeitungen über ihn schreiben‹ und so weiter, so daß ich entschieden anfange, auf Dich eifersüchtig zu werden.« – An einer andern Stelle hieß es: »Die Zeitungen kommen schrecklich spät zu uns, und wenn man auch viele mündliche Nachrichten erhält, so kann man doch nicht allen glauben. Gestern zum Beispiel erzählten die Dir bekannten Fräuleins mit der Musik, Napoleon sei schon von unsern Kosaken gefangen und nach Petersburg geschickt; aber Du kannst Dir denken, wie sehr ich solchen Nachrichten traue! Und ein aus Petersburg hergereister Herr (er ist beim Minister Beamter für besondere Aufträge, ein sehr lieber Mensch, und jetzt, wo niemand in der Stadt ist, eine solche Ressource für uns, wie Du Dir kaum vorstellen kannst –), er erzählt also als ganz bestimmt, daß die Unseren Eupatoria eingenommen haben, so daß den Franzosen die Verbindung mit Balaklawa abgeschnitten ist, und daß dabei zweihundert Mann der Unseren und fünfzehntausend der Franzosen gefallen sind. Meine Frau war so entzückt von dieser Nachricht, daß sie die ganze Nacht gezecht hat; sie behauptet, sie fühle es ganz bestimmt, daß Du dabei gewesen bist und Dich ausgezeichnet hast.«

Trotz der Worte und Ausdrücke, die ich absichtlich durch Unterstreichen hervorgehoben habe, und trotz des ganzen Tones in diesem Briefe gedachte Stabskapitän Michailow mit unsagbarer Wehmut seines Freundes in der Provinz, der blassen jungen Frau und der abendlichen Plauderstunden in der »Laube«: er erinnerte sich, wie der gutmütige Kamerad, der Ulan, sich ärgerte, weil er im Kartenspiel verlor, wenn sie in seinem Arbeitszimmer um einen Einsatz von einer Kopeke spielten, und wie die Frau ihn auslachte; er gedachte der Freundschaft, die diese Menschen für ihn empfanden: all diese Personen und deren Umgebung tauchten in seiner Phantasie in wunderbar süßem, freudig rosigem Lichte auf, und über seine Erinnerungen lächelnd faßte er nach der Tasche, in welcher der ihm so liebe Brief steckte.

Von den Erinnerungen kam Stabskapitän Michailow unwillkürlich zu Träumen und Hoffnungen. »Wie wird Natascha staunen und sich freuen,« dachte er, während er durch das enge Seitengäßchen schritt, »wenn sie auf einmal im ›Invaliden‹ lesen wird, wie ich als erster die Kanonen erklettert und das Georgskreuz bekommen habe! Den Kapitänsrang erhalte ich noch von der früheren Vormerkung her. Dann kann ich leicht noch in diesem Jahr Major in der Linie werden, weil so viele gefallen sind, und viele von uns in diesem Feldzuge wohl noch fallen werden. Und dann wird es wieder etwas geben, und man wird mir als einem berühmten Manne ein Regiment anvertrauen ... Oberstleutnant ... den Annenorden um den Hals ... Oberst ...« und er war schon General, als die Töne der Boulevardmusik an sein Ohr schlugen und sein Blick auf die Menschenmenge fiel, und er erwachte aus seinen Träumen auf dem Boulevard – als der alte Stabskapitän von der Infanterie.

*

III.

Er näherte sich zuerst dem Pavillon, neben dem die Musiker standen, denen an Stelle von Pulten andere Soldaten desselben Regimentes die aufgeschlagenen Noten hielten, und um die herum – mehr zuschauend als zuhörend – Schreiber, Junker und Wärterinnen mit Kindern einen Kreis bildeten. Rings um den Pavillon standen, saßen und gingen zumeist Marineoffiziere, Adjutanten und Offiziere in weißen Handschuhen. In der großen Allee des Boulevards promenierten Offiziere und Frauen jeder Art, einige der letzteren in Hüten, die meisten aber in Kopftüchern (es gab auch welche ohne Tücher und ohne Hüte), alle aber jung. Unten in den schattigen, duftenden Alleen weißer Akazien gingen und saßen einzelne Gruppen.

Niemand war besonders erfreut, den Stabskapitän Michailow auf dem Boulevard zu treffen, ausgenommen vielleicht die Kapitäne Obshogow und Ssußlikow von seinem Regiment, die ihm herzlich die Hand drückten; aber der erstere trug Kamelhaarbeinkleider und einen abgetragenen Mantel, hatte keine Handschuhe und ein so rotes, schweißtriefendes Gesicht, und der zweite schrie so laut und ungeniert, daß man sich schämen mußte, mit ihnen zu promenieren, besonders vor den Offizieren in weißen Handschuhen (von denen Stabskapitän Michailow einen Adjutanten grüßte und einen zweiten Stabsoffizier hätte grüßen können, denn er hatte ihn zweimal bei einem gemeinsamen Bekannten getroffen). Übrigens, welches Vergnügen konnte es für ihn sein, mit den Herren Obshogow und Ssußlikow zu spazieren, wenn er ohnedies mindestens sechsmal am Tage mit ihnen zusammentraf und ihnen die Hand drückte? Nicht zu diesem Zwecke war er zur Musik gekommen.

Er wäre gern auf den Adjutanten, den er grüßte, zugegangen und hätte gern mit diesen Herren geplaudert, nicht etwa, damit die Kapitäne Obshogow und Ssußlikow und der Leutnant Paschtezkij und die anderen sähen, daß er mit ihnen sprach, sondern einfach nur, weil es angenehme Menschen waren und zudem alle Neuigkeiten wußten und ihm erzählt hätten.

Und warum scheut Stabskapitän Michailow sich und entschließt sich nicht, an sie heranzutreten? »Wie, wenn sie plötzlich meinen Gruß nicht erwidern?« denkt er, »oder wenn sie mich grüßen und dann untereinander weitersprechen, als wäre ich gar nicht da? Oder wenn sie mich stehen lassen und ich allein bleibe unter den Aristokraten?« Das Wort Aristokraten (im Sinne eines höheren, auserwählten Kreises, gleichviel in welchem Stande) ist bei uns in Rußland, wo es eigentlich gar nicht existieren sollte, seit einiger Zeit sehr populär geworden und in alle Gegenden und alle Gesellschaftsschichten gedrungen, wo nur überhaupt die Hoffart eindringt (und in welche Zeiten und Verhältnisse ist diese klägliche Sucht nicht eingedrungen?): in die Kreise der Kaufleute, der Beamten, der Schreiber, der Offiziere, in Saratow, in Mamadysch, in Winnitza, – überall, wo es Menschen gibt. Und da es deren in der belagerten Stadt Sewastopol sehr viele gibt, ist dort auch viel Hoffart zu finden, folglich gibt's da auch »Aristokraten«, obgleich der Tod in jedem Augenblick über dem Haupte des »Aristokraten« wie des »Nicht-Aristokraten« schwebt.

Für Kapitän Obshogow ist Stabskapitän Michailow ein Aristokrat, für Stabskapitän Michailow ist Adjutant Kalugin ein Aristokrat, weil er eben ein Adjutant ist und sich mit einem andern Adjutanten duzt. Für den Adjutanten Kalugin ist Graf Nordow ein Aristokrat, weil er Flügeladjutant ist.

Hochmut, Hochmut und Hochmut überall, selbst am Rande des Grabes und unter Menschen, die bereit sind, wegen einer erhabenen Überzeugung in den Tod zu gehen! Hochmut! Wahrscheinlich ist er ein charakteristischer Zug und eine besondere Krankheit unseres Zeitalters. Warum hat man in früheren Zeiten nichts davon gehört, wie von den Pocken oder der Cholera? Warum gibt's in unserer Zeit nur drei Gattungen von Menschen: die einen, die den Ursprung des Hochmuts als eine notwendigerweise existierende, daher berechtigte Tatsache hinnehmen und sich ihm freiwillig unterwerfen; die andern, die ihn als unglückselige, aber nicht zu beseitigende Bedingung hinnehmen, und die dritten, die unbewußt sklavisch unter ihrem Einflusse handeln? Warum haben ein Homer und ein Shakespeare von Liebe, von Ruhm, von Leiden geschrieben, während die Literatur unseres Jahrhunderts nur eine endlose Erzählung von Snobismus und Dünkel ist?

Der Stabskapitän ging zweimal unentschlossen an der Gruppe seiner Aristokraten vorüber, beim dritten Male überwand er sich und trat an sie heran. Der Kreis bestand aus vier Offizieren: aus dem Adjutanten Kalugin, den Michailow kannte, dem Adjutanten Fürsten Galjzin, der sogar für Kalugin selbst ein wenig Aristokrat war, dem Obersten Neferdow, einem der sogenannten »hundertzweiundzwanzig Zivilisten« (Verabschiedete, die für diesen Feldzug wieder in den Dienst getreten waren), und dem Rittmeister Praskuchin, auch einem der Hundertzweiundzwanzig. Zu Michailows Glück war Kalugin in prächtiger Laune (der General hatte eben erst sehr vertraulich mit ihm gesprochen, und Fürst Galjzin, der aus Petersburg gekommen war, war bei ihm abgestiegen): er erachtete es nicht für erniedrigend, dem Stabskapitän Michailow die Hand zu reichen, wozu sich jedoch Praskuchin, der mit Michailow sehr oft auf der Bastion zusammentraf, mehr als einmal dessen Wein und Schnaps getrunken hatte und ihm sogar noch vom Kartenspiel her zwölfeinhalb Rubel schuldete, nicht entschloß. Da er den Fürsten Galjzin noch nicht näher kannte, wollte er vor ihm seine Bekanntschaft mit einem einfachen Stabskapitän der Infanterie nicht verraten. Er verbeugte sich nur leicht.

»Nun, Kapitän,« sagte Kalugin, »wann geht's wieder auf das Bastiönchen? Wissen Sie noch, wie wir uns auf der Schwarzew-Schanze trafen? Da ging's heiß her, was?«

»Jawohl, sehr heiß,« erwiderte Michailow, der sich erinnerte, wie er in jener Nacht, durch den Laufgraben zur Bastion schleichend, Kalugin getroffen hatte, der so kühn, fröhlich mit dem Säbel rasselnd, daher gekommen war.

»Ich müßte eigentlich erst morgen gehen, aber bei uns ist einer krank,« fuhr Michailow fort, »ein Offizier, und so –«

Er wollte erzählen, daß die Reihe nicht an ihm sei, weil aber der Kommandant der achten Kompagnie krank und in der Kompagnie nur der Fähnrich übrig geblieben war, so habe er es für seine Pflicht gehalten, sich für die Stelle des Leutnants Nepschißezkij zu melden und gehe somit heute auf die Bastion. Kalugin hörte nicht mehr auf ihn.

»Ich ahne, daß es dieser Tage etwas geben wird,« sagte er zum Fürsten Galjzin.

»Wird es nicht schon heute etwas geben?« fragte Michailow schüchtern, bald Kalugin, bald Galjzin ansehend.

Niemand antwortete ihm. Fürst Galjzin runzelte nur die Stirn, blickte an Michailows Mütze vorüber und sagte nach kurzem Schweigen:

»Ein prächtiges Mädel, die in dem roten Tuche! Kennen Sie sie nicht, Kapitän?«

»Es ist die Tochter eines Matrosen, – nicht weit von meiner Wohnung –« antwortete der Stabskapitän.

»Kommen Sie, wir wollen sie uns näher anschauen!« Und Fürst Galjzin faßte von einer Seite Kalugin, von der andern den Stabskapitän unter den Arm, im voraus überzeugt, daß dies dem letzteren unbedingt ein großes Vergnügen sein müsse, was in der Tat der Fall war.

Praskuchin ging hinterher und stieß den Fürsten Galjzin alle Augenblicke an den Arm, indem er allerlei Bemerkungen in französischer Sprache machte; aber da man zu vieren den schmalen Weg nicht gehen konnte, war er gezwungen, allein zu gehen, und faßte nur in der zweiten Gruppe den berühmten, tapfern Marineoffizier Sserwjagin unter den Arm, der von rückwärts herangekommen war und ihn angesprochen hatte, da auch er den Wunsch empfand, sich der Gruppe der »Aristokraten« anzuschließen. Und der berühmte Held schob mit Freuden seine starke, ehrenhafte Hand unter den Arm des allen, auch Sserwjagin selbst, als nicht besonders anständigen Menschen bekannten Praskuchin. Als Praskuchin, um dem Fürsten Galjzin seine Bekanntschaft mit diesem Marineoffizier zu erklären, ihm zuflüsterte, daß es ein berühmter Held sei, schenkte der Fürst dem letzteren nicht die geringste Aufmerksamkeit: er war gestern auf der vierten Bastion gewesen, hatte aus zwanzig Schritt Entfernung eine Bombe platzen sehen, hielt sich daher für keinen geringeren Helden als Sserwjagin, und war der Ansicht, so mancher Ruhm werde sehr billig erworben.

Stabskapitän Michailow fand es so angenehm, in dieser Gesellschaft zu promenieren, daß er den lieben Brief aus T. ebenso vergaß wie die düstern Gedanken, die bei der bevorstehenden Ausrückung auf die Bastion über ihn gekommen waren. Er blieb so lange in ihrer Gesellschaft, bis sie anfingen, nur noch untereinander zu sprechen, wobei sie seinen Blicken auswichen, um ihm zu verstehen zu geben, daß er gehen könne; schließlich ließen sie ihn ganz stehen. Aber der Stabskapitän war dennoch zufrieden, und als er bei dem Junker Baron Pest vorüberging, der seit gestern nacht besonders stolz und selbstbewußt auftrat, da er zum erstenmal in der Blindage der fünften Bastion gewesen war und sich infolgedessen für einen Helden hielt, kränkte Michailow sich nicht im geringsten über den verdächtig hochmütigen Ausdruck, mit dem der Junker sich stramm aufrichtete und ihn grüßte.

*

IV.

Doch kaum hatte der Stabskapitän die Schwelle seiner Wohnung überschritten, als ihm ganz andere Gedanken durch den Kopf zogen. Er sah sein kleines Zimmerchen mit dem unebenen Lehmboden und den schiefen, mit Papier verklebten Fenstern, sein altes Bett mit dem darüber angenagelten Wandteppich, auf dem eine Amazone abgebildet war und zwei Tulaer Pistolen hingen, das schmutzige, mit einer Kattundecke bedeckte Bette des Junkers, der mit ihm zusammenwohnte; er sah seinen Burschen Nikita, der mit unordentlichem, fettem Haar, sich kratzend, vom Fußboden aufstand; er sah seinen alten Mantel, seine Stiefel und ein Bündelchen, aus dem ein Stück Käse und der Hals einer Porterflasche mit Branntwein hervorsahen und das bestimmt war, auf die Bastion mitgenommen zu werden, – und er erinnerte sich plötzlich, daß er heute für die ganze Nacht mit der Kompagnie die Schützengräben beziehen müsse.

»Ganz gewiß, ich werde heute nacht fallen,« dachte der Stabskapitän, »ich fühle es. Und dann: ich brauchte ja eigentlich gar nicht zu gehen, ich hab' mich selbst gemeldet. Und der, der sich anbietet, fällt immer. Was fehlt denn diesem verwünschten Nepschißezkij? Es ist leicht möglich, daß er gar nicht krank ist, und um seinetwillen wird nun ein Mensch getötet. Übrigens, wenn ich nicht falle, werde ich sicher vorgeschlagen. Ich hab's wohl bemerkt, daß es dem Regimentskommandanten gefiel, als ich sagte: Gestatten Sie mir zu gehen, wenn Leutnant Nepschißezkij krank ist. Wenn ich nicht den Major kriege, so doch sicher den Wladimirorden. Ich geh' ja schon zum dreizehntenmal auf die Bastion. O weh, dreizehn ist eine abscheuliche Zahl! Ich werde ganz gewiß getötet werden, ich fühle es, daß ich getötet werde. Aber einer mußte ja gehen; die Kompagnie kann doch nicht mit dem Fähnrich allein hinausziehen. Und wenn dann etwas passiert wäre, – die Ehre des Regimentes, die Ehre der Armee hängt doch davon ab. Es war meine Pflicht, zu gehen, ja, meine heilige Pflicht. Aber ich hab' eine Vorahnung.« Der Stabskapitän vergaß, daß ähnliche Vorahnungen ihn mehr oder weniger stark schon wiederholt überschlichen hatten, wenn er auf die Bastion hinaus mußte, und er wußte nicht, daß jeder, der ins Feuer geht, dieselbe Vorahnung mehr oder weniger stark empfindet. Beruhigt durch das Pflichtbewußtsein, das in ihm besonders stark entwickelt war, setzte er sich an den Tisch und begann einen Abschiedsbrief an seinen Vater. Nach zehn Minuten hatte er den Brief beendet, erhob sich mit tränennassen Augen und begann sich anzukleiden, wobei er im Geiste alle Gebete hersagte, die er kannte. Der etwas angeheiterte und grobe Bursche reichte ihm träge den neuen Rock (der alte, den der Stabskapitän gewöhnlich anzog, wenn er auf die Bastion ging, war nicht geflickt).

»Warum ist der Rock nicht geflickt? Du möchtest nur immer schlafen! so ein –« sagte Michailow ärgerlich.

»Was schlafen?« brummte Nikita, »Tag für Tag rennt man umher wie ein Hund, rackert sich ab – da soll man wohl nicht einschlafen!«

»Du bist wieder betrunken, wie ich sehe.«

»Nicht Ihr Geld hab' ich vertrunken, warum machen Sie mir Vorwürfe?«

»Schweig, Dummkopf!« schrie der Stabskapitän und wollte den Burschen schlagen; er war schon vorher erregt gewesen, verlor jetzt endgültig die Geduld und ärgerte sich über die Grobheit Nikitas, den er gern hatte, ja sogar verwöhnte, und der schon seit zwölf Jahren bei ihm war.

»Dummkopf? Dummkopf?« wiederholte der Bursche, »warum schimpfen Sie mich Dummkopf, gnädiger Herr? In einer Zeit, wie wir sie jetzt haben, ist's nicht recht, zu schimpfen!«

Michailow erinnerte sich, wohin er gehen mußte, und schämte sich.

»Du bringst aber auch jeden aus der Geduld, Nikita!« sagte er sanft; »diesen Brief an meinen Vater laß auf dem Tische liegen, rühr' ihn nicht an!« fügte er errötend hinzu.

»Zu Befehl,« sagte Nikita, den unter dem Einflusse des Weines, welchen er, wie er sagte, für sein »eigenes« Geld getrunken hatte, die Rührung überkam, und der große Lust zu haben schien, in Tränen auszubrechen.

Als der Stabskapitän auf der Vortreppe sagte: »Lebewohl, Nikita!« schluchzte Nikita plötzlich krampfhaft auf und stürzte auf seinen Herrn zu, um ihm die Hände zu küssen. »Leben Sie wohl, gnädiger Herr!« sagte er schluchzend. Die alte Matrosenfrau, die auf der Treppe stand, konnte nicht umhin, an dieser gefühlvollen Szene teilzunehmen, begann sich mit dem schmutzigen Ärmel die Augen zu wischen und sagte etwas davon, daß die Herren gar so große Qualen auszustehen haben, und daß sie, eine arme Frau, als Witwe zurückgeblieben sei, und erzählte dem betrunkenen Nikita zum hundertsten Male von ihrem Kummer: wie ihr Mann gleich beim ersten »Bandirement« gefallen, wie ihr Häuschen total zerstört worden (das, in dem sie jetzt wohnte, gehörte nicht ihr) und so weiter. Als der Herr fort war, rauchte Nikita seine Pfeife an, bat die Wirtstochter, ihm Schnaps zu holen, und hörte sehr bald zu weinen auf; ja er begann sogar mit der Alten einen Streit wegen eines kleinen Eimers, den sie ihm zerschlagen haben sollte.

»Vielleicht werde ich nur verwundet,« sagte sich der Stabskapitän, als er sich in der Abenddämmerung mit der Kompagnie der Bastion näherte. »Aber wo und wie? hier? dort?« dachte er, indem er im Geiste bald auf die Brust, bald auf den Leib wies. »Wenn hier (dabei dachte er an den Oberschenkel), so wär's noch nicht so arg; aber hier, und gar mit einem Splitter, – dann ist's zu Ende!«

Der Stabskapitän kam durch die Laufgräben glücklich zu den Schützengräben, stellte bei völliger Dunkelheit mit Hilfe eines Sappeuroffiziers die Leute zur Arbeit auf und setzte sich in eine kleine Grube unter der Brustwehr. Das Feuer war schwach; nur selten blitzte es bald bei uns, bald bei »ihm«, und eine leuchtende Bombenröhre zeichnete einen feurigen Bogen auf den dunklen Sternenhimmel. Aber alle Bomben fielen weit hinter oder neben dem Schützengraben nieder, in dem der Stabskapitän in seiner Grube saß. Er trank einen Schnaps, aß ein Stück Käse, rauchte eine Zigarette und wollte, nachdem er gebetet hatte, ein wenig schlafen.

*

V.

Fürst Galjzin, Oberstleutnant Neferdow und Praskuchin, den niemand eingeladen hatte, mit dem niemand sprach, der aber nicht von ihrer Seite wich, waren alle zusammen vom Boulevard zu Kalugin zum Tee gegangen.

»Nun, du hast mir noch nicht zu Ende erzählt von Waßjka Mendel,« sagte Kalugin, nachdem er den Mantel abgelegt und sich ans Fenster in einen weichen Ruhesessel gesetzt habe, indem er den Kragen seines frischen, gestärkten Hemdes aus holländischer Leinwand aufknöpfte; »wie hat er sich also verheiratet?«

»Zum Totlachen, Bruder! je vous dis, il y avait un temps, on ne parlait que de ça à Petersbourg,« antwortete lachend Fürst Galjzin, sprang vom Klavier auf, an dem er gesessen hatte, und schwang sich auf das Fenster neben dem, an welchem Kalugin saß, »wirklich zum Totlachen! Ich weiß alles ganz genau –«

Und er begann lustig, lebhaft und geistreich eine Liebesgeschichte zu erzählen, die wir hier übergehen, da sie für uns nicht interessant ist. Merkwürdig aber war's, daß nicht nur Fürst Galjzin, sondern alle diese Herren, die sich's hier bequem gemacht hatten, der eine auf dem Fensterbrett, der andere mit hochgezogenen Beinen, der dritte am Klavier, – daß sie ganz andere Menschen zu sein schienen als vorhin auf dem Boulevard: die lächerliche Aufgeblasenheit und Dünkelhaftigkeit, die sie den Infanterie-Offizieren gegenüber an den Tag gelegt hatten, waren verschwunden; hier waren sie unter sich, gaben sich natürlich und waren – besonders Kalugin und Fürst Galjzin – sehr liebe, lustige und gutmütige Jungen. Das Gespräch drehte sich um Petersburger Kameraden und Bekannte.

»Was macht Maslowskij?«

»Welcher? Der Leibulan oder der Gardekavallerist?«

»Ich kenne beide. Der Gardekavallerist war zu meinen Zeiten noch ein Bürschlein, das eben erst die Schule verlassen hatte. Was ist der ältere, – Rittmeister?«

»O, schon lange!« – Und so ging es weiter.

Dann setzte Fürst Galjzin sich ans Klavier und sang prächtig ein Zigeunerlied. Praskuchin sang, ohne daß ihn jemand gebeten hätte, die zweite Stimme, und zwar so gut, daß man ihn nun darum bat, was ihn sehr befriedigte. Ein Diener brachte auf silbernem Präsentierbrett Tee mit Sahne und kleinen Brezeln.

»Reich' dem Fürsten!« sagte Kalugin.

»Es ist doch sonderbar, daß wir hier in einer belagerten Stadt sind,« meinte Galjzin, indem er ein Glas Tee nahm und ans Fenster ging; »Klavier und Gesang, Tee mit Sahne, eine Wohnung, wie ich sie mir in Petersburg wirklich nur wünschen könnte –«

»Ja wenn man nicht einmal das hätte,« sagte der stets unzufriedene alte Oberstleutnant, »wäre diese beständige Erwartung von etwas Ungewissem einfach unerträglich. Zu sehen, wie Tag für Tag gekämpft und gekämpft wird, ohne daß ein Ende kommt! Wenn man dabei noch in Schmutz und Unbequemlichkeit leben müßte –«

»Was sollen aber unsere Infanterieoffiziere sagen,« fragte Kalugin, »die mit den Soldaten auf den Bastionen in den Blindagen hausen und Soldatensuppe essen? Wie steht's mit denen?«

»Wie's mit denen steht? Die wechseln freilich manchmal zehn Tage lang nicht die Wäsche, aber es sind Helden, bewundernswerte Menschen!«

In diesem Augenblick trat ein Infanterieoffizier ins Zimmer.

»Ich – ich habe Befehl – kann ich den Gen – kann, ich Seine Exzellenz im Auftrage des Generals N. sprechen?« fragte er, sich schüchtern verbeugend.

Kalugin erhob sich und fragte den Offizier, ohne seinen Gruß zu erwidern, mit beleidigender Höflichkeit und einem erzwungenen offiziellen Lächeln, ob es »Ihnen« nicht gefällig wäre, zu warten; dann wandte er sich, ohne dem Offizier einen Stuhl anzubieten und ihm weiter Aufmerksamkeit zu schenken, Galjzin zu und begann mit ihm französisch zu sprechen, so daß der arme Offizier, der mitten im Zimmer stehen geblieben war, durchaus nicht wußte, was er mit seiner Person anfangen sollte.

»In äußerst dringender Angelegenheit,« sagte er nach minutenlangem Schweigen.

»Ach so! dann bitte!« sprach Kalugin, den Mantel umwerfend und den Offizier zur Tür begleitend. – –

» Eh bien, messieurs, je crois que cela chauffera cette nuit,« sagte Kalugin, als er vom General zurückkam.

»Ah? Was? Ein Ausfall?« fragten alle durcheinander.

»Weiß nicht, – ihr werdet's ja selbst sehen,« antwortete Kalugin mit geheimnisvollem Lächeln.

»Und mein Kommandant ist auf der Bastion, – folglich muß wohl auch ich hinaus,« sagte Praskuchin, den Säbel umschnallend.

Aber niemand antwortete ihm; er mußte selbst entscheiden, ob er gehen sollte oder nicht.

Praskuchin und Neferdow gingen fort, um sich auf ihren Posten zu begeben. »Leben Sie wohl, meine Herren!« – »Auf Wiedersehen, meine Herren! Wir sehen uns noch heute nacht!« rief Kalugin aus dem Fenster, als Praskuchin und Neferdow, über ihre Kosakensättel gebeugt, die Straße hinunterritten. Das Getrabe der Kosakenpferde verklang bald in der dunklen Straße.

» Non, dites-moi, est-ce qu'il y aura véritablement quelque chose cette nuit?« fragte Galjzin, der mit Kalugin im Fenster lag und auf die Bomben blickte, die über den Bastionen aufstiegen.

»Dir kann ich's ja erzählen. Siehst du – du warst doch auf den Bastionen? (Galjzin nickte bestätigend, obgleich er nur einmal auf der vierten Bastion gewesen war.) Unsrer Lünette gegenüber also war ein Laufgraben –« und Kalugin, der kein Fachmann war, wenngleich er seine strategischen Ansichten für sehr richtig hielt, begann, etwas unklar und unter Verdrehung der technischen Ausdrücke, den Stand unserer und der feindlichen Befestigungsarbeiten und den Plan des beabsichtigten Unternehmens zu schildern.

»Aber an den Schützengräben beginnt es zu knallen. Oho! ist das eine von uns oder von ihm? Da platzt sie!« sprachen sie, während sie vom Fenster aus die sich in der Luft kreuzenden Feuerlinien der Bomben, das den dunkelblauen Himmel auf Augenblicke erleuchtende Aufblitzen der Schüsse und den weißen Pulverdampf beobachteten und den Lärm des immer heftiger werdenden Feuers tauschten.

» Quel charmant coup d'oeil! was?« sagte Kalugin, indem er die Aufmerksamkeit seines Gastes auf dieses wirklich schöne Schauspiel lenkte. »Weißt du, manchmal kann man die Bomben nicht von den Sternen unterscheiden.«

»Ja, eben erst dachte ich, das sei ein Stern; aber es sank herab. So, da platzt sie! Und dieser große Stern dort – wie heißt er gleich? – sieht genau wie eine Bombe aus.«

»Weißt du, ich hab' mich so an diese Bomben gewöhnt, daß ich überzeugt bin, in einer Sternennacht daheim in Rußland wird mir's scheinen als seien das alles Bomben; so gewöhnt man sich daran.«

»Aber sollte ich diesen Ausfall nicht mitmachen?« fragte Fürst Galjzin nach minutenlangem Schweigen.

»Ach was, Bruder! denk gar nicht daran! Ich würde dich ja gar nicht fortlassen,« antwortete Kalugin; »wirst schon noch dazukommen, Bruder!«

»Im Ernst? Du glaubst also, daß ich nicht hin soll? was?« In diesem Moment ertönte aus der Richtung, nach welcher die Herren blickten, nach dem Kanonengebrüll ein fürchterliches Gewehrgeknatter, und tausende kleiner Feuerchen flammten immer wieder auf der ganzen Linie auf.

»Jetzt, jetzt hat das Richtige angefangen!« sagte Kalugin; »so ein Gewehrfeuer kann ich nicht kaltblütig anhören, weißt du, es packt einen so bis ins tiefste Innere. Hörst du? das Hurra!« fügte er hinzu, indem er auf den fernen, langgezogenen Ton »a–a–aa« horchte, der aus Hunderten von Kehlen von der Bastion herüberschallte.

»Wessen Hurra ist's? Ihres oder unseres?«

»Ich weiß nicht; aber jetzt hat schon das Handgemenge begonnen, denn das Schießen hat aufgehört.«

Da kam ein Offizier, von einem Kosaken gefolgt, an die Vortreppe unter dem Fenster gesprengt und stieg vom Pferde.

»Woher?«

»Von der Bastion. Ich muß zum General.«

»Bitte. Nun, was gibt's?«

»Wir haben die Schützengräben angegriffen, – haben sie genommen, – die Franzosen haben ungeheuere Reserven herangeführt, – haben die Unsrigen angegriffen, – wir hatten nur zwei Bataillone –« erzählte atemlos derselbe Offizier, der am Abend dagewesen war; er rang nach Worten, schritt aber völlig ungeniert der Tür zu.

»Nun und sind wir zurückgegangen?« fragte Galjzin.

»Nein,« antwortete ärgerlich der Offizier, »ein Bataillon kam zur rechten Zeit, – wir haben sie zurückgeschlagen; aber der Regimentskommandeur ist gefallen, und viele Offiziere; es ist Befehl gegeben, um Verstärkung zu bitten –«

Und mit diesen Worten ging er mit Kalugin zum General, wohin wir ihm nicht folgen.

Fünf Minuten später saß Kalugin bereits auf einem Kosakenpferde (und zwar in der eigentümlichen quasi Kosakenhaltung, in welcher, wie ich bemerkt habe, alle Adjutanten etwas besonders Angenehmes sehen) und ritt im Trabe zur Bastion, um einige Befehle zu übergeben und Nachrichten über das Endresultat des Treffens abzuwarten; Fürst Galjzin aber begab sich unter dem Eindruck der heftigen Erregung, welche die nahen Anzeichen einer Schlacht gewöhnlich auf den unbeteiligten Zuschauer machen, auf die Straße hinaus und begann ziellos auf und ab zu spazieren.

*

VI.

Soldaten trugen Verwundete auf Tragbahren oder führten sie am Arme. Es war vollständig finster auf der Straße; nur hier und da sah man die erleuchteten Fenster eines Hospitals oder einer Offizierswohnung. Von den Bastionen tönten noch immer Kanonendonner und Gewehrfeuer herüber, und nach wie vor blitzte es immer wieder am schwarzen Himmel auf. Zuweilen hörte man den Hufschlag des Pferdes eines vorbeireitenden Ordonnanzoffiziers, das Stöhnen eines Verwundeten, die Schritte und das Gespräch der Träger oder weibliche Stimmen der erschreckten Einwohner, die auf die Vortreppe traten, um die Kanonade zu beobachten.

Unter den letzteren befanden sich auch der uns bekannte Nikita, die alte Matrosenfrau, mit der er sich wieder versöhnt hatte, und deren zehnjährige Tochter. »Herr Gott, heilige Mutter Gottes!« murmelte seufzend die Alte, als sie die Bomben sah, die wie Feuerbälle unaufhörlich herüber und hinüber flogen; »schrecklich! o wie schrecklich! i–i–hi–hi – so war's ja nicht einmal beim ersten Bandirement. Sieh, wo sie geplatzt ist, die Verfluchte, grad' über unserm Hause in der Vorstadt!«

»Nein, es ist weiter; sie fallen alle zur Tante Arina in den Garten,« sagte das Mädchen.

»Und wo, wo ist jetzt mein Herr?« fragte Nikita mit etwas singender Stimme und noch ein wenig angeheitert: »Wie ich diesen Herrn liebe, – kann's gar nicht sagen! Ich liebe ihn so, daß, wenn man ihn, was Gott verhüten möge, sündigerweise töten sollte, so – glauben Sie mir, Tantchen, ich weiß nicht, was ich mir dann antu, bei Gott! Ein solcher Herr ist er, daß – kann man ihn denn mit denen vergleichen, die hier Karten spielen? Was sind das – pfui! mit einem Wort!« schloß Nikita, indem er auf das erleuchtete Fenster im Zimmer seines Herrn wies; in Abwesenheit des Stabskapitäns hatte der Junker Schwadtschewskij zur Feier einer erhaltenen Auszeichnung Gäste geladen: die Sekondleutnants Ugrowitsch und Nepschißezkij, der am Rheuma litt.

»Wie Sternchen fliegen sie, wie Sternchen!« unterbrach das Mädchen, gen Himmel blickend, das Schweigen, das auf Nikitas Worte gefolgt war; »da, da ist noch eins gefallen! Wozu ist das so, Mütterchen?«

»Sie werden unser Häuschen ganz zerstören!« sprach seufzend die Alte, ohne auf die Frage des Mädchens zu antworten.

»Und als ich heut' mit Tantchen dort war, Mütterchen,« fuhr das Mädchen, das ins Reden gekommen war, in singendem Ton fort, »da lag dort eine gro–oße Kanonenkugel im Zimmerchen direkt neben dem Schrank; sie hat den Flur durchschlagen, man sieht's, und ist ins Zimmer geflogen; so groß ist sie, – man kann sie nicht aufheben!«

»Wer einen Mann und Geld hat, ist fortgezogen,« sagte die Alte, »wir aber haben nur das eine Häuschen, und auch das haben sie zerstört. Sieh nur! Sieh, wie er feuert, der Bösewicht! Herr Gott, Herr Gott!«

»Und grad' wie wir hinaus wollten, kam eine Bombe geflogen, sie platzt und überschüttet uns mit Erde, und beinahe, beinahe hätte ein Splitter mich und Tantchen getroffen!«

*

VII.

Immer mehr Verwundete auf Tragbahren und zu Fuß, die einen auf die andern gestützt und laut miteinander sprechend, kamen dem Fürsten Galjzin entgegen.

»Wie sie herangestürzt kamen, Bruder!« sprach ein großer Soldat in tiefem Baß, der zwei Gewehre auf dem Rücken trug, »wie sie herangestürzt kamen, wie sie schrien: Allah! Allah! Unsere Soldaten haben sich während der Kämpfe mit den Türken so sehr an diesen Schlachtruf der Feinde gewöhnt, daß sie jetzt erzählen, auch die Franzosen schreien »Allah!« Einer klettert über den andern, den einen macht man tot, – die andern kommen schon nachgeklettert, – nicht fertig zu werden mit ihnen! Unabsehbar –«

An dieser Stelle unterbrach ihn Galjzin:

»Du kommst von der Bastion?«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren!«

»Na, was war dort los? Erzähl' einmal!«

»Was dort los war? Ihre Macht rückte heran, Euer Wohlgeboren, sie kletterten auf den Wall und aus war's. Sie haben uns vollständig untergekriegt, Euer Wohlgeboren!«

»Wieso untergekriegt? Ihr habt sie doch zurückgeschlagen?«

»Wie soll man ihn zurückschlagen, wenn seine ganze Macht heranrückt! Er hat alle Unsrigen niedergestochen, und man schickt uns keine Hilfe.«

Der Soldat war im Irrtum, denn der Laufgraben war in unseren Händen; es ist aber eine Eigentümlichkeit, die jeder beobachten kann: der in einem Treffen verwundete Soldat hält die Schlacht stets für verloren und für ungeheuer blutig.

»Warum hat man mir denn erzählt, daß der Feind zurückgeschlagen wurde?« fragte Galjzin ärgerlich; »vielleicht war das später, nach deinem Fortgehen? Bist du schon lange von dort fort?«

»Eben erst, Euer Wohlgeboren,« erwiderte der Soldat; »ich glaub's auch kaum; der Laufgraben ist gewiß von ihm genommen worden, – er hat uns vollständig untergekriegt!«

»Und ihr schämt euch gar nicht? Den Laufgraben zu räumen, – schrecklich!« sagte Galjzin, empört über diesen Gleichmut.

»Was soll man machen, wenn's seine Macht war!« brummte der Soldat.

»Und, Euer Wohlgeboren,« sagte jetzt ein Soldat von einer Tragbahre aus, die herangekommen war, »wie soll man's nicht aufgeben, wenn er beinahe alle totgeschossen hat? Wenn unsere Macht dagewesen wäre, – nie im Leben hätten wir's aufgegeben! Aber was sollte man hier tun? Ich hab' einen niedergestochen, – da trifft's mich aber, und wie! – O – ach! leichter, Brüder! gleichmäßiger, Brüder! geht gleichmäßiger! O–o–o!« stöhnte der Verwundete.

»Aber es scheint mir wirklich, daß viele ganz unnützerweise zurückkommen!« sagte Galjzin, indem er den großen Soldaten mit den zwei Gewehren wieder anhielt; »warum kommst du zurück? He, du da, bleib stehen!«

Der Soldat blieb stehen und griff mit der linken Hand nach der Mütze.

»Wohin gehst du, und weshalb?« schrie Galjzin in strengem Tone, »Verd–«

In diesem Moment war er dicht vor den Soldaten getreten und sah nun, daß dessen rechte Hand unter dem Ärmelaufschlag verborgen und der Arm bis über den Ellbogen blutig war.

»Verwundet, Euer Wohlgeboren!«

»Wodurch?«

»Hier, – wohl durch eine Kugel,« antwortete der Soldat, auf den Arm deutend, »und hier weiß ich wirklich nicht, was mir den Kopf zerschlagen hat!« Und er neigte sich und zeigte die blutigen, zusammengeklebten Haare am Hinterkopf.

»Und wem gehört das zweite Gewehr?«

»Das ist ein französischer Stutzen, Euer Wohlgeboren, ich hab' ihn einem fortgenommen. Ich wär' auch nicht fortgegangen, wenn ich nicht den jungen Soldaten da hätte begleiten wollen, der fällt am Ende nieder –« fügte er hinzu, auf einen Soldaten zeigend, der ein wenig vor ihm ging, sich auf das Gewehr stützte und den linken Fuß mühsam nachschleppte.

Fürst Galjzin schämte sich plötzlich sehr seines ungerechten Verdachtes. Er fühlte, daß er rot wurde, wandte sich ab und ging, ohne die Verwundeten weiter zu beobachten und auszufragen, nach dem Verbandplatz.

Nachdem er sich auf der Vortreppe mit Mühe zwischen den zu Fuß gehenden Verwundeten und den Krankenträgern, die mit Verwundeten hinein und mit Toten herauskamen, durchgewunden hatte, trat Galjzin in das erste Zimmer, warf einen Blick hinein, drehte sich unwillkürlich sofort um und eilte auf die Straße zurück: das war zu schrecklich!

*

VIII.

Der große, hohe und dunkle Saal, nur von vier bis fünf Kerzen erleuchtet, mit denen die Ärzte an die Verwundeten herantraten, um sie zu untersuchen, war buchstäblich voll. Die Träger brachten immer neue Verwundete, legten sie der Reihe nach auf den Fußboden, auf dem es schon so eng war, daß die Unglücklichen einander stießen und einer im Blute des andern lag, und gingen fort, andere zu holen. Die Blutlachen, die auf den noch unbesetzten Stellen des Fußbodens zu sehen waren, der fieberheiße Atem einiger hundert Menschen und die Ausdünstung der Träger erzeugten einen eigentümlichen schweren, dichten, übelriechenden Dunst, in dem die Lichte in den verschiedenen Ecken des Saales trübe brannten. Entsetzliches Stöhnen, Seufzen, hier und da von einem durchdringenden Schrei unterbrochen, erfüllte den ganzen Raum. Die barmherzigen Schwestern – mit ruhigen Gesichtern und mit dem Ausdruck nicht des leeren, weibischen, krankhaft träumerischen Mitleids, sondern der praktischen, tätigen Teilnahme – tauchten bald hier, bald da, über die Verwundeten hinüberschreitend, mit Arznei, Wasser, Verbandzeug, Scharpie zwischen den blutigen Mänteln und Hemden auf. Die Ärzte knieten mit aufgekrempelten Ärmeln vor den Verwundeten, neben denen die Feldscher die Kerzen hielten, und untersuchten, befühlten und sondierten die Wunden, ohne auf das entsetzliche Stöhnen und die flehentlichen Bitten der Leidenden zu achten. Einer der Ärzte saß an einem Tischchen an der Tür und notierte in dem Augenblick, als Galjzin eintrat, bereits Nummer 532.

»Iwan Bogajew, Gemeiner der dritten Kompagnie des S.-Regiments, fractura femuris complicata!« rief ein anderer vom Ende des Saales her, während er das zerschmetterte Bein befühlte; »dreh ihn einmal um!«

»O weh! Väterchen! mein Väterchen!« schrie der Soldat flehend, damit man ihn nicht anrühre.

» Perforatio capitis. – Ssemjon Neferdow, Oberstleutnant des N.-Infanterieregiments. Sie müssen etwas Geduld haben, Oberst, so geht es nicht, ich lasse Sie sonst liegen,« sagte ein dritter, indem er mit einem Häkchen im Kopfe des unglücklichen Oberstleutnants umhertastete.

»Ach, lassen Sie! O, um Gottes willen, schneller, schneller, um Gott– a–a–a–a–a!«

» Perforatio pectoris. – Sebastian Ssereda, Gemeiner, von welchem Regiment? – Übrigens – schreiben Sie nichts: moritur. Tragt ihn fort,« sagte der Arzt und trat von dem Soldaten zurück, der mit schon brechenden Augen mühsam röchelte.

Etwa vierzig Träger standen an der Tür und warteten auf die Überführung der Verwundeten ins Hospital, der Toten in die Kapelle; schweigend und von Zeit zu Zeit schwer aufseufzend betrachteten sie das Bild ...

*

IX.

Auf dem Wege zur Bastion traf Kalugin viele Verwundete, aber da er aus Erfahrung wußte, wie ungünstig ein solcher Anblick während einer Schlacht auf die Stimmung eines Menschen wirkt, hielt er nicht an, um sie auszufragen, sondern bemühte sich vielmehr, sie gar nicht zu beachten. Am Fuße des Berges begegnete er einem Ordonnanzoffizier, der in gestrecktem Galopp von der Bastion gesprengt kam.

»Sobkin! Sobkin! halten Sie einen Moment!«

»Was gibt's?«

»Woher?«

»Aus den Schützengräben.«

»Und wie geht's dort zu? heiß?«

»Ach, schrecklich!«

Und der Ordonnanzoffizier galoppierte weiter.

In der Tat, wenn auch das Gewehrfeuer schwächer geworden war, so setzte die Kanonade jetzt mit neuer Heftigkeit und Hartnäckigkeit ein.

»Ach, gräßlich!« dachte Kalugin, während ihn ein unangenehmes Gefühl beschlich, und auch über ihn kam eine Vorahnung, das heißt ein sehr natürlicher Gedanke, – der Gedanke an den Tod. Aber Kalugin war ehrgeizig und besaß eiserne Nerven, kurz, er war das, was man tapfer nennt. Er überließ sich nicht der ersten Empfindung und suchte sich Mut zu machen, indem er sich eines Adjutanten, ich glaube Napoleons, erinnerte, der nach Weitergabe der Ordre mit blutendem Kopf zu Napoleon zurückgaloppierte. » Vous êtes blessé?« fragte ihn Napoleon. » Je vous demande pardon, Sire, je suis mort!« Und der Adjutant stürzte vom Pferde und starb.

Kalugin erschien das sehr schön, und er bildete sich sogar ein wenig ein, er selbst sei dieser Adjutant; dann versetzte er seinem Pferde einen Hieb mit der Reitpeitsche, nahm eine noch flottere Kosakenhaltung an, blickte sich nach seinem Kosaken um, der, in den Steigbügeln aufrecht stehend, hinter ihm her trabte, und kam als vollkommener Held an dem Platze an, wo er vom Pferde steigen mußte. Hier fand er vier Soldaten vor, die auf Steinen saßen und ihre Pfeifen rauchten.

»Was macht ihr hier?« schrie er sie an.

»Wir haben einen Verwundeten fortgetragen, Euer Wohlgeboren, und uns ein wenig niedergesetzt, um auszuruhen,« antwortete der eine von ihnen, die Pfeife hinterm Rücken verbergend und nach der Mütze greifend.

»Freilich, ausruhen! – Marsch auf eure Posten!«

Und er ging mit ihnen den Laufgraben entlang bergaufwärts, wobei er auf Schritt und Tritt Verwundeten begegnete. Nachdem er eine Weile gestiegen war, wandte er sich nach links und befand sich nach einigen weiteren Schritten ganz allein. Dicht neben ihm sauste ein Bombensplitter vorbei, der in den Laufgraben fiel. Eine zweite Bombe tauchte vor ihm auf und kam, wie es schien, direkt auf ihn zugeflogen. Eine plötzliche Angst überfiel ihn: er eilte etwa fünf Schritte vor und warf sich dann zu Boden. Als aber die Bombe fern von ihm geplatzt war, ärgerte er sich über sich selbst, stand auf und sah sich nach allen Seiten um, ob niemand seinen Fall beobachtet hatte; aber es war niemand da.

Wenn die Angst sich einmal in der Seele festgesetzt hat, weicht sie nicht so leicht einem andern Gefühle. Er, der immer damit geprahlt hatte, daß er sich nie bücke, eilte jetzt schnellen Schrittes und tief zur Erde gebeugt durch den Laufgraben. »Ach, es ist schlimm!« dachte er, als er stolperte, »ich werde ganz gewiß totgeschossen!« Er wunderte sich über sich selbst, als er fühlte, wie schwer er atmete und wie ihm der Schweiß aus allen Poren drang, aber er bemühte sich nicht mehr, seiner Erregung Herr zu werden.

Plötzlich hörte er vor sich Schritte. Schnell richtete er sich auf, hob den Kopf und ging, flott mit dem Säbel rasselnd, nicht mehr so schnell wie bisher weiter. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Als er mit dem Sappeuroffizier, der ihm in Begleitung eines Matrosen entgegenkam, zusammentraf und dieser ihm zurief: »Niederlegen!« indem er auf den leuchtenden Punkt einer Bombe wies, die, heller und heller, geschwinder und geschwinder dahergeflogen kam und in der Nähe des Laufgrabens zu Boden fiel, neigte er unter dem Einfluß des Warnungsrufes nur ein wenig den Kopf und ging weiter.

»Was das für ein Tapferer ist!« sagte der Matrose, der in Seelenruhe dem Fallen der Bombe zugeschaut und mit geübtem Blick sofort berechnet hatte, daß ihre Splitter nicht in den Laufgraben fallen konnten; »der will sich nicht einmal niederlegen!«

Nur wenige Schritte hatte Kalugin noch über einen kleinen Platz bis zur Blindage des Bastionskommandanten zurückzulegen, als ihn wieder Unruhe und das dumme Angstgefühl überkamen; sein Herz klopfte stärker, das Blut stieg ihm zu Kopfe und er bedurfte starker Selbstüberwindung, um bis zur Blindage zu laufen.

»Warum sind Sie so außer Atem?« fragte der General, als er ihm die Ordre übergeben hatte.

»Ich bin sehr schnell gegangen, Exzellenz.«

»Wollen Sie nicht ein Glas Wein?«

Kalugin trank ein Glas Wein und steckte sich eine Zigarette an. Das Gefecht war bereits zu Ende; nur die heftige Kanonade dauerte noch auf beiden Seiten fort. In der Blindage saßen General N., der Bastionskommandant und noch etwa sechs Offiziere, unter denen sich auch Praskuchin befand, und sprachen über verschiedene Einzelheiten des Kampfes. Als Kalugin in diesem behaglichen Zimmer saß, das mit blauen Tapeten ausgeschlagen war und in dem sich ein Divan, ein Bett, ein mit Papieren bedeckter Tisch, eine Wanduhr und ein Heiligenbild mit davor brennendem Lämpchen befanden, als er auf diese Zeichen der Wohnlichkeit und auf die dicken Deckbalken blickte und den in der Blindage nur schwach hörbaren Schüssen lauschte, konnte er absolut nicht verstehen, wie er sich zweimal von einer so unverzeihlichen Schwäche hatte überwältigen lassen können. Er war wütend auf sich selbst und sehnte sich nach einer Gefahr, um sich nochmals auf die Probe zu stellen.

»Ich bin froh, daß auch Sie hier sind, Kapitän,« sagte er zu einem Marineoffizier im Stabsoffiziersmantel, mit großem Schnurrbart und dem Georgskreuz, der soeben in die Blindage trat und den General bat, ihm Arbeiter zuzuweisen, um auf seiner Batterie zwei verschüttete Schießscharten auszubessern. »Der General hat mir befohlen,« fuhr Kalugin fort, als der Batteriekommandant sein Gespräch mit dem General beendet hatte, »mich zu informieren, ob Ihre Geschütze einen Laufgraben mit Kartätschen beschießen können?«

»Nur ein Geschütz kann das,« antwortete der Kapitän finster.

»Wir wollen trotzdem hin und die Sache ansehen.«

Der Kapitän runzelte die Stirn und räusperte sich ärgerlich.

»Ich hab' schon die ganze Nacht dort gestanden und bin hergekommen, um ein wenig auszuruhen,« sagte er; »könnten Sie nicht allein hingehen? Mein Stellvertreter, Leutnant Karz, wird Ihnen alles zeigen.«

Der Kapitän befehligte schon seit sechs Monaten diese Batterie, die eine der gefährlichsten war, hatte selbst am Anfang der Belagerung, als noch keine Blindagen errichtet waren, schon beständig auf der Bastion gewohnt; er stand unter den Seeleuten im Ruf großer Tapferkeit. Daher war Kalugin über seine Weigerung äußerst verwundert. »Und der ist berühmt!« dachte er.

»Nun, so gehe ich allein, wenn Sie erlauben,« sagte er ein wenig spöttisch zum Kapitän, der jedoch seinen Worten nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte.

Aber Kalugin bedachte nicht, daß er zu verschiedenen Zeiten alles in allem etwa fünfzig Stunden auf den Bastionen verbracht hatte, während der Kapitän dort seit sechs Monaten wohnte. Kalugin wurde noch durch den Ehrgeiz getrieben, durch den Wunsch, zu glänzen, durch die Hoffnung auf Belohnung, auf Berühmtheit, und durch den Reiz der Gefahr; der Kapitän aber hatte das alles schon durchgemacht: auch er war anfangs ehrgeizig gewesen, hatte Bravour gezeigt und Gefahren aufgesucht, auf Belohnungen gehofft und nach Ruhm gestrebt und hatte sie sich sogar erworben, jetzt aber hatten all diese anregenden Mittel ihre Wirkung auf ihn verloren und er sah die Sache mit andern Augen an: er erfüllte aufs genaueste seine Pflicht, hielt es aber nach sechsmonatlichem Aufenthalt auf der Bastion für unnütz, sich ohne dringende Notwendigkeit in Gefahr zu begeben, so daß der junge Leutnant, der vor kaum einer Woche zur Batterie gekommen war und der sie jetzt Kalugin zeigte, mit diesem sich unnötigerweise zur Schießscharte hinauslehnte und auf die Banketts hinauskletterte, zehnmal tapferer schien als der Kapitän.

Als Kalugin die Batterie besichtigt hatte und den Rückweg zur Blindage antrat, stieß er in der Dunkelheit auf den General, der sich mit seinen Ordonnanzoffizieren auf den Wachtturm begab.

»Rittmeister Praskuchin,« sagte der General, »gehen Sie bitte in den rechten Schützengraben und sagen Sie dem zweiten Bataillon des M.-Regimentes, das dort arbeitet, es möge die Arbeit lassen, ohne Lärm abmarschieren und sich zu seinem Regiment begeben, das am Fuße des Berges in der Reserve steht. Verstehen Sie? Führen Sie es selbst zum Regiment.«

»Zu Befehl.«

Und Praskuchin lief im Trabe zum Schützengraben.

Das Feuer wurde schwächer.

*

X.

»Ist dies das zweite Bataillon des M.-Regimentes?« fragte Praskuchin, als er an Ort und Stelle gekommen war und Soldaten antraf, die in Säcken Erde trugen.

»Zu Befehl.«

»Wo ist der Kommandant?«

Michailow war der Meinung, daß nach dem Kommandanten der Kompagnie gefragt werde, kam aus seiner Grube hervor und ging salutierend auf Praskuchin zu, den er für einen Vorgesetzten hielt.

»Der General hat befohlen – Sie – bitte sich zu verfügen – schnell – und vor allem leise zurückzumarschieren – das heißt nicht zurück – sondern zur Reserve!« sagte Praskuchin, wobei er nach dem feindlichen Feuer schielte.

Als Michailow Praskuchin erkannt und erfahren hatte, worum es sich handelte, ließ er die Hand sinken und gab den Befehl weiter; die Soldaten gerieten in Bewegung, ergriffen die Gewehre, zogen ihre Mäntel an, und das Bataillon marschierte ab.

Wer es nicht an sich selbst erfahren hat, kann sich das freudige Gefühl nicht vorstellen, das ein Mensch empfindet, wenn er nach dreistündigem Bombardement einen so gefährlichen Ort, wie ein Schützengraben es ist, verläßt. Michailow, der während dieser drei Stunden zu wiederholten Malen und nicht ohne Grund sein Ende nahe glaubte, hatte Zeit gefunden, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er zweifellos fallen werde und daß er nicht mehr dieser Welt angehörte. Trotzdem kostete es ihn große Mühe, seine Beine vom Laufen zurückzuhalten, als er an der Spitze der Kompagnie neben Praskuchin die Schützengräben verließ.

»Auf Wiedersehen!« sprach zu ihm ein Major, der Kommandant eines andern Bataillons, der in den Schützengräben zurückblieb und mit dem er seinen Käse geteilt hatte, als er in der Grube neben der Brustwehr gesessen; »Glück auf den Weg!«

»Und Ihnen wünsche ich Glück zum Halten Ihrer Position. Jetzt scheint Ruhe eingetreten zu sein.«

Aber kaum hatte er das gesagt, als der Feind, der die Bewegung in den Schützengräben wahrscheinlich bemerkt hatte, wieder stärker und stärker zu feuern begann. Die Unsrigen antworteten ihm, und wiederum entstand eine heftige Kanonade. Die Sterne schimmerten hoch, aber nicht sehr hell am Himmel. Die Nacht war so finster, daß man die Hand vor den Augen nicht sah; nur das Feuer der Schüsse und die platzenden Bomben beleuchteten für ein paar Sekunden die Dinge ringsumher. Die Soldaten gingen schnell und schweigend und suchten unwillkürlich einander zu überholen; durch den Donner der Geschütze hindurch hörte man ihren gleichmäßigen Schritt auf der trockenen Straße, den Klang der aneinanderschlagenden Bajonette oder das Seufzen und Beten irgend eines Soldaten: »Gott, Herr Gott, was ist das?« Zuweilen ertönte das Stöhnen eines Verwundeten und der Ruf: »Tragbahre her!« (In der von Michailow befehligten Kompagnie wurden in jener Nacht nur durch Artilleriefeuer 26 Mann getötet.) Blitze flammten in der Ferne am dunklen Horizonte auf, der Posten auf der Bastion schrie: »Kano–o–ne!« und die Kugel sauste über die Kompagnie dahin, wühlte die Erde auf und schleuderte Steine in die Höhe.

»Hol's der Teufel, wie langsam sie gehen!« dachte Praskuchin, der neben Michailow einherschritt und sich immerwährend umsah; »wirklich, ich lauf' lieber voraus, die Ordre hab' ich ja übergeben. – Übrigens nein: sie könnten nachher erzählen, ich sei ein Feigling. Komme was will, – ich gehe mit den andern.«

»Warum folgt er mir?« dachte Michailow seinerseits, »soviel ich bemerkt habe, bringt er immer Unglück. So, die fliegt grade hierher, wie mir scheint!«

Nach einigen hundert Schritten trafen sie Kalugin, der mit flottem Säbelgerassel zu den Schützengräben ging, um sich auf Befehl des Generals zu überzeugen, wieweit die Arbeiten dort vorgeschritten waren. Bei dem Zusammentreffen mit Michailow aber dachte er sich, er könne, anstatt bei diesem entsetzlichen Feuer selbst hinzugehen, was ihm gar nicht anbefohlen war, den Offizier, der dort gewesen, genau ausfragen. Und Michailow erzählte ihm in der Tat ausführlich vom Stande der Arbeiten. Nachdem Kalugin noch ein Stückchen mit ihnen gegangen war, bog er in den Laufgraben ein, der zur Blindage führte.

»Na, was gibt's Neues?« fragte ein Offizier, der allein bei seinem Abendbrot im Zimmer saß.

»Nichts; es scheint, daß das Gefecht jetzt aufhören wird.«

»Wieso aufhören? Im Gegenteil, der General ist eben erst wieder hinaufgegangen. Noch ein Regiment ist eingetroffen. Da – hören Sie? – da geht das Gewehrfeuer wieder los! Gehen Sie nicht! Warum sollten Sie?« fügte der Offizier hinzu, als er die Bewegung bemerkte, die Kalugin machte.

»Eigentlich sollte ich unbedingt dort sein,« dachte Kalugin, »aber ich hab' mich heute wohl schon oft genug der Gefahr ausgesetzt; das Feuer ist entsetzlich!«

»Es ist wahr, ich werde lieber auf sie warten,« sagte er.

Nach etwa zwanzig Minuten kehrte der General mit den ihn begleitenden Offizieren zurück, unter denen sich auch der Junker Baron Pest befand, Praskuchin aber fehlte. Die Schützengräben waren von den Unsrigen erobert und besetzt worden.

Nachdem Kalugin ausführliche Nachrichten über den Kampf erhalten hatte, verließ er die Blindage mit Pest gemeinsam.

*

XI.

»Ihr Mantel ist mit Blut befleckt; waren Sie denn im Handgemenge?« fragte Kalugin den Baron Pest.

»Ach, entsetzlich! Stellen Sie sich vor –«

Und Pest begann zu erzählen, wie er seine Kompagnie geführt habe, wie der Kompagniechef getötet worden, wie er einen Franzosen niedergestochen, und wie das Gefecht ohne ihn verloren gewesen wäre.

Die Grundlagen dieser Erzählung, nämlich daß der Kompagniechef gefallen war und daß Pest einen Franzosen getötet hatte, beruhten auf Wahrheit, aber bei der Schilderung der Einzelheiten erfand und prahlte der Junker.

Er prahlte ohne es recht zu wollen, denn er hatte sich während des ganzen Gefechtes in einer Art Umneblung und Besinnungslosigkeit befunden, so daß alles, was geschehen war, ihm so vorkam, als sei es irgendwo, irgendwann und mit irgend jemand geschehen. Es war sehr natürlich, daß er sich bemühte, diese Einzelheiten in einer für ihn vorteilhaften Weise darzustellen. In Wirklichkeit aber war es so gewesen:

Das Bataillon, zu dem der Junker für den Ausfall abkommandiert war, stand zwei Stunden in der Nähe einer Mauer im Feuer; dann sagte der Bataillonschef vor der Front irgend etwas, – die Kompagniechefs gerieten in Bewegung, das Bataillon setzte sich in Marsch, kam hinter der Brustwehr hervor und machte nach etwa hundert Schritten halt, um sich in Kompagniekolonnen zu formieren. Pest erhielt den Befehl, sich auf den rechten Flügel der zweiten Kompagnie zu verfügen.

Ganz ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wo er war und weshalb er dort war, begab sich der Junker an seinen Platz und blickte mit unwillkürlich verhaltenem Atem, während ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief, fast bewußtlos in die dunkle Ferne hinaus, etwas Schreckliches erwartend. Übrigens empfand er weniger Angst – denn es wurde nicht geschossen – als Befremden und Staunen bei dem Gedanken, daß er sich außerhalb der Festung im Felde befand. Wiederum sagte der Bataillonschef vor der Front etwas; wieder flüsterten die Offiziere, den Befehl weitergebend, einander etwas zu, und die schwarze Wand der ersten Kompagnie senkte sich plötzlich. Es war Ordre gegeben worden, sich niederzulegen. Die zweite Kompagnie legte sich ebenfalls, und dabei verletzte Pest seine Hand an einem Dornstrauch. Nur der Chef der zweiten Kompagnie legte sich nicht nieder. Seine kleine Gestalt mit dem gezogenen Degen, den er, fortwährend sprechend, hin und her schwang, bewegte sich vor der Kompagnie.

»Jungens, daß ihr euch brav haltet! Nicht aus dem Gewehr feuern, sondern mit den Bajonetten los auf sie, die Kanaillen! Wenn ich Hurra schrei, dann los und nicht zurückgeblieben! Alle zugleich, das ist die Hauptsache! Wollen zeigen, was wir können, und daß wir die Nase nicht in die Erde stecken, was, Jungens? Für den Zaren, unser Väterchen!«

»Wie heißt unser Kompagniechef?« fragte Pest den neben ihm liegenden Junker; »was für ein tapferer Kerl!«

»Ja, wenn's zum Kampf geht, ist er immer so,« antwortete der Junker, »Lißinkowskij heißt er.«

In diesem Moment blitzte dicht vor der Kompagnie eine Flamme auf, es ertönte ein Krachen, das die ganze Kompagnie betäubte, hoch in der Luft schwirrten Steine und Bombensplitter (wenigstens stürzte noch nach etwa fünfzig Sekunden ein Stein aus der Höhe und zerschmetterte einem Soldaten das Bein). Es war eine Bombe aus der Elevationslafette, und daß sie die Kompagnie traf, bewies, daß die Franzosen die Kolonne bemerkt hatten.

»Bomben zu schleudern! Laß uns nur erst herankommen, dann sollst du das dreikantige russische Bajonett kennen lernen, du Verfluchter!« sagte der Kompagniechef so laut, daß der Bataillonskommandeur ihm befehlen mußte, er solle schweigen und nicht so viel Lärm machen.

Dann stand die erste und nach ihr die zweite Kompagnie auf. Es wurde Ordre gegeben, das Gewehr zum Angriff bereit zu halten, und das Bataillon marschierte vorwärts. – Pest war in solcher Angst, daß er sich absolut nicht besinnen konnte, wie lange, wohin, wer und was? Er schritt einher wie ein Betrunkener. Aber plötzlich blitzte von allen Seiten eine Million von Feuern auf, es pfiff und krachte. Er begann zu schreien und zu laufen, weil alle liefen und schrien. Dann stolperte er und fiel über jemand. Das war der Kompagniechef, der vor der Front verwundet worden war und den Junker am Bein packte, da er ihn für einen Franzosen hielt. Dann, als Pest sich losgemacht hatte und aufgestanden war, stieß ihn in der Dunkelheit jemand in den Rücken, so daß er beinahe wieder niedergefallen wäre; ein anderer schrie: »Stich ihn nieder! was schaust du?« Jemand ergriff das Gewehr und stieß das Bajonett in etwas Weiches. » Ah, Dieu!« schrie ein anderer; jemand mit schrecklicher, durchdringender Stimme, und da erst begriff Pest, daß er es war, der einen Franzosen niedergestochen. Kalter Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper, er begann zu zittern wie im Fieber und warf das Gewehr hin. Aber das dauerte nur einen Augenblick: es fiel ihm sofort ein, daß er nun ein Held sei. Er nahm das Gewehr wieder auf, schrie mit den anderen Hurra und lief von dem getöteten Franzosen fort. Nachdem er etwa zwanzig Schritt gelaufen war, erreichte er einen Laufgraben. Dort traf er die Unsrigen und den Bataillonschef.

»Ich habe einen erstochen,« meldete er dem letzteren.

»Sie sind ein tüchtiger Bursche, Baron!«

*

XII.

»Wissen Sie, daß Praskuchin tot ist?« sagte Pest, als er den heimgehenden Kalugin begleitete.

»Nicht möglich!«

»Aber ja! ich selbst habe ihn gesehen.«

»Doch leben Sie wohl, ich hab' Eile.«

»Ich bin sehr befriedigt,« dachte Kalugin auf dem Heimwege; »zum erstenmal hab' ich während meines Tagdienstes Glück gehabt. Ausgezeichnet: ich bin lebendig und unverletzt, werde sicher vorgeschlagen werden, und krieg' unbedingt den goldenen Säbel! Übrigens verdiene ich das auch.«

Nachdem er dem General alles Notwendige gemeldet hatte, ging er in sein Zimmer, wo der längst heimgekehrte Fürst Galjzin bei einem Buche, das er auf dem Tische gefunden hatte, auf ihn wartete.

Mit genußreichem Behagen fühlte Kalugin, daß er daheim und außer Gefahr war; nachdem er sein Nachthemd angezogen und sich ins Bett gelegt hatte, erzählte er dem Fürsten die Einzelheiten des Kampfes, wobei er sie natürlich von dem Gesichtspunkte aus schilderte, von dem diese Einzelheiten bewiesen, daß er, Kalugin, ein ungemein tüchtiger und tapferer Offizier sei, was meiner Meinung nach ganz überflüssig war zu betonen; denn alle Welt wußte das, und niemand hatte ein Recht oder einen Anlaß, daran zu zweifeln, außer dem verstorbenen Rittmeister Praskuchin vielleicht, der – obgleich er es für ein Glück gehalten hatte, mit Kalugin Arm in Arm zu gehen, – gestern erst einem Kameraden unter Diskretion erzählt hatte, Kalugin sei ein sehr guter Mensch, aber »unter uns gesagt«, er gehe schrecklich ungern auf die Bastionen.

Kaum hatte Praskuchin, neben Michailow einherschreitend, sich von Kalugin getrennt und bei der Annäherung an eine weniger gefährliche Stelle wieder aufzuleben begonnen, als er einen Blitz bemerkte, der hinter ihm hell aufleuchtete; er hörte den Ruf des Wachtpostens: »Mörser!« und die Worte eines hinter ihm schreitenden Soldaten: »Direkt auf die Bastion fliegt sie!«

Michailow sah sich um. Der helle Punkt der Bombe schien in seinem Zenith zu stehen, in einer Stellung, aus der man unmöglich auf seine Richtung schließen konnte. Aber das währte nur einen Moment: die Bombe senkte sich immer schneller und immer näher, so daß man schon die Funken der Röhre sah und das verhängnisvolle Pfeifen hörte, grade auf das Bataillon herab.

»Niederlegen!« schrie eine Stimme.

Michailow und Praskuchin warfen sich zu Boden. Praskuchin drückte die Augen zu und hörte nur, daß die Bombe ganz in seiner Nähe auf den festen Erdboden aufschlug. Es verging eine Sekunde, die wie eine Stunde erschien, – die Bombe platzte nicht. Praskuchin erschrak: war er nicht am Ende unnütz feige gewesen? vielleicht war die Bombe weit von ihm niedergefallen und es schien ihm nur, daß die Röhre hier neben ihm zischte? Er öffnete die Augen und sah mit Befriedigung, daß Michailow dicht an seinen Füßen unbeweglich dalag. Aber da fiel sein Blick für einen Moment auf die leuchtende Röhre der Bombe, die sich kaum einen Meter von ihm entfernt drehte.

Entsetzen – kaltes, alles Denken und Fühlen lähmendes Entsetzen – ergriff sein ganzes Wesen. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Es verging eine weitere Sekunde, – eine Sekunde, in der eine ganze Welt von Gefühlen, Gedanken, Hoffnungen und Erinnerungen an seinem Geiste vorbeizog.

»Wen wird sie töten, mich oder Michailow? oder uns beide? Und wenn sie mich trifft, dann wo? Wenn's am Kopf ist, ist alles aus; am Bein, dann wird es abgenommen, und ich werde bitten, daß man mich auf jeden Fall chloroformiert, und dann kann ich noch am Leben bleiben. Vielleicht aber wird nur Michailow getötet: dann werde ich erzählen, wie wir nebeneinander marschiert, wie er getötet und ich mit Blut bespritzt worden. Nein, sie liegt näher zu mir, – sie wird mich töten!«

Dann erinnerte er sich an die zwölf Rubel, die er Michailow noch schuldete, und an eine Schuld in Petersburg, die längst hätte bezahlt werden sollen; die Zigeunerweise, die er gestern abend gesungen, zog ihm durch den Kopf; die Frau, die er liebte, stand vor seiner Phantasie in einem Häubchen mit lila Bändern; ein Mann, der ihn vor fünf Jahren beleidigt hatte, ohne daß er sich gerächt, kam ihm in den Sinn – und untrennbar von diesen und tausend anderen Erinnerungen blieb in ihm das Gefühl der Gegenwart, die Erwartung des Todes. »Übrigens, vielleicht platzt sie nicht,« dachte er, wollte mit verzweifelter Energie die Augen öffnen und richtete sich ein wenig auf. In diesem Moment jedoch wurden seine Augen noch durch die geschlossenen Lider von einem roten Feuerschein geblendet; unter fürchterlichem Krachen stieß etwas gegen seine Brust; er stürzte vorwärts, stolperte über den Säbel, der ihm zwischen die Füße geraten war, und fiel auf die Seite.

»Gott sei Dank, ich bin nur gestreift!« war sein erster Gedanke, und er wollte seine Brust mit den Händen betasten, doch die Hände schienen gefesselt und der Kopf in einen Schraubstock eingeklemmt zu sein. Vor seinen Augen zogen Soldaten vorüber, und unwillkürlich zählte er sie: »Eins, zwei, drei Soldaten, und da, in den Mantel gehüllt, ein Offizier,« dachte er. Dann zuckte ein Blitz vor seinen Augen auf und er fragte sich: »Woraus haben sie jetzt geschossen, aus einem Mörser oder einer Kanone? Wahrscheinlich aus einer Kanone!« Und dann wurde wieder geschossen, und dann kamen immer neue Soldaten: fünf, sechs, sieben Mann, und alle gingen vorüber. Plötzlich packte ihn die Angst, daß sie ihn zertreten würden. Er wollte schreien, er habe einen Streifschuß bekommen, aber sein Mund war so trocken, daß ihm die Zunge am Gaumen klebte, und ein fürchterlicher Durst quälte ihn. Er fühlte, daß seine Brust ganz naß war; dieses Gefühl erinnerte ihn an Wasser, und er hätte sogar auch das trinken mögen, was seine Brust so naß machte. »Wahrscheinlich hab' ich mich beim Niederfallen blutig geschlagen,« dachte er. Seine Angst, daß die immer noch vorüberziehenden Soldaten ihn zertreten könnten, wuchs mehr und mehr, er nahm alle Kraft zusammen und wollte schreien: »Nehmt mich mit!« Aber statt dessen stöhnte er so schrecklich auf, daß es ihm selbst furchtbar war, sich zu hören. Dann begannen rote Funken vor seinen Augen zu tanzen, und es schien ihm, als häuften die Soldaten Steine über ihm auf. Die Funken hüpften immer seltener, die Steine drückten immer schwerer. Er machte eine Anstrengung, um die Steine fortzurücken, streckte sich – und sah, hörte, dachte und fühlte nichts mehr. Er war von einem Bombensplitter grade in die Brust getroffen und auf der Stelle getötet worden.

*

XIII.

Als Michailow die Bombe sah, warf er sich zu Boden, und während der zwei Sekunden bis zum Platzen der Bombe dachte und fühlte auch er, ebenso wie Praskuchin, unendlich viel. Er betete in Gedanken zu Gott und wiederholte immer wieder: »Dein Wille geschehe! – Aber warum bin ich zum Militär gegangen!« dachte er gleichzeitig, »und noch gar zur Infanterie übergetreten, um an diesem Feldzuge teilzunehmen! Hätte ich nicht beim Ulanenregiment in T. bleiben können? Jetzt hab' ich's!« Und er begann zu zählen: »Eins, zwei, drei, vier,« indem er orakelte: wenn die Bombe bei einer geraden Zahl platzt, so werde er am Leben bleiben, wenn aber bei einer ungeraden, so müsse er sterben. »Nun ist alles aus, ich bin getötet!« dachte er, als die Bombe zersprang (er erinnerte sich nicht, ob es bei einer geraden oder ungeraden Zahl geschah); er fühlte einen Schlag und heftigen Schmerz am Kopfe. »Herr, verzeih' mir meine Sünden!« murmelte er, die Hände faltend, erhob sich und fiel bewußtlos auf den Rücken.

Das erste, was er bei Wiedererlangung des Bewußtseins fühlte, war Blut, das ihm über die Nase rieselte, und der bedeutend schwächer gewordene Schmerz am Kopfe. »Die Seele entflieht jetzt,« sagte er sich, »wie wird's dort sein? Herr, nimm meinen Geist in Frieden auf! – Aber merkwürdig,« dachte er, »daß ich im Sterben so deutlich die Tritte der Soldaten und die Schüsse höre.«

»Tragbahre her! He! Der Kompagniechef ist tot!« schrie über seinem Haupte eine Stimme, die er unwillkürlich als die des Trommlers Ignatjew erkannte.

Jemand faßte ihn an den Schultern. Er versuchte, die Augen zu öffnen, und erblickte über sich den dunkelblauen Himmel, Sterngruppen und zwei Bomben, die über ihm dahinflogen, eine die andere überholend; er sah auch Ignatjew, Soldaten mit Gewehren und mit einer Bahre, den Wall, die Laufgräben, – und plötzlich wurde ihm klar, daß er noch nicht im Jenseits sei.

Er war durch einen Stein leicht am Kopfe verletzt worden. Seine allererste Empfindung war ein gewisses Bedauern: er hatte sich so gut und ruhig auf den Übergang »dorthin« vorbereitet, daß die Rückkehr in die Wirklichkeit mit ihren Bomben, Laufgräben und dem vielen Blut ihn unangenehm berührte; seine zweite Empfindung aber war die unbewußte Freude darüber, daß er am Leben war, und die dritte: der Wunsch, so schnell als möglich die Bastion zu verlassen. Der Trommler verband den Kopf seines Kommandanten mit einem Tuche, faßte Michailow unter den Arm und wollte ihn zum Verbandplatz führen.

»Wohin und warum gehe ich eigentlich?« dachte der Stabskapitän, als er ein wenig zu sich gekommen war. »Meine Pflicht ist, bei der Kompagnie zu bleiben, und nicht vorzeitig wegzugehen, – um so mehr, als die Kompagnie ja bald aus dem Feuer heraus sein wird!« flüsterte ihm eine innere Stimme zu.

»Nicht nötig, Bruder,« sagte er zu dem dienstfertigen Trommler und befreite seinen Arm; »ich geh' nicht zum Verbandorte, ich bleib bei der Kompagnie.«

Und er wandte sich zurück.

»Es wäre besser, sich ordentlich verbinden zu lassen, Euer Wohlgeboren,« sagte Ignatjew; »nur in der ersten Hitze scheint's so, als wäre es nichts; und daß nicht am Ende was Schlimmeres kommt, hier ist ja ein ganz schreckliches Feuer! – Wirklich, Euer Wohlgeboren!«

Michailow blieb einen Moment unentschlossen stehen und hätte wahrscheinlich Ignatjews Rat befolgt, wenn ihm nicht eingefallen wäre, wie viele Schwerverwundete am Verbandorte warteten. »Vielleicht lächeln die Ärzte nur über meine Schramme,« dachte der Stabskapitän, und kehrte, ohne auf das Zureden des Trommlers zu achten, entschlossen zur Kompagnie zurück.

»Wo ist der Ordonnanzoffizier Praskuchin, der neben mir marschierte?« fragte er den Fähnrich, der die Kompagnie führte.

»Ich weiß nicht, – tot, glaube ich,« antwortete der Fähnrich unlustig, »tot oder verwundet.«

»Wieso wissen Sie das nicht? Er ging doch mit uns! Und warum haben Sie ihn nicht mitgenommen?«

»Wie sollte man ihn mitnehmen, bei solchem Feuer!«

»Ach, wie können Sie nur so sein, Michael Iwanowitsch!« sagte Michailow ärgerlich, »wie konnten Sie ihn liegen lassen, wenn er vielleicht noch lebt? Und selbst wenn er tot ist, mußten Sie doch den Leichnam mitnehmen.«

»Wie kann er noch leben, wenn ich Ihnen doch sage, ich bin selbst herangegangen und hab' ihn gesehen!« sagte der Fähnrich. »Ich bitt' Sie, wenn wir nur unsre eigenen Leute fortschaffen könnten! – So, jetzt schießt die Kanaille mit Kanonenkugeln!« fügte er hinzu.

Michailow setzte sich und faßte sich an den Kopf, der von der Bewegung heftig zu schmerzen anfing.

»Nein, man muß ihn unbedingt holen, vielleicht lebt er noch,« sagte Michailow; »das ist unsere Pflicht, Michael Iwanowitsch!«

Michael Iwanowitsch antwortete nicht.

»Vorhin hat er ihn nicht mitgenommen, und jetzt muß man die Soldaten allein schicken; aber wie? Bei dem entsetzlichen Feuer könnten sie zwecklos getötet werden,« dachte Michailow.

»Kinder, jemand muß zurück und den Offizier holen, der dort im Graben verwundet wurde,« sagte er weder sehr laut noch befehlend, da er fühlte, wie unangenehm es den Soldaten sein werde, den Auftrag auszuführen; und in der Tat, da er niemand mit Namen bezeichnet hatte, trat keiner vor, um dem Befehl nachzukommen.

»Vielleicht ist er wirklich schon tot und es verlohnt sich nicht, die Leute unnötig der Gefahr auszusetzen; und schuld bin nur ich, weil ich mich nicht um ihn gekümmert habe. Ich werde selbst zurückgehen und mich überzeugen, ob er noch lebt. Es ist meine Pflicht!« sagte sich Michailow.

»Michael Iwanowitsch, führen Sie die Kompagnie, ich werde nachkommen,« rief er und lief, mit der einen Hand seinen Mantel haltend, mit der andern immer wieder das Bild des heiligen Mitrophanes berührend, zu dem er besonderes Vertrauen hatte, im Trabe durch den Laufgraben.

Als er sich überzeugt hatte, daß Praskuchin tot war, schleppte Michailow sich keuchend zurück, die Hand an den locker gewordenen Verband und den heftig schmerzenden Kopf gedrückt. Das Bataillon war schon am Fuße des Berges und fast außer Schußweite, als Michailow es einholte. Ich sage: fast außer Schußweite, denn manchmal verirrten sich die Bomben auch hierher.

»Morgen werde ich doch zum Verbandort müssen, um mich als verwundet zu melden,« dachte der Stabskapitän, während der herbeigekommene Feldscher ihn verband.

*

XIV.

Hunderte frischer, blutiger Körper von Menschen, die noch vor zwei Stunden voll der verschiedensten, hochherzigen wie kleinlichen Wünsche und Hoffnungen gewesen, lagen mit erstarrten Gliedern auf der taufrischen, blumigen Ebene, welche die Bastion vom Laufgraben trennte, und auf dem glatten Fußboden der Totenkapelle in Sewastopol; Hunderte von Menschen, mit Verwünschungen oder mit Gebeten auf den Lippen, krochen und wanden sich stöhnend zwischen den Leichnamen auf der blumigen Ebene oder auf Tragbahren, Pritschen und dem blutbefleckten Fußboden des Verbandortes; und doch lichtete sich ganz wie sonst der Himmel über dem Ssapunberge, erblichen die flimmernden Sterne, zog der weiße Nebel über das brausende, dunkle Meer, glühte die Morgenröte im Osten auf, zerstreuten sich die langen Purpurwölkchen über den hellblauen Horizont, und ganz wie sonst stieg das mächtige, herrliche Tagesgestirn empor, dem ganzen, sich neu belebenden Erdkreise Freude, Liebe und Glück verheißend.

*

XV.

Am Abend des andern Tages spielte die Musikkapelle wieder auf dem Boulevard, und wieder promenierten Offiziere, Junker, Soldaten und junge Frauenzimmer müßig vor dem Pavillon und in den unteren Alleen der blühenden und duftenden weißen Akazien.

Kalugin, Fürst Galjzin und ein Oberst gingen Arm in Arm um den Pavillon und sprachen vom gestrigen Kampfe. Das Leitmotiv ihres Gespräches war, wie das immer in ähnlichen Fällen zu sein pflegt, nicht das Gefecht selbst, sondern der Anteil, den der Erzählende am Kampfe genommen hatte. Ihre Gesichter hatten einen ernsten, fast betrübten Ausdruck, ihre Stimmen einen traurigen Klang, als ob die Verluste des gestrigen Tages jeden von ihnen rührten und bekümmerten; doch da niemand von ihnen einen ihm nahestehenden Menschen verloren hatte, war diese Trauer eigentlich nur der offizielle Ausdruck, den zur Schau zu tragen sie sich verpflichtet fühlten. Kalugin und der Oberst wären sogar, obgleich sie prächtige Menschen waren, bereit gewesen, täglich ein solches Gefecht mitzumachen, wenn sie nur jedesmal den goldenen Säbel oder den Generalmajor bekommen hätten. Ich höre es gern, wenn irgend ein Eroberer, der Millionen von Menschen zugrunde richtet, nur um seinem Ehrgeiz Genüge zu leisten, als Unmensch bezeichnet wird. Aber fragt einmal den Fähnrich Petruschow und den Leutnant Antonow usw. aufs Gewissen: jeder von uns ist ein kleiner Napoleon, ein kleiner Unmensch, und bereit, sofort eine Schlacht in Szene zu setzen, nur um einen unnützen Orden oder ein Drittel seiner Gage zu erhalten.

»Nein, entschuldigen Sie,« sagte der Oberst, »es begann auf dem linken Flügel, – ich war doch dort

»Möglich,« erwiderte Kalugin, » ich war mehr auf dem rechten; ich bin zweimal hingegangen, das eine Mal, um den General aufzusuchen, das zweite Mal nur so, um die Schützengräben zu besichtigen. Da ging es heiß zu

»Ja, Kalugin muß das wohl wissen,« sprach Fürst Galjzin zum Obersten. »Weißt du, W... hat mir heute von dir erzählt, daß du ein tapferer –«

»Nur die Verluste, die schrecklichen Verluste!« sagte der Oberst. » In meinem Regiment sind vierhundert Mann gefallen. Es ist ein Wunder, daß ich lebendig davongekommen bin

In diesem Augenblicke tauchte am andern Ende des Boulevards, diesen Herren entgegenkommend, Michailow mit verbundenem Kopfe auf.

»Wie, Sie sind verwundet, Kapitän?« fragte Kalugin.

»Ja, etwas, – durch einen Stein,« erwiderte Michailow.

» Est-ce que le pavillon est baissé déjà?« fragte Fürst Galjzin, die Mütze des Stabskapitäns ansehend und sich an niemand im besondern wendend.

» Non, pas encore,« antwortete Michailow, der beweisen wollte, daß auch er französisch spreche.

»Dauert denn der Waffenstillstand noch fort?« sagte Galjzin auf russisch, indem er sich nun höflich direkt an Michailow wandte, um dadurch – wie es dem Stabskapitän schien – auszudrücken: es wird Ihnen wahrscheinlich schwer fallen, französisch zu sprechen, wäre es da nicht besser, ganz ohne Umstände –? Und damit entfernten sich die Adjutanten von ihm. Der Stabskapitän fühlte sich wieder, wie gestern, außerordentlich vereinsamt, begrüßte mehrere Herren und setzte sich – da er sich den einen nicht zugesellen wollte, die anderen anzureden sich nicht entschließen konnte, – beim Kasarskij-Denkmal nieder und zündete sich eine Zigarette an.

Auch Baron Pest kam auf den Boulevard. Er erzählte, er sei bei den Verhandlungen über den Waffenstillstand dabeigewesen und habe mit den französischen Offizieren gesprochen; ein Offizier habe ihm gesagt: S'il n'avait pas fait clair encore pendant une demi-heure, les embuscades auraient été reprises, und er habe ihm geantwortet: Monsieur, je ne dis pas non, pour ne pas vous donner un démenti, und wie gut er das herausgebracht usw.

In Wirklichkeit aber war er, obgleich er den Verhandlungen beigewohnt hatte, gar nicht dazu gekommen, etwas Besonderes zu sagen, so sehr er auch gewünscht hatte, mit den Franzosen zu sprechen (es wäre doch gar so amüsant gewesen, mit Franzosen zu sprechen!). Der Junker Baron Pest war lange die Linie entlang spaziert und hatte die ihm zunächstliegenden Franzosen gefragt: » De quel régiment êtes-vous?« Man hatte ihm geantwortet – und das war alles. Als er sich aber etwas zu weit vorgewagt hatte, war er von dem französischen Wachtposten, der nicht vermutete, daß dieser Soldat französisch verstehe, beschimpft worden: » Il vient regarder nos travaux, ce sacré ...« hatte der Franzose gesagt, worauf der Junker Baron Pest kein Interesse mehr an den Verhandlungen gefunden hatte und nach Hause gefahren war; unterwegs erst hatte er die französischen Phrasen erfunden, die er jetzt vorbrachte.

Auf dem Boulevard sah man auch Kapitän Sobow, der sehr laut sprach, und Kapitän Obshogow in etwas verwildertem Zustande, und einen Artilleriekapitän, der niemand schmeichelte, und einen glücklich liebenden Junker, und alle die Personen von gestern, und alle mit denselben Gefühlsregungen und Wünschen. Es fehlten nur Praskuchin, Neferdow und noch einer oder der andere, und ihrer wurde hier kaum mehr gedacht, obgleich ihre Körper noch nicht einmal gewaschen, geschmückt und in die Erde gebettet waren.

*

XVI.

Auf unserer Bastion und dem französischen Laufgraben sind weiße Flaggen gehißt, und zwischen ihnen auf der blumigen Ebene liegen haufenweise, ohne Stiefel, in grauen und blauen Uniformen, verstümmelte Leichen, die von Arbeitern fortgetragen und auf Fuhren geladen werden. Leichengeruch erfüllt die Luft. Aus Sewastopol wie aus dem Lager der Franzosen strömt das Volk in Scharen, um dieses Schauspiel zu betrachten, und drängt sich in brennender und wohlwollender Neugier durcheinander.

Hören wir ein wenig den Gesprächen dieser Leute zu.

Dort, in einem Kreise von Russen und Franzosen, steht ein junger Offizier, der zwar schlecht, aber doch verständlich französisch spricht, und betrachtet eine Gardepatrontasche.

»Eh seßi purkua ße uaso lië?« fragt er.

» Parce que c'est une giberne d'un régiment de la garde, monsieur, qui porte l'aigle impérial

»Eh wu de la gard?«

» Pardon, monsieur, du sixième de ligne

»Eh seßi u aschete?« fragt der Offizier weiter und zeigt auf eine gelbe hölzerne Zigarrenspitze, aus welcher der Franzose eine Zigarette raucht.

» A Balaclava, monsieur, c'est tout simple en bois de palme

»Scholi,« meint der Offizier, der sich in seinem Gespräch weniger von seinem freien Willen leiten läßt, als von den Worten, die er kennt.

» Si vous voulez bien garder cela comme souvenir de cette rencontre, vous m'obligerez.«

Und der höfliche Franzose bläst die Zigarette hinaus und überreicht dem Offizier mit leichter Verneigung die Spitze. Der Offizier gibt ihm dafür die seinige, und alle Anwesenden, sowohl Russen als Franzosen, scheinen sehr befriedigt und lächeln.

Dort jener kecke Infanterist im rosafarbenen Hemde und um die Schultern geworfenen Mantel geht in Begleitung einiger anderer Soldaten, welche, die Hände auf dem Rücken, mit amüsierten, neugierigen Gesichtern hinter ihm stehen, auf einen Franzosen zu und bittet ihn um Feuer für seine Pfeife. Der Franzose bläst seine Pfeife stärker an, stochert den Tabak auf und schüttet Feuer in die Pfeife des Russen.

»Tabak bun,« sagt der Soldat im rosa Hemde, und die Zuschauer lächeln.

» Oui, bon tabac, tabac turc,« erwidert der Franzose, » et chez vous autres, tabac – russe? bon

»Ruß – bun!« sagt der Soldat im rosa Hemde, und die Zuschauer schütteln sich vor Lachen.

»Franße nicht bun, bonschur, Mußje!« sagt der Soldat im rosa Hemde, indem er seine ganze Ladung an Sprachkenntnis mit einemmal abfeuert, klopft dem Franzosen auf den Bauch und lacht.

» Ils ne sont pas jolis, ces b... de Russes,« sagt ein Zuave aus der Gruppe der Franzosen.

» De quoi est-ce qu'ils rient donc?« fragt ein andrer, brünetter, mit italienischer Aussprache.

»Kaftan bun,« sagt wieder der kecke Soldat, indem er die gestickten Schöße des Zuaven betrachtet, und wieder lachen die andern.

» Ne sors pas de ta ligne! à vos places, sacré nom!« schreit ein französischer Korporal, und die Soldaten gehen mit sichtlichem Mißvergnügen auseinander.

Und hier der junge, von französischen Offizieren umringte russische Kavallerieoffizier übertrifft sich selbst an Liebenswürdigkeit. Man spricht von einem gewissen » comte Sazonoff, que j'ai beaucoup connu, monsieur,« wie ein französischer Offizier mit nur einer Epaulette sagt, » c'est un de ces vrais comtes russes, comme nous les aimons

» Il y a un Sazonoff que j'ai connu,« antwortet der Kavallerist, » mais il n'est pas comte, que je sache, un petit brun de votre âge à peu près

» C'est ça, monsieur, c'est lui. Oh, que je voudrais le voir, ce cher comte! Si vous le voyer, je vous prie bien de lui faire mes compliments. – Capitaine Latour,« sagt er mit einer Verbeugung.

» N'est-ce pas terrible, la triste besogne que nous faisons? Ca chauffait cette nuit, n'est-ce pas?« bemerkt der Kavallerist, um das Gespräch weiterzuführen, und zeigt auf die Leichen.

» Oh, monsieur, c'est affreux! Mais quels gaillards vos soldats, quels gaillards! C'est un plaisir que de se battre avec des gaillards comme eux

» Il faut avouer que les vôtres ne se mouchent pas du pied non plus,« antwortet der Kavallerist mit einer Verneigung und in der Einbildung, sehr liebenswürdig zu sein.

Doch genug.

Seht euch lieber jenen zehnjährigen Knaben dort an, der in einer alten, wohl vom Vater stammenden Mütze, mit Schuhen an den bloßen Füßen und in Nankinghosen, die nur durch einen Hosenträger gehalten werden, gleich zu Beginn des Waffenstillstandes hinter dem Wall hervorgekommen ist und sich die ganze Zeit im Tale umhergetrieben hat, mit stumpfer Neugier die Franzosen und die auf der Erde liegenden Leichen betrachtend, und die blauen Feldblumen pflückend, mit denen dieses Tal bedeckt ist. Als er sich dann mit einem großen Blumenstrauß auf den Heimweg macht, bleibt er – sich wegen des Geruches, den der Wind ihm zuträgt, die Nase zuhaltend, – vor einem Haufen zusammengeschleppter toter Körper stehen und starrt lange einen entsetzlichen, kopflosen Leichnam an, der in seiner Nähe liegt. Nach einer ziemlich langen Weile tritt er ein wenig vor und berührt mit dem Fuße den ausgestreckten, erstarrten Arm des Toten. Der Arm bewegt sich ein wenig. Er berührt ihn noch einmal, und zwar stärker. Der Arm bewegt sich ein wenig und kehrt wieder in seine Lage zurück. Da schreit der Knabe plötzlich auf, verbirgt das Gesicht in den Blumen und läuft, so schnell er laufen kann, der Festung zu.

Ja, auf der Bastion und dem Laufgraben ist die weiße Flagge gehißt, das blühende Tal ist mit Leichen bedeckt, die prächtige Sonne sinkt ins blaue Meer, und das wogende blaue Meer erglänzt in den goldenen Strahlen der Sonne. Tausende von Menschen drängen sich, schauen, plaudern und lächeln einander zu. Und diese Menschen sind Christen, die das eine erhabene Gebot der Liebe und Selbstverleugnung bekennen, und sie sinken beim Anblick dessen, was sie getan, nicht voller Reue in die Knie vor dem, der, als er ihnen das Leben gab, in die Seele eines jeden zugleich mit der Furcht vor dem Tode die Liebe zum Guten und Schönen legte, und sie umarmen einander nicht als Brüder mit Tränen der Freude und des Glücks? – Die weißen Flaggen sind eingezogen, und wieder pfeifen die Geschosse des Todes und der Leiden durch die Luft, wieder fließt unschuldiges Blut, wieder ertönen Seufzer und Verwünschungen.

*

So habe ich denn gesagt, was ich für diesmal zu sagen hatte. Doch mir kommt ein schweres Bedenken. Vielleicht hätte es nicht gesagt werden sollen, vielleicht gehört das, was ich ausgesprochen habe, zu jenen schlimmen Wahrheiten, die sich unbewußt in der Seele eines jeden Menschen verbergen und nicht ausgesprochen werden dürfen, um nicht verderblich zu wirken, wie man ja auch den Bodensatz nicht aufschütteln darf, um den Wein nicht zu verderben.

Wo ist in dieser Erzählung die Wiedergabe des Bösen, das man vermeiden, wo die des Guten, dem man nacheifern soll? Wer ist ihr Bösewicht, wer ihr Held? – Alle sind gut und alle sind schlecht.

Weder Kalugin mit seiner glänzenden Tapferkeit – bravoure de gentilhomme – und seinem Ehrgeiz, der Triebkraft aller Handlungen, noch Praskuchin, der harmlose, oberflächliche Mensch, obgleich im Kampf für Glauben, Thron und Vaterland gefallen, noch Michailow mit seiner Schüchternheit, noch Pest, das Kind ohne feste Überzeugungen und Grundsätze, können die Helden oder die Bösewichte einer Erzählung sein.

Der Held meiner Erzählung, den ich mit allen Kräften meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit zu schildern bemüht war, und der immer schön war, ist und sein wird, – ist die Wahrheit.


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