Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Albert

I

Fünf reiche, junge Herren kamen einmal gegen drei Uhr nachts in ein Petersburger Ballokal, um sich etwas zu zerstreuen.

Es wurde viel Champagner getrunken, die Herren waren zum größten Teil sehr jung, die Mädchen waren hübsch, Klavier und Geige spielten unermüdlich eine Polka nach der anderen, Tanz und Lärm hörten gar nicht auf, und doch war es langweilig und ungemütlich, und jeder der Beteiligten hatte den Eindruck (wie es ja oft vorkommt), das Ganze sei nicht das Richtige und eigentlich überflüssig.

Einigemal machten sie krampfhafte Versuche, die Stimmung zu heben, aber die erkünstelte Ausgelassenheit war noch schlimmer als Langeweile.

Einer von den Fünfen, der mehr als die anderen mit sich, mit den anderen und mit dem Abend unzufrieden war, stand angeekelt auf, nahm seinen Hut und verließ den Saal in der Absicht, sich unbemerkt davon zu machen.

Im Vorzimmer war niemand, doch aus einem Nebenzimmer hörte man durch die Tür zwei Stimmen, die miteinander stritten. Der junge Mann blieb stehen und horchte.

»Sie dürfen nicht hinein, es sind Gäste da,« sagte eine weibliche Stimme.

»Lassen Sie mich doch, bitte, ich tu ja nichts!« flehte eine schwache männliche Stimme.

»Nein, ich kann Sie ohne Erlaubnis von Madame nicht hineinlassen!« sagte die Frau. »Wo wollen Sie denn hin? Sie sind aber einer! ...«

Die Türe ging auf, und auf der Schwelle erschien eine seltsame männliche Gestalt. Als das Dienstmädchen den Gast erblickte, hielt es den Mann nicht länger zurück; die seltsame Gestalt machte eine schüchterne Verbeugung und trat schwankend, mit schlotternden Knien, ins Vorzimmer. Es war ein Mann von mittlerem Wuchse mit einem schmalen, gekrümmten Rücken und langem zerzausten Haar. Er trug einen kurzen Überzieher, ausgefranste enge Beinkleider und grobe ungewichste Stiefel. Um den schlanken weißen Hals trug er eine zu einem Strick zusammengedrehte Halsbinde. Die Ärmel waren zu kurz und ließen das schmutzige Hemd sehen. Trotz der auffallenden Magerkeit des Körpers war das Gesicht von einer zarten, frischen Farbe, und die von einem dünnen schwarzen Backenbart eingefaßten Wangen waren sogar rosig. Das ungekämmte Haar fiel nach rückwärts und ließ die nicht sehr hohe, doch außerordentlich reine Stirne frei. Die dunklen müden Augen blickten weich, suchend und zugleich selbstbewußt. Ihr Ausdruck wurde durch den Ausdruck der frischen, in den Mundwinkeln etwas gekrümmten Lippen, die von dem spärlichen Schnurrbart kaum verdeckt waren, wunderbar ergänzt.

Er machte einige Schritte, blieb dann stehen und lächelte dem jungen Mann zu. Das Lächeln schien ihm einige Mühe zu kosten, doch sein Gesicht erstrahlte dabei so anmutig, daß der junge Mann ihm gleichfalls, ohne selbst zu wissen warum, zulächelte.

»Wer ist das?« fragte er leise das Dienstmädchen, als die seltsame Gestalt im Tanzsaal verschwunden war.

»Ein verrückter Musiker vom Theater,« antwortete das Dienstmädchen, »er kommt manchmal zur Wirtin.«

»Delessow, wo steckst du denn?« rief man aus dem Saal.

Der junge Mann, der Delessow hieß, kehrte in den Saal zurück.

Der Musiker stand an der Türe und sah den Tanzenden zu. Er lächelte, schlug mit der Fußspitze den Takt und hatte offenbar an diesem Schauspiel große Freude.

»Tanzen Sie doch mit!« sagte ihm einer der Gäste.

Der Musiker verbeugte sich und warf der Wirtin einen fragenden Blick zu.

»Tanzen Sie doch, wenn die Herren Sie auffordern ...« ermunterte ihn die Wirtin.

In die mageren und kraftlosen Glieder des Musikers kam auf einmal lebhafte Bewegung; er begann lächelnd, mit den Augen zwinkernd und am ganzen Leibe zuckend, schwerfällig durch den Saal zu hüpfen. Ein lustiger Offizier, der sehr schön und temperamentvoll tanzte, stieß ihn mitten in der Quadrille aus Versehen in den Rücken. Die schwachen, dünnen Beine des Musikers konnten das Gleichgewicht nicht bewahren, er machte einige schwankende Bewegungen zur Seite und fiel seiner ganzen Länge nach auf den Boden. Trotz des harten, trockenen Lautes, mit dem sein Körper am Boden anschlug, lachten fast alle Gäste im ersten Augenblick auf.

Doch der Musiker blieb liegen. Die Gäste verstummten, selbst das Klavier hörte auf zu spielen; Delessow und die Wirtin eilten zuerst zu dem Gestürzten. Er lag auf einem Ellbogen und blickte trüb zu Boden. Als man ihn aufgehoben und auf einen Stuhl gesetzt hatte, strich er sich mit einer raschen Bewegung seiner knochigen Hand das Haar aus der Stirne und begann wieder zu lächeln, ohne auf die an ihn gerichteten Fragen zu antworten.

»Herr Albert! Herr Albert!« sagte die Wirtin. »Haben Sie sich weh getan? Wo denn? Ich habe ja gesagt, Sie sollten nicht tanzen. Er ist ja zu schwach!« fuhr sie fort, sich an die Gäste wendend. »Er hält sich kaum auf den Beinen! Wie soll er da noch tanzen können?«

»Wer ist er denn?« fragte man die Wirtin.

»Ein armer Mensch, ein Künstler. Ein braver Bursche, aber sehr heruntergekommen, wie Sie sehen.«

Sie sagte das, ohne auf die Anwesenheit des Musikers irgendwelche Rücksicht zu nehmen. Dieser kam inzwischen zu sich, krümmte sich, wie erschreckend, zusammen und stieß alle von sich weg.

»Macht nichts!« sagte er plötzlich, sich mit sichtbarer Anstrengung vom Stuhle erhebend.

Um zu zeigen, daß er sich nicht weh getan habe, trat er mitten in den Saal und schickte sich an, in seinem Hüpfen fortzufahren. Er verlor aber wieder das Gleichgewicht und wäre wohl wieder gestürzt, wenn man ihn nicht rechtzeitig aufgehalten hätte.

Alle wurden verlegen und schwiegen bei diesem Anblick.

Die Augen des Musikers wurden wieder leblos, er schien die Leute nicht mehr zu beachten und rieb sich mit der Hand das Knie. Dann warf er plötzlich den Kopf zurück, setzte seinen zitternden Fuß vor, strich sich mit der gleichen banalen Bewegung das Haar aus der Stirne, ging auf den Geiger zu und nahm ihm sein Instrument aus der Hand.

»Macht nichts!« wiederholte er noch einmal, die Geige hin- und herschwingend. »Wollen ein wenig musizieren, meine Herren!«

»Ein merkwürdiges Gesicht hat er!« bemerkten die Gäste.

»Vielleicht geht in diesem unglücklichen Geschöpf ein großer Künstler zugrunde!« sagte einer.

»Aber so elend und heruntergekommen!« meinte ein anderer.

»Welch ein schönes Gesicht! Es steckt wohl sicher etwas Außergewöhnliches in ihm,« sagte Delessow, »wir werden es ja gleich sehen ...«

II

Albert ging inzwischen, ohne jemand weiter zu beachten, langsam vor dem Klavier auf und ab und stimmte die Geige, die er an die Schulter gelegt hatte. Seine Lippen schienen nun leidenschaftslos, seine Augen konnte man nicht sehen, aber sein schmaler hagerer Rücken, der schlanke weiße Hals, die krummen Beine und das zerzauste schwarze Haar gewährten einen eigenartigen, doch unbegreiflicher Weise keineswegs komischen Anblick. Als er die Geige gestimmt hatte, gab er einen eleganten Akkord an, warf den Kopf zurück und wandte sich zum Klavierspieler, der sich anschickte, ihn zu begleiten.

»Mélancolie G-Dur!« sagte er ihm mit einer befehlenden Gebärde.

Als ob er wegen dieser Gebärde um Entschuldigung bitten wollte, lächelte er dem Publikum ungewöhnlich sanft zu. Mit der Hand, in der er den Bogen hielt, fuhr er sich noch einmal durch das Haar, stellte sich an einer Ecke des Klaviers auf und strich langsam und weich über die Saiten. Ein reiner jubelnder Ton zog durch den Saal. Alle verstummten.

Das Thema entwickelte sich frei und elegant, das Seeleninnerste der Zuhörer mit einem unerwartet reinen, beruhigenden Lichte erhellend. Kein falscher oder übermäßig lauter Ton störte die Andacht der Zuhörer; alle Töne waren gleich klar, rein, schön und bedeutungsvoll. Alle folgten stumm, vor Hoffnung zitternd, der Entwicklung der Melodie. Aus dem Zustande der Langeweile, der lärmenden Ausgelassenheit und des seelischen Schlafes, in dem sich alle diese Menschen noch eben befunden hatten, waren sie plötzlich unbemerkt in eine ganz andere, längst vergessene Welt versetzt. Bald versank man in eine stille, beschauliche Betrachtung des Vergangenen, bald gab man sich der leidenschaftlichen Erinnerung an ein entschwundenes Glück hin, bald spürte man ein grenzenloses Verlangen nach Macht und Glanz, bald ein Gefühl von Demut, Trauer und unerwiderter Liebe. Die bald zärtlich-traurigen, bald ungestüm-kühnen Töne vermengten sich miteinander und flossen so schön, so stark und so unbewußt dahin, daß man sie nicht mehr als Töne, sondern als einen in die Seelen dringenden herrlichen Strom einer längst bekannten, doch zum ersten Male ausgesprochenen Poesie empfand. Mit jeder Note schien Albert höher zu steigen. Er schien jetzt weder grotesk noch sonderbar. Er drückte sein Kinn hart an die Geige, lauschte mit dem Ausdrucke leidenschaftlicher Aufmerksamkeit seinen eigenen Tönen und bewegte krampfartig die Beine. Bald reckte er sich in die Höhe, bald krümmte er wie vor Anstrengung den Rücken. Die gespannte Linke schien in ihrer gekrümmten Lage erstarrt zu sein, und nur ihre knochigen Finger griffen zitternd in die Saiten. Die Rechte bewegte sich elegant, fließend und kaum merklich. Das Gesicht strahlte in ununterbrochener Begeisterung und Freude. In den Augen brannte ein helles trockenes Feuer, die Nüstern blähten sich, die roten Lippen waren wollüstig geöffnet.

Zuweilen neigte sich der Kopf tiefer über die Geige, die Augen schlossen sich, und das vom langen Haar halb verdeckte Gesicht strahlte in einem milden und glückseligen Lächeln. Zuweilen reckte er sich empor, stellte einen Fuß vor, und dann leuchtete seine reine Stirne und sein strahlender Blick, den er im Saale umherschweifen ließ, stolz, majestätisch und machtbewußt. An einer Stelle machte der Klavierspieler einen Fehler. Das Gesicht und die ganze Gestalt des Musikers verzerrten sich in unsagbarer Qual. Er hielt eine Sekunde inne, stampfte mit dem Fuß und rief mit dem Ausdruck eines beleidigten Kindes: »Moll, C-Moll!« Der Klavierspieler verbesserte sich. Albert schloß die Augen, lächelte, vergaß sich, seine Zuhörer und die ganze Welt und gab sich wieder ganz seinem Spiele hin.

Alle, die im Saal waren, schwiegen, solange Albert spielte, in tiefer Ehrfurcht; alle schienen nur in diesen Tönen zu leben und zu atmen.

Der lustige Offizier saß unbeweglich, den leblosen Blick zu Boden gesenkt, auf einem Stuhl am Fenster und atmete schwer und langsam. Die Mädchen saßen stumm an den Wänden und warfen einander entzückte, sogar bestürzte Blicke zu. Das dicke, volle, lachende Gesicht der Wirtin schwamm in höchster Wonne. Der Klavierspieler hatte seinen Blick in das Gesicht Alberts gebohrt, und sein ganzes Wesen drückte die fieberhafte Angst aus, wieder vorbeizugreifen. Einer der Gäste, der mehr als die übrigen getrunken hatte, lag ausgestreckt auf dem Sofa und gab sich die größte Mühe, seine Erregung nicht zu verraten. Delessow hatte ein ganz ungewöhnliches Gefühl. Ein kalter Reifen, der bald enger, bald weiter wurde, umklammerte seinen Kopf. Die Haarwurzeln wurden empfindlich, oben am Rücken überlief es ihn kalt, die Kälte stieg immer höher und höher zum Halse empor und stach wie mit feinen Nadeln Nase und Gaumen; Tränen, die er gar nicht merkte, liefen ihm die Wangen hinunter. Er schüttelte sich, suchte die Tränen gleichsam wieder in die Augen einzuziehen, trocknete sie, aber immer neue traten hervor und flossen ihm über die Wangen. Durch eine seltsame Verkettung der Eindrücke fühlte sich Delessow gleich bei den ersten Tönen, die Albert seiner Geige entlockte, in seine früheste Jugend zurückversetzt. Er, der jetzt gealtert, müde und abgelebt war, fühlte sich plötzlich als ein siebzehnjähriges selbstbewußt-schönes, selig-dummes und unbewußt-glückliches Wesen. Seine erste Liebe fiel ihm ein – eine rosa gekleidete Cousine, sein erstes Liebesgeständnis in einer Lindenallee, das Feuer und das unergründliche Geheimnis der Natur, die ihn damals umgab. Er sah mit seinen in die Vergangenheit versenkten Blicken sie in einem Nebel unbestimmter Hoffnungen, unverstandener Gelüste und eines unerschütterlichen Glaubens an die Möglichkeit eines unmöglichen Glückes schweben. Alle Minuten, die damals so wenig Wert hatten, lebten wieder auf, aber nicht mehr als bedeutungslose Augenblicke einer entrinnenden Gegenwart, sondern als unvergeßliche, sich dehnende, vorwurfsvolle Bilder der Vergangenheit. Er betrachtete sie mit Entzücken und weinte, weinte nicht um die entschwundene Zeit, die er besser hätte verwenden können (denn wäre ihm jene Zeit zurückgegeben worden, so hätte er sie gar nicht besser verwenden können); er weinte nur, weil die Zeit entschwunden war und nie wiederkehren würde. Die Erinnerungen kamen ihm eine nach der anderen, ungerufen, während Alberts Geige immer dasselbe sagte. Sie sagte: »Die Zeit der Kraft, der Liebe und des Glücks ist für dich vergangen und kehrt nie, nie wieder. Weine um sie, weine alle deine Tränen aus, stirb in Tränen um jene Zeit – das ist das einzige Glück, das dir noch geblieben ist.«

Am Schluß der letzten Variation wurde Alberts Gesicht rot, die Augen glühten, und große Schweißtropfen flossen ihm die Wangen hinunter. Die Adern an seiner Stirn schwollen an, sein ganzer Körper geriet immer mehr in Bewegung, die blassen Lippen schlossen sich nicht mehr, und seine ganze Gestalt drückte Gier und Genuß aus.

Plötzlich ging durch seinen ganzen Körper ein heftiges Beben, er schüttelte seine Haarmähne, senkte die Geige und musterte mit einem stolzen und glücklichen Lächeln seine Zuhörer. Dann krümmte sich sein Rücken wieder, der Kopf sank, die Lippen schlossen sich, die Augen erloschen, und er ging, verschämt und scheu um sich blickend, mit schwankenden Schritten ins andere Zimmer.

III

Etwas Sonderbares war mit allen Zuhörern vorgegangen, etwas Sonderbares lag in dem tiefen Schweigen, das dem Spiele Alberts folgte. Als hätte jeder das Verlangen, den Sinn des Ganzen auszusprechen und fände die Worte nicht. Was hatte denn das Ganze zu bedeuten: ein heißer, hell erleuchteter Saal, schöne Frauen, Morgendämmerung in den Fenstern, erhitztes Blut und der reine Eindruck verklungener Töne? Niemand aber versuchte zu erklären, was es bedeutete; im Gegenteil, fast alle fühlten ihre Unfähigkeit, sich ganz der neuen Stimmung hinzugeben, und lehnten sich daher gegen sie auf.

»Er spielt wirklich gut!« sagte der Offizier.

»Wunderbar!« sagte Delessow, indem er verstohlen mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen wischte.

»Es ist übrigens Zeit zum Aufbrechen,« meinte der Herr, der auf dem Sofa lag und sich inzwischen etwas erholt hatte.

»Wir sollten ihm etwas geben, meine Herren, machen wir gleich eine Kollekte.«

Albert saß indessen im Nebenzimmer auf einem Sofa. Die Ellbogen auf die knochigen Knie gestützt, fuhr er sich mit den schmutzigen Händen über Gesicht und Haar und lächelte selig vor sich hin.

Die Kollekte ergab sehr viel. Delessow sollte ihm das Geld übergeben.

Delessow, auf den das Geigenspiel einen so starken und ungewohnten Eindruck gemacht hatte, wollte sich diesem Menschen noch besonders erkenntlich zeigen. Er wollte ihn zu sich nehmen, ihn neu bekleiden und ihm zu irgendeiner Existenz verhelfen, mit einem Worte: ihn aus seiner jämmerlichen Lage herausreißen.

»Nun, sind Sie müde?« fragte Delessow, sich ihm nähernd.

Albert lächelte nur.

»Sie haben entschieden Talent, Sie sollten sich ernsthaft mit Musik beschäftigen und auch öffentlich auftreten.«

»Ich will etwas trinken,« sagte Albert, wie aus einem Traume erwachend.

Delessow brachte Wein, und der Musiker stürzte gierig zwei Glas herunter.

»Der Wein ist gut!« sagte er.

»Wie schön ist doch diese Mélancolie!« bemerkte Delessow.

»Ja, ja, gewiß,« antwortete Albert lächelnd, »aber entschuldigen Sie, ich weiß nicht, mit wem ich die Ehre habe; vielleicht sind Sie Graf, oder gar Fürst: könnten Sie mir nicht etwas Geld borgen?« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich habe nichts, ich bin arm. Ich werde es Ihnen nie zurückgeben können.«

Delessow errötete. Er hatte ein peinliches Gefühl und beeilte sich, dem Musiker das eingesammelte Geld zu übergeben.

»Ich danke bestens,« sagte Albert, indem er das Geld einsteckte. »Wir wollen jetzt wieder musizieren. Ich will Ihnen vorspielen, so viel Sie wollen. Zuerst muß ich noch etwas trinken.« Er erhob sich.

Delessow brachte ihm noch Wein und bat ihn, neben ihm Platz zu nehmen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich aufrichtig werde,« sagte Delessow. »Ihr Talent hat mich in Erstaunen versetzt. Ich glaube, Sie befinden sich in einer mißlichen Lage?«

Albert blickte abwechselnd auf Delessow und auf die Wirtin, die soeben ins Zimmer getreten war.

»Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Dienste anbiete,« fuhr Delessow fort. »Wenn es Ihnen schlecht geht, so nehmen Sie doch eine Zeitlang bei mir Wohnung. Es wird mich sehr freuen. Ich wohne ganz allein und kann Ihnen vielleicht irgendwie nützlich sein.«

Albert lächelte und sagte nichts.

»Warum bedanken Sie sich nicht?« sagte die Wirtin. »Es ist ja für Sie selbstverständlich eine große Wohltat. – Ich möchte Ihnen aber davon abraten,« wandte sie sich kopfschüttelnd an Delessow.

»Ich danke Ihnen ergebenst!« sagte Albert, die Hand Delessows mit seinen feuchten Händen drückend. »Jetzt wollen wir aber musizieren. Bitte!«

Doch die übrigen Gäste kamen aus dem Saal ins Vorzimmer und wollten, trotz Alberts Zureden, aufbrechen.

Albert nahm von der Wirtin Abschied, setzte sich einen abgeschabten, breitkrempigen Hut auf, warf sich seinen alten leichten Almaviva, der seine ganze Wintergarderobe ausmachte, um die Schultern und trat zugleich mit Delessow in den Flur.

Als Delessow mit seinem neuen Bekannten im Wagen Platz genommen hatte und den unangenehmen Geruch von Schnaps und Schmutz, den der Musiker ausströmte, spürte, begann er sein Vorhaben zu bereuen und sich seine kindliche Weichherzigkeit und seinen Leichtsinn vorzuwerfen. Alles, was Albert sprach, war so albern und abgeschmackt, und seine Trunkenheit äußerte sich in der frischen Luft so widerlich, daß Delessow ein Gefühl von Ekel verspürte. »Was werde ich nun mit ihm anfangen?« fragte er sich.

Nach einer Viertelstunde wurde Albert plötzlich ruhig, sein Hut fiel ihm vom Kopf, er selbst rutschte in eine Ecke des Wagens und schlief ein. Die Wagenräder knirschten eintönig auf dem hartgefrorenen Schnee. Durch die beschlagenen Wagenfenster drang das fahle, schwache Morgenlicht.

Delessow betrachtete seinen Gefährten. Der hagere Körper lag, vom leichten Mantel kaum verhüllt, zu seinen Füßen. Der spitze Kopf mit der großen dunklen Nase schien hin und her zu pendeln; als er genauer hinsah, merkte er, daß das, was er für Gesicht und Nase hielt, nur das Haar war; das wirkliche Gesicht lag viel tiefer. Er neigte sich vor und musterte Alberts Züge. Da wurde er wieder von der Schönheit der Stirne und der friedlich gefalteten Lippen ergriffen.

Unter dem Einfluß der abgespannten Nerven, der ungewohnt frühen Morgenstunde, der in ihm noch nachklingenden Musik und des Anblicks von Alberts Gesichtszügen fühlte er sich plötzlich wieder in jene selige Welt versetzt, in die er heute nacht hineingeblickt hatte; er mußte wieder an das Glück und die Großmut seiner Jugendzeit denken, und da bereute er sein Vorhaben nicht mehr. In diesem Augenblick liebte er Albert heiß und innig, und er faßte den festen Entschluß, ihm zu helfen.

IV

Als Delessow am nächsten Morgen geweckt wurde, um in den Dienst zu gehen, war er durch den Anblick seiner alten spanischen Wand, seines alten Dieners und der Uhr auf dem Nachttisch unangenehm überrascht. »Was wünschte ich mir denn beim Aufwachen zu sehen, wenn nicht das, was mich immer umgibt?« fragte er sich. Da fielen ihm die schwarzen Augen und das selige Lächeln des Musikers ein; die Töne der Mélancolie und alle Eindrücke der seltsamen Nacht gingen ihm wieder durch den Kopf.

Er hatte aber keine Zeit, zu überlegen, ob er vernünftig oder unvernünftig gehandelt hatte, als er den Musiker nach Hause mitnahm. Während des Ankleidens setzte er sich seine Tagesordnung fest, nahm dann seine Aktentasche, gab dem Diener die nötigen Anweisungen und zog rasch Mantel und Galoschen an. Im Vorbeigehen schaute er noch in das Speisezimmer hinein. Albert lag in einem zerrissenen, schmutzigen Hemd, das Gesicht in das Kissen gedrückt, auf dem Ledersofa, auf das man ihn gestern, als er sinnlos berauscht war, hingelegt hatte. Delessow überkam ein peinliches Gefühl.

»Geh später zu Borjusowskij hinüber«, sagte er dem Diener, »und bitte ihn, er möchte mir seine Geige für zwei, drei Tage hergeben. Wenn der Herr da erwacht, bring ihm Kaffee und gib ihm etwas von meiner Wäsche und einen alten Anzug. Und sieh, bitte, daß ihm nichts fehlt.«

Als er spät abends heimkam, fand er zu seiner Verwunderung Albert nicht mehr vor.

»Wo ist er denn?« fragte er den Diener.

»Gleich nach dem Mittagessen ist der Herr fortgegangen,« gab dieser zur Antwort. »Er nahm die Geige mit und versprach, in einer Stunde zurückzukommen. Nun ist er doch nicht zurückgekommen.«

»Hm, hm, schade!« sagte Delessow. »Warum hast du ihn fortgehen lassen, Sachar?«

Sachar war ein echter Petersburger Lakai und seit acht Jahren in Delessows Diensten. Delessow, ein alleinstehender Junggeselle, machte ihn, wie es so geht, zum Vertrauten seiner Absichten und erkundigte sich immer nach seiner Meinung über alles, was er unternahm.

»Wie hätte ich ihn nicht fortgehen lassen sollen?« antwortete Sachar, mit dem an seiner Urkette baumelnden Petschaft spielend. »Hätten Sie es mir, Dmitrij Iwanowitsch, gesagt, daß ich ihn zurückhalten soll, so wäre er noch da. Sie haben mir aber nur den einen Auftrag wegen der Kleidung gegeben.«

»Hm, schade! Was hat er hier allein getrieben?«

Sachar schmunzelte.

»Das nenne ich einen wirklichen Künstler, Dmitrij Iwanowitsch. Gleich als er erwachte, verlangte er Madeira, dann unterhielt er sich mit unserer Köchin und mit einem Diener aus der Nachbarschaft. So komisch ist der Herr ... Hat aber einen guten Charakter. Ich brachte ihm Tee und dann das Mittagessen; er wollte nicht allein essen, forderte mich immer auf, mitzuessen. Wie er aber Geige spielt! Solche Künstler hat selbst Isler nicht. So einen Menschen kann man schon wirklich bei sich behalten. Wie er uns das Lied vom Mütterchen Wolga spielte! Das klang wie Weinen. Es war sogar zu schön! Aus allen Stockwerken kamen die Leute zu uns in den Flur, um ihn zu hören.«

»Nun, hast du ihn irgendwie bekleidet?« unterbrach ihn Delessow.

»Freilich, ich gab ihm Ihr Nachthemd und meinen Mantel. Einem solchen Menschen soll man wirklich helfen. Es ist ein wirklich lieber Mensch!« Sachar lächelte. »Er fragte mich immer aus, was für einen Rang Sie haben, ob Sie vornehme Bekannte haben und wieviel Leibeigene Sie besitzen.«

»Gut. Jetzt muß man ihn suchen gehen. In der Zukunft sollst du ihm aber nichts zu trinken geben, sonst schadest du ihm noch mehr.«

»Es ist ja wahr,« sagte Sachar, »er scheint von schwacher Gesundheit zu sein. Mein früherer Herr hatte einen Verwalter, der auch so war ...«

Delessow kannte längst die Geschichte von diesem Verwalter. Er ließ daher Sachar nicht zu Ende sprechen und befahl ihm, sofort das Schlafzimmer in Ordnung zu bringen und dann auf die Suche nach Albert zu gehen.

Er ging zu Bett, löschte das Licht aus, konnte aber lange Zeit nicht einschlafen: er mußte immer an Albert denken. »Das Ganze wird zwar meinen Bekannten etwas sonderbar erscheinen,« dachte Delessow, »doch tun wir so selten etwas für einen andern, daß man wirklich Gott danken muß, wenn man einmal Gelegenheit dazu hat. Ich will wirklich alles, alles tun, um ihm zu helfen. Vielleicht ist er gar nicht verrückt, sondern nur versoffen. Es wird mich auch nicht viel kosten: wo ein Mensch genug hat, da werden auch zwei satt. Er wird vorläufig bei mir wohnen, dann will ich ihm eine Stelle verschaffen oder für ihn ein Konzert veranstalten; wenn er einmal auf den Damm kommt, werden wir das weitere schon sehen.«

Diese Gedanken verschafften ihm ein angenehmes Gefühl von Befriedigung.

»Ich bin wirklich kein schlechter Mensch,« dachte er weiter, »ich bin sogar ein guter Mensch, wenn ich mich mit den andern vergleiche ...«

Er war bereits im Einschlafen, als er das Knarren einer Tür und Schritte im Vorzimmer hörte.

»Jetzt will ich einmal mit ihm streng sein,« sagte er sich, »so wird es auch für ihn besser sein.«

Er schellte. Sachar kam ins Schlafzimmer.

»Nun, hast du ihn gebracht?«

»Ein elender Mensch ist er, Dmitrij Iwanowitsch,« sagte Sachar mit bedeutungsvollem Kopfschütteln.

»Ist er betrunken?«

»Ganz schwach ist er.«

»Hat er die Geige bei sich?«

»Ich hab sie mitgebracht, die Wirtin hat sie mir gegeben.«

»Laß ihn jetzt, bitte, nicht zu mir herein, bring ihn zu Bett und laß ihn morgen nicht aus dem Hause.«

In diesem Augenblick trat aber Albert ins Zimmer.

V

»Was, Sie wollen schon schlafen?« sagte Albert lächelnd. »Ich war heute wieder bei Anna Iwanowna; ich habe mich da gut unterhalten: es wurde Musik gemacht und viel gelacht, eine sehr angenehme Gesellschaft war da. Geben Sie mir, bitte, etwas zu trinken,« sagte er, die auf dem Nachttisch stehende Wasserkaraffe ergreifend, »nur kein Wasser.«

Albert sah genau so aus wie gestern: das gleiche schöne Lächeln der Augen und der Lippen, dieselbe klare, geniale Stirne und die zarten, schwachen Glieder. Sachars Mantel paßte ihm vorzüglich. Der weite, weiche Kragen des Nachthemdes stand wunderschön zu seinem feinen, weißen Hals und verlieh ihm etwas Knabenhaftes, Unschuldiges. Er setzte sich auf den Bettrand zu Delessow und blickte ihn freudig und dankbar an. Delessow erwiderte diesen Blick und fühlte sich sofort in der Gewalt der strahlenden, lächelnden Augen. Er hatte keine Lust mehr zu schlafen und vergaß sein Vorhaben, streng zu sein; er wollte vielmehr lustig sein, Musik hören und die ganze Nacht mit Albert plaudern. Er ließ Sachar eine Flasche Wein, Zigaretten und die Geige bringen.

»So ist es schön,« sagte Albert, »es ist noch früh: wir wollen musizieren, ich werde Ihnen vorspielen, so viel Sie wollen.«

Mit sichtbarer Freude brachte Sachar eine Flasche Lafitte mit zwei Gläsern, eine Schachtel leichter Zigaretten, die Albert rauchte, und die Geige. Statt zu Bett zu gehen, wie ihm Delessow befahl, steckte er sich eine Zigarette an und ging ins Nebenzimmer.

»Wir wollen lieber plaudern,« sagte Delessow zu dem Musiker, der bereits die Geige ergriffen hatte.

Albert setzte sich gehorsam auf den Bettrand und lächelte Delessow wieder freudig zu.

»Ach ja!« sagte er plötzlich, sich an die Stirne schlagend und einen neugierigen und bekümmerten Gesichtsausdruck annehmend. (Sein Gesicht drückte immer schon vorher aus, was er sich zu sagen anschickte.) »Gestatten Sie die Frage ...« Er machte eine Pause. »Ist der Herr N. von gestern abend ... Ich hörte, wie Sie ihn N. nannten, ist er nicht der Sohn des berühmten N.?«

»Ja, er ist sein Sohn,« erwiderte Delessow, der nicht begreifen konnte, warum dies Albert so sehr interessierte.

»Ich hab es mir gleich gedacht,« sagte Albert mit einem selbstzufriedenen Lächeln. »Ich habe nach seinen Manieren geschlossen, daß er Aristokrat ist. Ich schwärme für Aristokraten: sie haben immer etwas Schönes, Elegantes in ihrem Wesen. Der Offizier, der so gut tanzte, hat mir auch so gut gefallen; er ist so lustig und vornehm. Ist es nicht der Adjutant N.N.?«

»Welchen meinen Sie?« fragte Delessow.

»Den Offizier, der mich beim Tanzen gestoßen hatte. Er scheint ein außerordentlich lieber Mensch zu sein.«

»Im Gegenteil, ein ganz unbedeutender Bursche.«

»Ach nein!« Albert trat warm für den Offizier ein. »Er hat etwas Angenehmes in seinem Wesen. Auch ist er sehr musikalisch: er hat dort etwas aus einer Oper vorgespielt. Seit langer Zeit hat mir niemand so gut gefallen wie er.«

»Ja, er spielt recht gut, aber sein Spiel ist nicht nach meinem Geschmack,« sagte Delessow, in der Absicht, Albert in ein Gespräch über Musik zu verwickeln. »Er versteht von der klassischen Musik rein nichts. Donizetti und Bellini – das ist doch keine Musik! Sie sind gewiß der gleichen Meinung?«

»O nein, durchaus nicht, Sie müssen mir schon verzeihen,« begann Albert sanft und verteidigend: »Die alte Musik – ist Musik, und auch die neue Musik – ist Musik. Auch in der neuen gibt es große Schönheiten: Ist die ›Somnambule‹ etwa nicht herrlich?! Und das Finale von ›Lucia‹?! und Chopin?! und ›Robert‹?! Ich denke mir oft ...« hier machte er eine Pause, um seine Gedanken zu sammeln, »wenn Beethoven heute lebte und die ›Somnambule‹ hören könnte, so würde er vor Freude weinen. Überall gibt es herrliche Stellen. Ich habe die ›Somnambule‹ zum ersten Male gehört, als die Viardot und Rubini hier waren, das war einfach ...« rief er mit leuchtenden Augen und machte mit beiden Händen eine Bewegung, als ob er etwas aus seiner Brust herausreißen wollte. »Es hat wenig gefehlt, ich hätte es einfach nicht ausgehalten.«

»Nun, und wie finden Sie die Oper jetzt?« fragte Delessow.

»Die Bozio ist gut, sie ist ungewöhnlich gut, aber hier fehlt es,« er zeigte auf seine eingefallene Brust. »Sie rührt einen nicht. Eine Sängerin muß leidenschaftlich sein, sie hat aber kein Temperament. Sie erfreut einen, aber sie rührt nicht.«

»Nun, und Lablache?«

»Ich habe ihn einmal in Paris im ›Barbier von Sevilla‹ gehört, damals war er einzig in seiner Art ... Heute ist er zu alt. Er sollte nicht mehr auftreten, er ist zu alt.«

»Was macht es, daß er alt ist? In den morceaux d'ensemble ist er noch immer vorzüglich,« sagte Delessow, der stets diese Ansicht äußerte, wenn die Rede auf Lablache kam.

»Sie finden, daß es nichts macht?« entgegnete Albert mit strenger Miene. »Er darf nicht alt sein. Ein Künstler darf nicht alt sein. Um Künstler zu sein, bedarf man allerlei, vor allen Dingen aber – Feuer!« Er sagte dies mit leuchtenden Augen und emporgehobenen Armen.

Sein ganzes Wesen schien wirklich von einem unheimlichen inneren Feuer zu glühen.

»Mein Gott!« sagte er ganz unvermittelt. »Kennen Sie den Maler Petrow?«

»Nein, ich kenne ihn nicht,« erwiderte Delessow lächelnd.

»Ich möchte gar zu gern, daß Sie ihn kennen lernen! Es wird Ihnen ein großer Genuß sein, sich mit ihm zu unterhalten! Wie er das Wesen der Kunst versteht! Ich traf ihn früher oft bei Anna Iwanowna, aber jetzt ist sie ihm aus irgendeinem Grunde böse. Ich möchte wirklich, daß Sie ihn kennen lernen. Er ist hervorragend talentiert.«

»Malt er Bilder?« fragte Delessow.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, nein. Aber er war einmal an der Akademie. Was er für Gedanken hat! Manchmal sagt er ganz ungewöhnliche Dinge. Ja, dieser Petrow ist außerordentlich talentiert, aber er führt ein gar zu lustiges Leben ... Es ist schade um ihn,« fügte Albert lächelnd hinzu. Gleich darauf erhob er sich vom Bettrand, nahm die Geige und begann sie zu stimmen.

»Wann waren Sie zuletzt in der Oper?« fragte Delessow.

Albert blickte verlegen auf und seufzte.

»Ach, ich kann nicht mehr!« rief er aus, sich an den Kopf greifend. Er setzte sich wieder zu Delessow. »Ich will es Ihnen sagen,« flüsterte er, »ich kann nicht mehr in die Oper gehen, ich kann dort nicht mehr spielen, ich habe nichts, gar nichts! Ich habe keine Kleider, keine Wohnung, keine Geige! Ein elendes Leben! Ein elendes Leben! Wozu sollte ich auch in die Oper gehen? Wozu? Nein!« sagte er lächelnd. »Doch dieser ›Don Juan!‹«

Er schlug sich an den Kopf.

»Wir wollen doch einmal zusammen hingehen,« schlug Delessow vor.

Albert gab keine Antwort. Er sprang auf, ergriff die Geige und begann das Finale des ersten Aktes von »Don Juan« zu spielen. Gleichzeitig erklärte er die Handlung der Oper.

Delessow standen die Haare zu Berge, als Albert auf seiner Geige die Stimme des sterbenden Komturs spielte.

»Nein, heute kann ich nicht spielen,« sagte er, die Geige weglegend; »ich habe zu viel getrunken.«

Und gleich darauf ging er zum Tisch und schenkte sich ein Glas Wein ein. Er stürzte es hinunter und setzte sich wieder zu Delessow.

Delessow sah ihn die ganze Zeit unverwandt an; Albert lächelte ab und zu, und dann lächelte auch Delessow. Beide schwiegen, doch die Blicke und das Lächeln brachten die beiden Menschen immer näher aneinander. Delessow fühlte, wie er diesen Menschen mehr und mehr liebgewann, und das machte ihn glücklich.

»Waren Sie schon einmal verliebt?« fragte er ihn plötzlich.

Albert wurde für einige Augenblicke nachdenklich. Dann erstrahlte sein Gesicht in einem traurigen Lächeln. Er neigte sich zu Delessow und blickte ihm aufmerksam in die Augen.

»Warum fragen Sie mich danach?« flüsterte er. »Doch ich will Ihnen alles erzählen, denn Sie gefallen mir.« Hier machte er eine Pause. »Ich will Sie nicht anlügen, ich will Ihnen alles von Anfang an erzählen.« Er hielt wieder inne. Seine Augen nahmen einen seltsamen, wilden Ausdruck an. »Sie wissen, daß ich hier«, er zeigte auf seine Stirne, »etwas schwach bin. Anna Iwanowna hat es Ihnen gewiß erzählt. Sie erzählt allen, ich sei verrückt! Das ist nicht wahr. Sie sagt es ja nur im Scherz, sie ist eine gute Frau. Aber seit einiger Zeit bin ich wirklich etwas krank.« Er machte wieder eine Pause und starrte mit unbeweglichen, weitaufgerissenen Augen auf die finstere Türe. »Sie fragten, ob ich je verliebt war? Ja, ich war verliebt.« Er hob die Brauen und flüsterte: »Das war, als ich noch die Stelle am Theater hatte. Ich spielte die zweite Violine im Opernorchester, und sie hatte eine Parterreloge links.«

Albert stand auf und neigte sich zu Delessows Ohr.

»Nein, ich will ihren Namen nicht nennen,« sagte er. »Sie kennen sie gewiß, alle kennen sie. Ich sah sie nur schweigend an, ich wußte, daß ich nur ein armer Musiker und sie eine vornehme Dame war. Ich wußte es ganz genau. Ich sah sie nur an und machte mir keine Gedanken.«

Er schwieg, in Erinnerungen versunken. Dann fuhr er fort:

»Ich weiß nicht mehr, wie es kam. Einmal wurde ich zu ihr eingeladen, um sie auf der Geige zu begleiten ... Aber was, ich bin ja ein armer Künstler!« er schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich habe kein Talent zum Erzählen, ich kann es nicht ...« Er griff sich an den Kopf. »Wie glücklich war ich!«

»Nun, waren Sie oft bei ihr?« fragte Delessow.

»Einmal, nur ein einziges Mal ... Ich war selbst schuld, ich war verrückt. Ich war ein armer Musiker und sie eine Aristokratin. Ich hätte ihr nichts sagen sollen. Aber ich war verrückt, ich habe Dummheiten gemacht. Seit jenem Tag ist für mich alles vorbei. Petrow hat recht: es wäre besser, wenn ich sie nur im Theater gesehen hätte ...«

»Was haben Sie denn eigentlich angestellt?« fragte Delessow.

»Ach, lassen Sie, lassen Sie, ich kann es Ihnen nicht erzählen.«

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Nach einer Pause fuhr er fort:

»Ich kam sehr spät ins Orchester. Ich hatte an jenem Abend mit Petrow gezecht und war etwas aufgeregt. Sie saß in ihrer Loge und unterhielt sich mit einem General. Ich weiß nicht, wer dieser General war. Sie saß ganz vorne, und ihre Hand lag auf der Brüstung; sie hatte ein weißes Kleid an und Perlen um den Hals. Sie sprach mit ihm und sah auf mich. Zweimal blickte sie mich an. Sie hatte so eine Frisur,« er machte eine Handbewegung. »Ich stand bei den Bässen und spielte nicht; ich sah sie nur immer an. Da hatte ich zum ersten Mal das seltsame Gefühl. Sie lächelte dem General zu und blickte mich wieder an. Ich fühlte, daß sie von mir sprach, und ich gewahrte plötzlich, daß ich mich nicht mehr im Orchester befand, sondern in ihrer Loge stand und ihre Hand, hier an dieser Stelle, hielt. – Was war nun das?« fragte Albert nach einer Pause.

»Starke Einbildungskraft,« versetzte Delessow.

»Nein, nein ... Ich habe ja kein Talent zum Erzählen,« sagte Albert mit gequältem Gesichtsausdruck. »Ich war auch damals arm, hatte keine Wohnung und blieb oft im Theater über Nacht.«

»Wie! Im Theater? Im leeren, finstern Saal?«

»Ach, ich fürchte mich nicht vor solchen Dummheiten. Ja, hören Sie. Sobald das Theater leer wurde, ging ich in die Parterreloge, wo sie zu sitzen pflegte, um dort zu schlafen. Das war meine einzige Freude. Was für Nächte habe ich da verlebt! Einmal ging es mit mir wieder los. In einer Nacht habe ich im Geiste vieles durchgemacht, ich kann Ihnen aber nicht viel davon erzählen.« Albert senkte die Augen und blickte Delessow an. »Was war nun das?« fragte er.

»Seltsam!« sagte Delessow.

»Nein, nein, hören Sie weiter!« Er flüsterte Delessow ins Ohr. »Ich küßte ihre Hand, weinte an ihrer Seite und sprach viel mit ihr. Ich spürte den Duft ihres Parfüms, ich hörte ihre Stimme. Sie hat mir in dieser einen Nacht so vieles erzählt. Dann nahm ich die Geige und begann leise zu spielen. Ich spielte gut. Doch ich bekam Angst. Ich fürchte mich nicht vor solchen Dummheiten und glaube an nichts; aber ich bekam Angst um meinen Kopf,« er lächelte und berührte seine Stirne, »um meinen armen Verstand; mir schien, in meinem Kopfe wäre plötzlich etwas vorgegangen. Vielleicht hat das alles nichts zu bedeuten? Was glauben Sie?«

Beide schwiegen. Dann sang Albert mit stillem Lächeln:

»Und ob die Wolke sie verhülle,
Die Sonne bleibt am Himmelszelt ...

Nicht wahr?

Ich auch habe gelebt und genossen ...

Ja, der alte Petrow hätte Ihnen alles so gut erklärt!«

Delessow betrachtete entsetzt das erregte und blasse Gesicht Alberts.

»Kennen Sie den Juristenwalzer?« rief Albert ganz unvermittelt. Ohne die Antwort abzuwarten, ergriff er die Geige und spielte den lustigen Walzer. Er vergaß alles, stellte sich wohl vor, ein ganzes Orchester spiele mit ihm mit; er lachte und bewegte die Beine im Walzertakt. Er spielte vorzüglich.

»Jetzt ists genug!« sagte er, das Spiel abbrechend und die Geige schwenkend. Er saß eine Weile ruhig und sagte dann: »Ich geh hin! Und Sie?«

»Wohin denn?« fragte Delessow verwundert.

»Gehen wir doch zu Anna Iwanowna! Dort ist es lustig: Musik, Lärm, viele Leute ...«

Im ersten Augenblick wollte Delessow darauf eingehen. Doch er besann sich und riet auch Albert ab, heute noch auszugehen.

»Ich will ja nur hineinschauen.«

»Nein, bitte, gehen Sie nicht!«

Albert seufzte und legte die Geige weg.

»Soll ich also bleiben?«

Er schielte auf den Tisch: die Weinflasche war leer. Dann wünschte er gute Nacht und verließ das Zimmer.

Delessow schellte. Als Sachar kam, sagte er ihm:

»Laß Herrn Albert nicht aus dem Hause, ohne mich zu fragen.«

VI

Der nächste Tag war ein Feiertag. Delessow saß im Gastzimmer beim Morgenkaffee und las ein Buch. Im Speisezimmer, wo Albert schlief, regte sich noch nichts.

Sachar öffnete vorsichtig die Türe und schaute ins Speisezimmer hinein.

»Hätten Sie es für möglich gehalten, Dmitrij Iwanowitsch: er schläft auf dem bloßen Sofa! Wollte kein Bettzeug haben, bei Gott! Wie ein kleines Kind. Ein echter Künstler!«

Erst gegen zwölf Uhr hörte man ihn ächzen und husten.

Sachar ging wieder ins Speisezimmer; Delessow hörte sein freundliches Zureden und die schwache, flehende Stimme Alberts.

»Nun?« fragte Delessow Sachar, als dieser wiederkam.

»Er ist so traurig, Dmitrij Iwanowitsch; will sich nicht waschen und verlangt nur etwas zu trinken.«

»Nein,« sagte sich Delessow, »ich muß schon Charakter zeigen, wenn ich es mir einmal vorgenommen habe.«

Er schärfte Sachar noch einmal ein, Albert ja keinen Wein zu geben, und nahm sein Buch wieder vor. Unwillkürlich horchte er immer zum Speisezimmer hinüber. Dort war alles still, nur ab und zu hörte er Albert schwer husten und spucken. Nach zwei Stunden, als Delessow angekleidet und zum Ausgehen bereit war, schaute er bei Albert nach. Dieser saß unbeweglich am Fenster, den Kopf in die Hände gestützt. Er wandte sich um. Sein Gesicht war gelb, runzelig und nicht nur traurig, sondern tief unglücklich. Er versuchte Delessow mit einem Lächeln zu begrüßen, aber sein Gesichtsausdruck wurde dadurch noch trister. Es schien, er könnte weinen. Er stand mit Mühe auf und machte eine Verbeugung.

»Wenn ich nur ein Gläschen gewöhnlichen Schnaps haben könnte ...« sagte er bettelnd. »Ich bitte! Ich bin so schwach ...«

»Kaffee wird Ihnen besser tun. Hören Sie doch meinen Rat!«

Der kindliche Ausdruck verschwand plötzlich aus Alberts Gesicht. Sein Blick wurde kalt und trüb. Er wandte sich wieder zum Fenster und ließ sich auf den Stuhl fallen.

»Wollen Sie denn nicht frühstücken?«

»Nein, danke, ich habe keinen Appetit.«

»Wenn Sie Geige spielen wollen, so spielen Sie nur: Sie stören mich nicht im geringsten.« Delessow legte die Geige vor ihn auf den Tisch.

Albert sah die Geige verächtlich an.

»Nein, ich bin zu schwach. Ich kann nicht spielen,« sagte er, die Geige wegschiebend.

Was ihm Delessow auch sagen mochte – er schlug ihm vor, zusammen auszugehen oder abends das Theater zu besuchen – Albert lehnte alles schweigend ab. Delessow ging allein aus, er machte einige Besuche, speiste bei Bekannten zu Mittag und kam noch abends vor dem Theater heim, um sich umzukleiden und nach Albert zu sehen. Albert saß im finsteren Vorzimmer, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte in den brennenden Ofen. Er war sauber gekleidet, gewaschen und gekämmt. Aber seine Augen waren trüb und leblos, und sein ganzes Wesen drückte eine noch größere Schwäche und Niedergeschlagenheit aus als am Morgen.

»Nun, haben Sie zu Mittag gegessen, Herr Albert?« fragte Delessow.

Albert nickte bejahend. Er blickte erschrocken auf und schlug sofort die Augen nieder. Delessow wurde verlegen.

»Ich habe heute den Direktor gesprochen,« sagte er, indem er gleichfalls die Augen niederschlug. »Er will Sie gerne empfangen, wenn Sie ihm etwas vorspielen wollen.«

»Ich danke, ich kann nicht spielen,« murmelte Albert vor sich hin. Er stand auf, ging in sein Zimmer und schloß ganz leise die Tür.

Nach einigen Minuten ging die Türe ebenso leise auf, und Albert kam mit der Geige. Er warf Delessow einen raschen, bösen Blick zu, legte die Geige auf einen Stuhl hin und verschwand wieder.

Delessow zuckte die Achseln und lächelte. »Was kann ich denn noch tun? Was habe ich verbrochen?« fragte er sich.

»Nun, wie stehts mit dem Musiker?« war seine erste Frage, als er spät abends heimkehrte.

»Schlimm!« gab Sachar kurz und laut zur Antwort. »Er seufzt immer, hustet und spricht kein Wort; nur um Schnaps hat er mich fünfmal gebeten. Ein Gläschen habe ich ihm auch geben müssen. Daß wir ihn nur nicht umbringen, Dmitrij Iwanowitsch! Denn der Verwalter ...«

»Hat er gespielt?«

»Nicht angerührt hat er die Geige. Ich habe sie ihm zweimal gebracht, aber er trug sie immer wieder aus dem Zimmer.« Sachar lächelte. »Soll ich ihm also wirklich nichts zu trinken geben?«

»Nein, wir wollen noch einen Tag warten und sehen, was geschieht. Was treibt er jetzt?«

»Er hat sich im Gastzimmer eingeschlossen.«

Delessow holte aus seinem Arbeitszimmer einige französische Romane und ein deutsches Neues Testament. Er gab die Bücher Sachar mit dem Auftrag:

»Bring sie ihm morgen früh ins Zimmer und schau, daß er nicht fortgeht.«

Sachar meldete am nächsten Morgen seinem Herrn, der Musiker habe die ganze Nacht nicht geschlafen: er irrte durch die Zimmer, ging immer zur Kredenz, versuchte den Schrank und die Türe zu öffnen. Aber Sachar hatte vorgesorgt und alles sorgfältig abgesperrt. Er erzählte noch, er hätte sich schlafend gestellt und gehört, wie Albert mit sich selbst redete.

Albert wurde von Tag zu Tag finsterer und schweigsamer. Delessow schien er zu fürchten, und sein Gesicht zuckte ängstlich zusammen, so oft sich ihre Blicke trafen. Er rührte weder die Bücher noch die Geige an und beantwortete keine Fragen.

Am dritten Abend kam Delessow sehr spät heim. Er war den ganzen Tag in einer Angelegenheit herumgerannt, die höchst einfach schien und doch, wie es so oft vorkommt, trotz aller Bemühungen nicht um einen Schritt vorwärts kommen wollte. Er war daher müde und abgespannt. Auch war er noch im Klub gewesen und hatte im Whist etwas verloren. Dies verschlimmerte noch seine Laune.

»Nun habe ich ihn ordentlich satt!« sagte er zu Sachar, der ihm wieder über Alberts traurigen Zustand berichtete. »Morgen muß er sich entscheiden, ob er dableiben und meinen Ratschlägen folgen will oder nicht. Wenn es ihm nicht paßt, mag er gehen. Ich glaube, ich habe alles getan, was ich nur tun kann.«

»Da soll man noch einem Menschen eine Wohltat erweisen!« dachte er für sich. »Ich opfere meine Ruhe, halte bei mir im Hause dieses verwahrloste, schmutzige Geschöpf, das ich keinem Besucher zeigen kann, renne herum auf der Suche nach einer Stelle für ihn, und er sieht in mir einen Bösewicht, der ihn zu seinem Vergnügen in einen Käfig gesperrt hat. Er selbst will für sich keinen Finger rühren. So sind sie alle! (»Alle« bezog sich auf die Menschen im allgemeinen und besonders auf diejenigen, mit denen er heute zu tun gehabt hatte.) Was ist jetzt mit ihm? Warum ist er traurig, an was denkt er? Sehnt er sich in den Sumpf zurück, aus dem ich ihn herausgerissen habe? Nach der Erniedrigung, in der er war? Nach der Armut, aus der ich ihn befreit habe? Er ist wohl schon so tief gesunken, daß er ein anständiges Leben nicht mehr ertragen kann ...«

Schließlich sagte er sich: »Das war wirklich unvernünftig gehandelt. Wie konnte ich mir vornehmen, einen anderen zu bessern, wenn ich sogar mit mir selbst kaum fertig werden kann?« Er wollte Albert gleich gehen lassen. Überlegte sich aber und verschob die Aussprache bis morgen.

Nachts wurde Delessow durch einen Lärm im Vorzimmer aufgeweckt: ein Tisch wurde umgestürzt, man schrie und lief hin und her. Er machte Licht und horchte hinaus.

»Warten Sie nur, ich werde es Dmitrij Iwanowitsch sagen!« sprach Sachar; Albert entgegnete ihm etwas erregt und zusammenhanglos. Delessow sprang auf und lief mit der Kerze in der Hand ins Vorzimmer. Sachar stand im Nachtgewand vor der Haustüre; Albert, im Hut und Almaviva, suchte ihn von der Türe wegzustoßen und schrie mit weinerlicher Stimme:

»Ihr dürft mich nicht festhalten! Ich habe meinen Paß und habe nichts gestohlen! Sie können meine Kleider durchsuchen. Ich werde zum Polizeimeister gehen!«

»Bitte, Dmitrij Iwanowitsch!« sagte Sachar, seinen Posten an der Türe behaltend. »Der Herr ist nachts aufgestanden, hat aus meiner Manteltasche den Schlüssel genommen und eine ganze Flasche süßen Schnaps ausgetrunken. Ist das etwa schön? Und jetzt will der Herr fort. Sie haben mir ja gesagt, daß er bleiben muß, also darf ich ihn nicht fortlassen.«

Als Albert Delessow gewahrte, griff er Sachar noch heftiger an:

»Nein, niemand darf mich hier zurückhalten! Niemand hat das Recht dazu!« Er schrie immer lauter.

»Laß ihn, Sachar!« sagte Delessow. »Ich will und darf Sie nicht zurückhalten, aber ich rate Ihnen, noch bis morgen zu bleiben,« wandte er sich zu Albert.

»Niemand darf mich zurückhalten! Ich werde zum Polizeimeister gehen!« schrie Albert immer lauter und lauter; er sprach nur zu Sachar und sah Delessow gar nicht an. »Zu Hilfe!« schrie er plötzlich mit gellender Stimme.

»Warum schreien Sie denn so? Niemand hält Sie zurück,« sagte Sachar, die Haustüre öffnend.

Albert hörte auf zu schreien. Er murmelte noch: »Was? Es ist euch nicht gelungen! Ihr wolltet mich umbringen!« Er zog seine Galoschen an und verließ, ohne Abschied zu nehmen, immer etwas vor sich hinmurmelnd, das Haus. Sachar leuchtete ihm bis zum Tore und kam zurück.

»Gott sei Dank, Dmitrij Iwanowitsch!« sagte er. »Es ist noch gut abgelaufen! Das Silber muß ich doch noch nachzählen.«

Delessow schüttelte nur den Kopf und erwiderte nichts. Er mußte an die beiden ersten Abende denken, die er mit dem Musiker verbracht hatte, und an die letzten traurigen Tage, die Albert durch seine Schuld hier verbringen mußte. Er dachte wieder an das süße, aus Liebe, Bewunderung und Mitleid gemischte Gefühl, das dieser seltsame Mensch in ihm beim ersten Anblick geweckt hatte, und er tat ihm wieder leid. »Was wird jetzt aus ihm werden?« fragte er sich. »Er hat kein Geld, keine warme Kleidung und ist nun ganz allein in der Nacht ...«

Er wollte ihm Sachar nachschicken, doch es war zu spät.

»Ist es draußen kalt?« fragte Delessow.

»Ein starker Frost, Dmitrij Iwanowitsch,« antwortete Sachar.

»Ich wollte Ihnen noch sagen, daß wir wieder Holz kaufen müssen.«

»So? Und du sagtest, wir würden noch bis zum Frühjahr auskommen!«

VII

Draußen war es wirklich sehr kalt; aber Albert spürte die Kälte nicht: der Schnaps und der Streit hatten ihn so sehr erhitzt.

Als er auf die Straße hinaustrat, rieb er sich zufrieden die Hände und schaute sich um. Die Straße war leer. Eine lange Reihe Laternen leuchtete noch mit rötlichem Schein; der Himmel war klar und sternhell. »Was!« sagte er, sich zum erleuchteten Fenster in Delessows Wohnung wendend. Er steckte die Hände unter den Mantel in die Hosentaschen und schlug mit unsicheren, schweren Schritten den Weg nach rechts ein. In den Beinen und im Magen fühlte er eine drückende Schwere, in seinen Ohren sauste es, eine unsichtbare Kraft wollte ihn zu Boden werfen, und doch bewegte er sich immer vorwärts, in der Richtung zu Anna Iwanownas Wohnung. Sonderbare, zerrissene Gedanken gingen ihm durch den Kopf: er dachte an seinen letzten Wortwechsel mit Sachar, dann an das Meer und seine erste Dampferfahrt nach Rußland, an eine glückliche Nacht, die er mit einem Freund in einer Bierhalle verbracht hatte, an der er soeben vorbeiging; dann fiel ihm wieder eine Melodie ein, das Bild der Geliebten tauchte vor ihm auf und die schreckliche Nacht im Theater. Trotz dieser Buntheit nahmen alle Erinnerungen so bestimmte greifbare Formen an, daß, wenn er die Augen schloß, er nicht mehr unterscheiden konnte, ob das, was er dachte, oder ob das, was er tat, die Wirklichkeit war. Er wußte nicht, wie sich seine Beine bewegten, wie er an den Wänden entlang schwankte, wie er eine Straße nach der anderen kreuzte. Er fühlte und wußte nur das, was ihm in buntem Reigen durch den Kopf zog.

Auf der Kleinen Morskaja rutschte er aus und fiel hin. Er kam für einen Augenblick zur Besinnung und sah vor sich ein großes prunkvolles Gebäude; er ging weiter. Die Sterne und der Mond waren verschwunden, auch die Laternen brannten nicht mehr, und doch waren alle Dinge deutlich sichtbar. Die Fenster in dem großen Gebäude, das sich am Ende der Straße erhob, waren erleuchtet, aber das Licht flackerte in den Fenstern wie eine Spiegelung. Das Gebäude wuchs vor Alberts Blicken immer näher und deutlicher aus der Erde hervor. Als er in die weite Türe eintrat, waren alle Lichter auf einmal verschwunden. Innen war es dunkel. Seine einsamen Schritte hallten laut unter den gewölbten Decken, Schatten huschten an ihm vorbei und verschwanden, sobald er sich ihnen näherte. »Wozu bin ich hergekommen?« fragte sich Albert. Eine Kraft, der er nicht widerstehen konnte, zog ihn vorwärts zum Eingang in einen großen Saal. Im Saale war ein Podium, vor dem einige kleine Gestalten standen. »Wer wird da sprechen?« fragte Albert. Niemand antwortete, nur einer zeigte ihm auf das Podium. Dort stand ein langer, hagerer Mann mit struppigem Haar, in einem bunten Schlafrock. Albert erkannte sofort seinen Freund Petrow. »Wie sonderbar, daß er hier ist!« dachte Albert. »Nein, Brüder!« sagte Petrow, auf jemand hinweisend: »Ihr habt den Menschen, der unter euch lebte, nicht verstanden! Er ist kein feiler Komödiant, kein mechanischer Spielautomat, kein Verrückter, kein Verlorener. Er ist ein Genie, ein großes musikalisches Genie, das nun unbemerkt und ungeschätzt zugrunde geht.«

Jetzt begriff Albert, von wem sein Freund sprach. Doch er wollte ihn nicht stören und senkte bescheiden seinen Kopf.

»Er verbrannte wie ein Strohhalm in der heiligen Flamme, der wir alle dienen,« fuhr Petrow fort, »er hat alles vollbracht, was Gott ihm eingegeben hat. Darum muß er ein Großer genannt werden. Ihr konntet ihn verachten, quälen, erniedrigen,« fuhr die Stimme immer lauter fort, »er war, ist und bleibt unermeßlich größer als ihr alle. Er ist selig, er ist gut. Er liebt oder er verachtet – was doch dasselbe ist – alle gleich; aber er dient nur dem einen, was ihm der Himmel eingegeben hat: er liebt nur die Schönheit, das einzige unzweifelhafte Gut in der Welt. So ein Mensch ist er! Kniet vor ihm alle nieder!« schrie er laut.

Ein andere Stimme entgegnete aus der entgegengesetzten Ecke des Saales: »Ich will nicht vor ihm niederknien,« sagte die Stimme, in der Albert sofort die von Delessow erkannte. »Worin ist er groß? Und warum sollen wir uns vor ihm beugen? War er denn ehrlich und edel? Hat er der Gesellschaft irgendwie genützt? Wissen wir denn nicht alle, daß er immer Geld borgte, welches er nie zurückzahlte, daß er einem Kollegen die Geige entwendete, um sie zu versetzen? ... (Mein Gott! Woher weiß er denn alles? dachte Albert und ließ den Kopf noch tiefer sinken.) Wissen wir denn nicht, wie er sich bei den unbedeutendsten Leuten einschmeichelte, um von ihnen Geld zu bekommen? Wissen wir denn nicht, daß man ihn aus dem Theater fortgejagt hat, daß ihn Anna Iwanowna der Polizei übergeben wollte?!« (Mein Gott! Es ist ja alles wahr – sagte Albert – aber verteidige mich, du allein weißt, warum ich das getan habe!)

»Genug! Schämt euch!« sprach wieder Petrows Stimme. »Welches Recht habt ihr, ihn anzuklagen? Habt ihr denn sein Leben gelebt? Habt ihr seine Ekstasen gekannt? (Es ist wahr, es ist wahr! flüsterte Albert.) Die Kunst ist die höchste Offenbarung der menschlichen Macht. Sie wird nur wenigen Auserwählten gegeben, und sie erhebt den Auserwählten auf eine solche schwindelnde Höhe, daß es schwer ist, gesunden Geistes zu bleiben. In der Kunst gibt es, wie in jedem Kampfe, Helden, die sich ganz ihrem Dienst opfern und zugrunde gehen, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.«

Petrow schwieg, Albert hob den Kopf und schrie: »Ja, so ist es!« Aber seine Stimme erstarb lautlos in der Kehle.

»Sie werden nicht gefragt!« sagte ihm streng der Maler. »Ja, verhöhnt ihn, verachtet ihn, er bleibt immer der Beste und Seligste von uns allen!«

Albert war ganz glücklich, als er diese Worte hörte. Er konnte sich nicht länger beherrschen, trat an den Freund heran und wollte ihn umarmen.

»Mach, daß du weiter kommst,« sagte Petrow, »ich kenne dich nicht! Geh nur deinen Weg. sonst kommst du nie vorwärts ...«

»Du bist ja ganz voll! Kommst gar nicht vorwärts!« schrie ihm ein Schutzmann zu, der an einer Straßenkreuzung stand.

Albert blieb stehen und sammelte seine Kräfte. Er gab sich die größte Mühe, nicht zu schwanken, und bog in eine Seitengasse ein.

Bis zu Anna Iwanowna waren noch wenige Schritte. Aus der Haustüre drang Licht, und vor dem Tore standen Schlitten und Wagen.

Er klammerte sich mit erstarrten Händen an das Treppengeländer, ging hinauf und zog die Glocke.

In der Türe erschien das verschlafene Dienstmädchen, das ihm einen bösen Blick zuwarf. »Nein!« schrie sie ihn an, »ich darf Sie nicht hereinlassen.« Dann schlug sie die Türe zu. Aus der Wohnung drangen zu ihm viele Frauenstimmen und Töne der Tanzmusik. Er setzte sich auf einen Treppenabsatz, lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen. Sofort sah er sich wieder von zusammenhanglosen, doch ihm wohl vertrauten Visionen umgeben; ihre Wellen trugen ihn weit fort, wieder in das freie und herrliche Land der Träume. »Ja, er ist der Beste und Seligste!« klang es wieder in seinen Ohren. Drinnen bei Anna Iwanowna wurde Polka gespielt, auch die Polkatöne sagten dasselbe: »Er ist der Beste und Seligste!« Von einer nahen Kirche erklang Glockengeläute, und die Glocken bestätigten: »Ja, er ist der Beste und Seligste!« – »Ich will wieder in den Saal,« sagte sich Albert, »Petrow hat mir noch vieles zu sagen.«

Der Saal war aber leer, und auf dem Podium stand jetzt nicht Petrow, sondern Albert selbst, und er spielte auf der Geige alles, was die Stimme früher gesprochen hatte. Es war eine gar sonderbare Geige: sie war ganz aus Glas, und man mußte sie mit beiden Händen an die Brust drücken, um ihr Töne zu entlocken. Die Töne waren aber so zart und schön, wie sie Albert noch niemals gehört hatte. Je fester er die Geige an seine Brust drückte, um so süßer und wonniger empfand er die Töne. Je lauter die Geige tönte, um so rascher verschwanden alle Schatten, und um so heller erstrahlten die Wände des Saales in einem durchsichtigen Licht. Er mußte sehr vorsichtig spielen, um die Geige nicht zu zerdrücken. Er spielte auf dem Glasinstrument sehr schön und sehr vorsichtig. Er spielte Stücke, von denen er wußte, daß sie kein Mensch je wieder hören würde. Er spürte bereits eine leichte Ermüdung, als er plötzlich von einem dumpfen Ton abgelenkt wurde. Das war ein Glockenton, und er sprach irgendwo in weiter Ferne: »Ja, er scheint euch elend, ihr verachtet ihn, und doch ist er der Beste und Seligste! Kein Mensch wird je wieder auf diesem Instrument spielen!«

Diese ihm schon bekannten Worte erschienen Albert plötzlich so weise, so neu und so gerecht, daß er sein Spiel abbrach und Arme und Augen zum Himmel hob. Er kam sich selig und herrlich vor. Obwohl der Saal leer war, reckte er sich und hob stolz den Kopf, damit ihn alle sehen konnten. Plötzlich berührte eine Hand ganz leise seine Schulter; er wandte sich um und erblickte im Halbdunkel eine weibliche Gestalt. Sie sah ihn mit traurigen Augen an und schüttelte verneinend den Kopf. Er begriff sofort, daß das, was er eben getan hatte, häßlich war, und er schämte sich. »Wohin denn?« fragte er sie. Sie blickte ihn noch einmal durchdringend an und senkte traurig den Kopf. Es war sie, die er geliebt hatte; sie war auch ganz so wie damals gekleidet; den vollen weißen Hals schmückte eine Perlenschnur, und die schönen weißen Arme waren bis über die Ellbogen entblößt. Sie nahm ihn bei den Händen und führte ihn fort. »Der Ausgang ist auf der andern Seite,« sagte Albert; aber sie lächelte nur und führte ihn aus dem Saal hinaus. An der Schwelle der Ausgangstüre sah Albert Wasser und den Mond. Das Wasser war aber nicht unten und der Mond nicht oben, auch war der Mond nicht der weiße Kreis. Mond und Wasser waren miteinander vermengt, sie waren oben und unten und auf allen Seiten um sie herum. Albert stürzte mit ihr in den Mond und in das Wasser, und er begriff, daß er sie, die er über alles in der Welt liebte, umarmen durfte; er umarmte sie und zitterte in einem Glück, das er gar nicht ertragen konnte. »Ist es nicht ein Traum?« fragte er sich. Nein, es war die Wirklichkeit, es war mehr als die Wirklichkeit: Wirklichkeit und Erinnerung. Er fühlte, daß dieses unaussprechliche Glück, das er jetzt genoß, verschwinden und nie wiederkehren würde. »Warum weine ich denn?« fragte er sie. Sie sah ihn wieder schweigend und traurig an. Albert verstand, was sie damit sagen wollte. »Ich lebe ja noch!« sagte er ihr. Sie antwortete nicht und blickte unverwandt vor sich hin. »Es ist entsetzlich! Wie erkläre ich ihr, daß ich noch lebe?« fragte er sich ganz erschrocken. Er flüsterte: »Mein Gott, ich lebe ja noch, begreift es doch!«

»Er ist der Beste und der Seligste!« sagte eine Stimme. Aber etwas bedrückte Albert immer schwerer und schwerer. Er wußte nicht, ob es der Mond war oder das Wasser, ob ihre Umarmungen oder seine Tränen; aber er wußte, daß er nicht die Kraft hatte, alles, was gesagt werden mußte, auszusprechen, und daß bald alles vorbei sein würde.

Zwei Gäste, die die Wohnung von Anna Iwanowna verließen, stießen auf Albert, der vor der Schwelle lag. Der eine kehrte um und rief die Wirtin.

»Es ist unmenschlich,« sagte er, »der Mann konnte ja erfrieren!«

»Ach, diesen Albert habe ich aber wirklich satt!« erwiderte die Wirtin. Dann sagte sie dem Dienstmädchen: »Anna, legen Sie ihn in irgendeinem Zimmer hin.«

»Ich lebe ja, warum wollt ihr mich begraben?« murmelte Albert, während man ihn bewußtlos aufhob und in die Wohnung trug.

 

Druck der Offizin W. Drugulin in Leipzig

 


 << zurück