Leo Tolstoi
Ausgewählte Erzählungen für die Jugend
Leo Tolstoi

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Der Gefangene im Kaukasus

I

Im Kaukasus diente ein Herr als Offizier. Er hieß Schilin.

Einmal bekam er einen Brief von daheim. Seine alte Mutter schrieb ihm: »Ich bin schon alt und möchte vor dem Tode meinen geliebten Sohn sehen. Komm, um von mir Abschied zu nehmen, beerdige mich und kehre dann mit Gott in Deinen Dienst zurück! Ich habe aber eine Braut für Dich ausgesucht: sie ist klug und hübsch und besitzt ein Gut. Wenn sie Dir gefällt, heiratest Du sie vielleicht und bleibst ganz hier.«

Schilin wurde nachdenklich. Die Alte war schon in der Tat gebrechlich; vielleicht sieht er sie nicht wieder. Er kann ja hinfahren, und wenn die Braut hübsch ist, auch heiraten.

Er ging zum Oberst, nahm Urlaub, verabschiedete sich von den Kameraden, spendierte den Soldaten zum Abschied vier Eimer Branntwein und machte sich auf die Reise.

Im Kaukasus war damals Krieg. Die Straßen waren am Tage wie bei Nacht nicht passierbar. Wenn ein Russe zu Fuß oder zu Pferde aus der Festung kam, brachten ihn die Tataren um oder entführten ihn in die Berge. Darum bestand der Brauch, daß zweimal in der Woche von einer Festung zur anderen Begleitmannschaften gingen. Vorne und hinten gingen die Soldaten und in der Mitte die anderen Leute.

Die Sache war im Sommer. Bei Sonnenaufgang versammelten sich die Fuhren vor der Festung, die Begleitsoldaten kamen heraus, und man machte sich auf den Weg. Schilin saß im Sattel, ein Wagen mit seinen Sachen zog mit den anderen Fuhren.

Man hatte fünfundzwanzig Werst zu fahren. Der Zug bewegte sich langsam: bald machten die Soldaten halt, bald sprang ein Rad von einer der Fuhren oder ein Pferd blieb stehen, und alle hielten und warteten.

Die Sonne ist schon über den Mittag hinüber, aber der Zug hat erst die Hälfte des Weges zurückgelegt. Staub und Hitze, die Sonne brennt nur so, und man kann nirgends Schutz finden. Nackte Steppe: kein Baum, kein Strauch am Wege.

Schilin ritt etwas voraus, machte halt und wartete, bis der Zug näher kam. Er hört, wie hinter ihm ein Hornsignal gegeben wird: alles machte wieder halt. Da denkt sich Schilin: »Soll ich nicht allein, ohne die Soldaten vorausreiten? Das Pferd unter mir ist gut, und wenn ich auf die Tataren stoße, sprenge ich davon. Oder soll ich lieber nicht vorausreiten?«

Er hält und überlegt sich. Da reitet zu ihm ein anderer Offizier, namens Kostylin, mit einem Gewehr heran und sagt:

»Schilin, laß uns allein reiten! Ich halte es nicht länger aus, ich möchte essen, und dann diese Hitze! Mein Hemd kann man einfach auswringen.«

Kostylin ist aber ein schwerer, dicker Mann, ganz rot, und der Schweiß rinnt ihm nur so herunter. Schilin überlegt sich und sagt:

»Ist dein Gewehr geladen?«

»Ja, es ist geladen.«

»Dann laß uns reiten, aber eine Bedingung: daß wir uns nicht trennen.«

Und so ritten sie voraus. Sie reiten durch die Steppe, sprechen miteinander und blicken immer nach beiden Seiten. Ringsherum kann man weit sehen.

Kaum ist die Steppe zu Ende, so läuft die Straße zwischen zwei Bergen in eine Schlucht. Und Schilin sagt:

»Man muß den Berg hinaufreiten und nachschauen, sonst kommen sie vielleicht, eh man es sich versieht, hinter den Bergen hervor.«

Kostylin aber sagt:

»Was gibt's da nachzuschauen? Laß uns weiterreiten!«

Schilin hört auf ihn nicht.

»Nein,« sagte er, »wart' du unten, und ich werde nur einen Blick von oben werfen.«

Und er lenkte sein Pferd nach links den Berg hinauf. Schilin hatte ein gutes Liebhaberpferd (er hatte dafür, als es noch ein Füllen war, hundert Rubel im Gestüt bezahlt und es selbst zugeritten); wie auf Flügeln trug es ihn den steilen Abhang hinauf. Kaum war er oben, siehe da: dicht vor seiner Nase halten auf dem Raume von einer Deßjatine an die dreißig berittene Tataren. Als er sie sah, wollte er umkehren; aber auch die Tataren sahen ihn: sie setzten ihm nach und holten im Reiten die Flinten aus den Futteralen. Schilin läßt sein Pferd, so schnell es kann, den Abhang hinunterlaufen und ruft Kostylin zu:

»Hol' dein Gewehr heraus!« Dabei spricht er bei sich zu seinem Pferd: »Mütterchen, rette mich, stolpere nicht; wenn du stolperst, bin ich verloren. Daß ich nur ein Gewehr in die Hand bekomme, aber ihnen ergebe ich mich auf keinen Fall.«

Wie Kostylin aber die Tataren erblickt, sprengt er, statt zu warten, so schnell er kann, zur Festung zurück. Er schlägt sein Pferd mit der Peitsche bald auf die eine, bald auf die andere Flanke. Im Staube sieht man nur, wie das Pferd den Schweif bewegt.

Schilin merkt, daß die Sache schlecht steht. Das Gewehr ist weg, mit dem Säbel allein ist da nichts zu wollen. Er lenkt sein Pferd zurück zu den Soldaten und hofft, entkommen zu können. Da sieht er: sechs Mann wollen ihm den Weg abschneiden. Er hat ein gutes Pferd unter sich, die anderen haben aber noch bessere Pferde und reiten ihm gerade in die Quere. Er will den schnellen Lauf seines Pferdes hemmen und es umwenden, aber das Pferd ist so ins Laufen gekommen, daß man es nicht mehr aufhalten kann, und rennt direkt auf die Tataren zu. Er sieht, wie ein Tatar mit rotem Bart auf grauem Pferde auf ihn losreitet. Er schreit mit gellender Stimme, fletscht die Zähne und hält das Gewehr bereit.

»Na,« denkt sich Schilin, »ich kenne euch Teufel: wenn sie mich lebendig fangen, werfen sie mich in eine Grube und knuten mich. Lebendig ergebe ich mich nicht . . .«

Schilin war zwar nicht groß gewachsen, aber tapfer. Er zog den Säbel, ritt direkt auf den rotbärtigen Tataren los und dachte sich dabei: »Entweder reite ich ihn nieder oder schlage ihn mit dem Säbel aus dem Sattel.«

Schilin war aber noch nicht auf eine Pferdelänge herangeritten, als man von hinten auf ihn schoß und sein Pferd traf. Das Pferd stürzte im vollen Laufe zu Boden und fiel auf Schilins Bein.

Er will aufstehen, aber da sitzen schon zwei stinkende Tataren auf ihm und binden ihm die Hände auf den Rücken. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und warf die Tataren von sich, aber da sprangen drei andere von den Pferden auf ihn los und fingen an, ihn mit den Kolben auf den Kopf zu schlagen. Es wurde ihm finster vor den Augen, und er taumelte. Die Tataren packten ihn, nahmen von ihren Sätteln die Ersatzgurte, banden ihm die Hände im Rücken, machten einen Tatarenknoten und schleppten ihn zu einem der Pferde. Sie schlugen ihm die Mütze vom Kopfe, zogen ihm die Stiefel aus, durchsuchten ihn, nahmen ihm Geld und Uhr ab und zerrissen seine ganze Kleidung. Schilin sah sich nach seinem Pferde um. Das arme Tier liegt, wie es hingefallen ist, auf der Flanke, schlägt mit den Beinen aus, erreicht aber die Erde nicht; im Kopfe hat es ein Loch, und aus dem Loche saust schwarzes Blut hervor, einen Arschin weit ist der Staub vom Blute benetzt.

Ein Tatare geht an das Pferd heran und fängt an, ihm den Sattel abzunehmen, – es schlägt noch immer um sich; er zieht den Dolch und durchschneidet ihm die Kehle. Aus der Kehle pfeift es, das Tier zuckt, und seine Seele fliegt davon.

Die Tataren nahmen den Sattel und das Saumzeug ab. Der Tatare mit dem roten Bart stieg aufs Pferd, die anderen hoben Schilin zu ihm in den Sattel, banden ihn, damit er nicht herunterfalle, mit einem Riemen an den Gürtel des Tataren fest und ritten mit ihm in die Berge.

So sitzt Schilin hinter dem Tataren, schwankt hin und her und stößt mit dem Gesicht gegen den stinkenden Tatarenrücken. Er sieht vor sich nur den kräftigen Tatarenrücken, den sehnigen Hals und den rasierten Nacken, der unter der Mütze bläulich hervorlugt. Schilins Kopf ist wundgeschlagen, über den Augen ist ihm das Blut geronnen. Und er kann sich weder auf dem Pferde zurechtsetzen, noch das Blut abwischen. Seine Hände sind so fest gebunden, daß ihm sogar das Schlüsselbein wehtut.

So ritten sie lange von Berg zu Berg, durchwateten einen Fluß, kamen auf einen neuen Weg und ritten in einen Hohlweg.

Schilin wollte sich den Weg merken, den sie mit ihm ritten, aber seine Augen waren mit Blut verklebt, und er konnte sich nach keiner Seite wenden.

Es dämmerte; man durchwatete einen zweiten Fluß, stieg einen felsigen Berg hinauf; es roch nach Rauch, und man hörte Hundegebell. Sie kamen ins Dorf. Die Tataren stiegen von den Pferden, die Tatarenkinder versammelten sich, umringten Schilin, kreischten und freuten sich und begannen auf ihn mit Steinen zu werfen.

Der Tatare trieb die Kinder fort, hob Schilin aus dem Sattel und rief einen Knecht. Ein Nogajer mit derben Backenknochen, im bloßen Hemde kam heran. Das Hemd war zerfetzt, die ganze Brust nackt. Der Tatare gab ihm einen Befehl. Der Knecht brachte einen Block: zwei mit Eisenringen zusammengehaltene Eichenklötze mit einer Klammer und einem Schloß in einem der Ringe.

Man band Schilin die Hände los, legte ihm den Block an, führte ihn zu einem Schuppen, stieß ihn hinein und verschloß die Tür. Schilin fiel auf Mist; nachdem er eine Zeitlang gelegen hatte, tastete er im Dunkeln, wo es Weicher war, und legte sich hin.

II

Schilin schlief fast die ganze Nacht nicht. Die Nächte waren kurz. Er sah, wie es in einer Ritze hell wurde. Schilin stand auf, stocherte in der Ritze herum, bis sie breiter wurde, und sah hinaus.

Er sieht durch die Ritze die Straße, die bergab geht, rechts eine Tatarenhütte und neben ihr zwei Bäume. An der Schwelle liegt ein schwarzer Hund, eine Ziege geht mit ihren Zicklein herum, und diese zucken mit den Schwänzchen. Er sieht, den Berg hinauf kommt eine junge Tatarin gegangen, im bunten Hemde ohne Gürtel, in Beinkleidern und Schaftstiefeln, der Kopf ist mit einem Kaftan bedeckt, und auf dem Kopfe trägt sie einen großen Blechkrug mit Wasser. So kommt sie daher, zuckt mit dem Rücken, bückt sich und führt an der Hand einen kleinen Tatarenjungen mit rasiertem Schädel, im bloßen Hemd. Die Tatarin geht mit dem Wasser in die Hütte, und aus der Hütte kommt der gestrige Tatare mit dem roten Bart, im seidenen Halbrock, mit einem silbernen Dolch am Riemen und Schuhen auf den bloßen Füßen. Auf dem Kopfe hat er eine hohe, schwarze Lammfellmütze, die ist in den Nacken geschoben. Er kommt heraus, reckt sich und streicht seinen roten Bart. So steht er eine Weile da, gibt dem Knecht irgendeinen Befehl und geht wieder weg.

Später ritten zwei Jungen die Pferde zur Tränke. Die Pferde schnaubten mit nassen Nüstern. Dann kamen noch andere Jungen mit rasierten Schädeln, in bloßen Hemden, ohne Hosen gelaufen, versammelten sich in einem Haufen, gingen zum Schuppen, nahmen eine lange Rute und steckten sie in die Ritze. Schilin schrie sie an; die Jungen kreischten auf und rannten davon, so daß die nackten Kniee nur so funkelten.

Schilin will aber trinken, seine Kehle ist ausgetrocknet; er denkt: wenn doch bloß jemand nach mir schauen wollte. Da hört er, wie man den Schuppen aufschließt. Es kommt der rote Tatare und mit ihm ein anderer, kleinerer, schwärzlicher. Die schwarzen Augen leuchten, die Wangen sind rot, das Bärtchen ist kurz geschoren, das Gesicht ist lustig, er lacht immerzu. Der Schwärzliche ist noch besser gekleidet: er hat einen Halbrock aus blauer Seide mit Tressen an; im Gürtel steckt ein langer, silberner Dolch; die roten Saffianschuhe sind gleichfalls mit Silber bestickt. Über den leichten Schuhen trägt er andere, dicke. Die Mütze ist hoch, aus weißem Lammfell.

Der rote Tatare tritt ein, sagt etwas, als ob er schimpfe, und bleibt stehen; er lehnt sich gegen den Türbalken, bewegt den Dolch und blickt Schilin böse, wie ein Wolf an. Der Schwärzliche ist aber schnell und lebhaft und bewegt sich wie auf Sprungfedern; er geht direkt auf Schilin zu, hockt sich hin, zeigt die Zähne, klopft ihn auf die Schulter und beginnt schnell in seiner Sprache zu schwatzen; dabei zwinkert er mit den Augen, schnalzt mit der Zunge und sagt immerfort: »Gut, Ruß, gut, Ruß!«

Schilin versteht nichts und sagt: »Trinken, gebt mir Wasser zu trinken.«

Der Schwärzliche lacht: »Gut, Ruß!«, und schwatzt in seiner Sprache weiter.

Schilin zeigt mit den Lippen und den Händen, daß man ihm doch etwas zu trinken gebe.

Der Schwärzliche versteht es, lacht, blickt zur Türe hinaus und ruft jemand zu: »Dina!«

Da kommt ein schlankes, schmächtiges Mädchen von etwa dreizehn Jahren gelaufen; im Gesicht hat sie Ähnlichkeit mit dem Schwärzlichen. Ist wohl seine Tochter. Hat auch schwarze, glänzende Augen und ein hübsches Gesicht. Trägt ein langes, blaues Hemd mit weiten Ärmeln, ohne Gürtel. An den Schößen, auf der Brust und an den Ärmeln ist das Hemd rot benäht. Hat Beinkleider und leichte Schuhe an und über den Schuhen andere mit hohen Absätzen; am Halse trägt sie eine Kette aus lauter russischen Fünfzigkopekenstücken. Der Kopf ist bloß, im schwarzen Zopfe ist ein Band, und am Bande hängen Blechplättchen und ein Silberrubel.

Der Vater gab ihr einen Befehl. Sie lief davon, kam wieder und brachte einen kleinen Blechkrug. Sie reichte ihm das Wasser, hockte sich hin und beugte sich so weit vor, daß die Schultern tiefer als die Kniee standen. So sitzt sie da, hat die Augen weit geöffnet und blickt Schilin, während er trinkt, an, als wäre er ein wildes Tier.

Schilin gab ihr den Krug zurück. Wie ein Reh sprang sie auf. Selbst der Vater lachte. Er schickte sie noch irgendwohin. Sie lief mit dem Krug davon, brachte auf einem runden Brettchen ungesäuertes Brot, setzte sich wieder hin, beugte sich vor und sah ihn wieder an, ohne einen Blick von ihm zu wenden.

Die Tataren gingen fort und schlossen die Türe wieder zu.

Etwas später kommt zu Schilin der Nogajer und sagt:

»Heda, Herr, Heda!«

Auch er kann kein Russisch. Schilin versteht nur, daß er ihm folgen soll.

So geht Schilin mit dem Block, hinkt, kann nicht auftreten und muß den Fuß immer seitwärts drehen. Er geht dem Nogajer nach. Er sieht ein tatarisches Dorf, etwa zehn Häuser und eine Tatarenkirche mit einem Türmchen. Vor einem der Häuser stehen drei gesattelte Pferde. Jungen halten sie am Zaume. Aus diesem Hause sprang der schwärzliche Tatare heraus und winkte mit der Hand, daß Schilin zu ihm kommen solle. Dabei lachte er, redete immer in seiner Sprache und trat wieder in die Türe. Schilin kam ins Haus. Eine hübsche Stube, die Wände glatt mit Lehm bestrichen. An der Vorderwand liegen bunte Polster, an den Seiten hängen kostbare Teppiche; auf den Teppichen Gewehre, Pistolen und Säbel, alle mit Silber verziert. An der einen Wand steht ein niederer Ofen, in gleicher Höhe mit dem Boden. Der irdene Boden ist sauber wie ein Dreschboden, und die ganze vordere Ecke ist mit Filzdecken belegt; auf den Filzdecken liegen Teppiche und auf den Teppichen Daunenpolster. Auf den Teppichen sitzen in bloßen Schuhen Tataren: der Schwärzliche, der Rote und drei Gäste. Im Rücken haben sie alle Daunenpolster und vor sich auf einem runden Brette Pfannkuchen aus Hirsenmehl, zerlassene Butter in einem Napf und tatarisches Bier – Busa – in einem Kruge. Sie essen mit den Händen, und die Hände triefen von Butter.

Der Schwärzliche sprang auf und hieß Schilin auf die Seite niedersetzen, nicht auf den Teppich, sondern auf den bloßen Boden; dann setzte er sich wieder auf den Teppich und bewirtete die Gäste mit den Pfannkuchen und der Busa. Der Knecht setzte Schilin auf den befohlenen Platz, zog die Überschuhe aus, stellte sie an die Türe zu den übrigen und setzte sich auf die Filzdecke näher zu den Herren: er sah zu, wie sie aßen, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen.

Als die Tataren die Pfannkuchen gegessen hatten, kam eine Tatarin in ähnlichem Hemd wie das Mädel und in Beinkleidern, den Kopf mit einem Tuche bedeckt. Sie trug die Butter und die Pfannkuchen weg und reichte ein hübsches Becken und einen Krug mit schmalem Schnabel. Die Tataren fingen an, sich die Hände zu waschen, dann falteten sie die Hände, knieten nieder, pusteten nach allen Seiten und sprachen Gebete. Dann redeten sie wieder eine Weile in ihrer Sprache. Dann wandte sich einer von den Tataren, die zu Gast waren, an Schilin und fing an, Russisch zu reden.

»Dich hat,« sagt er, »Kasi-Mohammed gefangen genommen,« – dabei zeigt er auf den roten Tataren, – »und hat dich dem Abdul-Murat gegeben,« – dabei zeigte er auf den Schwärzlichen. »Abdul-Murat ist jetzt dein Herr.«

Schilin schweigt. Nun fängt Abdul-Murat zu reden an; er zeigt immer auf Schilin, lacht und sagt: »Soldat Ruß, gut Ruß!« Der Dolmetsch sagt: »Er befiehlt dir, einen Brief nach Hause zu schreiben, damit man für dich Lösegeld schickt. Sobald man das Geld schickt, läßt er dich frei.«

Schilin überlegt sich und fragt:

»Wieviel Lösegeld will er haben?«

Die Tataren sprachen miteinander, und der Dolmetsch sagte: »Dreitausend Münzen.«

»Nein,« sagte Schilin, »das kann ich nicht bezahlen.«

Abdul sprang auf, begann mit den Händen zu fuchteln und etwas zu Schilin zu sagen: er glaubte immer, daß er ihn verstehen würde. Der Dolmetsch übersetzte es: »Wieviel willst du denn geben?« Schilin dachte nach und sagte: »Fünfhundert Rubel.« Nun begannen die Tataren sehr schnell und alle auf einmal zu reden. Abdul schrie den Roten an und überstürzte sich so, daß ihm der Speichel aus dem Munde spritzte.

Der Rote kniff nur die Augen zusammen und schnalzte mit der Zunge.

Sie verstummten, und der Dolmetsch sagte:

»Dem Herrn sind fünfhundert Rubel Lösegeld zu wenig. Er hat für dich selbst zweihundert Rubel bezahlt. Kasi-Mohammed schuldete ihm Geld. Er hat dich für die Schuld genommen. Dreitausend Rubel, für weniger kann man dich nicht freilassen. Und schreibst du nicht, so setzt man dich in eine Grube und schlägt dich mit einer Knute.«

– Ach, – denkt Schilin, – wenn man ihnen seine Angst zeigt, so geht es noch schlimmer! –

Er sprang auf die Beine und sagte:

»Sag' ihm, dem Hund, daß, wenn er mir angst machen will, ich ihm keine Kopeke gebe und auch nicht schreibe. Ich habe euch Hunde nie gefürchtet und werde euch nie fürchten!«

Der Dolmetsch übersetzte es, und sie fingen wieder alle auf einmal zu reden an.

Lang schwatzten sie so, dann sprang der Schwarze auf und trat zu Schilin.

»Ruß,« sagte er »Dschigit! Dschigit Ruß!«

Dschigit heißt in ihrer Sprache »kühner Bursche«. Dabei lachte er; er sagte etwas dem Dolmetsch, und der Dolmetsch übersetzte:

»Gib tausend Rubel!«

Schilin versteift sich: »Mehr als fünfhundert Rubel gebe ich nicht. Und wenn ihr mich tötet, kriegt ihr gar nichts.«

Die Tataren sprachen durcheinander, schickten den Knecht irgendwohin und blickten abwechselnd auf Schilin und auf die Tür. Der Knecht kam zurück, und ihm folgte ein dicker, barfüßiger, zerlumpter Mann, gleichfalls mit einem Block am Fuß.

Schilin schrie förmlich auf, als er Kostylin erkannte. Auch ihn hatte man gefangen. Man setzte sie nebeneinander; sie fingen an, einander alles zu erzählen, und die Tataren hörten schweigend zu. Schilin erzählte, was er erlebt hatte, und Kostylin erzählte, daß sein Pferd nicht mehr laufen wollte, daß sein Gewehr versagt hatte und daß dieser selbe Abdul ihn eingeholt und gefangen genommen hatte.

Abdul sprang auf, zeigte auf Kostylin und sagte etwas. Der Dolmetsch übersetzte, daß sie nun beide dem gleichen Herrn gehörten und daß man den, der das Lösegeld zuerst bezahlte, auch zuerst freilassen würde.

»Siehst du,« sagt er zu Schilin, »du schimpfst immer, aber dein Kamerad ist friedlich: er hat einen Brief nach Hause geschrieben, und man wird fünftausend Münzen schicken. Ihm wird man gutes Essen geben und kein Haar krümmen.«

Schilin sagt:

»Mein Kamerad mag tun, was er will: er ist vielleicht reich, aber ich bin nicht reich. Wie ich gesagt habe,« sagt er, »so wird es auch sein. Wenn ihr wollt, tötet mich nur! Nutzen werdet ihr davon nicht haben, aber mehr als fünfhundert Rubel schreibe ich nicht.«

Sie schwiegen eine Weile. Plötzlich sprang Abdul auf, holte ein Köfferchen, nahm eine Feder, ein Blatt Papier und Tinte heraus, schob es Schilin hin, klopfte ihn auf die Schulter und deutete ihm: »Schreib!« Er war mit den fünfhundert Rubeln einverstanden.

»Wart',« sagte Schilin zum Dolmetsch, »sage ihm, er soll uns gutes Essen, ordentliche Kleidung und Schuhwerk geben; er soll uns zusammenhalten, damit wir es lustiger haben, auch soll er uns die Blöcke abnehmen.« Dabei sieht er den Herrn an und lacht. Auch der Herr lacht. Er hört ihn an und sagt:

»Ich gebe ihnen die allerbeste Kleidung, Tscherkessenröcke und Stiefel, so daß sie gleich zur Hochzeit gehen können. Ernähren werde ich sie wie die Fürsten. Und wenn sie zusammenbleiben wollen, so sollen sie nur im Schuppen leben. Den Block kann ich aber nicht abnehmen, sonst laufen sie mir davon. Nur für die Nacht werde ich ihn abnehmen.« Er sprang herzu, klopfte Schilin auf die Schulter und sagte: »Du gut, ich gut!«

Schilin schrieb einen Brief, schrieb aber die Adresse falsch, damit er nicht ankomme. Er dachte bei sich: Ich will fliehen.

Man führte Schilin und Kostylin in den Schuppen, brachte ihnen Maisstroh, Wasser in einem Kruge, Brot, zwei alte Tscherkessenröcke und abgetragene Soldatenstiefel. Die hatte man wohl erschlagenen Soldaten von den Füßen gezogen. Für die Nacht wurden sie von den Blöcken befreit und in den Schuppen gesperrt.

III

So lebte Schilin mit seinem Kameraden einen ganzen Monat. Der Herr lachte immer: »Du, Iwan, gut, – ich, Abdul, gut.« Aber er gab ihnen schlechtes Essen: nichts als ungesäuerte Fladen aus Hirsemehl oder gar rohen Teig.

Kostylin schrieb noch einmal nach Hause, wartete immer, daß man das Geld schicke, und grämte sich. Tagelang saß er im Schuppen, zählte die Tage, bis ein Brief kommen konnte, oder schlief. Schilin aber wußte, daß sein Brief nicht ankommen würde, und einen andern Brief schrieb er nicht.

– Wo soll meine Mutter so viel Geld hernehmen, denkt er sich, – um für mich zu bezahlen? Sie hat ja auch so fast nur davon gelebt, was ich ihr schickte. Wenn sie fünfhundert Rubel auftreiben muß, ist es für sie ein Ruin. So Gott will, entkomme ich. –

Dabei schaut er immer aus und forscht, wie er entkommen könnte.

Er spaziert im Dorfe umher und pfeift oder sitzt da und macht irgendeine Handarbeit: entweder knetet er aus Lehm Puppen oder flicht aus Ruten Körbe. Schilin war aber in jeder Handarbeit Meister.

Einmal knetete er eine Puppe mit Nase, Händen und Füßen, mit einem Tatarenhemd angetan, und stellte sie aufs Dach. Da gingen die Tatarenweiber zum Brunnen. Die Tochter des Herrn, Dina, sah die Puppe und rief die Tatarenweiber herbei. Sie setzten ihre Krüge ab, sahen hin und lachten. Schilin nahm die Puppe herunter und reichte sie ihnen. Sie lachten, wagten aber nicht, sie anzunehmen. Er ließ ihnen die Puppe, ging in den Schuppen und wartete, was wohl kommen würde.

Dina sprang herbei, sah sich um, ergriff die Puppe und lief davon.

Am nächsten Morgen sieht er, wie Dina in aller Frühe mit der Puppe auf die Schwelle tritt. Sie hat aber die Puppe schon mit bunten Fetzen aufgeputzt, wiegt sie wie ein Kind in den Armen und singt ein Schlaflied in ihrer Sprache. Die Alte kommt heraus, schimpft, reißt ihr die Puppe aus der Hand, zerschlägt sie und schickt Dina irgendwohin fort an die Arbeit.

Nun machte Schilin eine andere, noch schönere Puppe und gab sie Dina. Dina brachte ihm einmal einen Krug, stellte ihn hin, setzte sich, sah Schilin lachend an und zeigte auf den Krug.

– Was freut sie sich so? – dachte sich Schilin. Er nahm den Krug und begann zu trinken. Er meinte, es sei Wasser, aber es war Milch. Er trank die Milch aus und sagte: »Gut!« Da freute sich Dina.

»Gut, Iwan, gut!« rief sie, sprang auf, klatschte in die Hände, entriß ihm den Krug und lief davon.

Von nun an brachte sie ihm jeden Tag heimlich einen Krug Milch. Die Tataren pflegen aus Ziegenmilch Käsefladen zu bereiten und sie auf den Dächern zu trocknen; sie brachte ihm heimlich auch von diesen Fladen. Und als der Herr einmal einen Hammel schlachtete, brachte sie ihm im Ärmel ein Stück Hammelfleisch, warf es ihm hin und lief davon.

Einmal war ein starkes Gewitter, und es goß eine ganze Stunde in Strömen. Alle Flüsse trübten sich. Dort, wo eine Furt war, lief jetzt das Wasser drei Arschin hoch und drehte die Steine um. Überall liefen Bäche, in den Bergen brauste es. Als das Gewitter vorbei war, flossen überall im Dorfe Bächlein. Schilin ließ sich vom Herrn ein kleines Messer geben, schnitzte eine Welle, einige Brettchen, ein Rad, versah das Rad mit Federn und brachte an jedem Ende des Rades eine Puppe an.

Die kleinen Mädchen brachten ihm einige Lappen; er bekleidete die Puppen, die eine als Mann, die andere als Frau; er befestigte sie und setzte das Rad auf einen Bach. Das Rad drehte sich, und die Puppen tanzten.

Das ganze Dorf versammelte sich: Jungen, Mädchen, Weiber und Männer kamen herbei und schnalzten mit den Zungen:

»Ei, Ruß! Ei, Iwan!«

Abdul besaß eine zerbrochene russische Uhr. Er rief Schilin herbei, zeigte sie ihm und schnalzte mit der Zunge. Schilin sagte:

»Gib sie mir, ich repariere sie.«

Er nahm die Uhr, zerlegte sie mit dem Messer, fügte die Teile wieder zusammen und gab sie dem Herrn zurück. Die Uhr ging.

Der Herr freute sich und schenkte ihm seinen alten, zerfetzten Kaftan. Nichts zu machen, Schilin nahm das Geschenk an: um sich nachts zuzudecken, war der Kaftan gut genug.

Von nun an wurde Schilin als Meister berühmt. Die Leute fingen an, aus den entfernten Dörfern zu ihm zu kommen: der eine brachte ein Flinten- oder Pistolenschloß zur Reparatur, der andere eine Uhr. Der Herr brachte ihm einmal Werkzeuge mit: Zangen, Bohrer und eine Feile. Einmal wurde ein Tatare krank. Man kam zu Schilin: »Komm, kuriere ihn!« Schilin hatte keine Ahnung, wie man Kranke behandelt. Er ging hin, sah den Kranken an und dachte sich: »Vielleicht wird er von selbst gesund.« Er ging in seinen Schuppen, nahm Wasser und Sand, mischte beides, besprach vor den Augen der Tataren das Wasser und gab es dem Kranken zu trinken. Zu seinem Glück wurde der Tatare gesund. Schilin lernte allmählich ihre Sprache verstehen. Und viele Tataren gewöhnten sich an ihn und riefen ihn, wenn sie ihn brauchten, »Iwan, Iwan!« Andere aber schielten nach ihm ängstlich wie nach einem wilden Tier.

Der rote Tatare mochte Schilin nicht leiden. Wenn er ihn ansah, machte er ein finsteres Gesicht und wandte sich ab oder schimpfte. Es war auch noch ein Alter da, der nicht im Dorfe lebte, sondern aus dem Tale zu ihnen kam. Schilin sah ihn nur, wenn er in die Moschee ging, um zu beten. Er war klein gewachsen und trug ein weißes Handtuch um seine Mütze gewickelt. Der Kinn- und Schnurrbart waren gestutzt und weiß wie Daunen, das Gesicht aber runzlig und rot wie ein Ziegelstein. Die Nase hakenförmig wie bei einem Habicht, die Augen grau und böse, im Munde aber keine Zähne, nur zwei Hauer. So ging er in seinem Turban, stützte sich auf einen Krückstock und blickte wie ein Wolf um sich. Wenn er Schilin erblickte, röchelte er und wandte sich ab.

Schilin ging einmal ins Tal, um zu sehen, wo der Alte wohnte. Er kam den Pfad hinunter und sah: ein Gärtchen mit einer steinernen Mauer; hinter der Mauer schauen Kirschbäume, Pfirsiche und ein Häuschen mit flachem Dach hervor. Wie er näher kam, sah er Bienenkörbe aus Stroh geflochten, und die Bienen flogen umher und summten. Der Alte hockte auf den Knien und machte sich etwas am Bienenkorbe zu schaffen. Schilin richtete sich auf, um noch mehr über die Mauer zu sehen, und machte mit seinem Block Lärm. Der Alte sah sich um und kreischte auf; er zog eine Pistole aus dem Gürtel und schoß auf Schilin. Der hatte kaum Zeit, sich hinter einem Steine zu verbergen.

Der Alte ging zum Herrn, um sich zu beschweren. Der Herr ließ Schilin kommen und fragte ihn lachend:

»Warum bist du zum Alten gegangen?«

»Ich habe ihm nichts Böses getan,« antwortete Schilin. »Ich wollte nur sehen, wie er lebt.«

Der Herr sagte das dem Alten.

Der Alte aber wurde böse, zischte, schwatzte etwas, zeigte seine Hauer und fuchtelte gegen Schilin mit den Händen.

Schilin verstand nicht alles, er verstand nur, daß der Alte dem Herrn befahl, die Russen zu töten und sie nicht im Dorfe zu halten. Der Alte ging weg.

Schilin fragte den Herrn, was das für ein Alter sei. Und der Herr antwortete:

»Das ist ein großer Mann! Er war der erste Dschigit hier, hat viele Russen erschlagen und war reich. Er hat drei Frauen und acht Söhne gehabt. Sie lebten alle in einem Dorf. Da kamen die Russen, zerstörten das Dorf und erschlugen sieben Söhne. Ein Sohn blieb am Leben und ergab sich den Russen. Da ritt der Alte hin und ergab sich auch selbst den Russen. Er blieb bei ihnen an die drei Monate, fand dort seinen Sohn, tötete ihn und entkam. Er gab das Kriegshandwerk auf und ging nach Mekka, um zu beten. Darum trägt er diesen Turban. Wer in Mekka gewesen ist, heißt Hadschi und trägt einen Turban. Er kann deine Landsleute nicht leiden. Er befiehlt mir, dich zu töten, aber ich darf dich nicht töten, denn ich habe für dich Geld bezahlt. Ich habe dich auch liebgewonnen, Iwan; ich will dich nicht nur nicht töten, ich würde dich auch nicht freilassen, wenn ich nicht mein Wort gegeben hätte.«

Er lacht und sagt auf russisch: »Du, Iwan, gut, – ich, Abdul, gut!«

IV

So lebte Schilin einen Monat. Bei Tage spazierte er im Dorfe oder machte irgendeine Handarbeit; wenn aber die Nacht kam und es im Dorfe still wurde, grub er bei sich im Schuppen. Es war schwer zu graben wegen der Steine, er bearbeitete aber die Steine mit der Feile und grub unter der Wand ein Loch, so groß, daß er hindurchkriechen konnte. »Ich müßte nur,« denkt er sich, »die Gegend gut kennen lernen, damit ich weiß, nach welcher Seite ich gehen soll. Die Tataren sagen mir ja nichts.«

Er wählte die Zeit, als sein Herr fortgeritten war, und ging am Nachmittag hinter das Dorf auf einen Berg, um sich von dort die Gegend anzusehen. Als der Herr das Haus verließ, befahl er seinem Jungen, Schilin auf Schritt und Tritt zu folgen und ihn nicht aus den Augen zu lassen. Der Junge läuft hinter Schilin her und schreit:

»Geh nicht! Vater will es nicht haben. Gleich rufe ich die Leute herbei!«

Schilin fing an, ihm zuzureden.

»Ich geh' nicht weit fort,« sagte er ihm, »ich will nur auf jenen Berg hinauf: ich muß ein Kraut suchen, um eure Leute zu kurieren. Komm nur mit, mit dem Block kann ich ja nicht weglaufen. Morgen will ich dir aber einen Bogen und Pfeile machen.«

Er überredete den Jungen, und sie gingen. Wenn man den Berg ansieht, scheint es gar nicht weit zu sein, aber mit dem Block ist es furchtbar schwer; er ging und ging und kam mit Mühe hinauf. Schilin setzte sich hin und begann die Gegend zu betrachten. Im Süden hinter dem Schuppen ist ein Hohlweg, und darin weidet eine Pferdeherde, und tiefer unten ist ein anderes Dorf zu sehen. Hinter dem Dorfe ist ein anderer Berg, noch steiler; und hinter jenem Berg wieder ein Berg. Zwischen den Bergen blaut ein Wald, und dann kommen wieder Berge, immer höher und höher erheben sie sich in den Himmel. Höher als alle ragen aber Schneeberge, so weiß wie Zucker. Ein Schneeberg überragt mit seiner Kuppe alle anderen. Im Osten und Westen erheben sich ebensolche Berge; hie und da liegen in den Schluchten Dörfer, und von ihnen steigt Rauch auf. »Nun,« sagt er sich, »das ist alles Tatarenland.« Er fängt an, nach der russischen Seite zu blicken; gleich zu seinen Füßen sieht er ein Flüßchen, ein Dorf und Gärten ringsherum. Am Flüßchen sitzen Weiber, so klein wie Puppen, und waschen Wäsche. Hinter dem Dorfe ragt ein etwas niedrigerer Berg und hinter diesem noch zwei mit Wald bewachsene Berge; zwischen den beiden Bergen blaut eine Ebene, und darüber zieht sich weit, weit weg etwas wie Rauch hin. Schilin besann sich, wo, als er in der Festung lebte, die Sonne auf- und unterzugehen pflegte. Er blickt hin; dort, in jenem Tale muß wirklich die Festung liegen. Dorthin, zwischen diese beiden Berge muß er zu entkommen suchen.

Die Sonne begann zu sinken. Die weißen Schneeberge röteten sich, in den schwarzen Bergen wurde es finster; aus den Schluchten stieg Dunst empor, und das Tal, in dem die russische Festung liegen mußte, erglühte im Abendrot wie im Feuer. Schilin sah genauer hin, – im Tale schwebt etwas wie Rauch aus dem Schornstein. Und er will glauben, daß da die russische Festung sei.

Es war spät geworden. Man hörte, wie der Mollah seinen Schrei vernehmen ließ. Man trieb die Herden heim, die Kühe brüllten. Der Junge ruft immer: »Komm!« Schilin will aber nicht fortgehen.

Sie kehrten heim. »Nun,« sagte sich Schilin, »jetzt kenne ich die Gegend, ich muß fliehen.« Er wollte schon in derselben Nacht entfliehen. Die Nächte waren dunkel, der Mond war im Abnehmen. Zu seinem Unglück kehrten abends die Tataren zurück. Oft trieben sie, wenn sie so zurückkehrten, Vieh vor sich her und waren lustig. Diesmal trieben sie aber kein Vieh und brachten einen toten Tataren, den Bruder des Roten, im Sattel mit. Sie kamen böse zurück und versammelten sich, um den Toten zu beerdigen. Auch Schilin ging hinaus, um zuzusehen. Sie wickelten den Toten in Leinen, trugen ihn ohne Sarg unter die Platanen hinter dem Dorfe und legten ihn ins Gras. Der Mollah kam; die Alten versammelten sich, banden sich Handtücher um die Mützen, zogen die Schuhe aus und hockten sich in einer Reihe vor dem Toten hin.

Vorn der Mollah, hinter ihm drei alte Männer in Turbans nebeneinander und hinter ihnen die anderen Tataren. So saßen sie da, blickten zu Boden und schwiegen. Lange schwiegen sie. Dann hob der Mollah den Kopf und sprach:

»Allah!« (das heißt Gott). Er sprach dieses eine Wort, und sie blickten wieder zu Boden und schwiegen lange; unbeweglich saßen sie da.

Wieder hob der Mollah den Kopf.

»Allah!« Und alle sagten: »Allah!« und verstummten wieder. Der Tote lag im Grase und rührte sich nicht, und auch sie saßen wie tot da. Keiner rührte sich. Man hörte nur, wie die Blätter der Platanen sich im Winde bewegten. Dann sprach der Mollah ein Gebet, alle erhoben sich, hoben den Toten auf die Arme und trugen ihn fort. Sie brachten ihn zur Grube; die Grube war nicht einfach geschaufelt, sondern ging seitwärts wie ein Keller. Sie nahmen den Toten unter die Achseln und unter die Kniee, knickten ihn ein, ließen ihn langsam hinab, schoben ihn sitzend unter die Erde und legten ihm die Hände auf dem Magen zusammen.

Der Nogajer schleppte grünes Schilf herbei, sie füllten die Grube mit Schilf, schütteten sie schnell mit Erde zu, ebneten sie und stellten dem Toten zu Häupten senkrecht einen Stein auf. Sie stampften die Erde fest und setzten sich wieder in einer Reihe vor dem Grabe hin. Lange schwiegen sie.

»Allah, Allah!« Sie seufzten und standen auf.

Der Rote gab den alten Männern Geld, stand dann auf, nahm eine Peitsche, schlug sich dreimal auf die Stirn und ging heim.

Am anderen Morgen sah Schilin, wie der Rote eine Stute vors Dorf führte, drei andere Tataren gingen ihm nach. Sie kamen vors Dorf, der Rote nahm seinen Rock ab, krempelte die Ärmel hinauf, – so kräftige Arme hatte er! – zog den Dolch und schärfte ihn an einem Schleifstein; die Tataren bogen der Stute den Kopf zurück, der Rote kam heran, schnitt ihr die Kehle durch, warf die Stute um und begann ihr mit den mächtigen Fäusten die Haut abzuziehen. Die Weiber und die Mädchen kamen herbei und fingen an, die Därme und Eingeweide zu waschen. Dann zerhieben sie die Stute in Stücke und schleppten diese ins Haus. Und das ganze Dorf versammelte sich beim Roten, um das Totenmahl zu halten.

Drei Tage aßen sie das Stutenfleisch, tranken Busa und ehrten so das Gedächtnis des Toten. Alle Tataren blieben im Dorfe. Am vierten Tage sah Schilin, wie sie sich um die Mittagsstunde bereitmachten, um fortzureiten. Man brachte Pferde herbei, schirrte sie, und an die zehn Mann ritten davon, auch der Rote war unter ihnen; nur Abdul allein blieb zu Hause. Es war Neumond, und die Nächte waren noch finster.

»Nun,« denkt sich Schilin, »heute müssen wir fliehen.« Und er sagt das zu Kostylin. Kostylin aber hat Angst.

»Wie sollen wir fliehen? Wir kennen ja keinen Weg.«

»Ich kenne den Weg.«

»In einer Nacht kommen wir ja nicht hin.«

»Wenn wir nicht hinkommen, so übernachten wir im Walde. Ich habe mir einen Vorrat von Fladen gemacht. Was willst du noch bleiben? Wenn du Glück hast, schickt man das Geld; aber es ist auch möglich, daß man es nicht auftreibt. Die Tataren sind jetzt aber wütend, weil die Russen einen von den Ihrigen getötet haben. Man sagt, sie wollen uns töten.«

Kostylin dachte nach.

»Also gut, gehen wir!«

V

Schilin kroch ins Loch und erweiterte es, damit auch Kostylin hindurchkriechen könne; dann setzten sie sich und warteten, bis im Dorfe alles still wurde.

Kaum waren die Menschen im Dorfe still geworden, so kroch Schilin unter die Wand und kam heraus. Dann flüsterte er Kostylin zu: »Kriech!« Nun kroch auch Kostylin durchs Loch, streifte aber mit dem Fuß einen Stein, und das gab einen Lärm. Der Herr hatte aber einen bunten, sehr bissigen Wachhund; er hieß Uljaschin. Schilin hatte ihm schon vorher oft zu essen gegeben und ihn so an sich gewöhnt. Als Uljaschin das Geräusch hörte, fing er an zu bellen und sprang auf sie los, und hinter ihm die anderen Hunde. Schilin pfiff leise und warf ein Stück Fladen hin, – Uljaschin erkannte ihn, wedelte mit dem Schwanz und hörte auf zu bellen.

Als der Herr es hörte, schrie er dem Hund aus der Hütte zu: »Faß, faß, Uljaschin!«

Schilin kraut aber Uljaschin hinter den Ohren. Der Hund schweigt, reibt sich an seinen Füßen und wedelt mit dem Schwanz.

Sie blieben eine Weile hinter der Ecke sitzen. Alles wurde still, man hörte nur, wie ein Schaf im Stalle hustete und wie unten das Wasser über die Steine rauschte. Es war dunkel, die Sterne standen hoch am Himmel; über dem Berge leuchtete rot der Mond auf und ging, die Hörner nach oben gerichtet, unter. In den Schluchten schimmerte der Nebel weiß wie Milch.

Schilin stand auf und sagte zu seinem Kameraden: »Nun, Bruder, los!«

Sie machten sich auf den Weg; kaum waren sie eine kurze Strecke gegangen, als der Mollah auf dem Dache zu singen anfing: »Allah Besmilla! Ilrachman!« Das bedeutete, daß die Leute zur Moschee gehen würden. Sie setzten sich wieder hinter eine Wand. Lange saßen sie da und warteten, bis die Leute vorüber waren. Wieder wurde alles still.

»Nun, mit Gott!« Sie bekreuzigten sich und machten sich auf den Weg. Sie gingen über den Hof, den steilen Abhang zum Fluß hinab, durchwateten den Fluß und zogen durch die Schlucht weiter. Der Nebel war zwar dicht, lag aber tief unten, über dem Kopfe konnten sie aber die Sterne sehen. Schilin richtete sich nach den Sternen. Im Nebel war es kühl, es war leicht zu gehen; nur die Stiefel machten ihnen Beschwerde, denn sie waren schief getreten. Schilin zog die seinen aus, warf sie fort und ging barfuß weiter. Er springt von Stein zu Stein und blickt nach den Sternen. Kostylin kann nicht mit ihm Schritt halten.

»Geh langsamer,« sagt er, »die verfluchten Stiefel haben mir die Füße wundgerieben.«

»Zieh sie doch aus, dann wird es leichter gehen.«

Nun ging Kostylin barfuß, aber das war noch schlimmer: er zerschnitt sich die Füße an den Steinen und blieb wieder zurück. Schilin sagte ihm:

»Wenn du dir die Füße zerschindest, heilen sie einmal. Wenn man uns aber einholt, schlägt man uns tot, und das ist noch schlimmer.«

Kostylin sagte nichts und ging ächzend weiter. Lange gingen sie durchs Tal. Da hörten sie rechts Hundegebell. Schilin blieb stehen, sah sich um und tastete sich mit den Händen einen Hügel hinauf.

»Ach!« sagte er, »wir haben uns verirrt, sind zu weit nach rechts abgekommen. Da ist ein fremdes Dorf, ich habe es vom Berge gesehen; wir müssen zurück und nach links den Berg hinauf. Hier muß auch ein Wald sein.«

Kostylin aber sagte:

»Wart' noch ein Weilchen, laß mich ausschnaufen, meine Füße sind ganz blutig.«

»Ach, Bruder, die heilen schon; versuch' doch, leichter zu springen! Siehst du, so!«

Und Schilin lief zurück, links in den Wald hinauf.

Kostylin bleibt immer zurück und ächzt. Schilin schreit ihn an und geht immer weiter.

Sie stiegen den Berg hinauf. Da war wirklich Wald. Sie traten in den Wald und zerrissen sich an den Dornen ihre letzten Kleidungsstücke. Dann fanden sie im Walde einen Fußweg. So gehen sie vorwärts.

»Halt!« Auf dem Wege stampften Hufe. Sie blieben stehen und horchten. Es stampfte wie ein Pferd und blieb stehen. Als sie aber einen Schritt machten, fing es wieder zu stampfen an. Wenn sie stehen blieben, blieb es auch stehen. Schilin kroch näher heran und sah auf die Straße, wo es heller war. Da steht etwas: ein Pferd ist es wohl nicht, und wenn es ein Pferd ist, so ist das, was darauf sitzt, jedenfalls kein Mensch. Er hört, wie es schnaubt. »Ein Wunder!« Schilin pfiff leise; im Nu rannte es vom Wege in den Wald und sauste durchs Dickicht wie ein Unwetter, alle Zweige zerbrechend.

Kostylin fiel vor Angst beinahe um. Schilin aber lachte und sagte:

»Das war ein Hirsch. Hörst du, wie er mit dem Geweih die Bäume zerbricht? Wir fürchten ihn, und er fürchtet uns.«

Sie gingen weiter. Der Kleine Wagen begann sich schon zu senken, bis zum Morgen war es nicht mehr weit. Ob sie aber den richtigen Weg gingen oder nicht, das wußten sie nicht. Es kam Schilin vor, als hätte man ihn auf diesem selben Wege hergebracht und als hätte er bis zu den Seinigen nur an die zehn Werst zu gehen, aber sichere Kennzeichen hatte er nicht, und bei Nacht war nichts zu unterscheiden. Sie kamen auf eine Lichtung. Kostylin setzte sich und sagte:

»Tu, was du willst, ich komme aber nicht hin: meine Füße gehen nicht weiter.«

Schilin bemühte sich, ihn zu überreden.

»Nein,« sagte jener, »ich komme nicht hin, ich kann nicht.«

Schilin wurde böse, spie aus und schimpfte.

»Dann geh' ich allein. Leb' wohl!«

Kostylin sprang auf und ging weiter. Sie machten noch an die vier Werst. Der Nebel im Walde war noch dichter geworden; sie konnten nichts mehr vor sich sehen, auch die Sterne waren kaum zu unterscheiden.

Plötzlich ertönt vorne Pferdegetrabe. Sie hören, wie die Hufeisen die Steine streifen. Schilin legt sich auf den Bauch, drückt ein Ohr an den Boden und beginnt zu horchen.

»Ja, es stimmt, jemand reitet auf uns zu!«

Sie liefen vom Wege weg, setzten sich in die Büsche und begannen zu warten. Schilin kroch an den Weg und sah: ein Tatare reitet, treibt eine Kuh vor sich her und summt etwas. Als der Tatare vorbei war, kehrte Schilin zu Kostylin zurück.

»Nun, Gott war uns gnädig. Steh auf, laß uns gehen!«

Kostylin versuchte aufzustehen und fiel hin.

»Ich kann nicht, bei Gott, ich kann nicht. Meine Kraft ist zu Ende.«

Er war ein schwerer, dicker Mensch und in Schweiß gebadet; da ihn im Walde der kalte Nebel umfangen hatte und seine Füße zerschunden waren, kam er ganz aus dem Leim. Schilin begann ihn mit Gewalt aufzurichten. Da schrie aber Kostylin:

»Ach, es tut weh!«

Schilin war starr.

»Was schreist du? Der Tatare ist ja in der Nähe und kann uns hören.« Dabei denkt er sich: – Er ist wirklich ganz schwach geworden; was fange ich mit ihm an? Ich kann doch den Kameraden nicht im Stich lassen. –

»Nun,« sagt er, »steh auf, setz' dich mir auf den Rücken, ich will dich tragen, wenn du nicht mehr gehen kannst.«

Er lud sich Kostylin auf den Rücken, faßte ihn mit den Händen unter die Schenkel, ging auf den Weg und schleppte ihn.

»Würge mich nur nicht an der Kehle,« sagt er, »um Christi willen! Halte mich an den Schultern!«

Schilin hat es schwer; auch seine Füße sind blutig, und er ist ganz ermattet. Ab und zu bückt er sich, wirft Kostylin empor, damit er höher auf ihm sitze, und schleppt ihn auf dem Wege weiter.

Der Tatare hatte wohl Kostylins Schrei gehört. Da hört Schilin, wie jemand hinter ihm reitet und in tatarischer Sprache ruft. Schilin stürzte sich in die Büsche. Der Tatare nahm sein Gewehr, schoß, traf aber nicht, kreischte in seiner Sprache auf und sprengte auf dem Wege davon.

»Nun sind wir verloren, Bruder!« sagt Schilin. »Der Hund wird gleich alle Tataren zusammenrufen, um uns nachzusetzen. Wenn wir nicht drei Werst weiterkommen, sind wir verloren.« Von Kostylin denkt er sich aber: – Was hat mich auch der Teufel verführt, diesen Klotz mitzunehmen! Allein wäre ich schon längst entkommen. –

Kostylin sagt:

»Geh allein, warum sollst du meinetwegen zugrunde gehen?«

»Nein, ich gehe nicht allein: man soll einen Kameraden nicht im Stich lassen.«

Er lud ihn wieder auf die Schultern und schleppte sich weiter. So ging er noch eine Werst weit. Ringsherum Wald, und es ist kein Ausweg zu sehen. Der Nebel beginnt aber schon sich zu verziehen, es ist, als sammelten sich Wölkchen am Himmel, von den Sternen ist nichts mehr zu sehen. Schilin ist schon ganz erschöpft.

Sie stießen auf eine kleine, mit Steinen eingefaßte Quelle. Schilin machte halt und setzte Kostylin ab.

»Laß mich ausruhen,« sagte er, »und trinken! Wir wollen von den Fladen essen. Es ist wohl nicht mehr weit.«

Kaum hat er sich über die Quelle gebeugt, um zu trinken, als er hinter sich Pferdegetrabe hört. Wieder stürzen sie sich nach rechts in die Büsche, den steilen Abhang hinunter und legen sich nieder.

Da hören sie Tatarenstimmen; die Tataren bleiben an derselben Stelle stehen, wo sie vom Wege abgebogen sind. Sie sprechen miteinander und schreien dann, als hetzten sie Hunde. Schilin und Kostylin hören, wie etwas durchs Gebüsch bricht, und ein fremder Hund kommt gerade auf sie zu. Er bleibt stehen und fängt zu bellen an.

Da kommen auch schon die Tataren, gleichfalls fremde; sie ergreifen sie, fesseln sie, setzen sie auf die Pferde und führen sie weg.

Als sie an die drei Werst geritten waren, kam ihnen Abdul, der Herr, mit zwei anderen Tataren entgegen. Er besprach etwas mit den Tataren, setzte die Gefangenen auf seine Pferde um und führte sie ins Dorf zurück.

Abdul lachte nicht mehr und sprach kein Wort.

Man brachte sie beim Morgengrauen ins Dorf und setzte sie auf die Straße. Die Kinder liefen zusammen, bewarfen sie mit Steinen, schlugen sie mit Peitschen und kreischten.

Die Tataren versammelten sich in einem Kreis, auch der Alte aus dem Tale kam herbei, und sie fingen zu reden an. Schilin hörte, wie sie sich berieten, was mit ihnen zu machen sei. Die einen sagten: »Man muß sie weiter in die Berge schicken«, der Alte aber sagte: »Man muß sie töten.« Abdul widerspricht und sagt: »Ich habe für sie Geld bezahlt, ich werde für sie Lösegeld bekommen.« Der Alte aber sagt: »Nichts werden sie bezahlen, sie werden nur Unheil anrichten. Er ist auch Sünde, Russen zu ernähren. Man töte sie und fertig!«

Sie gingen auseinander. Der Herr trat auf Schilin zu und sagte ihm:

»Wenn man mir das Lösegeld für euch nicht schickt, knute ich euch nach zwei Wochen zu Tode. Und wenn es dir wieder einfällt, zu fliehen, schlage ich dich wie einen Hund tot. Schreib einen Brief, schreib ordentlich!«

Man brachte ihnen Papier, und sie schrieben Briefe. Man schlug sie in Blöcke und führte sie hinter die Moschee. Dort war eine Grube, fünf Arschin tief, – in diese Grube setzte man sie hinein.

VI

Nun hatten sie ein ganz schlechtes Leben. Man nahm ihnen die Blöcke nicht mehr ab und ließ sie nicht an die Luft. Man warf ihnen wie Hunden rohen Teig hin und ließ Wasser in einem Kruge hinab. In der Grube herrscht ein Gestank, es ist dumpf und naß. Kostylin ist ganz krank und geschwollen und hat Reißen im ganzen Körper; er stöhnt immer oder schläft. Auch Schilin hat jeden Mut verloren: er sieht, die Sache steht schlecht. Und er weiß nicht, wie er sich aus der Klemme retten soll.

Einmal fing er wieder an zu graben, konnte aber die Erde nirgends hintun; der Herr merkte es und drohte, ihn zu erschlagen.

Einmal hockt er in der Grube, denkt an das freie Leben und grämt sich. Plötzlich fällt ihm auf die Kniee ein Fladen, dann ein zweiter, dann regnet es Kirschen. Er sieht hinauf, oben steht Dina. Sie blickt ihn an, lacht und läuft davon. Da denkt sich Schilin: »Wird mir vielleicht Dina helfen?«

Er wühlte in der Grube eine Stelle auf, kratzte etwas Lehm heraus und begann Puppen zu kneten. Er knetete Menschen, Pferde und Hunde. Wenn Dina kommt, denkt er sich, werde ich sie ihr hinaufwerfen.

Aber am nächsten Tage kam Dina nicht. Schilin hört Pferdegetrabe, Leute reiten vorbei, die Tataren versammeln sich bei der Moschee, streiten, schreien und sprechen von den Russen. Und er hört die Stimme des Alten. Er kann nicht alles verstehen, ahnt aber, daß die Russen in der Nähe seien, daß die Tataren fürchten, sie könnten auch ins Dorf kommen, und daß sie nicht wissen, was mit den Gefangenen machen.

Sie sprachen eine Weile miteinander und gingen fort. Plötzlich hört er oben etwas rascheln. Er sieht: Dina hockt am Rande, die Kniee ragen über den Kopf, sie hat sich vornübergebeugt, die Halsketten hängen herab und baumeln über der Grube, und die Augen leuchten wie die Sterne. Sie holt aus dem Ärmel zwei Käsefladen und wirft sie ihm zu. Schilin nimmt die Fladen und sagt:

»Warum bist du so lange nicht hier gewesen? Ich habe dir aber Spielzeug gemacht. Hier, nimm!« Und er fängt an, ihr ein Stück nach dem andern zuzuwerfen.

Sie aber schüttelt den Kopf und sieht nicht hin. »Nicht nötig!« sagt sie ihm. Sie sitzt eine Weile schweigend da und sagt: »Iwan, man will dich töten.« Und dabei zeigt sie mit der Hand auf ihren Hals.

»Wer will mich töten?«

»Der Vater, die Alten befehlen es ihm. Du tust mir aber leid.«

Und Schilin sagt:

»Wenn ich dir leid tue, so bring mir doch eine lange Stange!«

Sie schüttelt den Kopf: ich darf nicht. Er faltet die Hände und fleht sie an:

»Dina, bitte! Liebe Dina, bring sie mir!«

»Es geht nicht,« sagt sie ihm, »man wird es sehen, alle sind zu Hause.« Und sie geht weg.

So sitzt Schilin abends da und denkt sich: »Was wird nun kommen?« Und er blickt immer hinauf. Die Sterne sind zu sehen, aber der Mond ist noch nicht aufgegangen. Der Mollah ließ seinen Ruf vernehmen, und alles wurde still. Schilin war schon beinahe eingenickt und dachte sich: Das Mädel wird Angst haben.

Plötzlich fällt ihm von oben Lehm auf den Kopf; er blickt hinauf: eine lange Stange stößt gegen den gegenüberliegenden Rand der Grube. Sie stößt und stößt und fängt an, sich in die Grube herabzusenken. Schilin freut sich, faßt sie mit der Hand und zieht sie herunter, es ist eine feste Stange. Die Stange hat er schon früher auf dem Dache des Herrn gesehen. Er sieht hinauf: die Sterne strahlen hoch am Himmel, und dicht über der Grube leuchten Dinas Augen im Dunkeln wie die einer Katze. Sie hat sich mit dem Gesicht über den Rand der Grube gebeugt und flüstert:

»Iwan, Iwan!« Dabei fuchtelt sie mit den Händen vor dem Gesicht, als wollte sie damit sagen: Leise!

»Was gibt's?« fragt Schilin.

»Alle sind fortgeritten, nur zwei sind zu Hause.«

Und Schilin sagt:

»Kostylin, komm, versuchen wir es zum letztenmal; ich helfe dir hinauf.«

Kostylin will ihn aber nicht einmal anhören.

»Nein,« sagte er, »ich komme wohl nicht mehr heraus. Wo soll ich hin, wenn ich nicht einmal die Kraft habe, mich umzudrehen?«

»Nun, leb' wohl, trage mir nichts nach!« Und sie küßten sich.

Er ergriff das Ende der Stange, sagte Dina, sie solle das andere Ende festhalten, und kletterte hinauf. Zweimal stürzte er hinab, der Block machte ihm Beschwerde. Kostylin stützte ihn von unten, und so kam er schließlich doch heraus. Dina zog ihn mit ihren Händchen aus aller Kraft am Hemde und lachte dabei.

Schilin nahm die Stange und sagte:

»Bring sie an ihren Platz, Dina, sonst vermißt man sie und schlägt dich.« Sie schleppte die Stange fort, und Schilin ging den Berg hinunter. Er kroch den Abhang hinab, nahm einen spitzen Stein und versuchte das Schloß vom Blocke herunterzuschlagen. Das Schloß ist aber fest, er kann es unmöglich herunterschlagen, kann auch nicht ordentlich hinlangen. Da hört er, jemand läuft den Berg hinunter, hüpft leicht von Stein zu Stein. Er denkt sich: »Es ist wohl wieder Dina.« Dina kommt gelaufen, nimmt den Stein und sagt:

»Laß mich!«

Sie hockt sich hin und versucht das Schloß herauszudrehen. Ihre Arme sind aber dünn wie Ruten, sie hat gar keine Kraft. Sie wirft den Stein weg und fängt zu weinen an. Nun macht sich Schilin wieder ans Schloß, Dina aber hockt neben ihm und hält ihn an der Schulter. Schilin wendet sich um und sieht: links hinter dem Berge leuchtet es rot, der Mond geht auf. – – Nun, – denkt er sich, – bis der Mond aufgegangen ist, muß ich durch den Hohlweg gekommen sein und den Wald erreicht haben. – Er stand auf und warf den Stein fort. Er muß gehen, wenn auch mit dem Block.

»Leb wohl,« sagt er, »liebe Dina. Mein Leben lang werde ich an dich denken.«

Dina umfaßte ihn mit beiden Armen und tastete, wo sie ihm Fladen einstecken könnte. Er nahm die Fladen und sagte:

»Ich danke dir, kluges Mädel. Wer wird dir, wenn ich weg bin, Puppen machen?« Und er streichelte ihr den Kopf.

Dina weinte, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief den Berg hinauf, wie ein Zicklein hüpfend. Im Dunkeln hörte man nur, wie die Ketten an ihrem Zopfe auf dem Rücken klirrten.

Schilin bekreuzigt sich, faßt mit der Hand das Schloß am Block, damit es nicht klirre, und geht den Weg vorwärts; er schleppt den einen Fuß nach und blickt immer auf den Lichtschein, wo der Mond aufgeht. Der Weg ist ihm bekannt. Geradeaus sind es an die acht Werst zu gehen. Wenn er nur den Wald erreicht, ehe der Mond ganz aufgegangen ist. Als er den Fluß durchwatet hat, ist der Lichtschein hinter dem Berge schon ganz weiß geworden. Er geht durch den Hohlweg und sieht immer hin: vom Monde ist noch nichts zu sehen. Der Lichtschein ist ganz licht geworden, und an der einen Seite des Hohlweges wird es immer heller. Ein Schatten gleitet den Berg hinab und kommt immer näher auf ihn zu.

Schilin geht weiter und hält sich im Schatten. Er geht schnell, der Mond kommt aber noch schneller hervor; schon leuchten auch rechts die Bergesgipfel. Wie er sich dem Walde nähert, kommt auch schon der Mond hinter den Bergen hervor, – es ist weiß und hell, ganz wie bei Tage. Auf den Bäumen sind alle Blättchen zu sehen. Still und hell ist es in den Bergen; alles ist wie ausgestorben. Man hört nur das Flüßchen unten rauschen.

So erreicht er den Wald, ohne auf jemand zu stoßen. Schilin sucht sich im Walde ein möglichst dunkles Plätzchen aus und setzt sich nieder, um auszuruhen.

Er ruhte aus und aß einen Fladen. Dann suchte er sich einen Stein und versuchte von neuem, den Block herunterzuschlagen. Er schlug sich beide Hände wund, bekam aber den Block nicht herunter. Er stand auf und ging den Weg weiter. Als er eine Werst gegangen war, war er schon ganz entkräftet, die Füße taten furchtbar weh. Er geht zehn Schritte und bleibt stehen. – Nichts zu machen, – denkt er sich, – ich will mich weiterschleppen, solange ich die Kraft habe. Wenn ich mich aber hinsetze, so stehe ich nicht mehr auf. Die Festung erreiche ich nicht mehr. Wenn es hell wird, lege ich mich im Walde hin, warte dort den ganzen Tag und gehe nachts weiter. –

So ging er die ganze Nacht. Er begegnete nur zwei berittenen Tataren; er hörte sie aber schon von weitem und versteckte sich hinter einem Baum.

Der Mond begann schon bleich zu werden, Tau fiel, der Tag war schon nahe, Schilin hatte aber noch immer den Rand des Waldes nicht erreicht. – Ich will noch an die dreißig Schritt gehen, dann in den Wald abbiegen und mich hinsetzen. – Wie er dreißig Schritte gegangen ist, sieht er, daß der Wald ein Ende nimmt. Als er den Rand erreicht, ist es schon ganz hell; wie auf der flachen Hand liegen vor ihm die Steppe und die Festung, und links, ganz nahe an der Sohle des Berges brennen und verlöschen Feuer, Rauch zieht über die Erde, und an den Feuern sitzen Menschen.

Er schaut genauer hin und sieht: es glänzen Gewehre, es sind Soldaten und Kosaken.

Schilin freute sich, nahm seine letzte Kraft zusammen und ging den Berg hinunter. Dabei dachte er sich: – Wenn mich hier, im freien Felde, Gott behüte, ein berittener Tatare sieht, entkomme ich ihm nicht, wie nah auch die Kosaken sind. –

Kaum denkt er so, da sieht er: links vor dem Hügel, auf einem Räume von zwei Deßjatinen halten drei Tataren. Wie sie ihn erblicken, reiten sie auf ihn zu. Das Herz steht ihm still. Er fuchtelt mit den Händen und schreit, so laut er kann, den Seinigen zu:

»Brüder, rettet mich, Brüder! . . .«

Die Unsrigen hörten ihn. Berittene Kosaken sprengten auf ihn zu, den Tataren in die Quere.

Die Kosaken haben es weit, die Tataren aber nahe. Da nimmt aber auch Schilin seine letzte Kraft zusammen, faßt den Block mit der Hand, läuft auf die Kosaken zu, ist wie von Sinnen, bekreuzigt sich und schreit:

»Brüder! Brüder! Brüder! . . .«

Die Kosaken waren an die fünfzehn Mann.

Die Tataren erschraken und machten, noch ehe sie ihn erreicht hatten, halt. Und Schilin lief zu den Kosaken.

Die Kosaken umringen ihn und fragen: wer er sei, was für ein Mensch und woher? Schilin ist wie von Sinnen, weint und ruft immer wieder:

»Brüder! Brüder! . . .«

Die Soldaten kamen herbei und umringten Schilin; der eine gab ihm Brot, der andere Grütze, der dritte Branntwein; der eine deckte ihn mit einem Mantel zu, der andere zerschlug den Block.

Die Offiziere erkannten ihn und führten ihn in die Festung. Die Soldaten freuten sich, die Kameraden versammelten sich bei Schilin.

Schilin erzählte ihnen, was er erlebt hatte, und sagte:

»Das ist aus meiner Reise nach Hause und aus der Heirat geworden! Nein, es war mir wohl nicht beschieden.«

Und er blieb auf seinem Posten im Kaukasus. Kostylin aber wurde erst nach einem Monat für fünftausend Rubel ausgelöst. Als man ihn brachte, lebte er kaum.


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