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Siebzehntes Kapitel

Am nächsten Morgen begab sich Nechludoff zu dem Advokaten Fajnitzin, setzte ihm Mentschoffs Lage auseinander und bat ihn, die Sache in die Hand zu nehmen. Der Advokat erwiderte ihm, er würde die Akten prüfen, und wenn die Sache sich wirklich so abgespielt hatte, wie Mentschoff sagte, so würde er die Angelegenheit nicht nur übernehmen, sondern sie sogar unentgeltlich durchführen. Nechludoff erzählte ihm dann von den dreihundertdreißig Steinsetzern, die man wegen ihrer nicht visierten Pässe im Gefängnis behielt. Er wollte wissen, von wem die Sache abhinge, und wer dafür verantwortlich zu machen wäre.

Fajnitzin dachte einen Augenblick nach und erwiderte dann:

»Wer dafür verantwortlich ist? Niemand! Wenden Sie sich an den Staatsanwalt, er wird alles auf den Gouverneur schieben. Fragen Sie den Gouverneur, er wird erklären, der Staatsanwalt wäre allein verantwortlich.«

»Ich werde noch heut' zu Maslinnikoff gehen, um ihn von allem in Kenntnis zu setzen.«

»Ah bah, da verlieren Sie Ihre Zeit, Er ist – aber Verzeihung, er ist doch weder Ihr Verwandter, noch Ihr Freund, nicht wahr? – Er ist – verzeihen Sie das Wort – ein solcher Kretin und eine solche Kanaille!«

Nechludoff erinnerte sich, in welchen Ausdrücken Maslinnikoff ihm von dem Advokaten gesprochen. Er erwiderte nichts und nahm Abschied.

Nachmittags begab er sich zu dem Vizegouverneur, den er um zweierlei zu bitten hatte: erstens um die Versetzung der Maslow zum Krankendienst, und um die Freilassung der grundlos in Haft genommenen hundertdreißig Steinsetzer.

Als er sich Maslinnikoffs Hause näherte, sah er, daß der Hof voller Equipagen, Kaleschen, Coupés und Karossen stand, und erinnerte sich entsetzt, daß es ja der »Jour« der Frau Maslinnikoff war, zu dem der Gatte der Dame ihn so eifrig eingeladen hatte. Unter den im Hofe wartenden Wagen bemerkte Nechludoff den Landauer der Kortschagins. Der alte, dicke, rotbäckige Kutscher nahm, als er ihn bemerkte, seinen Hut ab und lächelte ihm halb unterwürfig und halb vertraulich zu.

Nechludoff hatte den Portier kaum gefragt, ob Michael Iwanowitsch zu Hause wäre, als dieser in Person oben auf der Treppe erschien. Er geleitete einen Gast, in welchem Nechludoff einen der höchsten Würdenträger der Regierung erkannte. Er unterhielt sich, während er die Treppe hinunterstieg, französisch mit Maslinnikoff, und zwar von lebenden Bildern, die man zum Besten einer wohlthätigen Stiftung zu veranstalten beabsichtigte. Er meinte, das wäre eine ausgezeichnete Beschäftigung für die Damen. »Sie amüsieren sich, und das Geld regnet nur so!«

»Sieh da! Da ist ja der brave Nechludoff,« rief er, seine Moralergüsse plötzlich unterbrechend. »Wie lange hat man Sie nicht gesehen! – Allez vite présenter vos devoirs à ces dames! Die Kortschagins sind schon oben. El Nadine Bucksheyden aussi! Toutes les jolies femmes de la ville vous attendent, heureux gaillard!« fügte er hinzu. » Au revoir, mon cher

Er schüttelte Maslinnikoff zum letztenmale die Hand.

»Gehen wir schnell in den Salon! Ich bin entzückt, Sie zu sehen,« sagte dieser mit exaltierter Miene zu Nechludoff, packte ihn dann beim Arm, lief trotz seiner Korpulenz mit der Behendigkeit eines Jünglings und zog ihn die Treppe entlang. Den ernsthaften Ausdruck auf Nechludoffs Gesicht sah er nicht, hörte nicht auf ihn und schleppte ihn fröhlich nach dem Salon. Es war unmöglich, ihm zu widerstreben oder sich zu entschuldigen, und Nechludoff mußte ihm folgen.

»Von Geschäften sprechen wir gleich! Du weißt doch, ich werde alles thun, was du willst!« sagte Maslinnikoff und führte diesen unfreiwilligen Besucher durch das Vorzimmer.

»Benachrichtigen Sie die Generalin, daß Fürst Nechludoff da ist,« sagte er zu einem an der Salonthür stehenden Diener; dann wandte er sich wieder zu Nechludoff:

» Vous n'aurez qu'à commander, je vous obéirai! Aber zuerst mußt du meine Frau sprechen; das ist unerläßlich. Ich habe neulich schon genug auf die Finger bekommen, daß ich dich habe fortgehen lassen, ohne sie gesprochen zu haben!«

Als sie in den Salon traten, nickte Anna Ignatjewna, die »Generalin«, wie man sie nannte, Nechludoff über den Kreis der Köpfe, die ihren Divan umstanden, liebenswürdig zu.

» Enfin! Sie wollen uns also nicht mehr kennen?« Sind Sie böse? Was haben wir Ihnen gethan?« Mit diesen Worten empfing Anna Ignatjewna den Eintretenden.

»Sie kennen sich, nicht wahr? Frau Bielawskaja, Michael Iwanowitsch Tschernoff ... Na, setzen Sie sich zu mir! – Missy, kommen Sie doch an unsern Tisch,« fuhr sie, die Stimme erhebend und sich an eine andere Gruppe wendend, fort. »Und Sie, Fürst, ein bißchen Thee?«

»Das werden Sie mir nie einreden! Sie liebte ihn nicht, das ist alles,« sagte eine Frauenstimme.

»Diese Kuchen sind ausgezeichnet, und so leicht,« sagte eine andere Stimme. »Geben Sie mir noch einen!«

»Und Sie fahren schon aufs Land?«

»Ja, morgen! Darum sind wir heut' gekommen. Ein schöner Frühling! Es muß unter den Bäumen herrlich sein!«

Missy, die einen kleinen Sammethut und ein gestreiftes Kleid trug, sah sehr schön aus. Sie errötete, als sie Nechludoff bemerkte und sagte:

»Ich glaubte, Sie wären schon abgereist!«

»Ich stehe auf dem Sprunge. Die Geschäfte nehmen meine ganze Zeit in Anspruch, und ich bin auch nur in Geschäften hierhergekommen.«

»Ich bitte Sie, besuchen Sie Mama, bevor Sie reisen. Sie muß Sie dringend sprechen!«

Sie fühlte, daß sie log, und auch er fühlte es, und deshalb ward sie noch röter.

»Ich fürchte, ich werde keine Zeit dazu haben,« versetzte Nechludoff in möglichst gleichgültigem Tone. Missy zog die Stirne kraus und wandte sich wieder zu dem eleganten Offizier, mit dem sie im Augenblicke plauderte, als Nechludoff eintrat.

Der »Jour« Anna Ignatjewnas war äußerst glänzend, und die Dame war entzückt.

»Mika hat mir gesagt, Sie interessierten sich für unsere Gefängnisse,« sagte sie zu Nechludoff. »Wie sehr begreife ich das! Mika – (das war ihr dicker Mann) – mag seine Fehler haben, aber Sie wissen, wie gut er ist! Seine unglücklichen Gefangenen sind seine Kinder! Er sagt es mir stets selbst; er ist von einer Güte ...«

Sie hielt inne und wandte sich plötzlich lächelnd einer alten Dame mit brummigem Gesicht zu.

Als Nechludoff einige Augenblicke geblieben war und ein paar gleichgültige Worte ausgetauscht hatte, erhob er sich und ging zu Maslinnikoff.

»Nun, kannst du mir jetzt einen Augenblick Gehör schenken?«

»Gewiß; was giebt's denn?«

»Könnten wir uns nicht in ein anderes Zimmer setzen?«

Maslinnikoff ließ ihn in ein kleines japanisches Kabinett neben dem Salon treten, und beide setzten sich ans Fenster.


»Und jetzt stehe ich dir zu Diensten! Willst du rauchen? Aber warte eine Sekunde, ich werde einen Aschbecher holen! Es ist doch nicht nötig, den Teppich schmutzig zu machen, nicht wahr?«

Maslinnikoff suchte einen Aschbecher, setzte sich Nechludoff gegenüber und sagte:

»Ich höre!«

»Also! Ich habe zweierlei mit dir zu besprechen!«

»Ich höre!«

»Zuerst,« fuhr Nechludoff fort, »habe ich etwas für diese Frau zu erbitten, die ...«

»Ach ja, die ungerecht verurteilt worden ist! Ich weiß, ich weiß ...«

»Ich möchte dich bitten, sie zum Krankendienst versetzen zu lassen! Man hat mir gesagt, das wäre möglich!«

Maslinnikoff preßte die Lippen zusammen und dachte einen Augenblick nach.

»Ich weiß nicht recht, ob das möglich ist,« versetzte er mit wichtiger Miene, »Jedenfalls werde ich mich erkundigen und dir telegraphieren, wie es damit steht.«

»Man hat mir gesagt, es wären viele Kranke vorhanden, und man brauche Hilfskräfte.«

»Das werden wir sehen, das werden wir sehen; auf jeden Fall werde ich dir Antwort telegraphieren.«

»Ich werde dir dafür sehr dankbar sein,« sagte Nechludoff.

Plötzlich erhob sich vom Salon her ein lautes Lachen.

»Ich wette, das ist wieder dieser Witzbold von Viktor!« sagte Maslinnikoff lächelnd, »Tu glaubst nicht, wie komisch der ist, wenn er einmal im Zuge ist!«

»Was die andere Sache betrifft, über die ich mit dir zu sprechen habe,« fuhr Nechludoff fort, »so befindet sich augenblicklich ein Zug von hundertdreißig Arbeitern im Gefängnis, die man hinter Schloß und Riegel behält, nur weil ihre Pässe abgelaufen sind. Seit über einen Monat sind sie hier.«

»Wie hast du denn das erfahren?« fragte Maslinnikoff, und sein Gesicht hatte, plötzlich einen Ausdruck der Unruhe und Unzufriedenheit angenommen.

»Ich wollte einen Verurteilten sprechen, und als ich durch den Korridor schritt, haben diese Unglücklichen mich gebeten...«

»Und wer war der Verurteilte, den du aufsuchtest?«

»Ein fälschlich der Brandstiftung angeklagter Bauer, für den ich einen Verteidiger gesucht habe. Doch ich will von dir wissen, ob diese hundertdreißig Arbeiter wirklich nichts weiter verbrochen haben, als daß ihre Pässe nicht in Ordnung sind, und in diesem Falle ...«

»Das geht den Staatsanwalt an!« unterbrach Maslinnikoff in ärgerlichem Tone, »Dafür wird er ja bezahlt. Aber er thut nichts, er spielt Whist!«

»Du kannst also nichts dazu thun?« fragte Nechludoff.

»Wie? Ob ich nichts dazu thun kann? Aber gewiß! Ich werde sofort eine Untersuchung einleiten, aber wir wollen jetzt wieder zu den Damen gehen!«

Doch Nechludoff hielt ihn auf der Thürschwelle zurück.

»Man hat mir neulich im Gefängnisse gesagt, zwei Gefangene wären gepeitscht worden, ist das wahr?«

Maslinnikoff wurde ganz rot.

»Ach, man hat dir das gesagt? Nein, mein Lieber, man darf dich wirklich nicht deine Nase in alles stecken lassen! Das geht dich alles nichts an! Aber komm' jetzt, Annette ruft uns!«

Damit nahm er ihn und zog ihn nach dem Salon, doch Nechludoff machte sich los, durchschritt den Raum und ging die Treppe hinunter.

»Was hat er denn?« fragte Annette ihren Gatten.

»Ah bah; er ist ein Original und war stets so!«


Am nächsten Tage erhielt Nechludoff vom Vizegouverneur einen Brief, in welchem Maslinnikoff ihm mitteilte, er hätte sich erkundigt, ob es möglich wäre, die Maslow zum Krankendienste zu versetzen; die Sache ließe sich machen. Unter die Unterschrift hatte Maslinnikoff geschrieben: »Dein alter Kamerad, der dich trotzdem sehr lieb hat.«

»Dieser Dummkopf!« sagte sich Nechludoff, von der Vertraulichkeit dieses unangenehmen »Kameraden« angewidert.


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