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Fünfzehntes Kapitel

Antlitz der Zeit

Fünf- oder sechshundert Arbeiter verteidigten Bahnhöfe, Straßen, Plätze Münchens gegen eine Armee von hunderttausend Soldaten.

Den Stachusplatz umzingelten zwei Regimenter, mein Freund Alisi hielt ihn mit zwei Maschinengewehren und vier Mann zwei Tage lang. Die Maschinengewehre bestrichen die Zufahrtsstraßen, vier Mann setzten eine Division matt.

Nicht die feindliche Übermacht besiegte ihn, sondern seine alte Wirtin. Das kam so:

Am dritten Tage näherte sich dem Stachus ein Offizier als Parlamentär. Alisi ging ihm entgegen. Vor einem Hotel in der Sendlingerstraße begegneten sich die beiden.

»Legen Sie den Revolver aufs Trottoir!« schrie der Offizier.

»Das kann ich tun«, sagte Alisi.

»Wir geben Ihnen freien Abzug, wenn Sie den Stachus räumen.«

»Mit oder ohne Waffen?« fragte Alisi.

»Ohne Waffen.«

»Damit ihr uns dann herunterknallen könnt. Darauf lasse ich mich nicht ein.«

Aus einem Fenster des Hotels schwappte eine Brust, hinter der Brust erschien ein kleiner, aufgeregt zappelnder Kopf.

»Was, du willst keinen Frieden machen, verdammter Bursche; seit zwei Tagen kommen wir nicht aus dem Haus, unsere Gäste können nicht abreisen. Als du noch Schuhputzer im Hotel warst, habe ich mich schon genug über dich geärgert, du hast gesagt, du hast die Schuhe blank geputzt, du hast geschludert, habe ich gesagt, du hast dich nicht gebessert, sag' ich, du bist zu den Roten gegangen, gleich schließt du Frieden, sonst komm' ich herunter.«

Was dem feindlichen Heere nicht gelang, gelingt Frau Sonnenhuber.

Alisi sah schief und verlegen zum Fenster im ersten Stock:

»Wenn Sie es meinen, Frau Sonnenhuber.« Und zum Offizier:

»Jetzt habt ihr halt euern Frieden, damische Brüder.« Er wandte sich traurig zum Stachus und verschwand mit seinen Kameraden über die Dächer.

 

Die letzten Verteidiger wurden überwältigt, sie kämpften heroisch, aber die Übermacht war zu groß.

Bestialisch wütete der weiße Schrecken, siebenhundert Menschen wurden erschossen, Männer, Frauen und Kinder, Tausende wurden verhaftet, niemand war sicher vor Denunzianten. Die Leichenhallen waren zu klein, die Opfer zu fassen, Massengräber wurden geschaufelt wie im Krieg.

 

Wilhelm Creowdy, ein Freund des Grafen Arco, berichtet von den Morden im Hof des Stadelheimer Gefängnisses:

»Zwölf Mann, die erschossen werden, haben keine Ahnung, daß man sie erschießen will, mit erhobenen Händen werden sie geführt, in Reihen von zwei und drei. Nun stehen sie vor der Kirche, ein Mann lacht: ›Was werden sie mit uns tun? Vielleicht stecken sie uns ins Gefängnis.‹ Sie gehen durch die Kirchenmauer, da sehen sie auf dem Hof Tote liegen, sie begreifen, was sie erwartet, sie beginnen zu weinen. Die tödlichen Schüsse krachen.

Jetzt kommen zwei Frauen, auf der Straße haben sie die Leichen ihrer Männer gesehen, die man niederknallte ohne Gericht, auf bloße Denunziation, die zwei Frauen haben sich schreiend auf die Leichen ihrer Männer gestürzt, ein Soldat ruft: ›Packt die Weiber, die gehören auch dazu!‹, man führt sie nach Stadelheim, ein Kapuziner geht betend voran, die Frauen mit wirren, offenen Haaren wanken hinterdrein. Mit den Worten Jesu' auf den Lippen sterben sie, die Leichen werden entkleidet, den Toten stiehlt man Ringe und Uhren.

 

Der Referendar Schleusinger aus Starnberg erzählt: »Kein Zweifel mehr, der Zusammenbruch ist da. Schon in der Frühe um sechs Uhr weckt mich dumpfer Kanonenschlag, bald kann ich das Tacken der Maschinengewehre und das Knattern des Infanteriefeuers vernehmen. Um acht Uhr klingelt das Telephon, ein kleiner Beamter des städtischen Gerichts ist am Apparat: ›Herr Schleusinger, die Truppen des Generals Epp stehen vor Starnberg, sie erschießen rücksichtslos jeden Revolutionär.‹

Um neun Uhr beginnt die Sitzung des Arbeiterrats, die letzte. Ein Beschluß wird gefaßt: Kein Mitglied des Arbeiterrats verläßt seinen Posten. Eben wollen die Arbeiterräte auseinandergehen, als der Oberbefehlshaber der roten Truppe mit seinem Adjutanten erscheint. Er könne Starnberg nicht halten und müsse sich zurückziehen. Der Zusammenbruch reißt auch uns Sozialdemokraten in seinen Strudel. Starnberg ist der Schlüssel zur Hauptstadt. Fällt Starnberg, so ist München von Norden her schutzlos den Angriffen der Weißgardisten preisgegeben.

Wir rechnen: Um ein Uhr werden die Truppen des Generals Epp in Starnberg sein, um ein Uhr hat sich daher der Arbeiterrat im Rathaus einzufinden.

Die weißen Truppen kommen schon um zwölf Uhr, so werde ich beim Mittagessen überrascht. Ich höre schwere Schritte die Treppe heraufkommen, es sind keine weißen Soldaten, zwei junge Mitglieder der Bürgerwehr, die beim Einrücken der Truppen auf einmal da sind und den Weißgardisten bei Verhaftungen helfen.

Als ich mit den beiden aus dem Hause trete, biegt um die Ecke ein Leutnant mit einem Dutzend Stahlhelmsoldaten, der Leutnant in Friedensuniform, Monokel im Auge. Eine knarrende Stimme: ›Sind Sie Herr Schleusinger?‹ –›Jawohl, Herr Leutnant.‹ – ›Sie sind festgenommen.‹ Ein Wink, die beiden Bürgerwehrleute treten weg, zwei Stahlhelme nehmen mich in die Mitte.

Bald stehe ich vor dem Kommandeur der Spitzentruppen: ›Sind Sie der Vorsitzende des revolutionären Arbeiterrats?‹ – ›Jawohl.‹ Der Major stampft mit dem Fuß auf den Boden: ›Tun Sie Ihre Hand aus der Tasche.‹ Ich habe einen verkrüppelten Arm, dessen Hand ich meist in der Tasche trage. ›Herr Major, Sie sind nicht mein Vorgesetzter.‹ Kaum hab' ich dies gesagt, hagelt's von allen Seiten Hiebe, mit Handgranatenstielen, Gewehrkolben, Kommißschuhen schlägt und stößt man auf mich ein, blutend sinke ich zu Boden, man hätte mich wohl auf dem Platz erschlagen, wenn mich nicht ein Bekannter, ein in Starnberg ansässiger österreichischer Offizier, aus dem Haufen der wütenden Mannschaften hervorgezogen und Einspruch gegen die barbarische Mißhandlung erhoben hätte. Man schleppt mich halb bewußtlos ins Gefängnis.

Ich bin nicht der einzige Verhaftete, Rotgardisten, fast alle mehr oder minder schwer verwundet, auch einige Arbeiter, sind schon vor mir verhaftet worden. Nach den üblichen Formalitäten komme ich in die Zelle im ersten Stock, es dauert kaum zehn Minuten, da wird die Tür geöffnet und mein Freund Maier, Mitglied des Arbeiterrats, tritt herein, den Kopf verbunden, unter dem Tuch sickert Blut hervor, von ihm erfahre ich, daß fast der ganze Arbeiterrat verhaftet und in das Gefängnis eingeliefert wurde, beim Verlassen des Rathauses habe sie die Menge beschimpft, bespuckt, geschlagen. Auch die militärische Begleitung ließ sich aufhetzen, ein Soldat schlug meinem Freund den Gewehrkolben über den Schädel.

Nach einer halben Stunde werde ich in das Büro des Gefängnisverwalters hinuntergeführt, ein Hauptmann und ein Unteroffizier sitzen an einem Tisch, auf dem einige von mir unterzeichnete Aufrufe und Verfügungen liegen, ich werde gefragt, ob ich die Aufrufe unterzeichnet hätte. ›Ja‹, sage ich. ›Dann haben Sie Hochverrat begangen.‹ Nach einer kurzen Pause: ›Sie sind zum Tode verurteilt. Abführen.‹

Ein formloses Verhör. Nachher erfahre ich, daß dies das Feldgericht war. Ein Feldgericht, besetzt mit einem Richter.

Es ist mittlerweile vier Uhr geworden, da beginnt die fürchterlichste Stunde meines Lebens.

Ich schrecke auf, unten vor dem Gefängnis Stimmengewirr, unterbrochen von scharfen Kommandorufen, der schlürfende Schritt des Gefängnisverwalters kommt die Treppe herauf, nähert sich meiner Zelle, der Schlüssel kreischt im Schloß. ›Herr Schleusinger, es steht nicht gut.‹ Zwei Stahlhelmleute stürmen die Treppe herauf. ›Sie werden erschossen!‹ Ein Leutnant steht auf dem Treppenabsatz und schleudert mich die Treppe hinab. ›Heraus mit dir, Bürschel!‹

Ich raffe mich auf, trete aus dem Gefängnis auf die Straße, ein Offizier springt auf mich zu, auf das Gefängnis deutend, schreit er mich an: ›Was tun Sie da drinnen? Marsch in die Reihe!‹

In die Reihe? Ja, da stehen sie, mehr als zwanzig junge, zum größten Teil verbundene, verwundete Rotgardisten und Arbeiter, umgeben von je zwei Reihen weißer Soldaten: das Exekutionspeloton. Ich weiß nicht, wie lange wir so stehen.

Der Führer des Zuges scheint noch auf etwas zu warten, richtig, da erscheint der Vorstand des Bezirksgerichtes, er tritt auf mich zu, zieht sein Notizbuch, fragt jeden der Todeskandidaten nach seinem Namen, auch den meinigen schreibt er auf, fein säuberlich, sine ira et studio. Ein Kommandoruf, ein kurzer Trommelwirbel.

In diesem Augenblick packt mich das Grauen.

Ich behalte automatisch meine Haltung, wie eine Puppe, die man in eine bestimmte Stellung gebracht hat, der Zug bewegt sich über den Hauptplatz, Hunderte von Zuschauern umsäumen die Straßen. Der Zug nähert sich der Bleichwiese, der Exekutionsstätte.

Dann kommt etwas Schreckliches, da steht mitten in der Straße ein großer grauer Wagen, der schwenkt vor der Spitze unseres Zuges ein, fährt vor uns her, ein eigentümlicher Geruch geht von ihm aus, wie süßlicher Karbolgeruch von desinfiziertem Verbandzeug, wir brauchen kein Verbandzeug mehr.

Der Wagen scheint größer, immer größer zu werden, ich habe plötzlich das Gefühl, dieser Wagen, grau und riesengroß, ist der Abschluß meines Lebens.

Wir stehen auf der Bleichwiese, sie wird im Westen durch einen Bahndamm abgeschlossen, in einer Entfernung von hundert Metern stehen Scharen Neugieriger. Wir werden mit dem Rücken an den Bahndamm gestellt, Soldaten nehmen in einer Entfernung von etwa acht Metern vor uns Aufstellung, da stürzt einer von uns zu dem Leutnant, der das Peloton kommandiert, hastig, mit der Stimme sich mehrmals überschlagend, stammelt er, während des Krieges U-Boot-Matrose in der kaiserlichen deutschen Marine, nach der Demobilisierung arbeitslos, auch der Vater war arbeitslos, die Mutter krank, was die rote Armee bezweckte, wüßte er nicht, aber Hunger tue weh, so sei er der Roten Garde beigetreten. Er bittet, er fleht. Es hilft ihm nichts, Stahlbehelmte stoßen ihn in die Reihe zurück.

In diesem Moment geschieht etwas Unerwartetes, die Verwirrung, die durch das Vortreten des Matrosen entstand, nutzt ein anderer entschlossen aus, ein Sprung, zwei Stahlhelmleute taumeln zur Seite, ein dritter erhält einen Schlag ins Gesicht, daß ihm sofort das Blut aus der Nase rinnt, ein Moment allgemeiner Überraschung, einige Soldaten schießen mit Gewehren und Revolvern dem Fliehenden nach, treffen nicht, andere laufen dem Ausreißer nach, hindern aber dadurch die Zurückbleibenden, weiter auf den Flüchtling zu schießen. Dieser, dem die Todesangst Windesschnelle verleiht, läuft den Sümpfen der Würm zu. Erreicht er das hohe Schilf, ist er gerettet. Im letzten Augenblick noch scheint ein Hindernis ihn aufzuhalten, ein Arbeiter stellt sich mit ausgebreiteten Armen dem Fliehenden in den Weg, um ihn den Henkern zurückzugeben, die Todesfurcht gibt Riesenkräfte, der Kerl erhält einen Stoß, daß er mehrere Meter zurücktaumelt, der Flüchtling erreicht das schützende Schilf. Die Aufmerksamkeit der Henker wendet sich wieder uns zu.

Der Offizier deutet auf mich: ›Dies ist der Rädelsführer, der muß erst zusehen, wie es geht.‹ Ich werde zur Seite geführt.

›Hände hoch!‹ Die Armen heben die Hände in die Höhe. ›Ihr habt die Waffen getragen gegen eure rechtmäßige Regierung, darauf steht die Todesstrafe.‹ Ein halblautes dünnes Wimmern ist die Antwort, mir steht das Herz still, ich wende mich halb zur Seite, um nichts zu sehen. Eine Waffe getragen? Ich habe gleich andern nie eine Waffe getragen.

Die Stimme des Offiziers ertönt: ›Revolver rechts und links an seine Schläfen, willst du hinschauen, du Hund!‹ Ich muß mich fügen, sehe und sehe die Unglücklichen im Feuer zusammenbrechen, sie fallen hintenüber wie Säcke. Nach der ersten Salve einige unregelmäßig abgefeuerte Schüsse, einer schreit noch nach dem zweiten Schuß, da tritt ein Soldat bis auf zwei Meter an ihn heran und gibt ihm den Fangschuß.

Der Offizier wendet sich zu mir.

Da keucht jemand heran: ›Herr Schleusinger, Sie werden nicht ... Herr Leutnant, warten ... da!‹ Er deutet auf die Straße, die wir gekommen waren, ein Mann läuft aus Leibeskräften, schon von weitem mit einem weißen Zettel winkend, es ist der Ortsvorsteher, wortlos reicht er dem Offizier das Papier, dieser liest, macht ein enttäuschtes Gesicht.

›Der Mann ist in das Gefängnis zurückzuführen, er wird dem ordentlichen Gericht überstellt.‹ Ich werde ins Gefängnis zurückgeführt.

Ich bin wieder in meiner Zelle, erschöpft sinke ich aufs Lager. Ich bin gerettet.

Um zehn Uhr besucht mich ein guter Freund, von ihm erfahre ich, daß noch einer der zum Tode Verurteilten gerettet worden ist, diesen Mann haben zwei Lungenschüsse nicht getötet, nach mehreren Stunden gab er Lebenszeichen von sich, rohe Soldaten wollten dem Bedauernswerten, der wie die anderen Erschossenen von den Hütern der Ordnung bis auf Hemd und Hose ausgeraubt war, vollends den Garaus machen, ein junger Lehrer und dessen Bruder luden ihn jedoch auf eine Tragbahre und brachten ihn ins Krankenhaus. Den Soldaten, die nach einigen Minuten vor dem Krankenhaus die Herausgabe des ihnen entrissenen Opfers forderten, wehrte der Arzt den Eintritt.

Um elf Uhr wird mein väterlicher Freund, der Starnberger Bahnvorsteher erschossen, ein furchtbares Jammern und Schreien und Flehen schreckt uns alle auf, erfüllt alle Gänge des Gefängnisses, plötzlich wird es ruhig, ein Schuß kracht, noch einer. ›Er ist eben erschossen worden, er wollte die Eisenbahnbrücke nach München sprengen‹, flüstert der Gefängnisverwalter. Ich weiß, daß ein Mord geschehen ist, vor vierzehn Tagen war es, als in eine wichtige Sitzung des Arbeiterrats das Telegramm der Regierung Hoffmann aus Bamberg wie eine Bombe geplatzt war, auf den Sozialdemokraten machte das Telegramm tiefen Eindruck, er bat ums Wort: ›Genossen, ich bin Beamter, bin Bahnmeister, ich habe Familie, ich darf es nicht riskieren, brotlos zu werden, ich erkläre meinen Austritt aus dem Arbeiterrat.‹ Wir hielten ihn nicht. Nun ist er tot, standrechtlich erschossen, trotz aller Vorsicht. Der Mann hätte niemals eine Brücke gesprengt.

Fünf Uhr abends, vor dem Gefängnis Stimmengewirr, Schreien, Tritte von vielen Menschen, drei Rotgardisten werden eingebracht, alle drei blutüberströmt, der eine, ein junger Genosse, bis zur Unkenntlichkeit geschlagen, das Gesicht aufgeschwollen und in allen Farben spielend, zweimal haben sie ihn an die Wand gestellt; aber er schlug wie rasend um sich, biß, wälzte sich auf dem Boden, schnellte empor.«

Die Weißen fragten nicht nach dem Parteibuch, vor den Gewehrläufen waren alle Republikaner gleich, Kommunisten und Sozialdemokraten, Unabhängige und Parteilose.

 

Sie ermordeten Eglhofer, die Frau eines Arztes wollte ihn im Auto retten, als das Auto an einer Straßenkreuzung anhielt, wurde er erkannt, verhaftet und in einen Keller der Residenz geschleppt. Er duckte sich nicht unter den Schlägen der Bürger, im Keller traten ein paar Offiziere zu einem Standgericht zusammen, es genügte, daß er zugab, Eglhofer zu sein, der Spruch hieß Tod. Die Offiziere verließen den Keller, bei Eglhofer blieb ein Soldat als Wache. Als die Offiziere gegangen waren, zog der Soldat seinen Revolver, legte ihn neben Eglhofer und wollte hinausgehen, Eglhofer rief ihn zurück: »Kamerad, du hast deinen Revolver vergessen, dachtest du nicht daran, daß ich dich überfallen konnte?«

»Wir wissen, wer du bist. Wenn du nicht willst ...«

Er zuckte die Achseln.

Der Soldat nahm den Revolver an sich, einige Minuten später wurde das Todesurteil vollstreckt.

 

Sie ermordeten Gustav Landauer, in dem die deutsche Revolution einen ihrer reinsten Menschen, einen ihrer großen Geister verlor. Ein Arbeiter, der in den letzten Stunden Gustav Landauers Gefährte war, berichtet:

»Unter Schreien: ›Der Landauer! Der Landauer!‹ bringt ein Trupp bayerischer und württembergischer Soldaten Gustav Landauer, auf dem Gang vor dem Aufnahmezimmer schlägt ein Offizier dem Gefangenen ins Gesicht, die Soldaten rufen dazwischen: ›Der Hetzer, der muß weg, derschlagts ihn!‹ Landauer wird mit Gewehrkolben an der Küche vorbei in den Hof gestoßen, Landauer sagt zu den Soldaten: ›Ich bin kein Hetzer, ihr wißt selbst nicht, wie verhetzt ihr seid.‹ Im Hof begegnet der Gruppe der Freiherr von Gagern, mit einer schlegelartigen Keule schlägt er auf Landauer ein, unter den Schlägen des Majors sinkt Landauer zusammen, er steht jedoch wieder auf und will zu reden anfangen, der Vizewachtmeister schießt auf Landauer, ein Schuß trifft ihn in den Kopf, Landauer atmet noch immer, da sagt der Vizewachtmeister: ›Das Aas hat zwei Leben, der kann nicht kaputt gehen.‹

Ein Sergeant vom Leibregiment ruft: ›Ziehen wir ihm doch den Mantel 'runter‹, der Mantel wird ihm ausgezogen. Da Landauer immer noch lebt, legt man ihn auf den Bauch, unter dem Ruf: ›Geht zurück, dann lassen wir ihm noch eine durch‹, schießt der Vizewachtmeister Landauer in den Rücken, da Landauer immer noch zuckt, tritt ihn der Vizewachtmeister mit Füßen zu Tode, dann wird ihm alles heruntergerissen und seine Leiche ins Waschhaus geworfen.«

 

Ludwig Spörer, dem ich im Gefängnis begegnete, konnte weder sprechen noch hören, an seiner Stirn zwischen den Augenbrauen kerbte sich eine tiefe, rote Narbe, ich bat ihn, mir auf einem Zettel seine Geschichte aufzuschreiben: »Ich war Rotgardist. Am 2. Mai wurde ich gefangengenommen. Weißgardisten führten mich in die Mattäserbrauerei. Ich wurde zu einem Offizier geführt. Er nahm meine Personalien auf. Dann hat er mich einem Feldwebel übergeben. Der hat mich in den Hof einer Schule geführt. Dort hat er gesagt: ›Wozu lange Umstände machen? Kerl, stell dich an die Wand!‹ Ich hab' mich, ohne viel zu überlegen, an die Wand gestellt. Furcht hatte ich schon; aber alles ging so rasch, daß ich zu langem Besinnen nicht kam. Der Feldwebel zog seinen Revolver, zielte, schoß.

Ich liege auf dem Hof. Mein Kopf fällt nach hinten. Ich fühle feucht. Er hängt wohl in eine Pfütze. Aber wie? Ich öffne die Augen. Über mir Himmel. Ich überdenke, was geschehen ist. Sehr geschwind denke ich. Der Feldwebel hat seinen Revolver gezogen, hat gezielt, hat geschossen. Das habe ich nicht geträumt. Aber tot bin ich nicht. Wahrscheinlich nur verwundet. Wo, weiß ich nicht. Ich will mich erheben. Nein, nein, das darf ich nicht tun. Der Feldwebel sitzt vielleicht oben in seinem Büro und sieht, daß ich noch lebe. Dann kommt er und macht mir vollends den Garaus. Ich bleibe ganz steif liegen.

Wieviel Zeit verging, weiß ich nicht. Ich höre Stimmen: ›Du, da liegt ein Roter.‹ Ich fühle, wie man in meine Taschen greift, mich ausraubt. Ich muß nun doch eine Bewegung gemacht haben. Der eine sagt: ›Du, der lebt noch.‹

›Dann gib ihm den Fangschuß‹, sagt der andere. Ich fühle was Kaltes an meiner Stirn.

Als ich erwache, liege ich in einem großen Saal auf einem Operationstisch. Ich sehe Männer in weißen Kitteln und Schwestern. Ich sehe ihre Lippen sich bewegen. Aber ich höre nichts. Ich will sprechen. Kein Laut. Plötzlich erinnere ich mich: Ich bin doch tot! Was denn? Ich gebe Zeichen. Die Menschen um mich merken, daß ich nicht sprechen noch hören kann. Allmählich erfahre ich alles.

Der Schuß vom Feldwebel war an meinem Zigarettenetui abgeprallt. Vor Angst und Schreck war ich ohnmächtig geworden. Der Soldat, der mir den Fangschuß gab, hatte den Revolver an meiner Stirn angesetzt. Aber da mein Kopf nach unten hing, war die Kugel nicht in die Stirn gedrungen. Es war nur ein Streifschuß geworden. Man kann den Finger 'reinlegen, so tief ist die Narbe. Ich bin auf dem Hof für tot liegen geblieben. Abends warfen die Soldaten den Toten auf einen Wagen, auf dem schon einige Leichen lagen. Sie fuhren uns auf den Ostfriedhof. Als ich auf die Erde gelegt wurde, muß ich mich bewegt haben. Ein Pfarrer sah es und veranlaßte, daß ich in die chirurgische Klinik geschafft wurde.

Ich kam vors Volksgericht. Sie haben mir ein Jahr drei Monate Festung wegen Beihilfe zum Hochverrat aufgeschmissen. Morgen transportieren sie mich in die Festung.«

 

Die bayerische Regierung stellte einen Mann, der zweimal alle Qualen des Todes erleiden, der zweimal in Wahrheit sterben mußte, vor Gericht, verurteilte ihn und steckte ihn ins Gefängnis.

Der Justizminister jener Tage war Demokrat, er hieß Müller-Meiningen. Kein Geschehnis erhellt deutlicher den Geist unserer Justiz, das Antlitz unserer Zeit. Das Mittelalter kannte das Gottesurteil, bewahrte das Schicksal den Gefangenen vor dem Tod, schenkte die irdische Justiz ihm Freiheit. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, wir sind stolz auf unsere Humanität, auf unseren Fortschritt.

 

Erst als versehentlich einundzwanzig Mitglieder des katholischen Gesellenvereins verhaftet wurden und weiße Soldaten die Gefangenen, die man in einen Keller gesperrt hatte, erbarmungslos niederhieben, niederstachen, niederschossen, erzwang die Regierung von den Generälen, daß kein Gefangener mehr seinem Richter entzogen werden durfte.

Es waren die gleichen Richter, die ein Jahr später ihre Ansprüche auf höhere Gehälter damit begründeten, daß sie im Kampf der Regierung gegen die Revolution ihren Mann gestanden hätten.

 

Der Reichswehrminister Noske dankte dem Oberbefehlshaber der weißen Truppen mit diesem Telegramm:

»Für die umsichtige und erfolgreiche Leitung der Operationen in München spreche ich Ihnen meine volle Anerkennung aus und den Truppen meinen herzlichsten Dank.«


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