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Königsthränen.

Das ist das schönste Vorrecht bei den Fürsten,
Daß ihnen Schmerz und Freude unterthänig.
Ein Gnaden-Füllhorn ist das goldne Zepter
Und fremdes Leid zu lindern, der Beruf
Der Stellvertreter Gottes auf der Erde.
» Die Töchter der Sterne,« IV. Scene.


Im Königsschlosse zu S… lehnte an einer Fensterbrüstung des oberen Stockwerks ein junger Mann von kaum dreißig Jahren. Er trug einen schwarzen Frack und ein weißes Halstuch, das sehr vortheilhaft das etwas sonnengebräunte Gesicht hervorhob. Die Züge desselben waren edel und nur von einem vielleicht zu strengen Ernst, der noch schärfer durch einen leisen sarkastischen Anflug, von den Mundwinkeln ausgehend, hervortrat. Das dunkle Auge indessen, welches man von großer Schönheit nennen mußte, konnte je nach den Umständen und der Anregung der Seele, entweder den Ausdruck der Strenge bis zu einem verbindlichen Lächeln mildern, oder bis zum höchsten Grade verschärfen.

Mit großer Aufmerksamkeit und, wie es schien, mit einer gewissen Neugierde, blickte er hinunter auf den Schloßplatz, wo sich ein buntes wechselreiches Bild des Lebens entfaltete. Ihn fesselte jedoch nicht das marktschreierische Wesen der Verkäufer, nicht das glänzende Schauspiel einer Parade des neunten Regiments, noch der klare blaue Himmel, die heitere Juli-Sonne – am Ende des Platzes, da, wo die Kreuzstraße mündet, stand an einen Pfeiler gelehnt, ein großer starker Mann, der die Hälfte seines Lebensalters bereits überschritten zu haben schien, wenigstens ließ dies Haar und Bart vermuthen, die beide in ein lichtes Grau hinüberspielten.

Der Herr am Fenster betrachtete ihn lange und mit ungetheilter Aufmerksamkeit; er beobachtete genau jede seiner Bewegungen. Als die militärische Parade beendigt war, sah er deutlich, wie der Mann seinen Stand am Pfeiler verließ, lebhaft einige Unteroffiziere des genannten Regimentes begrüßte und mit ihnen in ein in der Nähe gelegenes Wirthshaus trat.

Der schwarzgekleidete Herr fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er eine Erinnerung wecken, dann von einem Gedanken lebhaft überrascht, entfernte er sich vom Fenster und trat an einen Tisch des reichgeschmückten Zimmers. Hastig durchblätterte er einige Papiere, die auf demselben lagen, und zog mit einem leisen Lächeln der Befriedigung die Glocke.

Ein Diener in königlicher Livre trat ein.

»Dies an den Polizei-Direktor!« sagte er, indem er ein schnellgeschriebenes Billet dem Diener, der sich sogleich mit einer tiefen Verbeugung wieder entfernte, übergab.

Ich bin begierig zu erfahren, ob ich mich getäuscht habe, sprach der Herr für sich, mit einem Ausdrucke, der im Voraus das Gegentheil versicherte, und ergriff seinen Hut; in diesem Augenblicke wurde ihm eine Dame gemeldet.

»Es ist für heute zu spät, sie soll morgen wiederkommen!«

»Sie spricht von einer dringenden Angelegenheit,« wagte bescheiden der Meldende einzuwenden.

»So laß sie eintreten!«

Der Diener ging und öffnete gleich darauf der Angemeldeten die Thüre.

Mit einem schnellen Blick überflog der Herr die Gestalt der sich Tiefverbeugenden. Er kannte sie nicht, war jedoch überrascht, ein Mädchen zu sehen, das gerade von keiner blendenden Schönheit, aber doch von jenem Zauber der Persönlichkeit strahlte, der sich nicht aussprechen, nur fühlen läßt. Ein großes, ruhiges Auge, von einem tiefdunklen Blau, spiegelte eine Seele ab, die geduldet und mit Schmerzen gerungen hatte; und, mag man sich auch dagegen sträuben, das wahre Weh findet immer eine offene Stelle in unserm Herzen, einen unbewachten Weg selbst in ein verhärtetes Gemüth. Es war von einer so tiefen Klarheit dies Auge, wie ein See im Waldesdunkel, der auf seinem innersten Grunde reiche seltene Perlen verräth, und, wie man seinen Reichthum ahnend, immer und wieder in die krystallenen Fluthen hinuntersieht, so fesselt unwiderstehlich die traumhafte, geheimnißvolle Macht eines seelenvollen Blicks. Es giebt eine Gewalt im Auge, die Heeresmassen entflammt, es giebt einen Blick, der Verbrecher zum Nachdenken bewegt.

Der dienstthuende Herr fragte das Mädchen nach ihrem Namen. Sie nannte sich Clara P… und brachte mit Bescheidenheit ihr Anliegen vor. Betroffen ließ sich der Herr den Namen wiederholen. Sie that's, indem sie mit einiger Befangenheit hinzufügte:

»Ich weiß, daß ich, wenn gewisse Voraussetzungen stattfinden, keinen Anspruch auf die Gewährung meiner Bitte machen kann, aber die Gnade reicht weit, sie kann alle Hemmnisse besiegen; die Gnade ist ein Wort von so reichem Inhalt wie ...«

»Wie die Liebe,« ergänzte lächelnd der Herr, indem er sie forschend betrachtete.

»Ja, wie die Liebe; aber das ist ein krankes Wort, es schließt den Tod in sich,« erwiderte mit leisem Schmerz das Mädchen, »die Gnade spricht lebendig.«

»Sie setzen darauf viel Vertrauen; kann es Ihnen die ganze Ruhe wiedergeben, wenn Sie erreichen, was Sie wünschen?«

Das Mädchen schwieg und senkte den Blick zu Boden.

»Sie schweigen und antworten doch,« betonte der Herr, indem er dann ernster hinzufügte: »Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß sich Ihrem Gesuche Schwierigkeiten entgegenstellen. Seine Majestät ist jetzt von Sorgen so mannigfach in Anspruch genommen, daß wir uns großer Verantwortung aussetzen, wenn wir die Zeit des Königs mit Privatgesuchen verkürzen wollten.«

»Der Bettler ist ein Glied des Staates und hat ein Recht auf das Ohr seines Königs, so gut, wie der Minister,« unterbrach ihn Clara groß.

»Wohl,« lächelte sarkastisch der Herr, »die Bettler suchten das auch zu beweisen, und brachten durch ihren Aufruhr den Staat an den Rand des Verderbens; Sie werden nun eingestehen müssen, daß Seine Majestät billig zu thun hat, die Spuren der schmutzigen Wirthschaft zu verwischen.«

»Sie schmähen die Armuth,« versetzte tief verwundet das Mädchen, »das möchte ich Ihnen verzeihen, gnädiger Herr, aber das Sie das zu thun vermögen im Angesichte eines Kindes der Noth selbst, erfüllt mich mit Schmerz. Sie kennen die Schichten der niedern Gesellschaft nicht, ich kann also mit Ihren Ansichten nicht rechten und sie auch nicht verdammen, aber die Menschen, die uns unbekannt sind, verdienen wenigstens, so lange sie uns keine andere Ansicht aufdringen, unsere Achtung. Wer das vergißt, kann Der Theilnahme von Fremden erwarten?«

Der Herr war verlegen; er gestand sich ein, daß jenen Aussprüchen etwas Wahres zum Grunde liege. Es war die Sprache eines reinen Gemüthes, das an vorgefaßter. guter Meinung festhielt, und sich diese auf alle Wesen übertrug. Er wollte ihr diesen selten gewordenen Glauben nicht nehmen, es reizte ihn aber doch noch, zu äußern:

»Es wäre für die Tochter Ihres Herrn Vaters ein Leichtes, sich alle Thüren zu öffnen, wenn Sie von seinen Interessen die Ihrigen trennen wollten?«

Sie sah ihn fragend an; er bereute die verfänglichen Worte und erklärte mit geschickter Wendung:

»Ich meine, Sie würden willkommner sein, wenn Sie für einen andern Vater bäten.«

»Mein Vater ist gut,« entgegnete sie einfach.

Der Kammerherr von Reichthal war entwaffnet. Es sprach etwas in ihm für das Mädchen, die bei aller Anspruchslosigkeit, doch etwas jeden Widerstand Entfesselndes, Besiegendes hatte. Er wußte, daß der König seit einiger Zeit, durch bittere Erfahrungen und überspannte Forderungen gekränkt und verletzt, nur ungern Audienzen ertheilte, er wußte auch, daß er sich der Gefahr aussetzte, einen Verweis zu erhalten. Er zögerte noch, als er die Frage an Clara richtete:

»Haben Sie Ihr Gesuch nicht schriftlich aufgesetzt?«

»Nein,« antwortete das Mädchen, »das Geschriebene ist nur ein schwacher Abdruck unserer Empfindungen. Das Gefühl verliert und erkaltet, während wir die Worte auf das Papier werfen, das Herz muß zum Herzen sprechen.«

»Ich will es versuchen, Seine Majestät für diese Audienz zu gewinnen, doch messen Sie mir die Schuld nicht zu, wenn es nicht geschieht; auch verurtheilen Sie deshalb den König nicht, ich sage Ihnen aufrichtig, sein Herz ist gut, aber seine Güte ist mißbraucht worden. Verzeihen Sie einen Augenblick.«

Der Kammerherr ging, indem er mit Mühe verhinderte, daß ihm das Mädchen mit dankbaren Blicken die Hand küßte.

Clara wartete mit ruhiger Ergebung auf die Zurückkunft des Kammerherrn; sie hatte das Bewußtsein, ihre Pflicht erfüllt zu haben, und dieses Gefühl giebt immer eine gewisse Sicherheit, selbst in Momenten, wo wir wissen, daß unser Schicksal von einem einfachen Ja oder Nein abhängig ist; wo wir wissen, daß unser Lebensglück auf dem Spiele steht. Der Werth eines solchen Bewußtseins ist freilich in den Augen der Masse sehr relativ; der Ausgang eines Unternehmens giebt diesem erst Namen, Werth und Bedeutung. Jemand, der eine Krone stiehlt und sich in ihrem Besitz behauptet, wird bewundert; wer einen Edelstein aus der Krone entwendet, heißt ein Dieb. Das Bewußtsein eines redlichen Gewissens ist eine große moralische Kraft, aber der Schwerpunkt ruht nur in uns; soll die Wirkung auf Andere gleichfalls übergehen, bedarf es äußerer Hülfsmittel. Wer einsam steht, wird nicht beachtet. Der Reichthum verleiht einem Schurken einen Schutzbrief, dem Rechtschaffenen einen Heiligenschein. –

Clara war arm, verlassen, sie hatte keine Freunde, kein Vermögen. Ihr Vater war ihr nichts, als was eben die nothwendigste Pflicht gebot, sie hatte keinen Bruder, keine Schwester. Ihr junges Leben war eine fortlaufende Kette von Entbehrungen und der niedrigsten Sorgen; und was kann es Schlimmeres geben, als eine verlorene Jugend! Was kann dafür entschädigen? Erfahrung, ein ruhiges Alter mit dem Rückblick auf eine trübe Vergangenheit? Wo es keinen Frühling giebt, folgt auf den heißen Sommer ein schneller Winter. Die Strahlen der Jugendfreuden sind das Roth am Abendgrau unseres Lebens. Keine Zeit kehrt zurück, sie kann sich wiederholen in Diesem und Jenem, aber die Jugend wiederholt sich in nichts; sie nimmt uns Alles, selbst die Thränen, denn die Thränen der Jugend sind die der Freude. –

Der Kammerherr kam aus dem Kabinett des Königs zurück, mit einem Lächeln, welches so zweideutig Gewährung oder Versagen verbarg, daß Clara in großer Unruhe die Entscheidung erwartete. Baron von Reichthal war auf Kosten des Menschen durch und durch Diplomat geworden, und diese Herren enthüllen gewöhnlichen Persönlichkeiten selbst das Glück, so zu sagen, nur tropfenweise. Er machte dem geängstigten Mädchen in langsamen Worten die Mittheilung, daß der König ihr die gewünschte Audienz heute nicht gewähren könne.

»Nicht?« fragte Clara bestürzt, und brach in Thränen aus.

»Beruhigen Sie sich,« entgegnete etwas rascher der Kammerherr, »nur heute nicht; wenn Sie sich morgen wieder hierher bemühen wollen, werden Sie Seine Majestät vielleicht zu sprechen bekommen.«

Clara gerieth in freudige Erregung, es entging ihr aber dennoch das bedingende Vielleicht nicht, und sie wiederholte zögernd: »Vielleicht?«

»Es wird von einigen Erkundigungen abhängen, die ich noch einzuziehen habe; ich hoffe aber in Ihrem Interesse, daß diese nicht ungünstig ausfallen werden,« erwiderte der Kammerherr.

»Ueber mich?« lächelte Clara.

»Sie sagten ja selbst, daß der Bettler so gut ein Anrecht auf das Ohr seines Königs habe, wie der Minister,« wich schlau der Baron aus, indem er eine Verneigung wie zum Abschiede machte.

 

Clara ging, nicht mit jener Befriedigung, die sie gehofft hatte, aber doch mit einer Zufriedenheit, wie sie sie lange nicht empfunden. Ueber ihr kummerbleiches Antlitz flog sogar ein leichter Rosenschimmer, der zur Purpurgluth wurde, als bei der Biegung einer Straße ihr ein junger Mann in Offiziers-Uniform begegnete. Er grüßte flüchtig, kalt, ja verletzend. In der Art eines Grußes liegt unendlich viel, die tiefste Verbeugung kann ein ruhiges, abgewandtes Gesicht vernichten, eine Bewegung der Hand das freundlichste Entgegenkommen. Clara fühlte das, und ihre Purpurgluth wurde zur Todtenblässe, sie mußte stehen bleiben und sich an der Thürpfoste eines Hauses festhalten, um nicht umzusinken; – der einzige schöne Traum ihrer Jugend war vorübergegangen, ohne ein Lächeln zu hinterlassen, ohne eine Blume hinzustreuen, eine kleine winzige Blume, die man dem Bettler giebt, wenn es ihn erfreuen kann. –

Die Farbe der einst so herrlichen Blüthen ist dahin, sie sind welk und dürr, aber ihr Duft hätte doch bleiben können, der lindernde Hauch aus dem geschlossenen Kelche der Erinnerung! dachte Clara und sandte dem längst Entschwundenen einen Blick nach, aus dem das ganze Weh eines verwundeten, kranken Herzens sprach.

Ermüdet und erschöpft kam sie nach Hause; sie wohnte in einer abgelegenen Straße in zwei bescheidenen Zimmern, die sie mit ihrem Vater theilte. Er war ausgegangen, die kleine Minna, ein ungefähr sechs Jahr altes Kind der Hauswirthin, meinte, er würde bald zurückkommen. Clara besorgte das Nöthigste für die Hausordnung und legte sich nieder; sie fühlte sich ernsthaft krank, und das so lange zurückgehaltene Fieber besiegte endlich ihren moralischen Widerstand, und zwar in um so heftigerem Ausbruch; nichtsdestoweniger eilte sie am andern Morgen zur bestimmten Stunde auf das königliche Schloß.

 

Der Kammerherr von Reichthal empfing sie, wie er sie gestern entlassen hatte, artig und lächelnd, mit einigen flüchtigen Fragen über den Grund ihres krankhaften Aussehens.

»Es ist das Absterben der Seele,« erwiderte sie mit unterdrücktem Schmerz und folgte dem Kammerherrn in die Gemächer des Königs.

In einem einfachen, nur durch einige kostbare Gemälde ausgezeichnetem Zimmer hieß er sie verweilen, und entfernte sich durch eine andere Thür.

Clara fühlte sich sehr ermüdet, wagte es aber nicht, sich zu setzen. Sie betrachtete mit unschuldiger Neugierde alle Gegenstände und mußte sich gestehen, daß sie sich einen ganz anderen Begriff von einer königlichen Einrichtung gemacht hatte. Da waren die Tische und Stühle keineswegs aus purem lauteren Golde, wie sie ihrer Einbildung vorgeschwebt haben mochten, Alles war reich, aber nicht überladen. Das ist die wahre Pracht, die allen blendenden Prunk verschmäht.

Ihre besondere Aufmerksamkeit erregte ein großes, sorgfältig ausgeführtes Gemälde. Es stellte einen König dar, inmitten seines Volkes, wie er sich eine Dornenkrone aufs Haupt setzte, während die goldene zu seinen Füßen lag. Die mittelalterliche, ritterliche Tracht, das Kreuz auf den Mänteln der Männer, einige Palmen und Oelbäume im Hintergrunde des Tableaux, erinnerten an Palästina, an Gottfried von Bouillon.

Clara war ganz in das Anschauen des Bildes vertieft, als sie ein leises Geräusch hinter sich vernahm. Schnell, erschrocken wandte sie sich um – der König stand vor ihr. Er betrachtete sie lange und durchdringend und sprach leise zu dem ihn begleitenden Kammerherrn. Clara zitterte und fühlte etwas von »den Schauern der Majestät;« und, mag man es leugnen wollen oder nicht, es ist doch wahr, die Hoheit geht im Gefolge einer geheimnißvollen Macht, sie drückt nieder, erhebt, läßt verstummen, begeistert. Die erste Begegnung mit einem Fürsten ist eine verlorene, fühlt man nicht etwas von dem höchsten Adel, von dem Blute eines Genie's in seinen Adern; man vergißt so leicht die Thaten, die an der Krone haften. Die Meisten werden schwach, und vergessen Alles über den Purpur, der von den Schultern des Gesalbten niederwallt. –

Der König fragte Clara nach ihrem Begehren. Sie brachte stammelnd ihr Anliegen vor. Ihm schien der unzusammenhängende Bericht zu mißfallen, er hieß sie, ihn zu wiederholen. Clara that es gefaßter und erzählte:

»Majestät, mein Vater ist alt und schwach geworden, er hat dem Staate durch eine lange Reihe von Jahren gedient, aber es geschah von keiner Seite etwas, ihn dafür zu entschädigen. Sire, es ist für einen zum Krüppel geschossenen Soldaten schwer, etwas zu verdienen; ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, daß sich mein alter Vater die redlichste Mühe gab, dies zu thun; aber wie konnte es glücken, wenn der Arm die Kräfte versagte, das müde Haupt den Willen nicht unterstützte? Das Alter ist nicht glücklich, zehrt es nicht von den Ersparnissen der Jugend, und diese Ersparnisse, Sire, hat mein Vater im Kampfe für Ihr königliches Haus, für das Vaterland geopfert. Er verschmähte es bis jetzt, ein Gesuch an die Stufen des Thrones zu legen, Ihre Unterthanen, Majestät, sind stolz, und mein Vater äußerte – vergeben Sie, Sire – wo das Gedächtniß für geleistete Thaten fehlt, ist kein Gehör und keine Milde. Ich bin dieser Ansicht nicht, Sire, und wage es nun, Eure königliche Majestät an diese unbezahlte Schuld zu mahnen.«

Der König war überrascht, er blickte mit Verwunderung auf das Mädchen, das so unscheinbar in Kleidung und mit so einfachem Wesen, eine Bildung verrieth, die an Seelengröße streifte. Er war in der Absicht gekommen, ihr harte, gerechtfertigte Vorwürfe über das Verhalten ihres Vaters zu machen, und fühlte sich jetzt in einer ganz andern, entgegengesetzten Stimmung. Er kannte den alten Soldaten sehr gut, er wußte genau alle seine öffentlichen Handlungen, und nur die dazwischengetretene Audienz hatte ihn bis jetzt veranlaßt, die bereits genehmigten strengen Maßregeln noch zu verschieben.

Er heftete mehrmals seinen Blick auf das Mädchen und wandte ihn wieder ab; er wollte ihr nicht wehe thun, sie nicht kränken, und doch forderte seine verletzte königliche Autorität eine ernste Sprache. Endlich setzte er sich, und sagte:

»Wissen Sie auch, für wen Sie bitten, Mademoiselle?«

Das Mädchen erbebte, und entgegnete leise:

»Ich weiß es, Sire; aber wessen Schuld ist es, daß sich der treueste Diener Eurer Majestät verirrte? O, der Hunger ist ein gewaltiger Hebel der Empörung, vielleicht der gewaltigste. Sie wissen nicht, was das heißt, tagtäglich der Sorge ins Auge zu blicken, so aufzustehen, so sich niederzulegen! Die Noth ist eine zu allgemeine Klage, sie verschwimmt im Geräusche des Lebens. Die Gewohnheit ist die Schwester des Menschen, selbst im Elend wird sie nicht verstoßen, aber das Auge ist von ihrem Anblicke blind geworden, taub das Ohr. Fehlen diese Sinne, schwindet das Gefühl, so wird der Mensch der Spielball eines Luftzuges. Sire, man kann von einem Könige nicht verlangen, daß er sich hinausbegebe und jedem Einzelnen zuwinke, aber, Majestät, die Diener des Staates sind sein Auge und Ohr, diese Vielen sollen den König vertreten, diese haben die Pflicht, Alle aufzusuchen. Sire, die Armuth ist bitter, aber sie fühlt sich nicht mehr verlassen, und welches Gefühl könnte wol drückender sein? empfindet sie den unsichtbaren Schutz der Krone. Darauf hat mein Vater bis jetzt vergeblich gewartet.«

Der König war sichtlich ergriffen, er winkte dem Mädchen fortzufahren, als sie einhielt.

»Sire, blicken Sie auf dies Gemälde, es hat mich sichtlich ergriffen. Welche unendliche Gedankenreihe liegt zwischen der Dornenkrone und der goldenen, welche Zustände, Gefahren und Begebenheiten! Das Kreuz auf der Brust, zogen sie aus, die Wallfahrer von Frankreich, Deutschland, Italien, Ungarn und Polen. Alle wollten nach dem heiligen Grabe, nach Jerusalem, die Sonne wollten sie sehen, wo sie aufgeht, das Bild des Erlösers leuchtete ihnen auf mühseligen Pfaden als hohes Ziel. Wenige erreichten es, die Wenigen trennte Neid, Haß, das Verlangen nach eigener Größe. Die Spuren fanden sie, die der Gekreuzigte wandelte, aber sie beachteten sie nicht, sie gingen darüber hinweg, und wollten für sich erobern, zerstören. Während sie am Grabe knieten, blickten sie hinüber nach den gesegneten Fluren der Sarazenen, und verloren die Heimath und das Blut dessen, um wessenwillen sie gekommen waren, aus den Augen. Die als Brüder die Stätte betraten, trennten sich als Feinde. Ihr König stand aufrecht wie ein Fels unter ihnen, aber einsam. Die goldene Krone, das Ideal liegt zu seinen Füßen, die Wirklichkeit verwundet und drückt sein Haupt. So ist es noch, Sire, die Zeiten haben sich nicht geändert, die Menschen sind nicht besser geworden, aber der Geist schwebt über den Trümmern früherer Jahrhunderte und lichtete ihre Augen. Die Klarheit, die von ihm ausgeht, dringt in die verborgensten Winkel. Ueberall steht ein Richterstuhl und fordert Verantwortung. Man weiß, was man fordern darf. Wo ein König geht mit der Dornenkrone auf dem Haupt, beugen Millionen das Knie. In politischen Prozessen zählen die Thränen des Einzelnen nicht mehr die Eltern, die Brüder, es zählt sie das ganze Volk, die Thränen, die über den Tod eines gerechten Königs fließen, empfindet die ganze Welt.«

»Und wie,« lächelte der König, dem die schwärmerische Erregtheit des Mädchens gefiel, »wie glauben Sie, daß ich eine dieser Königsthränen verdienen könne?«

»Sire,« erwiderte das Mädchen zögernd, »geben Sie Ihre Zurückhaltung auf, zeigen Sie sich im Volk, es wird Ihnen entgegenjubeln. Die unsichtbare Majestät erweckt Scheu, und scheue Ehrfurcht ist kein Ersatz für die Liebe. Sire, geht diese verloren, stirbt sie, so stirbt mit ihr die adelnde Gesinnung im Volke, die Achtung. Was einmal begraben liegt, läßt sich nicht wieder erwecken. Sire, es giebt kein ärmeres Volk, als das, welches seine Liebe für den angestammten Herrscher verloren hat, es sucht umher nach Schutz und Recht, es geräth ins Schwanken, Achtung und Vertrauen gehen verloren und die Kraft des Bewußtseins wird vernichtet. Liebe des Volkes ist etwas unendlich Großes, wer sie verschmäht, verdient kein Blatt in der Geschichte, nicht die Thränen des Volkes!«

»Die Königsthränen!« rief der König aufspringend und einige Mal durch das Zimmer schreitend. Clara wagte nicht, ihn anzusehen, es war ihr, als hätte sie zu viel gesagt, und doch war ihr Herz freudig bewegt über seine freundliche Theilnahme. Der König trat, die Befangenheit des Mädchens bemerkend, mit einigen Worten der Aufmunterung wieder an sie heran, und fragte dann:

»Glauben Sie nicht, daß ich mein Volk liebe?«

»Ich glaub' es gewiß.«

»Nun also?« fuhr der König heraus, »nun also? Kind, der Staat ist keine Familie, die Liebe, die Sie predigen, kann nur in engeren Grenzen gedeihen, darüber hinaus erzeugt sie Auswüchse. Genug davon! – Ihr Vater hat mir als Kapitain gedient, Sie wollen für ihn eine Pension auswirken?«

»Er verdient sie, Sire.«

»Durch seine im Felde bewiesene Bravour ja, aber nicht durch sein Betragen. Er hat sich in demokratische Verbindungen eingelassen, die den Umsturz des Staates bezwecken, deshalb ist ihm die bereits bewilligt gewesene Pension wieder entzogen worden. Hat es mit diesen Verbindungen nicht seine Richtigkeit?«

»Ja, Sire, aber sie sind nicht gefährlicher Art.«

»Das weiß ich besser; ich ehre jedoch Ihren kindlichen Sinn, und um so mehr, da ich in Erfahrung gebracht habe, daß er Sie hart behandelt.«

Clara war überrascht, den König so genau von den Verhältnissen ihrer Häuslichkeit unterrichtet zu finden, ein Blick auf den nebenstehenden Kammerherrn klärte sie aber auf. Sie fühlte sich sehr erschöpft, und eine fliegende Röthe, die Anzeichen einer Krankheit, glitt über ihr sonst so auffallend bleiches Gesicht, dennoch faßte sie sich und erwiderte:

»Sire, mein Vater wird vielleicht Ursache haben, über mich zu klagen. Das Alter ist mürrisch und verlernt die Sprache der Jugend; was Einem unverständlich ist, kann ihm nicht zum Vorwurf gereichen. Die Sorge ist seine Führerin gewesen durchs Leben, konnte er die Freude kennen lernen? Doch bin ich mir bewußt, ihn nie wissentlich gekränkt zu haben.«

»Sie sind ein edles Mädchen,« rief der König bewegt, »aber Sie leiden, ich sehe es an ihren kummervollen Zügen; Sie arbeiten zu viel, ich weiß das recht gut, Sie wachen die Nächte hindurch, um Ihren Vater zu erhalten, oder lieben Sie vielleicht unglücklich?«

»Sire!«

»Nun, nun, Sie dürfen mir schon vertrauen! Ich nehme Interesse an Ihnen, erzählen Sie mir davon, wenn Sie mich Ihres Vertrauens für werth erachten.«

»Sire,« entgegnete das Mädchen, mit Gewalt die Thränen zurückdrängend, »es ist eine einfache Geschichte, eine Begebenheit, die täglich vorkommt, die geschehen wird, so lange es noch ein ungebrochenes Herz giebt. Sire, ich lernte auf der Hochzeit meiner einzigen Freundin einen jungen Offizier kennen. Sie war sehr traurig, diese Vermählung; als, die Braut an der Hand, der Bräutigam aus der Kirche trat, stürzte ein junges bleiches Weib zu seinen Füßen. Ihr Haar war aufgelös't und alle ihre Bewegungen verriethen einen schrecklichen Grad der Verzweiflung. Ein kleines, kaum zwei Jahr altes Kind drängte sich weinend an die bemitleidenswerthe Mutter. Mit abgewandtem Gesicht schritt der neue Ehemann über sie hinweg, hob seine erbleichende junge Frau in den Wagen und jagte davon. Dies Bild vor Augen, erlaubte ich dennoch dem jungen Offizier, mich zu besuchen. Er kam. Die erblichenen Rosen auf meinen Wangen erblühten wieder, um nach wenigen Monaten rascher hinzusterben. Ich beweine aber die Vergangenheit nicht, eine Stunde voller hingebender Liebe wirft den rosenfarbenen Schimmer darauf, ich weine über die sternenlose Nacht der Gegenwart.«

Der König wollte etwas erwidern, als ihn der Parademarsch eines vorüberziehenden Regiments ans Fenster lockte; zu gleicher Zeit trat ein Adjutant mit einer Meldung ins Zimmer. Er wechselte die Farbe, als er Clara erblickte, und machte ihr, sichtlich verlegen, eine leichte Verbeugung, was dem scharfblickenden Kammerherrn nicht entging. Verbindlich lächelnd, aber mit faunischer Grazie fragte er:

»Haben Sie, Herr Adjutant, die Ehre, von diesem Fräulein gekannt zu sein?«

Der Offizier, noch befangener gemacht, suchte sich zu fassen, und erwiderte: »Allerdings ist es ein Vorzug, von dieser Dame gekannt zu sein; ich weiß ihn zu schätzen.«

»Und zu vergessen,« ergänzte der Kammerherr.

Der König trat mißmuthig vom Fenster, indem er ausrief:

»Beim neunten Regimente scheint ein Geist der Unordnung eingerissen zu sein; ich bemerke das aus einigen Bewegungen der Mannschaft hinter dem Rücken der Offiziere; und drüben, an der Ecke einer Straße lehnt ein alter Mensch, der früher Soldat gewesen sein muß. Er trägt eine auffallende Kokarde und haranguirt die Soldaten, die ihm aus geschlossenen Reihen entgegenrufen. Lassen Sie diesen Menschen sogleich verhaften, Herr Adjutant.«

Als sich der Offizier entfernt hatte, wandte sich der König, seine Stimme etwas mildernd, wieder an Clara:

»Mademoiselle, es ist ein eigenes Verlangen, das Sie stellen. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich den aufrichtigen Willen hege, meine Unterthanen glücklich zu sehen, aber sie müssen es auch verdienen. Wenn Ihr Vater kein Vertrauen zu seinem Könige hat, er, ein alter Soldat, wie kann ich welches zu ihm fassen? Wird er überdies meine Gnade nicht zurückweisen? Weiß er von Ihrem Gesuch?«

»Nein, Majestät, er hat keine Ahnung davon; überhaupt war seit langer Zeit nicht mehr die Rede zwischen uns von seinem Anspruch auf eine Pension.«

»Wie kommt es,« fragte der König weiter, »daß Sie sich erst jetzt an mich wenden, da Sie längst den Plan verfolgt zu haben scheinen.«

»Sire,« entgegnete das Mädchen, »ich fühle mich seit Kurzem leidend, ich kann nicht mehr mit meiner Händearbeit so viel verdienen, wie früher, und dann,« setzte sie bebend hinzu, »und dann fühle ich, daß ich nur noch wenige Tage zu leben habe.«

Eine Pause trat ein. Mit sichtlicher Rührung betrachtete der König das Mädchen, das ihm eine Tiefe des menschlichen Gemüthes enthüllte, welche er nicht geahnt hatte. Er blieb vor ihr stehen und sah sie lange schweigend an, dann sagte er mit gewinnender Freundlichkeit:

»Sagen Sie mir offen, Mademoiselle, kann ich Ihnen helfen? Ich vermag viel, sagen Sie, kann ich es?«

»Seit gestern, Sire,« erwiderte zitternd das Mädchen, »ist es zu spät. Als ich das Schloß Eurer königlichen Majestät verließ, begegnete mir der junge Offizier, von dem ich Ihnen berichtete. Er grüßte mich kaum, ging kalt an mir vorüber. Sire, folgt der hingebenden Liebe unverdiente Verachtung, so erstirbt das Herz; die starken Seelen allein finden Erhaltung im Haß, meine Seele lebt und stirbt mit dem Herzen.«

»Und wer ist der Elende,« donnerte der König, »Sie bezeichneten einen Offizier, wer ist es?«

»Wahrscheinlich der Herr Adjutant,« ergänzte der Kammerherr, indem er sich gegen den eben Eintretenden verbeugte. Der Offizier wußte nicht, wovon die Rede war, und erschrak gewaltig, als ihm der König zurief:

»Kennen Sie diese Dame? Antwort!«

Ein leises »Ja!« war Alles, was der Offizier zu erwidern vermochte.

»Und Sie wagten es,« fuhr der König, kaum die Antwort abwartend, fort, »Sie wagten es, ein Mädchen, das Ihnen seine ganze Liebe schenkte, zu verlassen, nachdem Sie es unglücklich gemacht? Herr, das Mädchen steht so hoch an Gesinnung über Ihnen, wie die Tugend über der Erbärmlichkeit.«

»Unsere Armuth,« wagte der Offizier zu entgegnen.

»Herr, ein ächter Offizier, ein Mann von Ehre, bedenkt das zuerst. Gehen Sie, reichen Sie der Dame den Arm! Sie begleiten sie nach Hause, von der Verzeihung des Mädchens wird es abhängen, ob Sie auch die Ihres Königs erwarten können!« –

Er winkte ungeduldig mit der Hand, als Clara, die ihn bis dahin nicht zu unterbrechen wagte, eine bittende Bewegung machte, und hieß sie, sich mit dem vernichteten Offizier entfernen. Als Beide sich entfernt hatten, trat der König wieder an's Fenster und erst nach einer Pause und mit zufriedenem Lächeln zurück, als er sie Arm in Arm über den Schloßplatz hatte gehen sehen.

 

Mehrere Tage vergingen. Der König, durch wichtige Staatsgeschäfte abgehalten, hatte die Angelegenheit zwar nicht vergessen, jedoch war sie in den Hintergrund getreten, als ihm zwei schriftliche, eben eingelaufene Gesuche in die Hände fielen. Er sah nach dem Datum, sie waren bereits vor zwei Tagen geschrieben. Das eine Gesuch betraf den Kapitain C…, Claras Vater, den der König wie erwähnt, unbekannter Weise hatte verhaften lassen, das andere enthielt die Bitte um den Abschied seines Adjutanten. Der König unterzeichnete und übergab sie zur sofortigen Expedition; dann stand er auf und ging unruhig im Zimmer umher.

Er hatte an Clara Interesse gewonnen, ihre schwärmerischen, aber von einem unendlichen Zauber durchhauchten Ansichten waren ihm wohlthuend gewesen; ihr klares Auge bildete den Abdruck einer reinen Seele, und das war es, was er immer in seiner nächsten Umgebung vermißt hatte; jetzt las er aus dem Gesuche des Vaters, daß sie krank darniederliege, vielleicht dem Tode entgegensehe.

Erst seit Kurzem auf den Thron gelangt, empfand er doch schon den Druck der Krone. Von seinen Ministern, von Denen, die täglichen Zugang zu ihm hatten, hörte er nichts als Klagen über die steigenden Anforderungen des Volkes, von gährenden Elementen, von nothwendiger Unterdrückung, strengen Maßregeln. Die Kluft, die ihn von seinem Volke trennte, war immer schroffer, bedeutender geworden, er hörte nur das Wort Haß, und diese Eumenide nährt sich durch sich selbst. Er sagte sich oft: von meiner Krone ist die Spitze heruntergefallen, das Kreuz ist zerschmettert, mein Volk hat das Symbol des Glaubens und der Liebe unter den Füßen! Er wurde unzugänglich, mißtrauisch, er mied die Oeffentlichkeit, verkehrte nur mit Wenigen; und unter diesen freilich war auch nicht ein Einziger, der Patriot genug gewesen wäre, sein Heil dem Wohl des Staates unterzuordnen. Die Wahrheit gegen den Monarchen ist die erste Tugend eines Ministers, sie war längst nicht mehr in den königlichen Gemächern erklungen, die Lüge unter dem Reifrocke gefälligen Flitters machte sich breit.

Zum ersten Male nun seit langer Zeit hatte der König das Wort Liebe gehört, es kam aus dem Munde eines Mädchens, welches unter dem Schutze einer starken Macht, der Bescheidenheit, wandelte. Ein Ton ihrer reinen Seele hatte Accorde in seiner Seele geweckt, welche die sklavischen Gemüther seiner Umgebung für immer unterdrückt glaubten, die Accorde klangen aber mächtig in seinem Innern wieder und erweckten das Bedürfniß des Einvernehmens mit seinem Volke. Nur ungern hatte er die Audienz Clara verstattet, er that es endlich auf Zudringen des Kammerherrn und zwar mit dem Entschlusse, ihr nichts zu bewilligen, sie als Organ seines Zornes und Unmuthes gegen ihren Vater und so auch für weitere Kreise zu benutzen. Das arme leidende Mädchen entwaffnete sein Vorhaben, er entließ sie mit wohlwollender Huld.

Als er so an diese Audienz zurückdachte, jetzt von der Krankheit Clara's las, fiel ihm ihr wehmüthiger Ausspruch ein: Sire, ich sterbe binnen wenigen Tagen. Ernste Betrachtungen erfüllten ihn, eine eigene weiche Stimmung überkam ihn und lockte ihn hinaus unter die Menschen, die er von seinem Fenster aus kommen und gehen sah, und die ihm fremd waren und doch so nahe standen.

Er befahl, von einem plötzlichen Gedanken erregt, anspannen zu lassen.

»Ich will ausfahren,« wandte er sich an den herbeigerufenen Kammerherrn, »Sie begleiten mich.«

Der Baron machte eine Verbeugung und fragte:

»Darf ich Eure Majestät unterthänigst fragen, wohin die Fahrt gehen soll?«

»Wissen Sie, wo das junge Mädchen wohnt, dem ich vor einigen Tagen eine Audienz gewährte?«

Der Kammerherr bejahte es ehrfurchtsvoll.

»Geben Sie dem Kutscher den Auftrag, durch diese Straße zu fahren.«

Der Baron wollte einige Einwendungen machen, etwas von abgelegener Gegend erwähnen, der König schnitt ihm aber jede Gegenbemerkung ab, indem er rasch die Treppe hinuntereilte und in den bereits harrenden Wagen stieg.

Wie gewöhnlich bei solchen Vorfällen, blieben die vorübergehenden Menschen an der Einfahrt des Schlosses stehen, als sie die königliche Equipage erblickten. Sie grüßten den König ehrfurchtsvoll, aber schweigend, wunderten sich jedoch, als der offene Wagen langsam durch die Straßen der Stadt fuhr und nicht, wie gewöhnlich, den Weg nach dem Lustschlosse R… einschlug.

Der König, anfangs etwas befangen, grüßte bald nach allen Seiten mit freundlicher Miene, die nicht verfehlte, auf das Volk Eindruck zu machen. Mit unverhehlter Verwunderung über das ungewöhnliche Ereigniß folgte bald ein starker Menschenknäul dem königlichen Wagen, der jetzt in eine geräuschlose, dem geschäftlichen Treiben entferntliegende Straße bog.

»Hier wohnt das Mädchen, Sire, dort in jenem kleinen Hause,« bemerkte der Kammerherr.

»Es ist reinlich,« war die erste Erwiderung des Königs, der vielleicht, wie Viele der Großen, eigenthümliche Gedanken über die Armuth haben mochte, dann setzte er hinzu: »lassen Sie den Kutscher halten und rufen Sie mir den Kapitain, doch was ist das? Der Anblick erschreckt mich.«

Der Wagen hielt. Das bis dahin so verlassene Haus war bald von einer großen Menschenmasse umgeben, die mit jedem Augenblicke stärker anwuchs. Man suchte sich vergebens die Veranlassung des königlichen Hierseins zu erklären, und erging sich in allerhand Muthmaßungen, die noch räthselhafter wurden, als man durch die offene Hausthür einen einfachen, schmucklosen Sarg erblickte, den einige Leichenträger und zwei militairische gekleidete Männer umstanden. Die allgemeine Verwunderung wuchs aber zum lebhaftesten Erstaunen, als der König ausstieg und in die Hausflur trat. Die Menge wich ehrerbietig zurück.

»Ist es wahr, was mir eine finstere Ahnung sagt,« rief der König dem älteren Militair zu, »daß Sie Ihre Tochter begraben?«

»Ja, Sire, es ist wahr,« erwiderte der Kapitain, indem er sein Knie beugte, »arm und verlassen wie sie die Welt betrat, ist sie gestorben. Lassen Sie mich an ihrem Sarge gestehen, daß ich ihr kein Vater war, wie sie es verdiente. Ich habe gegen sie gefehlt, wie ich gegen Eure Majestät mich verging, und dennoch wage ich es, Eure Majestät um Vergebung zu bitten.«

»Vergeben will ich Ihnen, Kapitain,« erwiderte der König bewegt, »aber leid thut es mir in diesem Augenblicke, daß ich nur ein König der Erde, und nicht der Herrscher der Welt bin, ich würde diese Todte zum Leben erwecken; sie war mir sehr werth.«

Ein leises Gemurmel durchlief das Volk. Dem Kapitain fielen einzelne Tropfen, heiße, ungewohnte Thränen in den grauen Bart, er nahm den jüngeren Offizier, der sich bis jetzt im Hintergrunde ehrfurchtsvoll gehalten hatte und in dem der König seinen Adjutanten erkannte, bei der Hand und stellte ihn dem Monarchen mit den Worten vor:

»Sire, Sie haben durch Ihre Milde und Güte die letzten Stunden der Todten verklärt, sie starb als Braut.«

Der König sah den jungen Mann prüfend an, und entgegnete sehr ernst:

»Bedurfte es denn meiner Fürsprache, um Sie an ein so edles Herz zu erinnern? Ich hoffe, Sie werden das Andenken an die Todte nicht vergessen, Sie haben eine große Schuld an sie zu bezahlen. Ich will Ihnen einen Theil derselben abnehmen, indem ich dem Kapitain eine Pension bewillige.«

Der König wich dem tiefgefühlten Danke beider Männer aus, indem er ihnen zurief:

»Entziehen Sie nicht länger die Verblichene ihrer Heimath, ich sehe, die Träger sind bereit; ein Engel mag uns vorausgehen.«

Der Sarg wurde rasch emporgehoben, während der König aus dem Hause trat. Ein enthusiastischer Zuruf empfing ihn, der nicht enden wollte, und erst dann in ein tiefes, ehrfurchtsvolles Schweigen überging, als der König, während der Sarg an ihm vorübergeführt wurde, sein Haupt entblößte. Er verfolgte denselben mit den Augen, und als er bemerkte, daß ihm Niemand als der Kapitain und sein Adjutant folgte, winkte er dem Kutscher, ihm nachzufahren.

Alsbald zertheilte sich die Menge, die eine Hälfte folgte dem königlichen Wagen, während die andere, immer größer anwachsend, den zu Fuße gehenden König zurück nach seinem Schlosse begleitete. Unter fortdauerndem, nicht endenwollendem Jubel kam er hier an. Als er noch einmal die Menge gegrüßt, die mit einem donnernden Hoch antwortete, eilte er die Treppe zu seinen Gemächern rasch hinauf, indem er dem ihn begleitenden Kammerherrn zurief:

»Das war kein verlorener Tag; aber müssen wir denn über Gräber schreiten, um glücklich zu sein?«

»Sire,« erwiderte der Kammerherr, »ich habe heute am Sarge des Mädchens in den Augen Vieler Thränen gesehen; ich kenne wenig Könige, die bei ihrem Tode vom Volke beweint wurden, Sie haben schon lebend Ihrer Krone die kostbarsten Perlen eingefügt.«

»Königsthränen!« rief der Monarch und drückte dem Baron die Hand.



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