Ludwig Tieck
Die Verlobung
Ludwig Tieck

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ich habe lange auf Dich gewartet, rief der junge Ferdinand seinem Freunde entgegen.

Du weißt ja, erwiederte jener, daß es unmöglich ist, sich schnell von dem wohlbeleibten Barone loszureißen, wenn er Fragmente aus seiner Lebensgeschichte vorträgt.

Wärst Du Offizier, wie ich, antwortete Ferdinand, so würdest Du es dennoch möglich gefunden haben, pünktlich zu seyn; dies wenigstens lernt man im Dienst. Sie sind alle schon auf dem Spaziergange dort versammelt, laß uns eilen, daß ich Dich der verehrten Familie vorstellen kann.

Die jungen Freunde bogen um die Felsenecke, und erfreuten sich des klaren Anblickes am rauschenden Strome, der Wäldern und Bergen leuchtend vorüber zog. Der Frühling war in diesem Jahre vorzüglich üppig erschienen. Wie wohl wird es dem Arbeiter, sagte Alfred, an einem solchen Tage die Stadt und die geistlosen Geschäfte hinter sich zu haben, um nach langer Anstrengung und Entbehrung diesen Segen der Natur zu fühlen und ihre heilige Stimme zu vernehmen! Und wie dankbar bin ich Dir, mein theurer Freund, daß Du mich in den Kreis der besten, der edelsten Menschen einführen willst. Denn wie wir uns auch zu bilden streben, wie ernsthaft wir studiren, einsammeln, und unser Herz und 102 Gemüth erweitern wollen, so ist es doch der Umgang mit echten Menschen, der alles dies todte Wirken und unbeholfene Kämpfen erst belebt, und den Besitz in ein wahrhaftes Gut verwandelt. Den zarten Frauen ist es aber vorbehalten, dem Manne die Bildung zu geben, deren er nach seinen Kräften und Gaben fähig ist.

Der junge Offizier sah seinen Freund kopfschüttelnd an, stand einen Augenblick still, und sagte dann, indem sie weiter schritten: O wie kann ich in diese Phrasen, die man schon tausendmal hat hören müssen, so gar nicht einstimmen! Somit wäre es ja die große Welt, oder die sogenannte gute Gesellschaft, die man aufsuchen müßte, um in schlechtem Witz, Coquetterie, Lügen und Geschwätz die Reife zu erlangen, die uns die Einsamkeit nicht gewähren könnte. Bin ich auch in den meisten Dingen Deiner Meinung, so muß ich Dir doch hierin geradezu Unrecht geben. Die Weiber! sie sind es ja eben, die recht eigentlich von einem boshaften Schicksal dazu hingestellt zu seyn scheinen, sich des Mannes, wenn er schwach genug ist, zu bemächtigen, alles Menschliche, Edle, Kraftvolle und Wahre von ihm abzustreifen, und ihn, so viel es nur möglich ist, in sein Gegentheil zu verwandeln, damit er ihnen nur zu einem unwürdigen Spielzeuge gut genug sei. Das, was Du eben äußertest, ist auch schon mehr die Denkweise einer jetzt fast verschwundenen Zeit, einer Zeit, die der Wahrheit, vorzüglich aber aller religiösen Gesinnung, feindlich gegenüber stand. Auch muß ich Dir sagen, daß Du jenes Wesen, wodurch sich vormals unsre jungen Herren zu bilden glaubten, in der Gesellschaft dieser Frauen nicht finden wirst, weil bei ihnen alles heilige Wahrheit, Unschuld und echte Frömmigkeit ist.

Der Freund suchte seine Meinung und sich selbst zu rechtfertigen, indem sie unter lebhaften Gesprächen ihren 103 Weg eilig fortgesetzt hatten. Sie sahen jetzt schon den Garten vor sich liegen, in dessen kühlen Gängen die Baronin mit ihrer Familie und einigen auserwählten Freunden die Ankommenden erwartete. Alle fühlten sich in der grünen Umgebung wohl und behaglich.

Nur dem jungen Rathe Alfred war es Anfangs schwer, sich in die Stimmung und Unterhaltung zu fügen. Wie es wohl zu geschehen pflegt, war er zu gespannt, um sich dem Gespräche leicht hinzugeben; auch hatte er zu Vieles auf dem Herzen, was er mit einer gewissen Bangigkeit an den Mann zu bringen strebte, wodurch er oft an sich und den Andern irre werden mußte; denn wenn er Gedanken zu einer Rede verarbeitet hatte, so war indessen der schickliche Moment verschwunden, um diese einzufügen, und unter den neuen Gegenständen der Unterhaltung kam wieder so Manches vor, das ihm unverständlich schien, und worüber er sich nähere Belehrung auszubitten doch zu verschämt war. Dazu kam, daß er von dem Reiz der Frauengestalten wie geblendet war; die vermählte Tochter Kunigunde war eine glänzende Schönheit; noch üppiger strahlte die jüngere Clementine, gegen welche die blonde kindliche Physiognomie der jüngsten, Fräulein Clara, rührend kontrastirte; selbst die Mutter durfte noch Ansprüche auf Anmuth machen, und man sah, daß sie in ihrer Jugend eine schöne Frau gewesen war. Dorothea, das älteste Fräulein, fiel in dieser Umgebung am wenigsten auf, so schön auch ihr Auge, so fein ihr Wuchs war; auch zog sie sich zurück und blieb still und blöde; sie schien selbst an der lebhaften Unterhaltung der Geschwister nur geringen Antheil zu nehmen, und es fiel auf, daß keine Rede oder Frage an sie gerichtet wurde, so sehr die anwesenden Männer sich auch mit Lebhaftigkeit um die übrigen Töchter oder die Mutter bemühten.

104 Unter den Männern zeichnete sich ein ältlicher aus, der am meisten das Wort führte, der Alle belehrte und alle streitigen oder zweifelhaften Fälle entschied. Auch der Offizier behandelte ihn mit ergebener Demuth, und dieser Familienfreund wandte sich mit Güte und Herablassung an Alle, sie fragend, zurecht weisend, aufmunternd und sich auf seine Weise bestrebend, Jeden zu ermuthigen oder aufzuklären. Ihm gelang es auch endlich, den verlegenen Alfred in das Gespräch zu ziehen, und dessen Dankbarkeit äußerte sich in einer feurigen Rede, die er jetzt anzubringen Gelegenheit fand, und in welcher er seinen Wunsch nach Bildung, seine Verehrung des Familienglücks, seine Hoffnung, daß die echte religiöse Stimmung und wahre Frömmigkeit sich durch ganz Deutschland ausbreiten würden, mit allgemeinem Beifall und zu seiner eignen Zufriedenheit entwickelte.

Mehr noch als die Uebrigen war die schöne Kunigunde aufmerksam gewesen, und sie war es auch jetzt, die am lautesten ihren Beifall aussprach. Wie glücklich sind wir, beschloß sie endlich, daß in unserm theuren Kreise sich immer mehr Gemüther versammeln, die das Gute und Edle wollen, die das Ueberirdische erkennen, und denen die Welt mit allen ihren anlockenden Schätzen nur nichtig erscheint. Aber das ist die Eigenschaft der Wahrheit und Güte, daß sie das Bessere sich näher zieht, daß sie das Schwache in etwas Höheres verwandelt. Wirkt der gesellige Umgang so glücklich in einem weitern Umfang, so ist es im beschränkten Hause der Segen der Ehe, der noch inniger die Vermählten anregt, sich für das Göttliche zu begeistern, der hier noch kräftiger das schwächere Gemüth zur Liebe des Unendlichen erhebt.

Ja wohl, sagte ein junger Mann, der neben dem ältern saß, dies ist es, was ich mit jedem Tage inniger und dankbarer empfinde. Er seufzte und sah an die Wolken, und 105 der Rath erfuhr auf seine Erkundigung, daß dieser der Gemahl der schönen und frommen Kunigunde sei.

Die Mutter nahm das Wort und sagte nicht ohne Bewegung: Wie beglückt muß ich mich fühlen, daß ich so im Kreise meiner Kinder das Höchste gefunden und es ihnen selbst möglich gemacht habe, den edelsten Besitz dieser Erde zu erreichen. Wie kann ich doch so gar nicht an den Bestrebungen der meisten Menschen Antheil nehmen, ja wie erregt mir ihr mannigfaltiger Enthusiasmus eher Mitleid, als daß ich in ihren vielfachen Anstrengungen, ein sogenanntes Gut zu ergreifen, etwas finden könnte, das unsere Achtung aufruft. So rennen sie nach Kunst, oder Philosophie, meinen, im Wissen oder in Farben und Ton solle ihnen das ewige Licht aufgehen, quälen sich in Geschichte und den verworrenen Händeln des Lebens ab, und versäumen darüber das Eine, das Noth ist, und welches Alles ergänzt und ersetzt. Seit ich diesen Quell gefunden habe, der jeden Durst der Seele so lieblich stillt, ist jenes bunte Mannigfaltige für mich gar nicht mehr da, dem ich in der Jugend auch wohl manchen sehnsüchtigen Blick zuwendete.

Wie muß ich Sie bewundern! rief der Rath aus: mit welcher Sehnsucht habe ich das Leben gesucht, und immer nur leere Schatten gehascht! und wie leicht ist es doch, die Wahrheit zu finden, die uns niemals täuscht, die nie entschlüpft, die dem Herzen Alles gewährt, in der wir nur leben und seyn können.

Ich verstehe Sie, antwortete die Baronesse, Sie gehören zu unserm Kreise; es ist ein seliges Gefühl, daß sich die Gemeinschaft frommer und begeisterter Gemüther immerdar vermehrt.

Den herrlichsten Zeiten gehen wir entgegen! rief der junge Offizier mit Begeisterung aus. Und wie selig müssen 106 wir uns fühlen, da Dasjenige, was uns über das nüchterne Leben erhebt, die ewige Wahrheit selber ist, da diese uns beherrscht, und wir, von ihr regiert, nicht fehlen, niemals irren können; denn wir geben uns der Liebe hin, daß sie in uns wirke und ihre Geheimnisse unserm Herzen offenbare.

Nicht anders, beschloß der ältere würdige Mann; dies ist es, was uns die Sicherheit geben muß, die uns von gewöhnlichen Enthusiasten oder Schwärmern unterscheidet. Sie haben ein großes Wort gesprochen, theurer Ferdinand, und darum sind Sie mir so werth, weil Keiner, so wie Sie, auf dem kürzesten Wege das Rechte findet, weil Niemand es alsdann so klar und einfach auszusprechen weiß. Er umarmte den Jüngling, sah gen Himmel, und eine große Thräne glänzte ihm im schönen dunkeln Auge. Die Baronesse erhob sich und schloß sich an die Gruppe; alle waren bewegt, nur Fräulein Dorothea wandte sich ab, und schien im Busche etwas Verlorenes zu suchen.

Dem aufmerksamen Alfred entging es nicht, daß die Mutter mit einem Ausdrucke des Schmerzes zu ihrem ältesten Kinde hinsah, das auf seltsame Weise von diesem Kreise der Rührung und Liebe ausgeschlossen schien. Der Baron Wallen, so hieß der ältere Hausfreund, näherte sich mit dem Ausdruck einer rührenden Milde dem Fräulein, die scheu vor sich nieder sah, und in diesem Augenblick hochroth erglühte. Er sprach heimlich und mit vieler Bewegung zu ihr, sie schien aber in ihrer Verlegenheit auf seine Worte nicht sonderlich zu achten; denn als jetzt eine Dame in der Allee zur Gesellschaft herschritt, ging sie dieser in großer Eile entgegen, und schloß sie mit der größten Herzlichkeit und Freude in die Arme.

Die Mutter schüttelte fast unmerklich mit dem Kopfe, und sah den Baron Wallen mit prüfendem Auge an; dieser 107 lächelte, und die Unterredung der Gesellschaft gerieth nun auf ganz andere und gleichgültige Gegenstände; denn die Frau von Halden, welche jetzt lautschwatzend, lachend und Neuigkeiten erzählend, herzu trat, machte jeden Aufschwung, jede innigere Mittheilung völlig unmöglich, so daß auch alle, bis auf Fräulein Dorothea, etwas verstimmt wurden, die wie erquickt und getröstet mit ihren Blicken am Munde der Redenden hing, und jetzt an der übrigen Gesellschaft noch weniger Antheil nahm.

Wer ist denn diese Neuigkeits-Krämerin? fragte Alfred unwillig, die wie ein wilder Vogel in unsern stillen Kreis herein fliegt, und alle zarteren Gefühle verschüchtert?

Eine Nachbarin unserer verehrlichen Baronesse, antwortete der Herr von Wallen: sie hat sich auf eine unbegreifliche Weise des Gemüthes der Fräulein Dorothea bemeistert, was wir alle nur beklagen können. Schon in der Jugend hat es die treffliche Erzieherin, die Fräulein von Erhard, eine Verwandte der Familie, verhindern wollen, daß dieser Umgang nicht die bessern Fähigkeiten des schönen Mädchens unterdrücke; aber von jeher sind alle ihre Bemühungen vergeblich gewesen.

Diese Erzieherin, welche bisher wenig bemerkt worden war, näherte sich jetzt, da sie sah, daß von ihr die Rede sei, und mischte sich in das Gespräch. Sie erzählte, daß in dieser so liebenden und hochgestimmten Familie Dorothea von früher Jugend ein abgesondertes Leben geführt habe, und unter so vielen Geschwistern gewissermaßen ganz einsam gewesen sei. Fräulein Charlotte von Erhard erzählte dies mit einer rauhen und heisern Stimme, wurde aber so bewegt, daß sie sich der Thränen nicht enthalten konnte. Alfred, der schon gerührt war, fand in seiner erhobenen Stimmung die geälterte und fast häßliche Dame liebenswürdig und schön, 108 und ein herzlicher Unwille, eine lebhafte Geringschätzung wandte sich gegen die arme Dorothea, die jetzt von der redseligen Freundin Abschied nahm und zur übrigen Gesellschaft zurück kehrte. Sie war sichtlich erheitert, aber man sah, welche Ueberwindung es ihr koste, wieder an den ernsteren Gesprächen Theil zu nehmen. Sie erzählte, wie die Frau von Halden in Unterhandlungen stehe, und wahrscheinlich ihr Gut verkaufen werde.

Verkaufen? fragte die Mutter erstaunt, und sie konnte dennoch so heiter, ja ausgelassen seyn?

Sie meint, erwiederte Dorothea, einen so vortheilhaften Kauf ihrer noch unmündigen Kinder wegen nicht abweisen zu dürfen.

Giebt es einen Vortheil, sagte die Mutter, welcher den Kindern das Glück der Heimath aufwiegen kann? Und sie selbst, Deine Freundin, die hier auf ihrem Gute aufgewachsen ist, die hier mit Eltern und Geschwistern, nachher mit einem geliebten Manne lebte, wie kann sie sich selber so verstoßen und diesen Bäumen den Rücken wenden, sich von den Zimmern verbannen, die sie als Kind geliebt und gekannt hat? Immer wieder muß es mir auffallen, wie ich das Leben und Treiben der allermeisten Menschen so gar nicht verstehe. – Und wer ist denn der Käufer?

Die Sache ist wunderlich genug, erwiederte Dorothea, der Käufer will noch gar nicht genannt seyn; aber ein gewisser Graf Brandenstein führt die Unterhandlung. Meine Freundin ist eilig und bestimmt, denn der Fremde aus Amerika kauft noch manches andere Gut, so daß sie es für eine Gunst hält, da er nicht ängstlich auf den Preis sieht, wenn sie das ihrige dem Unbekannten zuwenden kann.

Bei dem Namen »Brandenstein« wurde die Mutter blaß. Sie suchte sich aber schnell zu fassen, und sagte nach 109 einer kleinen Pause. Ja, der Name war es, der mir schon seit einer Woche schwer auf dem Herzen lag. Ich weiß es schon, daß dieser Mann hier ist, der nun auf eine Zeitlang unsre stille Freude verderben, und die Harmonie unsers Kreises stören wird. Und ich kann es nicht vermeiden, ihn zu sehn, denn er ist ein alter Bekannter unsers Hauses, und die Sitte der Welt zwingt uns ja, selbst mit denjenigen freundlich umzugehen, die uns im innersten Herzen zuwider sind, ja, die wir, wenn wir noch so billig denken, für schlechte und ruchlose Menschen anerkennen müssen.

Dorothea meinte, wo eine so bestimmte Empfindung vorherrsche, solle sich der Mensch keinen Zwang anthun; und besonders auf dem Lande, wo sie lebten, wäre es noch leichter, als in der Stadt, so widrigen Erscheinungen auszuweichen. Die Mutter aber sagte: Du verstehst dies nicht, mein Kind; könnte ein gewissenloser Mensch ohne Grundsätze uns nicht auf die empfindlichste Art schaden oder kränken, hätte er es durch Witz und Frivolität nicht in seiner Gewalt, unser ganzes Leben zu verderben, so würde ich ihn kalt abweisen, und mit meiner Wahrheitsliebe ihm ohne Umschweif sagen, daß ich mit ihm nicht umgehen wolle; da aber dies nicht möglich ist, so muß ich ihm höflich entgegen kommen, mit Feinheit und Wohlwollen den bösen Geist in ihm zu beschwichtigen suchen, und mich späterhin so unmerklich, als es seyn kann, von seinem verderblichen Kreise zurück ziehn.

Die übrigen Töchter drängten sich um die Mutter und umarmten sie wie tröstend. Wenn ich Euch nicht hätte! seufzte die Baronesse: wenn ich nicht auf die Hülfe unsers edlen Hausfreundes rechnen dürfte, so würde mich der Besuch dieses gottlosen Menschen noch mehr ängstigen.

Wer ist er eigentlich? fragte der Baron.

Ein Mann, antwortete die Mutter, der sich schon früh 110 in der Welt und ihren Verstrickungen herum getrieben hat, der, von seinem eignen Herzen belehrt, alles was Liebe, Demuth, Frömmigkeit heißt, arg verspottet und verfolgt, ein grober Egoist, der Niemand lieben kann, und den das Heilige, Ueberirdische, wo er es wahrnimmt, wo er es nur ahnet, in einen widrigen Zorn versetzt, der ihn dann zu jenem frivolen Witze begeistert, den wir Alle so tief verachten. Es war das Unglück meines Lebens, daß er die Bekanntschaft meines guten seligen Mannes machte, daß dieser ihn lieb gewann, und sich in manchen trüben Stunden seiner Gesellschaft und traurigen Philosophie hingab.

Sie schildern, verehrte Frau, sagte der Offizier, einen von jenen Charakteren, die, dem Himmel sei Dank! jetzt schon seltener geworden sind.

Eine Verruchtheit, sagte der Baron, die das unsichtbare lästert, weil sie auf Selbstverachtung gegründet ist. Sie sind aber, wie wir Alle, über diesen Jammer erhaben.

Sein mittelmäßiges Vermögen, fuhr die Mutter fort, war bald ausgegeben; nun verließ er Europa, trieb sich, wer weiß, unter welchen wilden Völkern um, und ist nun zurück gekehrt, wie ich höre, als Geschäftsträger eines unermeßlich reichen Amerikaners, der ihm in Jahresfrist nachfolgen will, und der die Grille gefaßt hat, in unserer Nachbarschaft viele Güter zu einer großen Herrschaft zusammen zu kaufen.

Fräulein Dorothea blieb dabei, daß man einem so bösen Menschen ausweichen könne und müsse, und daß sie ihm schon das Haus zu betreten unmöglich machen wolle, wenn die Mutter ihr dazu die gehörige Vollmacht gebe; doch diese ward unwillig, und gebot, für heute den Namen des Störenfried nicht mehr zu nennen. Jetzt sah man die Wagen vorfahren, weil mit der Abendkühle die Familie sich wieder auf ihr nahes Landgut begeben wollte, als sich in diesem 111 Augenblick eine sonderbare Scene entwickelte. Der alte Baron hatte sich schon einigemal Dorotheen genähert; sie war ihm aber ausgewichen, doch benutzte er den Moment, als er ihr in den Wagen half, ihr einige freundliche Worte zuzuraunen; sie sprang zurück, indem sie hastig der Kutsche enteilte und in den Baumgang lief. Der Baron konnte sie nicht einholen, so sehr er sich bestrebte; als er schon tief im Garten war, kam sie athemlos zurück, warf den Schleier über das erhitzte Angesicht, und weinte heftig, indem sie dem fragenden und strafenden Blicke der mehr als erstaunten Mutter ängstlich auswich. Der Wagen fuhr rasch davon, und der Baron, nachdem er verwirrt und beschämt von den jüngern Freunden Abschied genommen hatte, bestieg den seinigen, schwer gekränkt, wie man ihm anmerken konnte, so sehr er auch seiner Fassung Gewalt zu thun suchte.

Als der junge Rath und der Offizier ihren Rückweg zur Stadt antraten, sagte der erste nach einer Pause: Was war das? Immer noch kann ich nicht von meiner Verwunderung zurück kommen, daß unter so gebildeten und feinen Menschen eine solche unschickliche Scene hat vorfallen können! Ueberhaupt, wie kommt dieses Fräulein, dieser sonderbare, ja widerwärtige Charakter in eine Familie, die ich fast eine geheiligte nennen möchte? Irgend eine tiefe Verschuldung muß sie drücken, da sie sich immer scheu zurück zieht, niemals an der Unterhaltung Theil nimmt, und auch von allen Uebrigen mit einem herablassenden, fast geringschätzenden Mitleide behandelt wird, das einem Fremden sehr auffallen muß. Man kommt auf ärgerliche Vermuthungen, wenn man auch eben nicht zum Argwohn geneigt ist.

Du würdest aber irren, sagte der militärische Freund, denn keine Schuld, kein Vergehn drückt dieses Wesen nieder. Unter so hochgestimmten Menschen, wie alle diese sind, würde 112 sich dergleichen vielleicht ohne große Kämpfe wieder herstellen, wenn diese Schwester nur sonst in einer geistigen Harmonie mit den übrigen stände. Schlimmer aber als alles ist, daß sie schon mit einem niedrigern, unedlern Geiste geboren wurde, daß sie das Bestreben aller Uebrigen nicht versteht, und sich doch sagen muß, es sei ein Hohes und Edles, nur für sie Unerreichbares. Dies Gefühl der Unwürdigkeit drückt sie mehr nieder, als das Bewußtsein einer Schuld es thun könnte. Sie fühlt sich fremd unter den Nächsten, unheimisch in ihrem Hause; sie erquickt sich an den unwürdigen Bekanntschaften, wie mit jener dicken und geschwätzigen Nachbarin, und entflieht besonders dem Baron, den wir Alle so hoch verehren, und der sich zu sehr, fast mit Leidenschaft herabläßt, ihren Sinn für ein höheres Leben aufzuschließen.

Sie bogen jetzt um die Felsenecke, und sahen die Stadt schon vor sich liegen. Aber zu ihrem Entsetzen bemerkten sie auch zugleich jenen wohlbeleibten Baron von Wilden, von dem sich Nachmittags der junge Rath nur schwer hatte losmachen können. Nun, rief dieser ihnen entgegen, kommt Ihr schon aus dem Himmel zurück? Hat's brav viel ambrosische Redensarten abgesetzt? Sind die nektarischen Gesinnungen gut eingeschlagen? Hoffentlich war doch kein Mißwachs an überirdischen Gefühlen?

Die Freunde, die in der schönen Natur und dem lieblichen Abende gern noch ihre Gefühle hätten harmonisch nachklingen lassen, suchten sich von ihm loszuwickeln; da sie aber denselben Weg zur Stadt zurück gingen, war dies unmöglich. Nichts da! rief er mit herrschender Stimme aus: wir bleiben treu beisammen, und dort unten beim Brunnen treffen wir noch einen armen Sünder, der auf mich wartet.

Die beiden jungen Leute sahen sich gezwungen, aus der Noth eine Tugend zu machen, besonders weil der 113 unempfindliche Baron mit kreischendem Tone fortfuhr: Ich merke wohl, Ihr wäret hier in der Gegend gern noch empfindsam, besonders weil der Mond bald hervor kommen wird; aber dergleichen Unfug wird in meiner prosaischen Gesellschaft nicht geduldet. Glaubt mir doch, junge Menschen, all' das Aetherisiren und Frommsüßlichen dort geschieht ja doch nur, daß Ihr an diesem lockenden Hamen als Eheleute anbeißen sollt, wenn Ihr nämlich selbst Amt und Vermögen besitzt. Es sind so viele Töchter dort, und nur die älteste, verwilderte, ist so toll, alle Partieen abzuweisen. Ja die liebe, gute, so hocherwünschte Ehe, das Freiwerben, wonach mit allen Fernröhren hinaus geschaut wird, wenn so herrliche edle Töchter in dem Familiensaal dasitzen, rund und fett, roth und weiß, züchtig und tüchtig, auferwachsen und vollständig! Und in der Mitte die verständige Mutter, achtsam, lauernd und spekulirend, die Augen nach allen Seiten, jeden anfühlend, der nur eintritt, ob der feine Rock auch bezahlt ist, ob derselbe, wenn er von Reisen und Bällen erzählt, auch wohl im Stande sei, ein Ehefrauchen standesmäßig zu ernähren. Da gehn der guten Matrone dann so fromme, weiche und gar unbefangene Redensarten aus dem zarten Munde, die Blicke leuchten zum Himmel und rechts und links, und alle Worte und alle Blicke schwimmen wie hundert Angeln im Strom der faden Unterhaltung, und die jungen Bursche schießen bald nach dieser, bald nach jener Schnur wedelnd und spielend hin, bis denn, wenn auch nach Wochen, einer und der andere fest sitzt. So haben sie für die Kunigunde den zarten Weißfisch erschnappt, und ihm gleich darauf eingebildet, das runde Mädchen sei für ihn viel zu gut, so daß er wie ein reuiger Sünder am Wagen des Ehestandes zieht, und sich geehrt fühlen muß, daß die Hohe sich zu ihm erniedrigt hat; nun müssen Clara, Clementine und 114 die irdische Dorothea noch versorgt werden, ja ich stehe nicht dafür, daß die bejahrte Bekehrerin nicht selbst noch einmal aus einem frommen Knaben einen Bräutigam für sich drechselt, und ihm statt des Katechismus einen Ehekontrakt in die Hände schiebt. Ja wohl Ehestand, Wehestand! Wie rennt nur alles so blind und taub in das traurige Joch, und opfert Freiheit und Laune dem bösen Geiste, der den Mann fast immer unter den Sklaven erniedrigt.

Sie sind ein arger Frevler, sagte der Offizier: aus launenhafter Verruchtheit hassen Sie die Ehe, und verlangen nun, alle Menschen sollen als sündliche freigeisternde Hagestolze leben, und weil Ihr Sinn nicht in jene Umgebung paßt, so lästern Sie diese Menschen, die jeder Verläumdung zu erhaben sind.

Ganz martialisch! rief der Baron aus. Und doch werde ich Recht behalten, und vielleicht seufzen Sie selbst einmal, wenn sie an der Kette wie ein Eichhorn immer wieder dieselben rechtgläubigen Sprünge machen müssen, um die Nüsse zu knappern, die die Gemahlin Ihnen zukommen läßt: ach! wenn ich doch dem resoluten Wilden hätte glauben wollen!

Nein, mein Herr, sagte der Rath sich ereifernd, Ihre Ansicht geht nur aus der Verzweiflung hervor, ja, Sie glauben sich selber nicht.

Meinethalben, rief jener aus, kann seyn, daß eine ganz andere Kreatur, als ich selber, aus mir heraus redet; denn das ist im Leben oft der Fall, und bei jenen Apostolischen guckt auch oft was, wie ein Affe, aus den verbrämten und aufgesteiften Gewändern hervor. Nicht wahr, besonders aus dem ältlichen, zu wenig weltlichen Fräulein Erhard, der unvergleichlichen Erziehungskünstlerin? Diese hat das Haubenmuster der inwendigen Gesinnung für die ganze Familie zurecht gesteckt, sich selbst aber die krauseste Religions-Frisur 115 zurecht gezimmert. Ihr meint, wenn diese ihr Orakel kräht und die kleinen Augen verdreht, so müssen wir Ungläubige gleich unterducken. Ihr bin ich am meisten aufsässig, denn sie ist es eigentlich, die die ganze Familie in Grund und Boden verdorben hat.

Jetzt standen sie am Brunnen. Die Sonne war längst untergegangen, und aus der Finsterniß drehte sich ein Mensch hinter dem Weidenbusche hervor. Ach! der Michel! rief der Baron: können Sie, meine Herren, einen ehrlichen Bedienten brauchen?

Warum, fragte der Offizier, habt Ihr die Dienste der trefflichen Baronesse verlassen, die so mütterlich für ihre Leute sorgt?

Ach! gnädiger Herr, sagte der Diener, weil ich neulich so ein bischen unschuldig gelogen habe, bin ich gleich fortgeschickt worden.

Das ist recht! rief der Offizier, daran erkenn' ich die edle Frau.

Alles ist nur ein Anstiften, fuhr Michel fort, von dem neidischen Fräulein Erhard: die kann's nicht leiden, wenn Mann und Weibsen sich gut sind, weil keiner sie aus dem ledigen Stande erlösen will, und seit sie vor vier Wochen sah, wie ich dem Hausmädchen einen Kuß gab, hat sie mir's nachgetragen.

Wie gemein! rief Alfred aus.

Ja, mein gnädiger Herr, sagte der Diener, sie ist nicht vornehm, aber hübsch, und Kuß bleibt Kuß. Nun hatt' ich eines Tags, auch wegen des Mädchens, ein neues Buch von der Stadt zu holen vergessen, es sollte so ein recht superkluges, andächtiges seyn, da sagt' ich in der Angst, das Buch sei schon verliehen, das kam heraus, daß ich gar nicht weggegangen war, und da wurde ich nun um das bischen Lügen gleich aus dem Dienst geschickt.

116 Können Sie ihn brauchen? fragte der Baron die beiden jungen Leute; diese versicherten aber: sie würden sich nie mit einem Menschen zu thun machen, der in der edelsten und nachsichtigsten Familie nicht einmal hätte geduldet werden können. Nun so bleib indessen bei mir, schloß der Baron, aber lüge so wenig als möglich.

Gewiß, gnädigster Baron, rief der Mensch aus, vorsätzlich niemals; es kommt einem manchmal in der Angst eine sogenannte Nothlüge in den Hals, die, meinte selbst mein alter Priester da hinten in meinem Dorfe, sei wohl noch zu vergeben; aber meine gnäd'ge Herrschaft legt alles auf die Goldwage, und in einem Hause, wo dann so die allerausgesuchteste Frömmigkeit und aufgeputzteste Tugend herrscht, da kommt ein armer, ordinärer Domestik durchaus gar nicht fort; wir sind zu irdisch, beste Herren, die vornehmen Leute haben es leichter, das schleift und schleift immer am Herzen und der Seele, dazu haben wir nicht Zeit vor Messerputzen und andern Verrichtungen. Fräulein Dorchen wollte mich auch entschuldigen und sagen, es wäre nicht so wichtig, die kam aber übel an, auf die schrieen sie alle zusammen noch mehr los, als auf mich. Die verachten sie alle, und sie ist doch die beste im Hause, weil sie nicht so hoch hinaus will, denn der Mensch ist doch einmal aus einem Erdenklos formirt, und da rührt sich von Zeit zu Zeit der alte Lehm und Thon in ihm.

Sie passen gut zusammen, Sie und Michel, sagte lachend der Offizier.

Aber halt! rief der Baron, ich habe Dich nun in meine Dienste genommen, und ganz vergessen, daß morgen die Fräulein Erhard auf einige Zeit in mein Haus kommt. Ja, meine Freunde, ich kann diese Person gar nicht leiden, aber da ich mit meiner jungen Schwester lebe, die nun ganz 117 aufgewachsen ist, mancher Mensch bei mir aus- und eingeht, ich auch oft außer dem Hause bin, so muß sie doch, da ich nicht zu heirathen Willens bin, eine Gesellschaft und Aufsicht haben. Da hat sich das verdrehte Weibsen entschlossen, es bei mir zu versuchen, denn sie weiß wohl, daß es bei mir gut hergeht, nicht so arm, wie dort in der Familie; ich sehe auch oft Gesellschaft, vielleicht denkt sie leichter einen Herzenskumpan bei mir zu finden, als dort in der Einsamkeit. So versuchen wir es denn auf einen Monat, oder so mit einander.

Alles recht fein gemein konstruirt! sagte der Rath: wenn Sie nur geringe Motive finden, so begreifen Sie die Sachen.

Kann nicht anders, sagte der Baron. Sie schieden, da sie schon das Stadtthor erreicht hatten.


Am andern Morgen war im Hause der Baronesse schon früh viel Unruhe. Im großen Saale, der unmittelbar in den Garten führte, war die ganze Familie mit Sonnenaufgang versammelt. Man zog Blumenkränze an den Wänden auf, ein geschmückter Tisch stand unter einer Thüre, mit Kleidern, Büchern und mannigfaltigen Angedenken bedeckt, und man erwartete nun die älteste Tochter Dorothea, die täglich den Garten am frühesten Morgen zu besuchen pflegte, um sie mit diesen Geschenken und dieser Festlichkeit erfreulich zu überraschen. Es war ihr Geburtstag, und Mutter und Töchter hatten alles anordnen können, ohne daß sie es bemerkte, weil sie sich niemals um den Kalender sonderlich bekümmerte. Jetzt kam sie den Garten herunter, und sah schon aus der Ferne die versammelten Geschwister. Als sie erstaunt in den Saal trat, und Alle sie freundlich umringten, 118 die verschiedenen Gaben darboten, und Schwestern und Mutter sich so ungewöhnlich liebevoll bezeigten, war sie tief gerührt und um so heftiger erschüttert, je weniger sie diese Feier der Liebe erwartet hatte.

Wie neu ist mir dies! rief sie aus: ach! wie wenig habe ich das um Euch verdienen können! Liebt Ihr mich denn wirklich so? Alle diese Geschenke, dieser Glanz, diese freundliche Aufmerksamkeit, wie kann ich es Euch vergelten? Ich bin so überrascht, daß Ihr alle so an mich Arme denken mochtet, daß ich Euch noch gar nicht einmal danken kann.

Liebe uns nur recht innig, sagte die Mutter, sie herzlich umarmend, sondere Dich nicht so ab, komm uns allen mehr entgegen; erkenne, wie wir es meinen, und bemühe Dich, in unsere Gefühle und Ansichten einzugehen; denn wir suchen ja nur das Gute, wir wollen ja nur das Rechte. Diese Deine Launen, mein geliebtes Kind, Dein störriger Sinn, der Dich den Freunden und Geschwistern entfremdet, der Dich geringeren Menschen entgegen führt, ist eine Unart und Verwöhnung Deines Geistes. Du wirst und kannst die Wahrheit erkennen, sobald es nur Dein ernstlicher Wille ist.

Ich will besser werden, sagte die weinende Tochter, ich verspreche es Ihnen in dieser Stunde, die mich so unendlich bewegt.

Alle herzten und küßten sie, und Dorothea, die schon seit lange als ein Fremdling in ihrer Familie stand, fühlte sich wie in einem neuen Leben. Sie sah Alle prüfend an, sie liebkoste jeden, sie ließ sich die Geschenke zeigen und erklären; es war, als wäre sie von einer langen und weiten Reise zurück gekommen, und begrüße jetzt die Ihrigen nach schmerzlicher Trennung. Wenn ich nur auch für Euch alle etwas thun könnte! rief sie aus.

Wenn Du es ernstlich willst, antwortete die Mutter, so 119 kannst Du uns heut Alle, vor allen aber mich, unbeschreiblich glücklich machen.

Nennen Sie, rief Dorothea, sagen Sie, was ich thun soll.

Wenn Du heut an diesem feierlichen Tage, fuhr die Baronesse fort, endlich Deine so lange verweigerte Einwilligung geben, wenn Du unsern Freund Wallen heut mit Deinem Worte beglücken wolltest, den Du gestern so unziemlich gekränkt hast.

Dorothea wurde blaß und trat erschreckend zurück. Dies fordern Sie? sagte sie stotternd: ich dachte, ich hätte darüber ein für allemal meine Erklärung gegeben.

Deine Leidenschaftlichkeit, sagte die Mutter, kann für keinen vernünftigen Entschluß gelten. Du liebst keinen Mann, wie Du oft gesagt hast, Du kennst kaum einen, den Du achten möchtest; dieser edle Freund ist Dir mit der schönsten Herzlichkeit ergeben, er bietet Dir ein Glück an, das Dir so schön nicht wieder entgegen kommt, wenn Du es jetzt von Dir weisest; Du kennst die Lage Deiner Familie, wie mißlich es mit unserm Vermögen steht; Du kannst die Wohlthäterin Deiner Mutter, die Versorgerin Deiner Schwestern werden. Hast Du wohl schon bedacht, mein liebes Kind, wie trostlos Deine eigne Zukunft seyn muß, wenn Du auf Deinem Eigensinn beharrst? Von Männern und Frauen verlassen, den Deinigen empört und gehässig, einsam und ganz verloren in einer kalten, höhnenden Welt, arm und ohne Hülfe! Wirst Du Dich alsdann nicht in Deine Jugend zurück sehnen, und in bitterm Schmerz bereuen, daß Du jetzt alles Glück für Dich und die Deinigen so muthwillig, so unbedacht von Dir gestoßen hast? Fordert dieser edle Mann denn Liebe und Leidenschaft von Dir, wie sie wohl in unsern verkehrten Büchern geschildert werden? Will er mehr als Freundschaft und Achtung? Und kannst Du ihm diese 120 versagen? Er ist zu allen Aufopferungen bereit, die unsere drückende Lage fordert, und die sein großer Reichthum möglich macht; aber wenn Du ihn so spröde verhöhnst, und er tritt beleidigt und beschimpft zurück – wer weiß, wo Deine Geschwister oder Deine Mutter und Du selbst noch einmal im Alter ein schnödes Almosen erbetteln müssen, wo ich noch krank und hülflos liege, und Dein weinendes Auge dann umsonst in diese Tage sehnsüchtig zurück blickt, die dann auf ewig verschwunden sind.

Hören Sie auf, meine geliebteste Mutter! rief Dorothea im größten Schmerze aus. O leider, leider ist das Recht ganz auf Ihrer, und das Unrecht durchaus auf meiner Seite. Nein, ich habe noch nie geliebt, und werde es nie, mein Herz ist für dieses Gefühl verschlossen; die Männer, die ich gekannt habe, flößen mir alle ein Gefühl des Widerwillens ein, viele des Mitleids, um nicht Verachtung zu sagen; ich sehe ja ein, daß eine Ehe, die auf Vernunft sich gründet, die uns in Wohlstand und Sorglosigkeit versetzt, etwas Wünschenswerthes seyn muß; daß ich durch ein einziges Wort Sie und uns alle beglücken kann, daß es wohl edel ist, wenn ich es ausspreche, daß es die Nothwendigkeit vielleicht von mir erzwingt, und Kindespflicht und die edelsten Rücksichten – und doch – warum schaudert mein Gefühl davor zurück? – Ach, liebe Mutter, wenn nur eins nicht wäre, – darf ich es sagen? werden Sie mich nicht ganz mißverstehn? O gewiß! denn ich verstehe mich ja selber nicht.

Sprich, mein geliebtes Kind, sagte die Mutter im freundlichsten Tone, ich werde Dein Herz fühlen, wenn ich auch nicht ganz Deine Worte fasse.

Dorothea zögerte, sah sie bittend an, und sagte endlich verlegen und mit bittender Stimme: Oft habe ich mir selbst die Frage vorgelegt, ich habe mich in einsamen Stunden ernst 121 geprüft, und mir schien dann wohl, als könnte ich meine Hand in die des würdigen Mannes fügen, den Sie alle, den die ganze Welt verehrt, wenn er nur nicht –

Nun? rief die Mutter.

Wenn er nur nicht fromm wäre, sagte die Tochter hastig.

Eine lange Pause der Verlegenheit entstand. Dorothea war glühend roth geworden, die Schwestern traten scheu zurück, die Mutter schlug den Blick nieder, und wandte ihn dann um so schärfer prüfend auf die Arme, die Allen und sich selbst fast eine Entartete schien. Endlich sagte die Mutter: Nun, wahrlich, das muß mich überraschen, und wenn ich dies in Dir verstehe, so möchte es mich auch mit Schauder erfüllen. Also Du bekennst nun öffentlich Deinen Abfall von Gott? Du bist also darüber mit Dir einig, daß das Heilige Dir ein Anstoß und Greuel ist? Du kannst das nicht lieben, was die Liebe selber ist? So geh denn und verläugne das Göttliche, lebe ruchlos und stirb vom Himmel verlassen.

Sie verstehen mich nicht, rief Dorothea mit einem hohen Unwillen: das ist ja das Unglück meines Lebens, daß Alles an mir mißdeutet wird, wenn ich es noch so gut meine. Vielleicht würde mir Herr von Wallen ganz recht seyn, wenn ich nur nicht wüßte, daß er so fromm ist, ja vielleicht würde ich ihn alsdann für fromm halten.

Trefflich! sagte die Mutter in schmerzlicher Entrüstung: wenn wir selber verderbt sind, so ist es freilich am bequemsten, an den Würdigen ihre Tugend zu bezweifeln. Damit sprichst Du auch zugleich aus, wie Du von mir denkst, und was ich überhaupt von Deiner Kindesliebe zu erwarten habe.

Sie sollen, Sie werden sich irren! rief Dorothea fast im Zorne aus: ich will mehr thun aus Liebe für Sie, als ich vor mir selbst verantworten kann, ich will mich heute 122 Abend, darauf gebe ich Ihnen jetzt mein Wort, mit dem Herrn von Wallen verloben.

Ein allgemeiner Ausruf der Freude, Thränen, Umarmungen, Schluchzen unterbrachen und ersetzten jedes Gespräch. Der Wortwechsel verwandelte sich in das lauteste und fröhlichste Getümmel, Alle hatten die Fassung verloren, und drückten Liebe und Entzücken heftig und übertrieben aus. Nur Dorothea war nach ihren letzten Worten plötzlich wieder ganz kalt geworden, und gab sich ohne alle Erwiederung still den Liebkosungen hin.

O Du mein geliebtes Kind! sagte die Mutter endlich wieder gefaßt, ja, ich habe Dich mißverstanden, und Du wirst mir verzeihen; macht ja diese unerwartete freiwillige Erklärung Alles wieder gut. Und jetzt darf ich Dir auch noch das schönste und kostbarste Geschenk zu jenen Gaben der Liebe hinzufügen, diesen Schmuck, den Dir der Baron sendet; ich habe ihn zurück gehalten, weil ich wirklich an Deinem schönen Gefühle zweifelte.

Die Tochter sah die Mutter mit großen Augen an, dann warf sie einen kalten Blick auf die kostbaren Steine, und legte sie ruhig zu den Blumen auf den Tisch. Das Frühstück ward gebracht, und man war nach der lauten Scene um so ruhiger, kein Gespräch wollte in den Gang kommen. Es läutete zur Kirche, die Bedienten brachten Mäntel und Bücher. Dorothea legte ihr Andachtsbuch aus der Hand und sagte: Sie verzeihen wohl, liebe Mutter, wenn ich Sie heut nicht zur Kirche begleite, ich bin zu gespannt, ich will mich hier in der Einsamkeit indeß zu sammeln suchen und auf unsere Mittagsgesellschaft vorbereiten, noch mehr auf den Abend.

Wie Du willst, mein holdes Kind, antwortete die Baronesse: zwar wäre die Kirche und die Rede unsers frommen 123 Seelsorgers wohl der natürlichste Ort und Anlaß, Deine Gedanken zu sammeln, indessen hast Du einmal Deine Art und Weise, sie bleibe Dir ganz unbekrittelt. Es ist augenscheinlich der Himmel selbst, der Dich, Geliebte, die Du es am meisten bedarfst, unserm geliebten Wallen zuführt; an seinem Arm wirst Du anders denken lernen, und vielleicht erlebe ich es noch, daß Du uns alle beschämst und in höherem Glanze voran leuchtest.

Als sich Dorothea allein sah, musterte sie, fast gedankenlos, die Geschenke. Die schimmernden, kostbar gebundenen Bücher waren von jenen neuen religiösen, denen sie nie ein Interesse hatte abgewinnen können. Was macht es? sagte sie zu sich: ist denn die Erde selbst, das ganze Leben so sehr der Rede werth? Warum will ich mit so großem Widerwillen die Rolle durchführen, die mir einmal aufgegeben ist? Was ich mir früher dachte und vorsetzte, ist ja doch nur Traum und leere Einbildung! Ich sehe ja, wie alle, alle Menschen nur spielen und Erhebung heucheln, dann gern und beruhigt in die Gemeinheit sinken. Ist es das allgemeine Schicksal, warum will ich mich so heftig dagegen sträuben? Entsetzlich ist es! aber endlich, früh oder spät, löst ja doch der Tod das verwickelte Netz dieses Lebens, und jenseits wird es ja doch wohl Freiheit geben.

Mit ihrer Stimmung wurde auch der Himmel finsterer. Dunkle schwere Wolken zogen näher, und schienen ein Gewitter herbei zu führen. Ein schlanker Mann kam den Garten herauf und näherte sich dem Saal. Als er eintreten wollte, ging sie dem Fremden, der ein Mann von Stande zu seyn schien, entgegen. Sie begrüßten sich, und der Unbekannte bat um die Erlaubniß, verweilen zu dürfen, er habe in der Lindenallee sein Pferd dem Diener übergeben, und sei dann in den offenen Garten gerathen; er bedauerte, die 124 übrige Familie nicht zu finden, worauf ihn Dorothea einlud, im Saale das Gewitter abzuwarten und zu verweilen, bis Mutter und Schwestern aus der Kirche zurückkehren würden.

Sie scheinen beim Gewitter nicht ängstlich zu seyn, bemerkte der Fremde.

Doch, erwiederte Dorothea, wenn es allzunahe kommt, und Feuer und Schlag eins und dasselbe werden; ich glaube auch, daß sich alsdann wohl alle Menschen mehr oder minder fürchten; denn wo es keinen Widerstand giebt, wo ein plötzlicher unversehener Augenblick mich wegraffen dürfte, da ängstet es mich gerade, daß ich nicht auf meiner Hut seyn kann. In diesen Augenblicken beruhigt nur der Glaube an ein nothwendiges Fatum und die Betrachtung, daß ich nichts Besseres bin, als die Tausende meiner Mitmenschen, die demselben Schrecken ausgesetzt sind.

Diese Gesinnung, sagte der Unbekannte, muß ich eine tapfere nennen, im Gegensatz jener schwachen, die bei den Damen gar nicht selten ist, wenn sie beinahe in Furcht vergehn, alle Fassung verlieren und in Thränen jammern, indem nur noch das fernste Wetterleuchten herüber schimmert.

Wohl, sagte Dorothea, und ich sorge schon um Mutter und Schwestern, die nur gar zu reizbar sind. Ich mag es nicht tadeln, weil es wohl, wie so viele krampfhafte Furcht, Krankheit des Körpers seyn mag.

Es ist nicht so leicht zu entscheiden, bemerkte der fremde Mann, weil wir erst ernsthaft versuchen müßten, was der starke Wille denn wohl vermag, und ob, wenn die Seele sich zwingt, nicht auch der Körper wenigstens einige Schritte mitgeht, und von selbst da Gesundheit entsteht, wo die eigenwillige Stimmung die Kränklichkeit erzeugt hat.

Das führt auf die Frage, sagte Dorothea, in wie fern 125 wir frei sind, und was wir im Geist und Körper durch Vorsatz vermögen.

Gewiß, erwiederte jener, und nicht blos diese, alle ernsten Betrachtungen führen zu der großen Frage. Ohne diese uns beantwortet zu haben, können wir auch für nichts Interesse fassen, und weder an uns, noch an andere glauben.

Freiheit! seufzte Dorothea, wie vor sich hin phantasirend. Sie glauben also daran? Ich auch ehemals, als ich jünger war.

Jünger, mein Fräulein? das klingt von Ihren schönen Lippen sonderbar. Ich zweifelte als Jüngling, und habe erst später diese Ueberzeugung fassen lernen.

Vergeben Sie, rief Dorothea beschämt, daß ich mich mit Ihnen in dergleichen Worte verliere, da ich –

Der Fremde unterbrach sie. Behandeln Sie mich nicht wie einen unbekannten jungen Menschen, der nur da seyn darf, um Ihnen etwas Verbindliches zu sagen. Sie sind mir mit einem schönen und ernsten Vertrauen entgegen gekommen, und ich weiß, daß ich dessen nicht unwerth bin.

Und wirklich schien es, als spräche Dorothea mit einem alten Bekannten oder Bruder, so wenig war dieser Mann – nach dessen Namen sie selbst zu fragen vergaß – ihr fremd. Seit lange hatte sie nicht dieses Gefühl gehabt, ihre Gedanken, ohne Furcht, mißverstanden zu werden, aussprechen zu dürfen; dies gab ihr eine Behaglichkeit, daß sie auf das heranrückende Gewitter nur wenig achtete, und selbst den Abend vergaß, an welchen sie so eben noch nur mit Entsetzen hatte denken können. Im Verlauf des Gesprächs erzählte der Fremde von seinen Reisen, Manches von seinen Schicksalen; er erinnerte sich seiner Jugend, und bekannte endlich, daß er dies Haus, und vorzüglich den vor Jahren verstorbenen Vater des Fräuleins oft gesehn habe. Sie sehen 126 Ihrem Vater wunderbar ähnlich, beschloß er, und ich habe gleich Anfangs diese freundlichen Lineamente nicht ohne Rührung betrachten können.

Dorothea war überrascht, als sie die Familie schon aus der Kirche zurück kommen sah. Man begrüßte den Fremden, die Mutter trat fast erschrocken zurück, und Dorothea erblaßte, als sie ihn Graf Brandenstein nennen hörte. Er ward höflich zu Tische geladen, und der alte Baron Wallen erschien ebenfalls, so wie der Rath Alfred und der junge Offizier; beide waren aus der Stadt herüber geritten. Die Familie kleidete sich um, und Dorothea war in ihrem einsamen Zimmer in tiefen Gedanken verloren. Die Welt lag sonderbarer als je vor ihrem Geiste da, sie konnte sich kaum zurecht finden, um ihren bescheidenen Putz zu ordnen, und als sie nachher wie träumend zur Gesellschaft zurück kehrte, erschienen ihr alle Gesichter wie hart und gespannt, ja, als fremd, besonders aber die weiche, gesalbte Miene des Barons wie zum Erschrecken verzerrt, und ein Gefühl, als wenn sie lachen solle, bemeisterte sich wie ein Frost ihres ganzen Wesens, indem sie sich erinnerte, daß sie diesen Mann noch heut Abend für ihren Bräutigam erklären müsse. Wie widrig ihr der junge Offizier und Rath auffielen, so bekannt, vertrauensvoll und milde leuchteten ihr die Blicke des Grafen entgegen, den sie als einen bösen und gefährlichen Menschen noch gestern hatte schildern hören.

Er schien allein unbefangen am Tische. Mit Behaglichkeit erzählte er von seinen Geschäften, die er für seinen amerikanischen Freund betrieb; er nannte die Güter, die er schon gekauft hatte, oder um welche er noch in Unterhandlungen stand, und man verwunderte sich über den Reichthum des unbekannten Mannes, der die schönsten Besitzungen zu einer großen Herrschaft vereinigen konnte. Durch die 127 Gewandtheit des Grafen ward die Unterhaltung bald freier, und der Baron, welcher dem Gefühle, das ihn bedrängte, wie mit Gewalt widerstand, suchte das Gespräch an sich zu reißen und zu beherrschen, vorzüglich wohl, damit die Jugend und die Frau des Hauses nicht in der gewohnten Verehrung nachlassen mochten.

Wie es aber zu geschehen pflegt, daß ein Gespräch, wenn es nicht mit leichter Unbefangenheit und feinem Sinne geführt wird, wohl in Anmaßung und Spannung eine polemische Natur annimmt, so war es auch hier; denn die Reden und Aeußerungen des Barons waren alle verhüllte Angriffe gegen den Grafen und dessen Meinungen, wie er sich diese nach der Schilderung desselben dachte. Der Graf achtete diese Demonstrationen Anfangs wenig; er unterhielt sich hauptsächlich mit Dorotheen, die neben ihm saß, sprach von seinen Geschäften, und sagte endlich auch, wie im Scherz, er habe zugleich von seinem amerikanischen Freunde den Auftrag erhalten, ihm eine Gemahlin zu suchen.

Das kann wohl von Ihnen beiden nicht ernsthaft gemeint seyn, sagte die Baronesse.

Und warum nicht? erwiederte der Graf in heitrer Laune, mein Freund ahmt ja hierin nur den regierenden Fürsten nach, durch Anwalde und nach politischen Rücksichten zu unterhandeln. Er ist nicht mehr jung und kann nicht erwarten, Leidenschaft zu erregen; er hat in der Jugend traurige Erfahrungen gemacht, und an seinem eignen Unglück, so wie an manchem Freunde erlebt, daß dasjenige, was die Menschen Liebe nennen, nur weichliche Sehnsucht, oft Eitelkeit, zuweilen sogar Verblendung sei, und die meisten Ehen, die in scheinbarer Leidenschaft geschlossen werden, nur ein dürftiges, ganz kümmerliches Leben, oft Elend herbei führen. Ich bin sein ganz vertrauter Freund, und er rechnet auf meine 128 Menschenkenntniß, daß ich ihm ein Loos ziehen werde, welches ihm geziemt.

Der Baron erwiederte, daß ihm ein solches Unternehmen immer noch mißlich scheine, und daß der Unbekannte dabei doch das Glück seines Lebens auf das Spiel setze.

Glück? nahm der Graf das Wort auf: gewiß, wenn er sich jenes Unbedingte, Unendliche und Unaussprechliche dabei dächte, was die Jugend gewöhnlich mit diesem Worte verbindet. Wo finden wir dies? Wer sich nicht zu beschränken versteht, wird nichts erlangen, am wenigsten, was jenseit aller Schranken liegt. Die Resignation mag Anfangs bitter scheinen, aber ohne sie ist kein Zustand des Lebens zu ertragen; denn wenn wir mit uns nur wahr umgehen, so müssen ja doch auch alle Entzückungen unmittelbar der Wehmuth Platz machen, ja sie sind eins mit dieser, und Schönheit, Kunst, Begeisterung, Alles ist für uns irdische, vergängliche Menschen nur da, indem es vergänglich ist, obgleich die Wurzel alles Göttlichen in der Ewigkeit ruht.

Sonderbar! sagte der Baron: somit wäre auch die Andacht und die Frömmigkeit, das Erkennen des Himmlischen diesem Wandel unterworfen?

Ich glaube, sagte der Graf, wer nicht irdisch seyn mag, kann auch nicht überirdisch seyn; Nacht und Tag, Schlaf und Wachen, Erhebung und Gleichgültigkeit müssen sich ablösen. Wir beklagen mit Recht, daß es so ist und seyn muß, aber es kann nicht anders; wer aber die Erleuchtungen der Andacht, die Entzückungen einer himmlischen Liebe zu einem stehenden Artikel in seinem Herzen machen wollte, der dürfte sich wohl auf dem allergefährlichsten Standpunkte befinden, auf den der Mensch sich nur wagen kann.

Sie sind einmal als Freigeist bekannt, antwortete die 129 Mutter, und es wird Ihnen bei uns nicht gelingen, unsere klare Ueberzeugung zu trüben.

Kunigunde sagte mit einem schmelzenden Tone: Sie meinen also, es sei gefährlich, den Herrn zu lieben?

Brandenstein mußte lächeln: Gefährlich, wie alle Liebe, schöne Frau, erwiederte er leicht, besonders, wenn man den Gegenstand, den man zu lieben unternimmt, nicht kennt, oder sich eine ganz unrichtige Vorstellung von ihm macht; noch schlimmer, wenn wir ein Phantom aus ihm bilden, das alle unsre Vorurtheile bestärken, uns in unsern Schwächen Recht geben, unsere Fehler und Irrthümer autorisiren soll. Da dürften wir unser thörichtes Herz leicht an ein Gespenst verschenken, wie einige alte Mährchen etwas Aehnliches erzählen, und uns entsetzen, wenn uns die wahre Gestalt des Göttlichen einmal in einer erleuchteten Minute erschiene.

Dorothea hörte aufmerksam zu, und der Baron sagte nicht ohne Verdruß: Die Liebe kann nicht irren. Wo sonst einen Wegweiser auf unserm Pfade suchen?

Wenn sie die wahre ist, nicht, erwiederte der Graf, aber über diese täuschen wir uns selber nur gar zu leicht; denn wenn unsere Leidenschaften nicht Sophisten wären, so wären sie eben auch keine Leidenschaften.

So ist denn der Zweifel, sagte der Baron zürnend, das Einzige, was wir gewinnen können.

Er sei unser Diener, antwortete der Graf, der die Wege untersucht, unser Thor, der mit nüchternem Spaß uns vor dem Allzuviel oder vor Uebereilung warne. Kinder und Narren reden aber, wie das Volkssprichwort sagt, die Wahrheit: zuweilen wenigstens, wenn nicht oft und immer.

Eine Mutter, sagte die Baronesse, weiß, was Liebe ist; der Mann behält vielleicht immer eine dunkle, zweifelnde Vorstellung von dieser Kraft. Auch ist die That immer 130 mehr als das Wort, und so habe ich meine Kinder erzogen und mit ihnen gelebt, ganz in Liebe, keinen blinden Gehorsam, nie etwas Unvernünftiges von ihnen fordernd, immer habe ich mich ihnen geopfert; aber sie haben schon lallend meine Liebe erkannt und erwiedert, auch sie haben nur ihren Herzen folgen dürfen, und Strenge, Furcht und dergleichen ist ihnen völlig unbekannt geblieben.

Die Töchter sahen die Mutter zärtlich an, die Mutter hatte Thränen im Auge, nur Dorothea blickte scheu vor sich nieder, und der Baron sagte begeistert: Man kennt und verehrt diese musterhafte Erziehung, und wer an Liebe zweifelt, komme und sehe diesen Familienkreis.

Fern sei es von mir, sagte Brandenstein, zu Dorotheen gewendet, mit rohem Gefühl diese zarte Liebe nicht anerkennen zu wollen; nur meine ich, wenn ich mich meiner glücklichen Kindheit erinnere, daß die Liebe zu den Aeltern, und eine gewisse religiöse und edle Furcht vor ihnen ein und dasselbe seyn müßte; denn durch die letztere scheint mir meine Kindesliebe erst ihre wahre Kraft und Innigkeit erlangt zu haben, auch soll ja diese heilige Scheu vor etwas Unbegreiflichem in den Aeltern jenen blinden, unbedingten Gehorsam erzeugen, in welchem sich das Kind eben so glücklich fühlt; denn ohne diesen Gehorsam findet, scheint es mir, weder Erziehung noch Liebe statt.

Die Mutter sah die älteste Tochter, welche derselben Meinung zu seyn schien, bedenklich an, und sagte dann mit etwas gespitztem Tone: Ich habe es vorgezogen, meine Kinder früh zu überzeugen, und wo das nicht möglich war, stimmte ich sie so, daß sie aus Liebe zu mir das thaten, was sie nicht einsehen konnten.

Ich verehre Ihre Erziehung, sagte der Graf, denn wer möchte in dieser schönen Umgebung dagegen streiten? Doch 131 dürften diese Auswege vielleicht etwas zu kostspielige Surrogate für den einfachen und wohlfeilen Gehorsam seyn.

Der Baron wandte sich verstimmt an den Rath Alfred, und das Gespräch nahm eine andere Wendung. Der junge Offizier erzählte mit Selbstgenügsamkeit, daß er neulich die Gesellschaft, zu der ihn eine Dame eingeladen hatte, ohne alle Entschuldigung vermieden habe, da es ihm sündlich scheine, eine Unpäßlichkeit oder ein Geschäft vorzuschützen. Man lobte diesen Wahrheitstrieb und meinte, diese Art und Weise müßte in der Gesellschaft die allgemeine werden, wenn sie sich vor der leeren Affectation, Heuchelei und fortwährenden kleinen Lüge retten wolle. Auch die Mutter stimmte zögernd in diese Behauptungen ein, ob sie gleich befürchtete, daß dergleichen nur schwer möglich zu machen sei, ohne zugleich die feinen Bande der Geselligkeit völlig zu lösen; doch sei eben darum die Tugend des Einzelnen, der den Muth habe, sich über diese Rücksichten hinweg zu setzen, um so mehr zu preisen. Nichts, fuhr sie fort, habe ich bei meinen Kindern so sehr zu erwecken und zu beleben gesucht, als den heiligen Wahrheitstrieb; ich habe sie bewacht, daß sie sich nie auch nur die kleinste Unwahrheit, ja selbst im Scherze nicht, erlauben durften. Immer auch habe ich mich bestrebt, alle Fragen wahr zu beantworten, aus dem Unterricht alles zu entfernen, was nicht klar und deutlich gemacht werden konnte; am meisten aber vermied ich jene unsinnigen Mährchen und lügenhaften Geschichten, die Furcht und Aberglauben nähren, und das Gemüth der Kinder wohl am allermeisten der Wahrheit entfremden.

Der Baron führte diese Sätze noch mehr aus, und alle Uebrigen stimmten ein, außer dem Grafen, welcher äußerte, daß es eine der schwierigsten Antworten seyn möchte, zu sagen, was denn Wahrheit, die eigentliche Wahrheit sei. 132 Die Menschen, meinte er, suchen sie in allen Richtungen schon seit Jahrtausenden, und auch hier muß, wie fast immer, der gute Wille, wahr seyn zu wollen, nur zu oft die Sache selbst vertreten. Will ich gegen Kinder oder Schwache immerdar auf alle Fragen die Wahrheit sagen, so komme ich in die Gefahr, gar nicht mehr wahrhaft seyn zu können; denn das Letzte beruht ja doch auf einem Geheimniß, das ich eben so wenig läugnen darf, als ich es erklären kann. Und zu diesem Unsichtbaren hin drängen uns Phantasie und Gefühl schon sehr früh, und der Lehrer, der die junge Ungeduld hiervon entfernen will, muß nur wieder zu einer andern Lüge seine Zuflucht nehmen, die vielleicht in falscher Aufklärung eben so schlimm, als die des Abergläubigen ist. So scheint es mir auch nicht gut gethan, die Phantasie der Kinder nicht bilden zu wollen, auch in der sonderbaren Kraft, die das Grauen sucht, und blinde, wilde Schrecknisse ersinnt. Dieser Trieb ist in uns, er regt sich früh; und soll er unterdrückt werden, strebt man ihn zu vernichten, was nicht möglich ist, so wächst er in der finstern Tiefe fort und gewinnt an Macht, was er an Gestaltung verliert. Ich habe weibliche Wesen gekannt, die man aus übertriebener Aufklärung selbst vor dem unschuldigsten Mährchen bewahrte, und die in reifen Jahren es nicht über sich vermochten, am Abend auch nur durch das benachbarte Zimmer zu gehen, so bezwang sie ein namenloses, ganz kindisches Grauen, so daß sie vor jedem Laut, vor jedem Schatten ohnmächtig erzitterten. Wird dagegen in der Kinder-Phantasie auch das Seltsam-Aengstigende in Gestalt gebracht, wird es in Mährchen und Erzählungen gesänftiget, so vermischt sich diese Schattenwelt sogar mit Laune und Scherz, und sie selbst, die verworrenste unsers Geistes, kann ein Wunderspiegel der Wahrheit werden. Durch diese Krystallseherei können wir weit 133 entfernte und doch befreundete Geister wahrnehmen, die uns in sichtlicher Nähe nur höchst selten vorüber schweben.

Daß Sie ein solcher Freund des Aberglaubens sind, erwiederte die Baronesse, muß ich erst jetzt von Ihnen erfahren.

Dorothea schien kein Wort dieser sonderbaren Unterredung zu verlieren; sie sah Kunigunden an, auf welche jene Schilderung einer unvernünftigen Angst, die sie oft sogar am Tage befiel, buchstäblich paßte; auch waren die andern Schwestern zuweilen kindisch genug, und scheuten am Abend jeden Gang. Kunigunde war empfindlich, sie glaubte, der fremde Gast kenne diese ihre Schwäche, und habe sie nur schildern wollen. Die Mutter konnte ihre Verlegenheit nicht ganz verbergen.

Der Gesellschaft, fuhr Brandenstein fort, kann ich mich nicht immer mit der nackten Wahrheit nahen, denn sie fordert und erwartet sie nicht von mir. Ich darf die Tugenden der Einsamkeit nicht in sie werfen, wenn ich nicht den Zauber, durch welchen sie für den gebildeten Menschen so reizend wird, zerstören will. Man findet allenthalben schlechte Gesellschaft, die ich wahrlich nicht preisen will; aber daß man das feine Leben, die zarteren Bande der gebildetern Welt, das anmuthige Verhältniß der Geschlechter, die Formen, welche Witz und Lebensart erfanden, so oft schmähend mit den Gesetzen und Bedingnissen eines sinnreichen Kartenspiels verglichen hat, ist mir zwar nicht unpassend, aber sonderbar vorgekommen, und unbegreiflich, daß man nicht die Mannigfaltigkeit des Lebens und dessen nothwendige Figuren hat anerkennen wollen. Man muß nur eine Zeitlang mit bäurischen Menschen gelebt haben, die ihre rohe Zutäppigkeit für biedere Tugend so oft verkaufen wollen, die alles verletzen, die kein Geheimniß, kein zartes Verhältniß anerkennen, 134 sondern alles Geistigere Affectation und Heuchelei taufen; man muß Wochen lang diesem rohen Betasten und Anpacken, und der drückenden Langeweile ausgesetzt gewesen seyn, um den Adel eines feinen, geistreichen Umgangs wieder schätzen zu lernen. Hier gilt denn freilich nicht immer das blanke Ja und Nein; und mit der sogenannten Wahrheit die gegebenen Formen, durch welche diese Erscheinung sich nur darstellen läßt, umstoßen wollen, ist eben so unbillig, als wenn ich die Gesetze eines künstlichen Schachspiels Lüge nenne, mit meinen Bauern gleich in das letzte Feld des Gegners rücke und mein Spiel für gewonnen erkläre.

Sie sind ein ziemlicher Sophist, sagte der Baron. Es fehlte noch, daß die Verläumdung, Klatscherei, Neid und Verfolgung der großen Gesellschaften einen Lobredner fanden; es bleibt dann nur noch übrig, die stille Tugend, die schöne Bürgerlichkeit, die kindliche Unschuld und edle Einfalt der nichtvornehmen Welt zu schmähen.

Sie können mich unmöglich so mißverstanden haben, sagte der Graf, ich meine nur, man soll Bedingnisse, die jedes Spiel und Kunstwerk nothwendig macht (und die gute und feine Gesellschaft sollte wohl von beidem etwas haben), nicht mit Unwahrheiten verwechseln; denn auch im Tanz ist keine Wahrheit, wenn anders der gerade eilige Geschäftsschritt so zu nennen ist, und es dürften sich von dieser Ansicht her selbst gegen den Spaziergang nicht unerhebliche tugendhafte Zweifel aufwerfen lassen.

Immer ärger! rief der Baron: zum Glück, mein scharfsinniger Graf, sprechen Sie alles dies in einer Gesellschaft, auf die es nicht schädlich einwirken kann.

Sie haben mich einmal hinein gezogen, erwiederte Brandenstein, und so mögen Sie denn auch mein ganzes Glaubensbekenntniß hören. Ich denke, es hat noch keinen 135 Menschen gegeben (und keiner wird kommen), der nicht irgend einmal in seinem Leben mit Bewußtsein gelogen hätte. Sei es nun Nothlüge oder Schwäche, Furcht, Eigennutz oder Eitelkeit, und wie sie alle heißen mögen, diese Flecken unsrer Natur; vielleicht auch, um nur einmal diesem Geiste zu folgen, der uns doch gar zu reizend verlockt. Und dürfen wir doch nur auf die erhabenen Apostel sehen, um zu lernen, daß sie ihrem Vorbilde, der ewigen göttlichen Wahrheit, nicht immer getreu zu seyn stark genug waren. Vieles dieser Art möchte ich die unschuldigen Lügen nennen, denen der bessere Mensch, eben weil sie so resolut sind, bald aus dem Wege gehn kann. Aber wie steht es denn mit jener gleissenden Eigenliebe, mit jenem prunkenden Egoismus, mit der ausgebildeten Heuchelei, die aus dem ganzen langen Leben mancher Menschen nur eine einzige Lüge bilden? Ich habe wenigstens einige gekannt, die so im Lügengeiste untergesunken waren, daß es für sie gar keine Wahrheit mehr gab. Und diese Menschen galten für tugendhaft, sie hielten sich selbst für Auserlesene, es war ihnen möglich, selbst auf dem Sterbebette die Rolle der Heuchelei fortzuspielen.

Dergleichen ist nicht möglich! rief der Baron, und Alle stimmten ihm bei; nur Alfred äußerte, es könne doch wohl dergleichen Verkehrtheit geben, worauf ihn Dorothea verwundert mit großen Augen ansah. Sie sprechen überhaupt, fuhr der Baron fort, von einer vorigen Welt; seit Ihrer Abwesenheit hat sich bei uns alles so geändert, daß Sie, wenn Sie unser Vaterland erst wieder kennen lernen, kaum mehr eine Spur vom vorigen finden werden. Die alte Irreligiosität, jene leere Freigeisterei, die sich Aufklärung nannte, ist, dem Himmel sei Dank! ziemlich verschwunden; immer schöner entwickeln sich die Keime einer ächten Religiosität, man schämt sich nicht mehr, Christ zu seyn, an den Herrn 136 zu glauben und sich im brünstigen Gebet zu ihm zu erheben. Die Kirchen sind wieder gefüllt, die höhern Stände verschmähen nicht mehr die Gemeinschaft ihres Nebenchristen, andächtige Bücher haben die frivolen von den Tischen unserer Weiber und Mädchen verdrängt, geläuterte Seelen unterhalten sich, statt mit Theatergeschwätz, über die Bibel, ermuntern sich zur Buße und Andacht, theilen sich die Erfahrungen mit, die sie an ihrem Herzen machen, stärken sich gegenseitig, und immer deutlicher spricht aus diesen erhobenen Gemüthern der Geist des Herrn. Alles dies, mein zweifelnder Freund, werden Sie wenigstens gelten und stehn lassen müssen, denn hier ist Wahrheit und Liebe, hier ist kein Irren möglich.

Er hatte alles dieses mit großer Salbung gesprochen. Der Graf schwieg einen Augenblick, ehe er sagte: Unser Tischgespräch hat eine so ernsthafte Wendung und einen so feierlichen Inhalt gefunden, daß es wohl passender wäre, abzubrechen, entweder auf eine stillere Stunde diese Eröffnungen zu versparen, oder ganz zu schweigen, weil man sich über diese wichtigen Gegenstände am leichtesten mißversteht.

Weil Sie sich jetzt völlig geschlagen fühlen, sagte der Baron, so wollen Sie sich wenigstens einen sichern Rückzug vorbehalten. Ich dächte, es wäre jetzt Ihre Pflicht, offen zu gestehen, daß Sie über diesen Punkt nichts zu sagen wissen, wenn Sie nicht unverholen bekennen wollen, daß Ihnen jene fast vergessene Freigeisterei lieber als unsere heilige Religion sei.

O sprechen Sie! rief Dorothea, sich selbst vergessend.

Sie sehen, wie dringend Sie aufgefordert werden, sagte die Mutter, indem sie einen langen und drohenden Blick zu Dorotheen hinüber warf; auch Alfred bat, daß der Graf 137 sich erklären möchte, in wiefern er in diesem Punkt mit dem Zeitalter einverstanden sei.

Da ich es nicht ganz umgehen kann, sagte dieser, so will ich kurz andeuten, was ich habe beobachten können; denn da ich schon seit einem Jahre wieder in Deutschland bin, so ist mir nicht alles so fremd, wie Sie glauben, ob ich gleich erst seit kurzer Zeit meine Geburtsgegend hier wieder besucht habe. Könnte ich Ihnen allen nur das Vorurtheil benehmen, daß Sie mich, wie ich merke, für einen gottlosen Unchristen halten. Nein, ein solcher bin ich wahrlich nicht, aber ich muß mir nur das unbestreitbare Recht vorbehalten, auf meine Weise ein Christ seyn zu dürfen. Daß es jetzt, wie zu allen Zeiten, wahrhaft fromme und erleuchtete Gemüther giebt, und daß man diese verehren solle, wer möchte daran zweifeln? Das Bedürfniß des Glaubens hat sich wieder gemeldet, der Geist hat fast an alle Herzen geklopft, und Anmahnungen mancher Art und aus allen Gegenden haben sich vernehmen lassen. Ein klarer frischer Strom hat sich wieder durch die lechzende Ebene von den ewigen Gebirgen her ergossen, und der Kraft seiner Wogen folgen die Dinge und Wesen, welche er ergreift; unwiderstehlich fühlt sich Alles fortgezogen, und Groß und Klein, Stark und Schwach muß nothgedrungen mit hinunter fließen. Wie ächte Begeisterung dies veranlaßt hat, so ist es denn doch auch hier, wie in allen geschichtlichen Ereignissen, ergangen, die Menge, die Eitelkeit, die menschliche Schwäche trübt auch diese Erscheinung, und als es einmal Mode war, frei zu denken und den starken Geist zu spielen, wenn Viele auch schwach und abergläubig waren, so ist es jetzt Sitte geworden, religiös zu scheinen, wenn es Manchem auch frivol und unerleuchtet genug zu Muthe seyn mag.

138 Desinit in atrum piscem, sagte der Baron ereifert, der Anfang Ihrer Rede ließ etwas Besseres vermuthen.

Wie Viele, fuhr Brandenstein ruhig fort, sind mir aufgestoßen, die mir fast beim Begrüßen entgegen warfen, daß sie außerordentliche Christen seien. Andere sprechen beim dritten Worte und bei den gleichgültigsten Gegenständen vom Heiland; bei jeder Veranlassung, sei sie noch so geringe, beten sie, und erzählen uns dies; ja ich habe Romane gelesen, in denen der Verfasser in der Vorrede sagte, er schreibe niemals, ohne vorher zu beten, und alles Gute, was im Buche stehe, sei unmittelbare Eingebung; das kürzeste Mittel, jede Kritik zurück zu schlagen, und die Romanze dicht an die geoffenbarte Schrift zu schieben. In Gesellschaften ergreift man jede Veranlassung, von Reue, Buße, Andacht und Erlösung zu sprechen, und entweiht, nach meinem Gefühl, das Heilige, vergißt, daß es eine Aehnlichkeit mit der Liebe hat, deren Gefühle und Geständnisse der wahre Liebende auch nicht jedem fremden Ohre Preis geben wird.

Was schadet es aber, sagte der Baron, wenn die frommen Gemüther vielleicht auch zu oft von dem Gegenstande ihrer Liebe sprechen?

Es kann nicht die Liebe seyn, erwiederte Brandenstein, es ist Eitelkeit, Hochmuth, der besser seyn will, als andere Menschen. Gerade wie zu der Zeit der Empfindsamkeit oder der Aufklärung, ist es ein krankes Bedürfniß, das allenthalben Nahrung sucht, das sich schmeichelt und zu immer tieferer Krankheit verzieht, das unduldsam und verachtend auf Nebenmenschen, die oft besser und frömmer sind, hinblickt, weil diese nicht gerade in den angegebenen Ton auch einstimmen wollen.

Sie schildern die Ausartung, stammelte die Baronesse in einer Art von Angst.

139 Nichts anderes, verehrte Frau, antwortete der Graf, nur daß mir diese häufig in die Augen gefallen ist. Auch habe ich Erbauungsbücher gesehn, die sehr in der Mode zu seyn scheinen, Altes und Neues, die wahrlich nur dazu dienen können, mittelmäßige Menschen, die schon von der Eitelkeit ergriffen sind, ganz zu verwirren, in denen der Schöpfer, die reine Liebe, gleich einem launigen wunderlichen Alten dasteht, der sich aus Langeweile gelüsten läßt, die krausesten Schicksale zu flechten, und Diesen und Jenen, wenn auch Viele dabei untergehn, auf seine und seltsame Art aus seinem Elende wieder heraus zu führen. Andere verwandeln Religion in Magie und Zauberei; oder verhärten die Herzen der Weiber, daß sie sich unendlich über ihre Männer erhaben fühlen, diese, wenn sie nicht ganz auf ihre Weise frömmeln, in einem Zustande der Zerknirschung erhalten, und in dem Gefühl, wie tief sie sich herablassen, die geheiligten Gattinnen so ordinärer Sünder zu seyn. Ich kannte ein armes, mittelmäßiges Mädchen, die sich glücklich schätzte, an einen jungen wohlhabenden Mann verheirathet zu werden, die aber nach einem halben Jahre auch zur Heiligen wurde, und sich nun vorlügt, ihre christliche Tugend bestehe darin, den Mann zu dulden; übermenschlich erscheint sie sich, wenn sie ihn nicht ganz verachtet, aber doch sagt sie sich dies täglich und ihren religiösen Gespielinnen, die sie auch in dieser Frömmigkeit bestärken. Ist nun dies nicht Sünde?

Ja wohl! seufzte plötzlich Kunigundens Gatte auf, und die Mutter, welche den Halt ihrer Familie fast sichtlich zusammenbrechen sah, bereuete es, dies Gespräch begonnen zu haben, und zürnte ihrem würdigen Hausfreunde, dem Baron, daß es durch ihn so angefeuert wurde. Brandenstein aber, der nun einmal im Zuge war, konnte ebenfalls in seinem geistlichen Eifer nicht ruhen, bis er seine ganze Catilinarische 140 Rede an den Mann gebracht hatte. Wie erhebend kann es seyn, fuhr er lauter fort, wenn wir fromme Männer, um sich ganz dem Heiligen zu ergeben, der Welt und allen ihren Schätzen den Rücken kehren sehen, um in stiller Abgeschiedenheit nur Einem großen Gefühle zu leben. Ich will einzelne Brüderschaften nicht tadeln, wenn sie sich in einem ähnlichen Sinne verschließen, und von Kunst und Geschichte, Philosophie und Welt nichts wissen wollen. Aber wenn diese einseitigen Frommen, die in der Welt stehen bleiben, die Erziehung der Uebrigen genossen haben und sich selbst für gebildet ausgeben, uns immer und immer wieder zurufen, nur Eins sei, was Noth thue, Malerei, Musik und Dichtkunst seien nicht nur überflüssig, sondern sogar sündhaft, und nur Gebet, Erleuchtung, Buße sei alles, was den Menschen in Anspruch nehmen solle, – so möchte ich doch wohl Diese fragen, von welchem engen Gefühle ihre sogenannte Religion sei, daß sie Liebe, Wahrheit, Vernunft und die lieblichen Erscheinungen der Phantasie gar nicht zulassen könne und dürfe? Also wäre den Reinen heut nicht mehr alles rein? Der Mensch ist schon als todt zu betrachten, dem in der Natur und Geschichte nicht Gott mehr erscheint; der ist verloren, der in der Kraft der Vernunft seine hohe Gegenwart nicht mehr sieht. Auch der ist fromm, dem aus dem Gemälde eine Entzückung anstrahlt, und der sich, so lange er Shakspeares Sommernacht liest, selig und im Himmel fühlt. Denn auch Scherz, Lust und Witz sind göttlicher Abkunft, und wir werden um so reiner und geläuterter, je mehr wir den göttlichen Strahl in diesen zarten Spielen erkennen lernen.

Ja wohl, sagte der Baron, welcher das auffallende Mißvergnügen der Baronesse bemerkt hatte, können wir heut dies interessante Gespräch nicht zu Ende führen.

Unmöglich, antwortete der Graf, welcher selber über 141 seinen Eifer zu erstaunen schien, denn sonst möchte ich wohl noch darüber belehrt seyn, warum diese frommen Gemüther sich nicht mit mehr Demuth der Kirche anschließen? Warum sie verlangen, daß alle Menschen auf ihre Weise die Dinge sehen sollen? Warum nicht Zweifel auch sie anwandeln und es ihnen begreiflich machen, daß sie doch auch wohl irren könnten? Ob es nicht christlicher sei, mehr nach dem Evangelium bei verschlossenen Thüren zu beten, als pharisäisch ihr vieles Beten weltkundig zu machen? Ich könnte denn wohl noch bemerken, daß dieser geistliche Schwindel sich auffallend genug mit einem politischen verbindet, und daß diese kranke Stimmung, die sich über ganz Deutschland verbreitet, es einem überaus verwirrten und schwachen Buche möglich gemacht hat, den Beifallsruf einer Menge zu erwerben, die nun erst beurkundet, wie wenig sie je unsern großen Dichter faßte, als sie ihm zujauchzte. Es kann als ein Frevel gegen diesen großen Mann erscheinen, wenn man es nicht lieber lächerlich finden will, daß man ihm so schulmeisternd mit Glaubensfragen nahe rückt, daß man Immoralität und Mangel an Idee seinen Werken vorwirft, weil er sich nie zu den armen Bedürfnissen dieses Wortführers herabgelassen hat. Daß alles dies möglich gewesen ist, hat mir gezeigt, wie wenig wahre Bildung bei uns noch Wurzel gefaßt hat, und wie leicht es daher Schwindlern wird, mit halbwahren Begriffen die schreiende Menge zu verwirren.

Sie meinen Göthe, sagte der Baron, und die sogenannten unächten Wanderjahre. Nun, da sind wir ja schon so ziemlich weit von unserm ersten Diskurse abgekommen.

Es trat eine Pause ein, Alle schienen verstimmt, Dorothea war tief bewegt. Indem der Bediente jetzt den Braten brachte, rief die Baronesse: Ach! wie konnte ich nur die arme kranke Wittwe vergessen? Johann, tragt dies Gericht sogleich 142 zu der Unglücklichen, mit meinen herzlichen Wünschen. Sie leidet, wie ich heut gehört habe, unglaublich, dabei ist sie arm, und ihre Kinder können ihr nur wenige Hülfe geben. Ja, die Armuth, die Krankheit! seufzte der Baron. O Himmel, was würde aus der finstern Erde werden, wenn nicht immer noch weiche, edle Gemüther das ungeheure Elend zu mildern trachteten.

Die bedauernswürdige Frau, fügte Kunigunde hinzu, soll auch mit ihrem verstorbenen Manne gar nicht glücklich gewesen seyn, er war hart und rauh, und behandelte sie oft übermüthig. Sie warf dabei ihrem Gatten, der am andern Ende des Tisches saß, einen sonderbaren Blick zu, der gar Vieles bedeuten konnte. Der junge Mann, vom Tischgespräch aufgeregt, war so unerhört dreist, zu erwiedern, daß es auch oft der Weiber eigne Schuld sei, wenn sie in der Ehe nicht glücklich wären. Der Graf, um nähere Erörterung zu verhindern, bemerkte, daß es vielleicht, da man die Krankheit der Frau nicht genau kenne, schädliche Wirkung thun möchte, wenn sie von der Fleischspeise unvorsichtig genösse. Der Baron aber, der einen neuen kriegerischen Angriff vermuthete, sprach gerührt über die große Wohlthätigkeit der Baronesse, wie sie den Armen eine Mutter sei, und begriff nicht, wie es noch so harte Menschen geben könne, die von dem Elende ihrer Nebengeschöpfe so ungerührt blieben.

Jetzt kam Johann mit dem Braten zurück und meldete, daß die Wittwe sich gehorsamst bedanke; es sei ihr aber vom Arzte im Fieber Fleischspeise bis jetzt noch untersagt, auch empfange sie seit drei Wochen alles vom Schlosse, was sie gebrauche, worüber sie ihre Rührung nicht genug ausdrücken könne. Ein Arzt? sagte die Baronesse, sie bekömmt schon? und wie? – Ach, gnädige Frau, sagte der alte Diener verlegen und mit Bewegung, Fräulein Dorothea sendet ihr 143 schon seit lange Alles, sie hat auch den Doktor kommen lassen, und besucht die Kranke selbst alle Morgen und Abende. – So? sagte die Baronesse mit einem gedehnten, zitternden Tone, und ein durchdringender Blick fiel auf die Tochter, die in der Beschämung nichts erwiedern konnte; und warum, mein Kind, geschieht denn diese Ausübung der Wohlthätigkeit, diese Tugend, die mir an Dir neu ist, so heimlich? Warum gönnst Du Deiner Mutter denn nicht auch einen Antheil an dem Verdienste, da sich Dein Herz nun endlich auf dergleichen christliche Liebesdienste hinlenkt? Mein Rath würde die Wohlthat erst zu einer ächten machen können. Aber so sieht es aus, als wenn eher Eigensinn, als Mitleid, Deine Handlungen lenke.

Liebe Mutter, flehte Dorothea, schonen Sie mich.

Es ist zu beklagen, fuhr diese fort, wenn selbst das, was an sich Tugend ist, durch die Art, wie man es ausübt, sich zum tadelnswürdigen Fehler umgestaltet. Vorzüglich sehe ich Stolz und Anmaßung in dieser Art zu handeln, daß Du es übernimmst, ohne mich klug und weise seyn zu wollen, da Du doch nicht wissen kannst, ob Du nicht dadurch mehr Schaden als Nutzen stiftest.

Es ist zu viel! rief Dorothea laut weinend aus, stand schnell auf und verließ mit verhülltem Angesicht das Zimmer.

Alle sahen auf, der Graf aber schien am meisten überrascht, er sagte mit bewegter Stimme: Geschieht aber dem Fräulein auch nicht zu viel? Sie hat es wahrscheinlich gut gemeint; und mir scheint es auch nicht strafbar, daß sie ihre Wohlthaten heimlich erzeigt, daß sie vielleicht etwas zu verschwiegen ist, um sich nicht dem Schein des Prunkens auszusetzen.

Gewiß, gnädigste Frau, sagte der greise Diener, das Fräulein ist ein Engel, alle Leute im Dorfe sehn sie auch 144 so an; was sie nur von ihrem Taschengelde sich absparen kann, was sie an Kleidern irgend entbehrlich findet, wendet sie auf die Armuth, aber das Schönste dabei ist die freundliche, stille Art, und wie sie die Leute beruhigt, und die Kranken tröstet, und die Kinder zum Gehorsam gegen die Aeltern ermahnt, die oft unwirsch sind; – ja, wir sollen schweigen, denn das hat sie uns strenge befohlen, wir haben es auch Jahre lang gethan, aber einmal verschnappt man sich denn doch. Verzeihung, gnädige Frau.

Diese Reden fielen vor, indem man aufstand; die Baronesse zitterte; der Baron suchte mit feierlichem Gesicht und Anstand, indem er der Mutter die Hand küßte, die Sache gut zu machen; der Graf empfahl sich mit wenigen Worten, und Alfred begleitete ihn; die übrige Gesellschaft ging in den Gartensaal.

Es thut nicht gut, sagte die Mutter, wenn böse Menschen über unsere Schwelle treten.

Ihnen folgt kein Segen des Himmels, fügte der Baron hinzu.

Welch ein Mittag! rief die Baronesse, ich werde ihn lange nicht vergessen! Solche Menschen fehlen uns noch in unserer Nähe, um mein armes abtrünniges Kind ganz unglücklich zu machen. Aber auch Sie, Herr Sohn, nahmen an dem gottlosen Menschen mehr Antheil, als ich oder die fromme Kunigunde wünschen können.

Mich dünkt aber, sagte Kunigundens Gatte, daß er manches ganz Vernünftige sprach; ich glaube auch, daß die Frömmigkeit zu weit gehe, und daß manche Frauen sich zu viel einbilden können.

Da sah ihn der Baron mit einem langen strafenden Blicke an, den der Arme nicht aushalten konnte, und als jetzt Kunigunde laut zu weinen anfing, die Mutter ebenfalls 145 weinend diese in die Arme nahm, um sie zu trösten, konnte er gerührt die bereuenden Thränen nicht länger zurück halten; er stürzte sich auch an den Busen seiner Gattin, schluchzend und um Verzeihung bittend. Seien Sie alle beruhigt, tröstete feierlich der Baron, indem er den Blick zum Himmel erhob, der Herr wird Alles gut machen, denn heut Abend, wie Sie mir gesagt haben, verlobt sich mir jenes verhärtete, uns dennoch theure Herz, durch meine schwache Hülfe wird der Geist sie dann erleuchten, und wir alle werden Ein Herz und Eine Liebe seyn.


Weinend hatte sich Dorothea in ihr Zimmer geschlossen. So zerstört, unzufrieden mit sich und der Welt, so ganz verloren und elend hatte sie sich noch nie gefühlt. Sie war tief beschämt, daß die einfache Art, sich der Armen anzunehmen, die ihr die natürlichste dünkte, plötzlich durch die Einfalt des Dieners war bekannt worden; aber es schien ihr auch zu hart, wie die eigne Mutter sie deshalb vor allen Gästen behandelt hatte, am schmerzhaftesten aber war es ihr, daß es in Gegenwart des Mannes geschah, den sie verehren mußte, der ihr Vertrauen gewonnen hatte, und dessen Achtung sie sich ebenfalls wünschte.

Es war finster geworden, ohne daß sie es bemerkte, als der Diener klopfte, und sie zur Mutter und der Gesellschaft herab zu kommen bat. Mutter! sagte sie vor sich hin, Mutter! welch schönes Wort! Warum habe ich keine kennen gelernt?

Sie ging hinab, im Saale saß die Familie versammelt, auch der junge Offizier war gegenwärtig. Indem Dorothea herein trat, fiel ihr erst wieder ein, weswegen sie gerufen werde. Ein Fieberfrost überfiel sie. Alle begrüßten sie als 146 die Braut des Barons, die Mutter sagte freundlich, sie wolle ihr jetzt das Betragen des heutigen Tages verzeihn, die Schwestern wünschten der Betrübten Glück, und der Baron bedeckte ihre zitternde Hand mit zärtlichen Küssen. Seien Sie ruhig, seien Sie glücklich, sagte er mit sanftem Tone, von heut an werden Sie, Geliebte, ganz zu uns gehören, und dieser Mensch wird das Haus nicht mehr betreten; wohl hatten Sie Recht, und der Himmel sprach aus Ihnen, daß ein solcher Elender nicht wandeln darf, wo wir unsere Schritte setzen.

Elender? rief Dorothea, und riß ihre Hand so gewaltsam weg, daß der Baron zurück taumelte. Sie sind ein frecher Mensch, daß Sie einen solchen Mann so zu lästern wagen!

Himmel! schrie die Mutter, sie hat den Verstand verloren! Ein böser Geist spricht aus ihr.

Dorothea besann sich wieder, sie sah das Erstaunen der Umgebenden und suchte sich zu sammeln. Ich bin so erschüttert, fing sie an, ich fühle mich so bewegt, vielleicht daß eine Krankheit – nur einen Augenblick will ich mich im Freien abkühlen.

In diesem Wetter? sagte die Mutter, in diesem Sturm und Regen, so ohne Tuch, in Deiner dünnen Bekleidung?

Es muß seyn! es muß! rief sie aus, und hatte schon, ohne auf die Uebrigen zu hören, die Saalthüre geöffnet, und stand im finstern kalten Garten. Da der Regen ihr entgegen schlug, so wandte sie sich in den bedeckten, dicht verflochtenen Gang, und ging hastig auf und nieder. Ihm, dem Widerwärtigen, sagte sie zu sich selbst, auf immer verbunden? So tief, so tief herabgewürdigt? Und für wen? Für Jene, die es mir niemals danken werden, die dann wieder thun, als sei mir dadurch die größte Wohlthat erwiesen worden? 147 Meine Seele retten? Verloren geht sie hier, vernichtet wird sie!

Ein dunkler Schatten kam auf sie zu, und an der lispelnden, sanften Stimme erkannte sie sogleich den Baron. Meine Gute, fing er an, Ihre liebe Mutter und wir alle erwarten Sie drinnen mit banger Besorgniß; mein Herz fließt in Zärtlichkeit über, da ich Sie schon als meine Gattin, und die Mutter meiner frommen Kinder betrachte.

Himmel! rief sie aus, das bedachte ich nicht einmal, daß mein Elend sich auch so weit erstrecken kann, Heuchler und böse Egoisten aus meinem Blute entsprießen zu sehen. Aber wenn mir auch dies Unglück nicht würde, so kann ich doch nie die Ihrige werden.

Wie? rief der Baron, und das feierliche Versprechen, welches Sie heut Morgen in die Hände Ihrer Mutter legten?

Und wenn ich es einem Engel vom Himmel gethan hätte, sagte Dorothea, so kann ich es nicht halten! Ja, wenn schon die Trauung geschehen wäre, so müßte man uns doch wieder trennen!

Seltsam, mein Fräulein! Bedenken Sie auch die Folgen?

Welche können es seyn? Alles ist zu tragen gegen das unabsehbare Elend, das meiner wartet.

Wissen Sie auch, daß es Ihre Mutter fordern kann? Wissen Sie, daß diese mir verpflichtet ist, was ich bis jetzt mit der Geduld der Liebe trug und verschwieg, in der Hoffnung, Ihrer Familie anzugehören? Fragen Sie sich, ob Sie unter diesen Umständen die Verpflichtungen Ihrer Mutter nicht lösen müssen, wenn Sie für eine gute Tochter gelten wollen?

Nein! rief das Mädchen in der allergrößten 148 Anstrengung, lieber mit ihr darben, für sie arbeiten, ja, für sie sterben!

Es giebt aber doch noch Mittel, sagte der Baron halb lachend, solchen Starrsinn zu beugen; die Rechte der Aeltern sind groß, und offenbar sind Sie jetzt Ihrer Sinne nicht ganz mächtig; etwas Bitte, etwas Gewalt wird schon den kindischen Willen brechen.

Er hatte heftig ihren Arm gefaßt, und war bestrebt, sie nach dem Hause zu ziehen; aber das starke Mädchen riß sich behende los, und floh durch den Gang, der Baron ihr nach, sie aber, die leichter war und die Verschlingungen des Gartens besser kannte, war ihm bald weit voraus; jetzt war sie an der offnen Grenze des Parks, sie überschritt auch diese, und rannte nun über das Blachfeld wie ein gejagtes Reh, indem abwechselnd Regen sie durchnäßte, und Sturm ihre zarten Glieder erstarren machte.


Die Frau von Halden saß behaglich in ihrem Stübchen, indem die Bäume draußen der Sturm schüttelte, und der Regen rasselnd gegen die Fenster schlug. Sie war recht von Herzen zufrieden; denn für einen unerwartet hohen Preis hatte sie ihr Gut verkauft, Alles war abgeschlossen, und Graf Brandenstein hatte mit dem Rathe Alfred noch diesen Abend Alles in Richtigkeit gebracht. Beide schliefen schon in den obern Zimmern des Hauses, denn es war nahe an Mitternacht, und sie wollte sich auch eben in ihr Schlafzimmer begeben, als ein heftiges, lautes Pochen an das Hausthor, und eine klägliche, bittende Stimme sie erschreckten. Sie klingelte, der Diener ward gesandt, um zu öffnen, und mit triefenden Kleidern, zitternd und todtenblaß stürzte Dorothea 149 herein, warf sich ihr sogleich stürmisch an die Brust und rief mit heiserer Stimme. Rette mich! rette mich!

Um Gotteswillen! sagte die Freundin im höchsten Schreck, Du bist es, geliebtes Kind? und so, in diesem Zustande? Ich traue meinen Augen noch nicht.

So sehr sie erschrocken war, so schaffte sie doch sogleich mit der größten Freundlichkeit Wäsche und Kleider herbei, half der Erkälteten beim Umziehen, tröstete sie lachend und freundlich, und nöthigte sie dann, Glühwein zu genießen, den sie eiligst besorgt hatte, um den bösen Folgen der Erkältung vorzubeugen. Dabei umarmte sie sie so herzlich, trocknete ihr die Thränen vom Auge, küßte die Wangen, die sich schon wieder rötheten, daß Dorothea sich fast so glücklich wie in den Armen einer Mutter fühlte. Nach vielen tröstenden und scherzenden Worten sagte die Frau von Halden endlich: Nun erzähle mir kurz, wie Du zu diesem tollen Entschluß gekommen bist, und dann geh zu Bett und verschlafe Alles.

Du mußt mich schützen, sagte Dorothea, Du mußt mir ein Obdach nicht versagen, sonst muß ich verzweifelnd in die weite Welt rennen, oder die Raserei stürzt mich in die Wogen eines Mühlteichs.

Beruhige Dich, mein Kind, tröstete jene, Du mußt ja doch wieder nach Hause. Aber erzähle: was ist Dir denn so plötzlich gekommen?

Nur lache nicht, rief Dorothea, bleibe ernsthaft, meine gute liebe Freundin, denn ich bin in Verzweiflung. Heut Morgen ließ ich mich bereden, aus Schwäche, aus Rührung, man hatte so unerwartet meinen Geburtstag gefeiert, daß ich versprach, mich heute Abend mit dem Baron von Wallen zu verloben. Das sollte nun geschehen, und darum bin ich weggerannt, weil ich ihn verabscheue, weil ich in meinem 150 väterlichen Hause mit meinen Geschwistern, mit meiner Mutter nicht mehr leben kann.

Ich weiß wohl, erwiederte die Freundin, daß Du den Baron nie lieben kannst, daß Dir in der Familie oftmals Unrecht geschah; aber dieser Ausdruck des Entsetzens in Dir, da Du Alles so gewohnt schienst, bleibt mir doch unbegreiflich.

Immer noch fasse ich es selbst nicht, antwortete Dorothea, ich weiß nicht, wie ich es Dir erzählen soll. Daß ich nicht glücklich war, mußt Du wohl gesehn haben, wenn ich Dir auch niemals ein Wort darüber sagte. Ach, das schreibt sich ja schon seit dem Tode meines geliebten Vaters her. Du weißt, ich war kaum dreizehn Jahre, als er starb. O Himmel, welch ein Mann! ich konnte damals seinen Werth nicht ermessen; aber je älter ich wurde, je mehr blühte er in meiner Erinnerung zum verklärten Gegenstande meiner Liebe auf. Dieser milde, freundliche Sinn, diese Heiterkeit, Menschenliebe, stille Frömmigkeit, diese Freude an Natur und Kunst, dieser rege, herrliche Geist – ach! und er war auch nicht glücklich! Ich sah, ich bemerkte es wohl, als ich etwas zu Verstande kam, er war in der Ehe nicht glücklich, er und meine Mutter waren sich zu ungleich, sie stritten oft mit einander. Dann war er zu Zeiten recht tiefbetrübt, aus seinen schönen braunen Augen konnte ein unendlicher Kummer sprechen, wenn er sie so still vor sich nieder senkte. Dann war ich seine Freude, ich fühlte es, wie ich ihn trösten konnte. Und nun war er plötzlich dahin gegangen! Er muß es jenseits erfahren und gefühlt haben, wie meine Herzensliebe ihm gefolgt ist. O meine Freundin, es giebt Momente des Schmerzes, wo nur die kalte, taube Dumpfheit, in die endlich unser Wesen versinkt, uns von Wahnsinn und Raserei errettet. So war ich nun in Schmerz und 1501 Sehnsucht erwachsen, die Keiner theilte, Keiner verstand. Und wie veränderte sich das Leben unsers Hauses! Statt der heitern Mittheilungen, statt der frohen Gesellschaften ein ernstes, feierliches Prunken. Meine jüngern Geschwister wurden in einem ganz entgegengesetzten Sinne erzogen, als es mein Vater gewünscht hatte. Betstunden, Andachtbücher, religiöse Gespräche füllten die Zeiten des Tages; und mein Herz wurde immer leerer, ich konnte die Andacht nicht mitfühlen, ja, nicht einmal an ihr Dasein glauben. Alle meine Bücher, noch Geschenke meines Vaters, durfte ich nicht mehr zeigen, Alles war weltlich, anstößig; ich erschrak über die Deutungen, die man den Stellen gab, die mir die liebsten waren, die ich auswendig wußte. Göthe's himmlische Natur selbst, seine edle Hoheit war Verführung, Sinnenlust, und eine raffinirte Prüderie, die mir höchst anstößig schien, mußte Tugend heißen. Meine Geschwister, so wie sie zur Besinnung kamen, betrachteten mich als eine Ausgeartete, die für's Gute nicht empfänglich sei; sie hörten das ja in allen Stunden, sie mußten es wohl glauben. Zwischen ihnen und der Mutter entspann sich ein Verhältniß, welches mich gleich sehr von beiden entfernte, und um welches ich sie doch nicht beneiden konnte. Eine übertriebene Liebe, eine zarte Weichheit, ein Schonen und Liebkosen, das mir oft durch's Herz schnitt; ja die Mutter ging so weit, diese jüngern Töchter zu vergöttern, sie anzubeten und es ihnen zu sagen, daß sie es thue. Die Schwestern behandelten die Mutter, wie man etwa mit einer abgeschiedenen Heiligen umgehen würde, wenn sie zu uns zurück kehrte; doch könnte ich es auch wohl nur einen Tag so treiben, und müßte dann heiterer mit ihr bekannt werden, oder sie wieder ganz vermeiden. Ich erinnerte mich noch wohl, wie oft mein Vater gesagt hatte, in früher Jugend müßten die Kinder blind gehorchen lernen, damit sie, 152 erwachsen, der Freiheit fähig wären. Diese Freiheit des Geistes und des Gemüthes, die den Menschen erst zum bestehenden Wesen, die die Liebe, ein freies Hingeben, erst möglich macht, fand aber unter diesen so eng Verbundenen doch nicht statt, ja sie wurde, wenn sie sich einmal zeigen wollte, als die ärgste Sünde behandelt. Die kleinste Schwäche das geringste Vorurtheil der Mutter durfte nicht berührt werden, auch in Kleinigkeiten, über ein gleichgültiges Buch, über einen Menschen, ja über die Farbe eines Bandes, durfte keins eine andere Meinung hegen, als sie. War nur von einem Spaziergange die Rede, nur zum nächsten Gut, ja, durch den Garten, so verbot sie diesen, wenn sie nicht daran Theil nehmen konnte oder wollte, nicht geradezu, sondern sie sagte: Geht, wenn Ihr ohne mich seyn könnt; ich kann zwar ohne Euch nicht leben, aber könnt Ihr es, so will ich Euch nicht stören; bin ich doch daran gewöhnt, Euch alle Opfer zu bringen. Natürlich geschah nichts, und die Schwestern gaben dann ihrem Verdruß den Anstrich der Andacht, und ich, die ich zum Bündniß nicht gehörte, mußte ihre Launen entgelten. Mein Muth entwich. Ich ertrug es, auch von der jüngsten Schwester gehofmeistert zu werden. O meine Freundin! wenn ich dies alles so, was mir verkehrt und unrecht schien, bemerkte, so ging ich dann wohl in den einsamsten Theil des Gartens, und ließ meinen heißen Thränen ihren Lauf, weil ich mir schlecht und gottlos erschien, daß ich mir alles dies gestand, und meinen Wahrheitssinn, der von meinem Vater erweckt und gebildet worden war, doch nicht unterdrücken konnte. Oft war ich so unaussprechlich elend, daß ich Gott um meinen Tod bat. Es kamen dann auch Zeiten, da ich doch sehen mußte, wie alle Menschen, die in unser Haus kamen, meine Schwestern verehrten, ihnen huldigten und mich vermieden, in denen ich mir selbst schlecht 153 und verächtlich schien. Wenn ich aber rang, so wie die Andern zu seyn, so brachen mir alle Kräfte zusammen, und die Arme fielen mir gelähmt am Leibe nieder. – Aber, hörtest Du nicht Geräusch im Nebenzimmer?

Nein, mein gutes Kind, sagte Frau von Halden, Alles schläft, es kann höchstens eine Katze seyn.

Kunigunde heirathete, fuhr Dorothea fort; die Männer, die sich um mich bewarben, ängstigten mich nur durch ihr läppisches Wesen, andere stießen mich durch ihre Rohheit zurück. Ich konnte nicht fassen, daß mich einer lieben könne, ohne daß ich ihn auch innigst liebte, und darum erschienen mir ihre affectirten, übertriebenen Redensarten so nüchtern, und es war mir unmöglich, an ihre Leidenschaft zu glauben. Alles aber war noch erträglich, bis der Baron Wallen in unser Haus kam; er bemächtigte sich bald des Gemüthes meiner Mutter, die Sclaverei wurde nun ganz unleidlich. Nun wurde erst recht im Großen mit der Liebe geprunkt, die meine Geschwister zu einander und zur Mutter trugen; in der ganzen Provinz sprach man davon; wenn Fremde kamen, war es wie ein Schauspiel, in dem sich alle Tugenden entwickelten. O vergieb mir, Du und die einsame Nacht werden meine Reden nicht weiter tragen; auch hast Du ja selbst die Art oft gesehen, und der Himmel mag meine Empfindungen ändern, oder sie verzeihn. Recht ängstlich aber war es, daß in diesem gleißenden Baron ein wahrer Faun unter der priesterlichen Decke wandelt. Clara gefiel ihm, auch Clementine; aber die Kinder, so sehr sie ihn auch verehren mußten, erschraken doch vor dem Gedanken, ihn als Ehemann anbeten zu müssen. Sie wurden aber bald befreit; denn die Bestimmung, für die sie sich zu gut fühlten, wurde mir unvermerkt und künstlich zugeschoben. Nun hörte ich immerdar, wie edel, ja wie nothwendig es sei, sich 154 zu opfern, wie armselig die eigentliche Leidenschaft der Liebe erscheine, wie eine vernünftige Ehe jedes andere Glück der Erde übertreffe. Glaube mir, ich hätte mich fallen lassen, mein Leben war völlig abgeblüht, ich wäre das Opfer und ganz elend geworden, wenn – –

Dorothea zögerte. Nun, mein Kind? fragte die Freundin gespannt.

Wenn nicht heut, fuhr jene im melodischen Tone fort, heut an diesem Tage, an dem ich geboren ward, und an welchem ich auch wieder zu leben anfing, ein Mann erschienen wäre, der unserer Familie ein Abscheu war, und auf den ich, nach den Beschreibungen, heftig zürnte, ein Mann, der mein ganzes Herz umgewendet, ja neu geschaffen hat, und dessen bloßer Anblick, wenn er auch nicht gesprochen hätte, es mir unmöglich macht, den Baron, ja irgend einen Mann zu heirathen.

Wunderbar! rief die Frau von Halden.

Nenn' es so, sagte das Mädchen: es ist auch so, ach, und doch wieder so natürlich, so nothwendig. In ihm, in seinem milden Blick, der Vertrauen einflößt (glaube mir, ich hatte wirklich ganz vergessen, daß es noch Augen giebt), in seiner verständigen Rede, in jeder seiner Geberden erschien mir die Wahrheit wieder, die mir schon zur Fabel geworden war, meine Jugendzeit, der Segen meines Vaters. Nie habe ich begreifen können, was die Menschen Liebe nennen, in den Dichtern habe ich es wohl geahndet, ich glaubte aber immer, dies himmlische Gefühl sei für mich armes, verstoßenes Wesen nicht geschaffen; aber jetzt weiß ich, daß es das seyn müsse, was ich für diesen trefflichen Mann empfinde, denn ich konnte mir nicht einbilden, daß auf Erden wirklich eine solche Erscheinung wandle.

Armes Kind! sagte die Freundin, er ist ein ruinirter 155 Mann, ohne Vermögen, und wer weiß auch, ob er so für Dich empfände, denn er ist nicht mehr jung. Jetzt geh nur zu Bett, morgen früh wollen wir mit Verstand darüber nachdenken, wie der Baron zu besänftigen sei, und daß der Baron Dir Ruhe läßt.

Nie gehe ich zurück! rief Dorothea mit erneuter Heftigkeit, ich will lieber in einem fernen Lande als Magd dienen.

Jetzt hörte man deutlicher im Nebenzimmer Geräusch, die Frauen stutzten, die Thüre öffnete sich, ein Lichtstrahl drang heraus und Graf Brandenstein trat ihnen entgegen.

O mein Gott! rief Dorothea, der Graf selbst!

Ich war nicht schlafen gegangen, antwortete dieser, sondern arbeitete noch, als dieser unerwartete Besuch –

O Sie Heimtückischer! rief die Frau von Halden, und so haben Sie auch gewiß alles gehört, was meine Freundin erzählt hat?

Ich kann es nicht leugnen, sagte der Graf, die Wand und Thüre sind so dünn, daß mir kein Wort verloren ging. (Dorothea zitterte heftig.) Sie würden mich also, mein schönes, edles und mir unbeschreiblich theures Fräulein, nicht verschmähen, wenn ich ein Vermögen zu Ihren Füßen legen könnte?

O wie beschämen Sie mich! sagte das Fräulein –, soll ich noch mehr sagen?

Nehmen Sie dieses Blatt, fuhr der Graf fort, diese wenigen Zeilen werden Ihnen in Ihrem Hause vollkommene Sicherheit gewähren.

Er sah Dorotheen durchdringend an, und entfernte sich zögernd. Sie war so bewegt und erschüttert, daß ein unruhiger Schlummer sie nur wenig erquicken konnte.


156 Im Hause des Baron Wilden waren einige Freunde zu einem kleinen Balle versammelt. Auch Alfred und der Offizier waren zugegen, und die junge Schwester, ein liebenswürdiges Kind, schien äußerst vergnügt; auch zeigte sich das Fräulein Erhard sehr munter, und Michel, der Zuschauer war, begriff kaum, wie sie sich so schnell im schottischen Tanze bewegen konnte. Jetzt war der Tanz geendigt, und der korpulente Wirth taumelte erschöpft auf ein Sopha nieder. Wird man nicht ordentlich wieder jung, rief er aus, so sauer es einem auch ankommt. Daß dich, mein werthes Fräulein Erhard, was Sie springen können! Niemals hätte ich mir bei Ihrer Gottesfurcht so viele Elasticität vermuthet. So gefällt's mir, wenn man das überirdische Wesen mit dem weltlichen vereinigen kann, denn wahrhaftig, das Herz stirbt in der Demuth und dem weichen Wesen ab, wenn es nicht wieder einmal in Lust und Freude recht aufzappeln kann. Wie ein ganz neues Geschöpf, Fräulein Erhard, kommen Sie mir in meinem Hause hier vor, ich hätte Sie gar nicht wieder erkannt, wenn ich es nicht sonst wüßte, daß Sie es wären.

Das muntere Fräulein setzte sich zu ihm, und beide betrachteten die tanzenden Paare. Der Rath Alfred bemühte sich sehr um Sophien, die Schwester des Barons, welches dieser nicht ohne Wohlgefallen bemerkte. Die Schenktische waren reichlich mit Erfrischungen versehen, und Diener in reichen Livreen servirten auf silbernem Geschirr. Nicht wahr, schmunzelte Herr von Wilden, der die wohlgefälligen Blicke des Fräuleins wahrnahm, hier geht es nicht so zu wie drüben, wo sie meistentheils alle beisammen sitzen, wie Adam und Eva vor dem Sündenfalle? Hochherzige Redensarten, apokalyptische Seufzer und eine Wundertinktur von ambrosianischer Wehmuth. Tugend und Andacht zum Zeuche, 157 frommes Gemüth zum Unterfutter, und dann noch mit Reue und Buße aufgeschlagen. Nein, man muß ein bischen sündigen, um sich dann wieder bekehren zu können; nicht wahr, mein hochgeschätztes Fräulein? Die Beine thun Ihnen doch nicht weh? Sie zwinkeln so mit dem Munde.

Nein, sagte diese, ich wollte mir nur das Lachen über Ihre sonderbaren Ausdrücke verhalten, denn Sie sind in der That ein arger Sünder; indessen, hoffe ich, werden Sie noch Buße thun.

Kommt Zeit, kommt Rath, sagte der Baron: sehn Sie, ich habe mich klug eingerichtet, ich habe in meiner Jugend eine Menge Sünden im voraus begangen, damit ich in meinem Alter hübsch was zu bereuen hätte, um mir nicht, wie mancher Pietist, die Verbrechen aus den Fingern zu saugen, und um nichts und wider nichts Gewissensscrupel zu machen. O, davon kann ich Ihnen noch einmal in manchem Nachmittagsstündchen erzählen, daß Sie Ihr blaues Wunder daran haben sollen.

Aber auch dergleichen Reden sind wieder Sünde, antwortete das Fräulein.

Nein, rief Herr von Wilden, durch das Mikroskop müssen Sie meine Tugend nicht betrachten, sonst werden wir nicht mit einander fertig; denn bei mir geht Alles etwas ins Große, verfeinert sind meine Verdienste so wenig, wie meine Laster. Aber sehn Sie, wie unter allen meinen Gästen der Herr von Böhmer so einsam am Ofen steht, und mitten in der Musik seine Kalender macht! Herr Lieutenant, kommen Sie doch, und tanzen Sie einmal mit einer von diesen Damen.

Ich tanze niemals, sagte der junge Offizier, indem er näher trat; auch würde ich nicht hergekommen seyn, wenn mich nicht Fräulein Erhard eingeladen hätte, von der es mir 158 wohl nicht einfallen konnte, daß sie es auf einen tobenden Ball abgesehen hatte.

Sollte dem Reinen nicht alles rein seyn? fragte das Fräulein mit vieler Salbung.

Alfred, der hinzu getreten war, antwortete. Gewiß ist dies die richtige Ansicht, und es wäre lustig genug, wenn Herr von Wilden durch das Fräulein, und dieses durch unsern fröhlichen Baron bekehrt würde. Aber Du, Ferdinand (indem er sich an den Offizier wandte), trägst auch nicht eine einzige festliche Miene auf Deinem finstern Angesicht.

Ich gehe von hier, antwortete dieser, zur Baronesse hinüber, wirst Du mich begleiten.

Nein, mein Freund, antwortete dieser, und ich gedenke auch, diesem Kreise nie mehr zur Last zu fallen; denn diese prunkende Gleißnerei ist mir neulich deutlich genug geworden. Wie danke ich es dem wackern Manne, der mir diese Binde vom Auge schüttelte.

Du meinst den Graf Brandenstein? sagte jener. Du nimmst also die Partei des Bösen gegen den Frommen, der Sünde gegen die Tugend?

Lassen wir jetzt diese Reden, antwortete Alfred, ich fühle mich, seit ich diesen Mann kennen gelernt habe, mündiger.

Wissen Sie denn, fiel der Baron ein, etwas von der Geschichte? Der Wilde, der Amerikaner, soll ja nun angekommen seyn, ein gefleckter, kupfriger Mensch, mit Haaren wie Schuppen oder Stacheln. Auch sagen die Leute, dies unbändige Thier würde die störrige Dorothea heirathen.

Man weiß nichts Gewisses, sagte Alfred; der Amerikaner wird übrigens wohl ein Mensch wie alle seyn, und folglich ist sie mit ihm wohl glücklicher, als mit dem Baron Wallen.

159 Den Du nicht zu schätzen verstehst, rief der Offizier, indem er sich nach einer kleinen Verbeugung entfernte.

Sie meinen, fuhr der Baron fort, ein wohlerzogenes Mädchen könnte mit einem solchen See-Ungeheuer glücklich leben? Aber freilich müssen im Leben wohl vielerlei Arten von Glück verbraucht werden, damit Jeder etwas bekommt, was für ihn paßt; und wie ich höre, ist ja die hübsche Dorothea so gottlos, daß vielleicht der gottloseste Menschenfresser für sie nicht zu schlimm ist.

Sie sind unrecht berichtet, antwortete Alfred, und wollte eine Erzählung anfangen, als die freundliche Sophie herbei hüpfte, um ihn zu erinnern, daß er mit ihr zur Quadrille versprochen sei. Der Baron trank indessen, und versprach dem Fräulein Erhard die nächste Polonaise, auf jeden Fall aber den fröhlichen Kehraus mit ihr zu tanzen.


Als man in jener Nacht Dorotheen vermißte, und der Baron die Geschichte seiner unglücklichen Werbung mitgetheilt, gerieth das ganze Haus in die größte Verwirrung. Man sendete Boten mit Lichtern aus, aber alle kamen in der stürmischen Nacht ohne Nachricht wieder. Die Mutter war sehr unruhig, und schien sich Vorwürfe zu machen, daß sie ein heftiges Gemüth, das sie an ihrer ältern Tochter kannte, zu weit getrieben habe. Sie schlief nicht, sondern irrte im Hause umher, und die beiden jüngern Töchter suchten sie zu trösten. Am Morgen erschien ein Bote von der Frau von Halden, der der Baronesse ein Billet übergab, und bald darauf fuhr eine Kutsche vor, aus welcher Dorothea stieg, welche die Mutter mit gezwungener Fassung aufnahm. Man sprach nur wenig, aber kein Wort des Vorwurfes ließ sich 160 vernehmen, eben so wenig konnte die Tochter eine Entschuldigung vorbringen.

Der Baron, welcher Alles ängstlich und verwirrt beobachtet hatte, sagte endlich, als er sich mit der Baronesse allein sah: Dies Blatt hat ja Wunder gethan! Von allem, was Sie sich gegen das ungerathene Kind vornahmen, ist nicht das Mindeste geschehen, Sie sind im Gegentheil gütiger als jemals gegen sie. Darf ich nicht wissen, von wem es kommt, und was es enthält?

Die Baronesse erröthete. Es kommt von dem Brandenstein, sagte sie mit ungewisser Stimme, doch enthält der Schluß die gröbste Verläumdung.

Der Baron las. Im Fall Sie, wie ich gewiß hoffe, Ihre edle, trauernde Tochter freundlich aufnehmen, sie unter keinem Vorwande quälen, an die Ehe mit dem Baron Wallen nicht mehr denken, so verspreche ich Ihnen das Capital, welches der Baron an Sie zu fordern hat, und außerdem ein bedeutendes Darlehn, beide ohne Zinsen, auf unbestimmte Zeit. Zwingen Sie mich nicht, gegen Sie aufzutreten, es möchte sonst manches bekannt werden, was sich nicht zu dem Tugendbilde eignet, das die Welt in Ihnen bewundert. Gewiß darf ich mich unterschreiben

Ihren Freund
G. Brandenstein.
       

Dieser Zettel besagt, schmunzelte der Baron, daß unser heroischer Graf über ansehnliche Summen zu disponiren hat, und daß sein amerikanischer Freund oder Schützling, dessen Hofmeister und Verwalter er spielt, so ziemlich blödsinnig seyn mag, ganz so, wie ich mir vom Anfange die Sache gedacht habe. Der edle Mann wird nach Umständen seine Hand tief in den Beutel des fremden Wunderthieres 161 tauchen, und so verschwindet denn bei näherer Prüfung bei jedem aufgedunsenen Cato die falsche Vergoldung, und setzt sich in Kupfer um.

Die Sache bekam aber doch einen andern Schein, als am folgenden Tage ein Brief des Grafen anlangte, in welchem er für seinen reichen Amerikaner um die Hand Dorotheens anhielt. Er hätte sich überzeugt, so schrieb er, daß sein Freund, da er ihn genau kenne, nur mit diesem Wesen glücklich seyn könne.

Dorothea, die ganz in ihren Gedanken und Empfindungen verloren war, erschrak über diesen Antrag; sie lehnte ihn heftig ab, ihr Herz verzweifelte, daß der Graf, der ihre ganze Seele gesehn hatte, diesen Vorschlag thun konnte. Also kein Gefühl, seufzte sie im Stillen, nicht das kleinste für mich, die ich ihn nur denke und träume.

Auf die abschlägige Antwort der Mutter erfolgte ein noch freundlicherer Brief des Grafen, er bat für seinen Unbekannten, der binnen Kurzem erscheinen würde, nur um die Erlaubniß, sich zeigen zu dürfen, daß Fräulein Dorothea ihn so viel würdigen möge, ihn und seine Gesinnungen kennen zu lernen.

Auf diesen Antrag hatte Dorothea nichts erwiedert. Im stummen Schmerz beachtete sie die Zeit nicht, und ihre Angehörigen mußten ihr anzeigen, es sei nun Tag und Stunde da, in welcher der sonderbare Freiwerber auftreten würde. Frau von Halden war als Freundin zugegen. Ein Postzug englischer Pferde sprang vor, ein kostbarer Wagen und Domestiken erschienen. Dorothea war im Gartensaal einer Ohnmacht nahe. Brandenstein trat hochzeitlich geschmückt in der Schönheit des Mannes herein. Und Ihr Freund? fragte die Mutter. – Nur die theure, geliebte Dorothea ist es, antwortete er, auf diese zueilend, von welcher mein Scherz Verzeihung erflehen muß, ich bin der Amerikaner selbst, jene Herrschaft ist nun endlich mein, und meinem Glücke fehlt nur noch ein Wort von diesem holdseligen Munde.

Dorothea blühte auf, sah ihn mit einer Thräne im glänzenden Auge an und reichte ihm ihre Hand. Wir fahren sogleich, meine Theuren, indem er Alle begrüßte, auf das nächste Gut, welches bisher der Frau von Halden zugehörte; ich habe die Erlaubniß zur Trauung, das Haus ist geschmückt, der Geistliche wartet.

Nur der Brautkranz ward dem Mädchen in das Haar geheftet, dann stiegen Alle in den Wagen. Der Graf umarmte seine Braut, und drückte den ersten Kuß auf ihre Lippen. Durfte ich diese Seligkeit hoffen? sagte er mit Thränen: mußte mir die Liebe dieser reinen Seele begegnen? Dasselbe Kind wird die Freude meines Lebens, welches ich vor Jahren, neben Deinem theuren Vater sitzend, auf den Knieen wiegte? Sieh, hier bist Du in jener Sturmnacht verzweifelnd gewandelt. In demselben Zimmer erwartet uns der Geistliche, in welchem Du damals der Freundin das Bekenntniß ablegtest, das mich wie Blitze durchdrang.

Dorothea war so glücklich, so vom Schmerz zur Wonne erwacht, daß sie nur wenig sprechen konnte. – Die ganze Provinz ertönte von dem Reichthum des Grafen, von dem wunderbaren Glück des Fräuleins, und alle Nachbarn waren Zeugen dieser glücklichen Ehe.

Als Alfred sich mit Sophien verlobte, meldete auch der Baron Wilden seine Verbindung mit dem Fräulein Erhard. Den Freunden, die sich darüber wunderten, antwortete er: Seht, besten Leute, Einsamkeit und Langeweile machen viele Dinge möglich; dazu hat meine Braut viele gute Eigenschaften, und ist viel lustiger geworden, als sie ehemals war. Auch bemüht sie sich außerordentlich um meine Bekehrung, 163 und das ist nichts Leichtes, da in meinem fetten Körper meine Seele so viel tiefer liegt, als bei andern Menschen. Ich bin nun auch bald auf meine Weise fromm, sorgt nur dafür, daß die Sache hübsch in der Mode bleibt, damit ich nicht wieder einmal, wie ein Krebs, rückwärts gehn muß.

Nach einiger Zeit fanden der Baron Wallen und die Baronesse es auch besser, sich durch die Ehe zu verbinden, da er keine der Töchter erhalten konnte, und ihm der Umgang dieser Familie doch unentbehrlich geworden war.

Alfred lebte nachher viel im Hause des Grafen, dessen Geschäftsträger er war, und noch oft erinnerte sich Brandenstein mit Entzücken, daß das Schicksal es ihm gegönnt habe, in seiner Gattin die edle Perle zu finden, die von ihrer ganzen Umgebung und von den nächsten Blutsverwandten so gänzlich verkannt wurde.

 


 


 << zurück