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So vergingen den Vereinsamten, Verarmten und doch Glücklichen Tage und Wochen. Die dürftigste Nahrung fristete ihr Leben, aber im Bewußtsein ihrer Liebe war keine Entbehrung, auch der drückendste Mangel nicht fähig, ihre Zufriedenheit zu stören. Um in diesem Zustande fortzuleben, war aber der sonderbare Leichtsinn dieser beiden Menschen notwendig, die Alles über der Gegenwart und dem Augenblick vergessen konnten. Der Mann stand jetzt immer früher auf als Clara; dann hörte sie ihn hämmern und sägen, und fand die Stücke Holz vor dem Ofen zurecht gelegt, welche sie zum Einheizen brauchte. Sie verwunderte sich, daß dieses gespellte Holz seit einiger Zeit eine ganz andre Form, Farbe und andres Wesen hatte, als sie es bis dahin gewohnt war. Da sie indessen immer Vorrat fand, so unterließ sie jede Betrachtung, indem die Gespräche, Scherze und Erzählungen beim sogenannten Frühstück ihr viel wichtiger waren.

Die Tage werden schon länger, fing er an; bald wird nun die Frühlingssonne auf das Dach da drüben scheinen.

Ja wohl, sagte sie, und die Zeit wird nicht mehr fern sein, wo wir das Fenster wieder aufmachen, uns daran setzen und die frische Luft einatmen. Das war im vorigen Sommer gar so schön, als wir vom Park draußen sogar hier den Duft der Lindenblüte spürten.

Sie holte zwei kleine Töpfchen herbei, die mit Erde gefüllt waren und in welchen sie Blumen aufzog. Sieh! fuhr sie fort, diese Hyazinthe und diese Tulpe kommen nun doch heraus, die wir schon verloren gaben. Wenn sie gedeihen, so will ich es als ein Orakel ansehen, daß sich auch unser Schicksal bald wiederum zum Bessern kehren wird.

Aber, Liebchen, sagte er etwas empfindlich, was geht uns denn ab? Haben wir nicht bis jetzt noch Überfluß an Feuer, Brot und Wasser? Das Wetter wird augenscheinlich milder, wir werden des Holzes weniger bedürfen, nachher kommt die Sommerwärme. Zu verkaufen haben wir freilich nichts mehr, aber es wird, es muß sich irgend ein Weg auftun, auf welchem ich etwas verdienen kann. Bedenke nur unser Glück, daß Keines von uns krank geworden ist, auch die alte Christine nicht.

Wer steht uns aber für diese getreuste Dienerin? antwortete Clara; ich habe sie nun seit so lange nicht gesehen; Du fertigst sie jetzt immer des Morgens schon früh ab, wenn ich noch schlafe; Du nimmst dann von ihr das eingekaufte Brot, sowie den Wasserkrug. Ich weiß, daß sie oft für andre Familien arbeitet; alt ist sie, ihre Nahrung nur eine dürftige, wenn also ihre Schwäche zunimmt, so kann sie leicht erkranken. Warum ist sie nicht schon längst wieder einmal zu uns heraufgekommen?

Je nun, sagte Heinrich nicht ohne einige Verlegenheit, welche Clara auch bemerkte und die ihr auffallen mußte, es wird sich wohl bald wieder eine Gelegenheit finden, warte nur noch einige Zeit.

Nein, Liebster! rief sie mit ihrer Lebhaftigkeit aus, Du willst mir etwas verbergen, es muß etwas vorgefallen sein. Du sollst mich nicht abhalten, ich will gleich selbst hinuntergehen, ob sie etwa in ihrem Kämmerchen ist, ob sie leidet, ob sie unzufrieden mit uns sein mag.

Du hast diese fatale Treppe schon seit so lange nicht betreten, sagte Heinrich; es ist finster draußen, Du könntest fallen.

Nein, rief sie, Du sollst mich nicht zurückhalten; die Treppe kenne ich; ich werde mich in der Finsternis schon zurechtfinden.

Da wir aber das Geländer verbraucht haben, sagte Heinrich, welches mir damals als ein Überfluß erschien, so fürchte ich jetzt, da Du Dich nicht anhalten kannst, daß Du stolpern und stürzen könntest.

Die Stufen, erwiderte sie, sind mir bekannt genug, sie sind bequem und ich werde sie noch oft betreten.

Diese Stufen, sagte er mit einiger Feierlichkeit, wirst Du niemals wieder betreten!

Mann! rief sie aus und stellte sich gerade vor ihn hin, um ihm in die Augen zu sehen, – es ist nicht richtig hier im Hause; Du magst reden, was Du willst, ich laufe schnell hinab, um selber nach Christine zu sehen.

So wandte sie sich um, die Tür zu öffnen, er aber stand eilig auf und umschlang sie, indem er ausrief: Kind, willst Du mutwillig den Hals brechen?

Da es nicht mehr zu verschweigen war, öffnete er selber die Tür; sie traten auf den Vorplatz, und, indem sie weiter gingen und der Gatte die Frau noch immer umfaßt hielt, sah diese, daß keine Treppe mehr da war, die hinabführen sollte. Sie schlug verwundert in die Hände, bog sich hinüber und schaute hinab; dann kehrte sie um, und als sie wieder in der verschlossenen Stube waren, setzte sie sich nieder, um den Mann genau zu betrachten. Dieser hielt ihrem forschenden Auge ein so komisches Gesicht entgegen, daß sie in ein lautes Gelächter ausbrach. Hierauf ging sie nach dem Ofen, nahm eins der Hölzer in die Hände, betrachtete es genau von allen Seiten und sagte dann: Ja, nun begreife ich freilich, warum die Heizstücke so ganz andre Statur hatten als die vorigen. Also die Treppe haben wir nun auch verbrannt!

Ja wohl, antwortete Heinrich jetzt ruhig und gefaßt; da Du es nun einmal weißt, wirst Du es ganz vernünftig finden. Ich begreife auch nicht, warum ich es Dir bisher verschwiegen habe. Sei man auch noch so sehr alle Vorurteile los, so bleibt irgendwo doch noch ein Stückchen hangen, und eine falsche Scham, die im Grunde kindisch ist! Denn erstlich warst Du das Wesen in der Welt, das mir am vertrautesten ist; zweitens das einzige, denn mein Sechzehntel-Umgang mit der alten Christine ist nicht zu rechnen; drittens war der Winter immer noch hart und kein andres Holz aufzutreiben; viertens war die Schonung fast lächerlich, da das allerbeste, härteste, ausgetrocknete, brauchbarste dicht vor unsern Füßen lag; fünftens brauchten wir die Treppe gar nicht und sechstens ist sie schon, bis auf wenige Reliquien, ganz verbrannt. Du glaubst aber nicht, wie schlecht sich diese alten, ausgebogenen, widerspenstigen Stufen sägen und zersplittern ließen. Sie haben mich so warm gemacht, daß mir die Stube oft nachher zu heiß dünkte.

Aber Christine? fragte sie.

O die ist ganz gesund, antwortete der Mann. Alle Morgen lasse ich ihr einen Strick hinunter, woran sie dann ihr Körbchen bindet; das zieh' ich herauf und nachher den Wasserkrug, und so geht unsre Haushaltung ganz ordentlich und friedlich. – Als unser schönes Treppengeländer sich zum Ende neigte und immer noch keine warme Luft eintreten wollte, sann ich nach und es fiel mir ein, daß unsre Treppe recht gut die Hälfte ihrer Stufen hergeben könnte; denn es war doch nur ein Luxus, ein Überfluß, so gut wie die dicke Lehne, daß der Stufen bloß der Bequemlichkeit wegen so viele waren. Schritt man höher aus, wie man in manchen Häusern muß, so konnte der Treppenmaschinist mit der Hälfte ausreichen. Mit Christinens Hülfe, die mit ihrem philosophischen Geiste sogleich die Richtigkeit meiner Behauptung einsah, brach ich nun die unterste Stufe los, dann, indem sie mir nachschritt, die dritte, fünfte und so fort. Unser Grabstichel nahm sich, als wir diese Filigranarbeit geendigt hatten, recht gut aus. Ich sägte, zerschnitt und Du heiztest in Deiner Arglosigkeit mit den Stufen ebenso geschickt und wirksam, als Du es vordem mit dem Geländer getan hattest. Aber unserer durchbrochenen Arbeit drohte von der unermüdlichen Winterkälte ein neuer Angriff. Was war diese ehemalige Treppe überhaupt noch als eine Art von Kohlenbergwerk, eine Grube, die ihre Steinkohlen jetzt lieber ganz und auf einmal zu Tage fördern konnte? Ich stieg demnach in den Schacht hinab und rief die alte, verständige Christine. Ohne nur zu fragen, teilte sie gleich meine Ansicht; sie stand unten, ich brach mit großer Anstrengung, da sie mir nicht helfen konnte, die zweite Stufe los. Als ich diese der vierten anvertraut hatte, reichte ich der guten Alten den Abgrund hinunter die Hand zum ewigen Abschied; denn diese ehemalige Treppe sollte uns nun niemals wieder verknüpfen oder zu einander führen. So zerstörte ich sie denn nicht ohne Mühsal am Ende völlig, immer die geretteten Tritte oder Stufen nach den übrigen noch vorhandenen obern Stufen hinaufführend. Jetzt hast Du das vollendete Werk angestaunt, mein herziges Kind, und siehst nun wohl ein, daß wir uns zur Zeit noch mehr als sonst selbst genügen müssen. Denn wie möchte es doch eine Kaffeegesellschaft anfangen, mit ihren Nachrichten hier zu Dir hinauf zu dringen? Nein, ich bin Dir, Du bist mir genug; der Frühling kommt, Du stellst Deine Tulpe und Hyazinthe an das Fenster und wir sitzen hier.

Wo uns die Gärten der Semiramis
Auf zu den Wolken steigenden Terrassen,
In bunter Sommerpracht entgegenlachen
Mit dem Geplätscher ihrer spielenden Brunnen!
Den langen Sommer durch soll dort auf uns
Ein paradiesisch Liebesleben tau'n!
Dort auf der höchsten der Terrassen will ich,
Von dunkel glüh'nden Rosen überlaubt,
An Deiner Seite sitzen, uns zu Füßen
Die heißbesonnten Dächer Babylons. –

Ich glaube, unser Freund Uechtritz hat das ganz eigen auf unsern Zustand hier gedichtet. Denn, sieh nur, dort sind die heißbesonnten Dächer, wenn nämlich erst die Sonne im Julius wieder scheinen wird, wie wir doch hoffen dürfen. Ist nun erst Deine Tulpe und Hyazinthe in Blüte geraten, so haben wir hier wirklich und anschaulich die fabelhaften hängenden Gärten der Semiramis, und noch viel wunderbarer, als jene; denn wer nicht Flügel hat, kann gar nicht hierher zu ihnen gelangen, wenn wir ihm nicht hülfreiche Hand bieten und etwa eine Strickleiter präparieren.

Wir leben eigentlich, erwiderte sie, ein Märchen, leben so wunderlich, wie es nur in der Tausend und einen Nacht geschildert werden kann. Aber wie soll das in der Zukunft werden; denn diese sogenannte Zukunft rückt doch irgend einmal in unsre Gegenwart hinein.

Sieh, herzlichstes Herz, sagte der Mann, wie Du nun wieder von uns Beiden die prosaische bist. Um Michaelis reisete unser alter grämlicher Hauswirt nach jener entfernten Stadt, um bei seinem Doktorfreunde Hülfe oder Erleichterung für sein Podagra zu suchen. Wir waren damals so unermeßlich reich, daß wir ihm nicht nur die vierteljährliche Miete, sondern sogar die Vorausbezahlung bis Ostern geben konnten, was er mit schmunzelndem Danke annahm. Von ihm haben wir also bis nach Ostern wenigstens nichts zu besorgen. Der eigentliche strenge Winter ist bereits vorüber, Holz werden wir nicht mehr viel brauchen, und im äußersten Fall sind uns immer noch die vier Stufen zum Boden hinauf übrig, und unsre Zukunft schläft dort noch sicher in mancher alten Tür, den Brettern des Fußbodens, den Bodenluken und manchen Utensilien. Darum getrost, meine Liebe, und laß uns recht heiter des Glückes genießen, daß wir hier von aller Welt so völlig abgetrennt sind, von keinem Menschen abhängig und keines Menschen bedürftig. So ganz eine Lage, wie der weise Mann sie sich immer gewünscht hat, und wie nur Wenige und Seltene glücklich genug sind, sich aneignen zu können. –

Aber es kam dennoch anders, als er vorausgesetzt hatte. Als sie am nämlichen Tage kaum ihre dürftige Mahlzeit beschlossen hatten, fuhr ein Wagen vor das kleine Haus. Man hörte das Rasseln der Räder, das Anhalten des Fuhrwerks, das Aussteigen von Personen. Das seltsam vorgebaute Dach hinderte freilich die beiden Eheleute, zu erfahren, wer oder was die Ankommenden sein möchten. Es wurde abgepackt, so viel konnten sie vernehmen, und den Gatten überschlich jetzt die bängliche Vermutung, daß es denn doch wohl der grämliche Hausherr sein könne, der früher, als man berechnet, den Anfall des Podagra möchte überstanden haben.

Es war deutlich zu hören, der Angekommene richtete sich unten ein, und so konnte kein Zweifel bleiben, wer er sei. Koffer wurden abgepackt und in das Haus geschafft, verschiedene Stimmen redeten durcheinander, man begrüßte sich mit den Nachbarn. Es war ausgemacht, Heinrich würde noch heut einen Kampf zu bestehen haben. Er horchte mißtrauisch hinunter und blieb an der nur angelehnten Tür stehen. Clara sah ihn mit einem fragenden Blick an; er aber schüttelte lächelnd mit dem Kopfe und blieb stumm. Unten wurde Alles ganz still; der Alte hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen.

Heinrich setzte sich zu Clara hin und sagte mit etwas unterdrückter Stimme: Es ist in der Tat verdrießlich, daß nur sehr wenige Menschen so viel Phantasie wie der große Don Quixote besitzen. Als man diesem sein Bücherzimmer vermauert hatte und ihm erklärte, ein Zauberer habe ihm nicht nur seine Bibliothek, sondern auch die ganze Stube zugleich hinweggeführt, so begriff er sogleich, ohne nur zu zweifeln, die ganze Sache. Er war nicht so prosaisch, sich zu erkundigen, wo denn ein so ganz abstraktes Ding, wie der Raum, hingekommen sei. Was ist Raum? ein Unbedingtes, ein Nichts, eine Form der Anschauung. Was ist eine Treppe? ein Bedingtes, aber nichts weniger als ein selbständiges Wesen, eine Vermittlung, eine Veranlassung, von unten nach oben zu gelangen, und wie relativ sind selbst diese Begriffe von Oben und Unten. Der Alte wird es sich nimmermehr ausreden lassen, daß dort, wo jetzt nur eine Lücke ist, ehemals eine Treppe gestanden habe; er ist gewiß zu empirisch und rationalistisch, um einzusehen, daß der wahre Mensch und die tiefere Intuition der gewöhnlichen Übergänge jener armseligen, prosaischen Approximation einer so gemeinen Stufenleiter der Begriffe nicht bedarf. Wie soll ich ihm das Alles von meinem höhern Standpunkte auf seinem niedern da unten deutlich machen? Er will sich auf die alte Erfahrung des Geländers stützen und zugleich gemächlich eine Staffel nach der andern zur Höhe des Verständnisses abschreiten, und er wird unsrer unmittelbaren Anschauung niemals folgen können, die wir unter uns alle diese trivialen Erfahrungs- oder Ergehungssätze abgebrochen und dem reinsten Erkennen nach alter Parsenlehre durch die reinigende und erwärmende Flamme geopfert haben.

Ja, ja, sagte Clara lächelnd, phantasiere und witzle nur; das ist der wahre Humor der Ängstlichkeit.

Niemals, fuhr er fort, will das Ideal unsrer Anschauung mit der trüben Wirklichkeit ganz aufgehen. Die gemeine Ansicht, das Irdische will immerdar das Geistige unterjochen und beherrschen. –

Still! sagte Clara, unten rührt es sich wieder.

Heinrich stellte sich wieder an seine Tür und öffnete sie ein wenig. Ich muß doch einmal meine lieben Mietsleute besuchen, sagte man unten ganz deutlich; ich hoffe, die Frau ist noch ebenso hübsch, und die Beiden Leutchen sind noch so gesund und heiter wie sonst. Jetzt wird er, sagte Heinrich leise, an das Problem geraten.

Eine Pause. Der Alte tappte unten in der Dämmerung umher. Was ist denn das? hörte man ihn sagen; wie bin ich denn in meinem eignen Hause so fremd geworden? Hier nicht – da nicht – was ist denn das? – Ulrich! Ulrich, hilf mir doch einmal zurecht.

Der alte Diener, der in seiner kleinen Wirtschaft Alles in Allem war, kam aus der Kammer herbei. Hilf mir doch einmal die Treppe hinauf, sagte der Hauswirt, ich bin ja wie verhext und verbündet, ich kann die großen, breiten Stufen nicht finden. Was ist denn das?

Nun, kommen Sie nur, Herr Emmerich, sagte der mürrische Hausknecht, Sie sind noch vom Fahren etwas duselig.

Der da, bemerkte Heinrich oben, gerät auf eine Hypothese, die ihm nicht Stand halten wird.

Schwerenot! schrie Ulrich, ich habe mir hier den Kopf zerstoßen; ich bin ja auch wie verdummt; es ist fast, als wenn uns das Haus nicht leiden wollte.

Er will es sich, sagte Heinrich, durch das Wunderbare erklären; so tief liegt in uns der Hang zum Aberglauben.

Ich fasse rechts, ich fasse links, sagte der Hausbesitzer, ich greife nach oben – ich glaube beinah, der Teufel hat die ganze Treppe geholt.

Fast, sagte Heinrich, die Wiederholung aus dem Don Quixote; sein Untersuchungsgeist wird sich aber damit nicht zufrieden geben; es ist im Grunde auch falsche Hypothese, und der sogenannte Teufel wird oft nur eingeschoben, weil wir eine Sache nicht begreifen, oder, was wir begreifen, uns in Zorn versetzt.

Man hörte unten nur murmeln, leise fluchen, und der verständige Ulrich war still fortgegangen, um ein brennendes Licht zu holen. Dieses hielt er jetzt mit starker Faust empor und leuchtete in den leeren Raum hinein. Emmerich blickte verwundernd hinauf, stand eine Weile mit aufgesperrtem Munde, starr vor Schrecken und Erstaunen, und schrie dann mit den lautesten Tönen, deren seine Lunge fähig war: Donnerwetter noch einmal! Das ist mir ja eine verfluchte Bescherung! Herr Brand! Herr Brand da oben!

Jetzt half kein Verleugnen mehr, Heinrich ging hinaus, beugte sich über den Abgrund und sah beim ungewissen Schein des flackernden Lichtes die beiden dämonischen Gestalten in der Dämmerung des Hausflurs. Ach! wertgeschätzter Herr Emmerich, rief er freundlich hinab, sein Sie uns willkommen; es ist ein schönes Zeichen Ihres Wohlseins, daß Sie früher ankommen, als Sie es sich vorgesetzt hatten. Es freut mich, Sie so gesund zu sehen.

Gehorsamer Diener! antwortete Jener, – aber davon ist hier die Rede nicht. Herr! wo ist meine Treppe geblieben!

Ihre Treppe, verehrter Herr, erwiderte Heinrich; was gehn mich denn Ihre Sachen an. Haben Sie sie mir bei Ihrer Abreise aufzuheben gegeben?

Stellen Sie sich nicht so dumm, schrie Jener, – wo ist die Treppe hier geblieben? Meine große, schöne, solide Treppe?

War hier eine Treppe? fragte Heinrich; ja, mein Freund, ich komme so wenig oder vielmehr gar nicht aus, daß ich von Allem, was nicht in meinem Zimmer vorgeht, gar keine Notiz nehme. Ich studiere und arbeite, und kümmre mich um alles Andre gar nicht.

Wir sprechen uns, Herr Brand, rief Jener, die Bosheit erstickt mir die Zunge und Rede; aber wir sprechen uns noch ganz anders! Sie sind der einzige Hausbewohner; vor Gericht werden Sie mir schon melden müssen, was dieser Handel zu bedeuten hat.

Sein Sie nicht so böse, sagte Heinrich jetzt; wenn Ihnen an der Geschichtserzählung etwas liegt, so kann ich Ihnen auch schon jetzt damit dienen; denn allerdings erinnre ich mich jetzt, daß vormals hier eine Treppe war, auch bin ich nun eingeständig, daß ich sie verbraucht habe.

Verbraucht? schrie der Alte und stampfte mit den Füßen; meine Treppe? Sie reißen mir mein Haus ein?

Bewahre, sagte Heinrich, Sie übertreiben in der Leidenschaft; Ihr Zimmer unten ist unbeschädigt, so steht das unsre hier oben blank und unberührt, nur diese arme Leiter für Emporkömmlinge, diese Unterstützungsanstalt für schwache Beine, dieses Hilfsmittel und diese Eselsbrücke für langweilige Besuche und schlechte Menschen, diese Verbindung für lästige Eindringlinge, diese ist durch meine Anstalt und Bemühung, ja schwere Anstrengung, allerdings verschwunden.

Aber diese Treppe, schrie Emmerich hinauf, mit ihrer kostbaren, unverwüstlichen Lehne, mit diesem eichenen Geländer, diese zwei und zwanzig breiten, starken, eichenen Stufen waren ja ein integrierender Teil meines Hauses. Habe ich noch, so alt ich bin, von einem Mietsmann gehört, der die Treppen im Hause verbraucht, als wenn es Hobelspäne oder Fidibus wären.

Ich wollte, Sie setzten sich, sagte Heinrich, und hörten mich ruhig an. Diese Ihre zwei und zwanzig Stufen lief oft ein heilloser Mensch herauf, der mir ein kostbares Manuskript abschwatzte, es drucken wollte, sich dann für bankrott erklärte und auf und davon ging. Ein andrer Buchhändler stieg unermüdet diese Ihre eichenen Stufen hinauf und stützte sich dabei immer auf jenes starke Geländer, um sich den Gang bequemer zu machen; er ging und kam und kam und ging, bis er, meine Verlegenheit grausam benutzend, mir die erste kostbare Edition meines Chaucer abdrang, die er für mehr als einen Spottpreis, für einen wahren Schandpreis, in seinen Armen davontrug. O, mein Herr, wenn man solche bittre Erfahrungen macht, so kann man wahrlich eine Treppe nicht lieb gewinnen, die es solchen Gesellen so übermäßig erleichtert, in die obern Etagen zu dringen.

Das sind ja verfluchte Gesinnungen, schrie Emmerich.

Bleiben Sie gelassen, sprach Heinrich etwas lauter hinunter. Sie wollten ja den Zusammenhang der Sache erfahren. Ich war betrogen und hintergangen; so groß unser Europa ist, Asien und Amerika nicht einmal zu rechen, so erhielt ich doch von nirgend her Rimessen, es war, als wenn alle Kredite sich erschöpft hätten und alle Banken leer geworden wären. Der überharte, unbarmherzige Winter forderte Holz zum Einheizen; ich hatte aber kein Geld, um es auf dem gewöhnlichen Wege einzukaufen. So verfiel ich denn auf diese Anleihe, die man nicht einmal eine gezwungene nennen kann. Dabei glaubte ich nicht, daß Sie, geehrter Herr, vor den warmen Sommertagen wiederkommen würden.

Unsinn! sagte Jener, glaubten Sie denn, Armseliger, daß meine Treppe bei der Wärme wie der Spargel von selbst wieder herauswachsen würde?

Ich kenne die Natur eines Treppengewächses zu wenig, wie ich auch von Tropenpflanzen nur geringe Kenntnisse habe, um das behaupten zu mögen, antwortete Heinrich. Ich brauchte indeß das Holz höchst nötig, und da ich gar nicht ausging, meine Frau ebenso wenig, auch kein Mensch zu mir kam, weil bei mir nichts mehr zu gewinnen war, so gehörte diese Treppe durchaus zu den Überflüssigkeiten des Lebens, zum leeren Luxus, zu den unnützen Erfindungen. Ist es, wie so viele Weltweise behaupten, edel, seine Bedürfnisse einzuschränken, sich selbst zu genügen, so hat dieser für mich völlig unnütze Anbau mich vor dem Erfrieren gerettet. Haben Sie niemals gelesen, wie Diogenes seinen hölzernen Becher wegwarf, als er gesehen, wie ein Bauer Wasser mit der hohlen Hand schöpfte und so trank? –

Sie führen aberwitzige Reden, Mann, erwiderte Emmerich; ich sah einen Kerl, der hielt die Schnauze gleich an das Rohr und trank so Wasser; somit hätte sich Ihr Mosje Diogenes auch noch die Hand abhauen können. – Aber, Ulrich, lauf' mal gleich zur Polizei; das Ding muß einen andern Haken kriegen. –

Übereilen Sie sich nicht, rief Heinrich, Sie müssen einsehen, daß ich Ihr Haus durch diese Hinwegnahme wesentlich verbessert habe.

Emmerich, der schon nach der Haustür ging, kehrte wieder um. Verbessert? schrie er in höchster Bosheit; nun, das wäre mir denn doch etwas ganz Neues!

Die Sache ist jedoch ganz einfach, erwiderte ihm Heinrich, und Jeder kann sie einsehen. Nicht wahr, Ihr Haus steht nicht in der Feuerkasse? Nun hatte ich zeither böse Träume von Brandunglück, auch fielen Häuserbrände hier in der Nachbarschaft vor; ich hatte eine ganz bestimmte Ahnung, ja ich möchte es ein Vorauswissen nennen, daß unser Haus hier dasselbe Unglück betreffen würde. Gibt es nun wohl (das frage ich jeden Bauverständigen) etwas Ungeschickteres als eine hölzerne Treppe? Die Polizei sollte dergleichen gefährliches Bauwerk gradezu verbieten. So oft ein Feuer auskommt, so ist in allen Städten, wo dieser Mißbrauch noch stattfindet, immer die hölzerne Treppe das allergrößte Unheil. Sie leitet das Feuer nicht nur in alle Stockwerke, sondern macht auch oft die Rettung der Menschen unmöglich. Da ich nun gewiß wußte, daß binnen Kurzem hier oder in der Nachbarschaft Feuer auskommen würde, so habe ich mit vieler Mühe und saurem Schweiß diese elende, verderbliche Treppe mit eignen Händen weggebrochen, um das Unglück und den Schaden so viel als möglich zu mildern. Und darum hatte ich sogar auf Ihren Dank gerechnet.

So? rief Emmerich hinauf; wäre ich länger ausgeblieben, so hätte mir der saubre Herr wohl aus eben den spitzigen Gründen mein ganzes Haus verbraucht. Verbraucht! Als wenn man Häuser so verbrauchen dürfte! Aber wart', Patron! – Ist die Polizei da? fragte er den wiederkehrenden Ulrich.

Wir legen, rief Heinrich hinab, eine große, steinerne Treppe, und Ihr Palais, geehrter Mann, gewinnt dadurch ebenso sehr, wie die Stadt und der Staat.

Mit der Windbeutelei soll es bald zu Ende sein, antwortete Emmerich und wendete sich sogleich an den Führer, der mit verschiedenen Gehülfen der Polizei herbeigekommen war.

Mein Herr Inspektor, sagte er, sich zu diesem wendend, haben Sie je von dergleichen Attentat gehört? Mir aus meinem Hause die große, schöne Treppe wegzubrechen und sie als Klafterholz im Ofen während meiner Abwesenheit zu verbrennen!

Das wird in die Stadtchronik kommen, erwiderte der Anführer trotzig, und der saubere Patron, der Treppenräuber, in das Zuchthaus oder auf die Festung. Das ist schlimmer als Einbruch! Den Schaden muß er außerdem noch ersetzen. Kommen Sie nur herunter, Herr Missetäter!

Niemals, sagte Heinrich; wohl hat der Engländer ein Recht, sein Haus ein Kastell zu nennen, und meines hier ist ganz unzugänglich und unüberwindlich; denn ich habe die Zugbrücke aufgezogen.

Dem läßt sich abhelfen! rief der Anführer. Leute, schafft 'mal eine große Feuerleiter herbei; so steigt ihr dann hinauf und schleppt, wenn er sich wehren sollte, den Verbrecher mit Stricken gebunden herunter, um ihn seiner Strafe zu überliefern.

Jetzt hatte sich das Haus unten schon mit Leuten aus der Nachbarschaft gefüllt; Männer, Weiber und Kinder hatte der Tumult herbeigelockt, und viele Neugierige standen auf der Gasse, um zu erforschen, was hier vorgehe, und zu sehen, was aus dem Handel sich ergeben werde. Clara hatte sich an das Fenster gesetzt und war verlegen, doch hatte sie ihre Fassung behalten, da sie sah, daß ihr Gatte so heiter blieb und sich die Sache nur wenig anfechten ließ. Doch begriff sie nicht, wie es endigen werde. Heinrich aber kam jetzt einen Augenblick zu ihr herein, um sie zu trösten und etwas aus der Stube zu holen. Er sagte: Clara, schau', wir sind jetzt eben so eingeschlossen wie unser Götz in seinem Jaxthausen; der widerwärtige Trompeter hat mich auch schon aufgefordert, mich auf Gnade und Ungnade zu ergeben, und ich werde ihm jetzt Antwort sagen, aber bescheidentlich, nicht wie mein großes Vorbild von damals. Clara lächelte ihm freundlich zu und sagte nur die wenigen Worte: Dein Schicksal ist das meinige; ich glaube aber doch, daß, wenn mein Vater mich jetzt sähe, er mir verzeihen würde.

Heinrich ging wieder hinaus, und als er sah, daß man wirklich eine Leiter herbeischleppen wollte, sagte er mit feierlichem Ton: Meine Herren, bedenken Sie, was Sie tun, ich bin seit Wochen schon auf Alles, auf das Äußerste gefaßt, ich werde mich nicht gefangen geben, sondern mich bis auf den letzten Blutstropfen verteidigen. Hier bringe ich zwei Doppelflinten, beide scharf geladen, und noch mehr, diese alte Kanone, ein gefährliches Feldstück voller Kartätschen und gehacktem Blei, zerstoßenem Glas und derlei Ingredienzen. Pulver, Kugeln, Kartätschen, Blei, alles Nötige ist im Zimmer aufgehäuft; während ich schieße, ladet meine tapfere Frau, die als Jägerin wohl damit umzugehen weiß, die Stücke aufs Neue, und so rücken Sie denn an, wenn Sie Blut vergießen wollen.

Das ist ja ein Erzsakermenter, sagte der Polizeianführer, ein solcher resoluter Verbrecher ist mir seit lange nicht vor die Augen gekommen. Wie mag er nur aussehen; denn man kann in diesem dunkeln Neste keinen Stich sehen.

Heinrich hatte zwei Stäbe und einen alten Stiefel auf den Boden niedergelegt, die ihm für Kanone und Doppelflinten gelten mußten. Der Polizeimann winkte, daß sich die Leiter wieder entfernen solle; hier ist wohl der beste Rat, Herr Emmerich, setzte er dann hinzu, daß wir den ungeratenen Abällino aushungern; so muß er sich uns ergeben.

Weit gefehlt! rief Heinrich mit heiterer Stimme hinab; auf Monate sind wir mit getrocknetem Obst, Pflaumen, Birnen, Äpfel und Schiffszwieback versehen; der Winter ist ziemlich vorüber, und sollte es uns an Holz gebrechen, so ist oben noch die Bodenkammer; da finden sich alte Türen, überflüssige Dielen, selbst vom Dachstuhle kann gewiß manches als entbehrlich losgebrochen werden.

Hören Sie den Heidenkerl! rief Emmerich; erst reißt er mir unten mein Haus ein, nun will er sich auch noch oben an das Dach machen.

Es ist über die Beispiele, sagte der Polizeiwächter. Viele von den Neugierigen freuten sich über Heinrich's Entschlossenheit, weil sie dem geizigen Hausbesitzer dieses Ärgernis gönnten. Sollen wir das Militär kommen lassen, auch mit geladenen Flinten?

Nein! Herr Inspektor, um des Himmels willen nicht; darüber würde mir am Ende mein Häuschen in Grund und Boden geschossen und ich hätte das leere Nachsehen, wenn wir den Rebellen auch endlich bezwungen hätten.

Richtig, sagte Heinrich, und haben Sie nebenher vergessen, was seit vielen Jahren in allen Zeitungen steht? Der erste Kanonenschuß, er falle, wo er wolle, wird ganz Europa in Aufruhr setzen. Wollen Sie nun, Herr Polizeimann, die ungeheure Verantwortung auf sich nehmen, daß aus dieser Hütte, der engsten und finstersten Gasse der kleinen Vorstadt, die ungeheure europäische Revolution sich herauswickeln soll? Was würde die Nachwelt von Ihnen denken? Wie könnten Sie diesen Leichtsinn vor Gott und Ihrem Könige verantworten? Und doch sehen Sie hier schon die geladene Kanone liegen, welche die Umwandlung des ganzen Jahrhunderts herbeiführen kann.

Er ist ein Demagog und Carbonari, sagte der Polizeianführer, das hört man nun wohl an seinen Reden. Er steckt in den verbotenen Gesellschaften und rechnet in seiner Frechheit auf auswärtige Hülfe. Möglich, daß unter diesem lärmenden und gaffenden Haufen schon viele seiner Gesellen verkleidet lauern, die nur auf unsern Angriff warten, um uns dann mit ihrem Mordgewehr in den Rücken zu fallen.

Als diese Müßiggänger erlauschten, daß die Polizei sich vor ihnen fürchte, erhoben sie in ihrer Schadenfreude ein lautes Geschrei, die Verwirrung vermehrte sich und Heinrich rief seiner Gattin zu: Bleibe heiter, wir gewinnen Zeit und können gewiß kapitulieren, wenn nicht vielleicht gar ein Sickingen kommt, uns zu erlösen.

Der König, der König! hörte man jetzt von der Straße her das laute Geschrei. Alles sprang zurück und durcheinander; denn eine glänzende Equipage suchte sich in der engen Gasse Bahn zu machen. Livreebedienten in betreßten Kleidern standen hinten auf, ein glänzender, geschickter Kutscher lenkte die Rosse und aus dem Wagen stieg ein prächtig gekleideter Herr mit Orden und Stern.

Wohnt hier nicht ein Herr Brand? fragte der vornehme Mann; und was hat dieser Auflauf zu bedeuten?

Sie wollen da drin, Ew. Durchlaucht, sagte ein kleiner Krämer, eine neue Revolution anfangen und die Polizei ist dahintergekommen; es wird auch gleich ein Regiment von der Garde einrücken, weil sich die Rebellen nicht ergeben wollen.

Es ist halt eine Sekte, Exzellenz, rief ein Obsthöker; sie wollen als gottlos und überflüssig alle Treppen abschaffen.

Nein, nein! schrie eine Frau dazwischen, er soll vom heiligen Sanct Simon abstammen, der Empörer; alles Holz, sagt er, und alles Eigentum soll gemeinschaftlich sein, und die Feuerleiter haben sie schon geholt, um ihn gefangen zu nehmen.

Es war dem Fremden schwer, in die Tür des Hauses zu gelangen, obgleich ihm Alles Platz machen wollte. Der alte Emmerich trat ihm entgegen und berichtete auf Nachfrage mit vieler Höflichkeit die Lage der Dinge, und wie man noch nicht einig sei, auf welche Weise man des großen Verbrechers habhaft werden könne. Der Fremde schritt jetzt tiefer in den dunklen Hausflur hinein und rief mit lauter Stimme: Wohnt denn hier wirklich ein Herr Brand?

Ja wohl, sagte Heinrich; wer ist da unten Neues, der nach mir fragt?

Die Leiter her! sagte der Fremde, daß ich hinaufsteigen kann.

Das werde ich Jedem unmöglich machen, rief Heinrich; es hat kein Fremder hier oben bei mir etwas zu suchen und keiner soll mich molestieren.

Wenn ich aber den Chaucer wiederbringe? rief der Fremde, die Ausgabe von Caxton, mit dem beschriebenen Blatt des Herrn Brand?

Himmel! rief dieser, ich mache Platz, der gute Engel, der Fremde, mag heraufkommen. – Clara! rief er seiner Frau fröhlich, aber mit einer Träne entgegen, unser Sickingen ist wirklich angelangt!

Der Fremde sprach mit dem Wirt und beruhigte ihn völlig, die Polizei ward entlassen und belohnt, am schwersten aber war es, das aufgeregte Volk zu entfernen; doch als endlich auch dies gelungen war, schleppte Ulrich die große Leiter herbei und der vornehme Unbekannte stieg allein zur Wohnung des Freundes hinauf.

Lächelnd sah sich der Fremde im kleinen Zimmer um, begrüßte höflich die Frau und stürzte dann dem seltsam bewegten Heinrich in die Arme. Dieser konnte nur das eine Wort: Mein Andreas! hervorbringen. Clara sah nun ein, daß dieser rettende Engel jener Jugendfreund, der vielbesprochene Vandelmeer sei.

Sie erholten sich von der Freude, von der Überraschung. Das Geschick Heinrich's rührte Andreas tief; dann mußte er über die seltsame Verlegenheit und die Aushülfe lachen, dann bewunderte er wieder die Schönheit Clara's, und beide Freunde konnten es nicht müde werden, die Erinnerung jugendlicher Szenen wiederzubeleben und in diesen Gefühlen und Rührungen zu schwelgen.

Aber nun laß uns auch vernünftig sprechen, sagte Andreas. Dein Kapital, welches Du mir damals bei meiner Abreise anvertrautest, hat in Indien so gewuchert, daß Du Dich jetzt einen reichen Mann nennen kannst; Du kannst also jetzt unabhängig leben, wie und wo Du willst. In der Freude, Dich bald wiederzusehen, stieg ich in London ans Land, weil ich dort einige Geldgeschäfte zu berichtigen hatte. Ich verfüge mich wieder zu meinem Bücherantiquar, um für Deine Liebhaberei an Altertümern ein artiges Geschenk auszusuchen. Sieh da, sagte ich zu mir selber, da hat ja Jemand den Chaucer in demselben eigensinnigen Geschmack binden lassen, wie ich die Art damals für Dich ersann. Ich nehme das Buch in die Hand und erschrecke, denn es ist das Deinige. Nun wußte ich schon genug und zu viel von Dir; denn nur Not hatte Dich bewegen können, es wegzugeben, wenn es Dir nicht gestohlen war. Zugleich fand ich, und zu unser Beider Glück, ein Blatt von Deiner Hand vorn beschrieben, in welchem Du Dich unglücklich und elend nanntest, mit dem Namen Brand unterzeichnetest und Stadt, Gasse und Wohnung anzeigtest. Wie hätte ich, bei Deinem veränderten Namen, bei Deiner Verdunklung, Dich jemals auffinden können, wenn dieses liebe, teure Buch Dich mir nicht verraten hätte. So empfange es denn zurück zum zweiten Male und halte es in Ehren, denn dies Buch ist wunderbarer Weise die Treppe, die uns wieder zu einander geführt hat. – Ich kürze in London meinen Aufenthalt ab, ich eile hierher – und erfahre vom Gesandten, der seit acht Wochen schon von seinem Monarchen hierher geschickt ist, daß Du seine Tochter entführt hast.

Mein Vater hier? rief Clara erblassend.

Ja, meine gnädige Frau, fuhr Vandelmeer fort, aber erschrecken Sie nicht; noch weiß er es nicht, daß Sie sich in dieser Stadt befinden. – Der alte Mann bereut jetzt seine Härte, er klagt sich selber an und ist untröstlich, daß er jede Spur von seiner Tochter verloren hat. Längst hat er ihr verziehen und mit Rührung erzählte er mir, daß Du völlig verschollen seist, daß er trotz aller eifrigen Nachforschung nirgend eine Spur von Dir habe entdecken können. – Es ist nur begreiflich, Freund, wenn man sieht, wie Du, fast wie ein thebaischer Einsiedler oder wie jener Simeon Stylites, zurückgezogen gelebt hast, daß keine Nachricht, keine Zeitung zu Dir gedrungen ist, um Dir zu sagen, daß Dein Schwiegervater Dir ganz nahe lebt, und wie froh bin ich, daß ich hinzusetzen kann, Dir versöhnt. Ich komme eben von ihm her, aber ohne ihm gesagt zu haben, daß ich die fast gewisse Hoffnung hegte, Dich heut noch zu sehn. Er wünscht, wenn Du Dich mit der Tochter wiederfindest, daß Du auf seinen Gütern lebst, da Du gewiß selbst nicht in Deine frühere Karriere zurücktreten möchtest.

Alles war Freude. Den beiden Eheleuten war die Aussicht, wieder anständig und in behaglicher Wohlhabenheit zu leben, wie dem Kinde die Weihnachtsbescherung. Gern ließen sie die notgedrungene Philosophie der Armut fahren, deren Trost und Bitterkeit sie bis auf den letzten Tropfen ausgekostet hatten.

Vandelmeer führte sie in der Kutsche erst nach seiner Wohnung, wo man sogleich für anständige Kleider sorgte, um sich in diesen dem versöhnten Vater vorzustellen. Daß die alte getreue Christine nicht vergessen wurde, bedarf wohl keiner Erinnerung. Sie war in ihrer Art ebenso glücklich wie ihre Herrschaft.

Nun sah man in der kleinen Gasse Maurer, Zimmerleute und Tischler tätig. Lachend führte der alte Emmerich die Aufsicht über diese Wiederherstellung und den Bau seiner neuen Treppe, die, ungeachtet der Anmahnungen Heinrichs, doch wieder eine hölzerne war. Sein Verlust war ihm so reichlich und großmütig vergütet worden, daß der alte Geldsammler sich oft fröhlich die Hände rieb und gern wieder einen abenteuerlichen Mietsmann ähnlicher Gesinnung in seine Wohnung genommen hätte. –

Nach drei Jahren empfing der alte Zusammengekrümmte mit vielen verlegnen Scharrfüßen und übertriebenen Verbeugungen eine vornehme Herrschaft, die in einer reichen Equipage ankam und die er selber die neue Treppe in das kleine Quartier hinaufführte, das jetzt ein armer Buchbinder bewohnte. Clara's Vater war gestorben, sie war mit ihrem Gatten von den fernen Gütern hereingekommen, um den Verscheidenden noch einmal zu sehen und seinen Segen zu empfangen. Arm in Arm standen sie jetzt am kleinen Fenster, sahen wieder nach dem roten und braunen Dache hinüber und beobachteten wieder jene traurigen Feuermauern, in denen der Sonnenschein wie damals spielte. Diese Szene ihres vormaligen Elends und zugleich unendlichen Glücks rührte sie innigst. – Der Buchbinder war eben beschäftigt, die zweite Auflage jenes Werkes, was dem Verarmten gewissenlos war geraubt worden, für eine Lesebibliothek einzubinden. Das ist ein sehr beliebtes Buch, äußerte er bei seiner Arbeit, und wird noch mehr Editionen erleben.

Unser Freund Vandelmeer erwartet uns, sagte Heinrich, und bestieg, nachdem er den Handwerker beschenkt hatte, mit der Gattin den Wagen. Beide sannen nach über den Inhalt des menschlichen Lebens, dessen Bedürfnis, Überfluß und Geheimnis. – –


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