Ludwig Tieck
Der Psycholog
Ludwig Tieck

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Zwei Freunde reisten mit einander; der eine bloß um zu reisen, der andre um Bemerkungen, statistische und philosophische, besonders aber psychologische, einzusammeln. Er besuchte daher alle Irrenanstalten, Zuchthäuser und dergleichen Orte, die als eben so viele Satyren auf den Menschen aufgestellt sind. Jetzt war ihm das Fach der Stillmelankolischen besonders interessant geworden; er hatte einige so seltsame Exemplare angetroffen, daß er sie mit einem ganz besondern Eifer aufsuchte. Der simple Reisende mußte immer so viele seiner Bemerkungen anhören, daß er sich beinahe auch darüber in einen psychologischen Reisenden verwandelt hätte.

Sie kamen in eine Stadt, in der sie ein paar Tage zu bleiben beschlossen. Indeß der Reisende spazieren ging, suchte der Psycholog Bekanntschaften aufzutreiben. Er hatte einige Briefe abzugeben, und bei dieser Gelegenheit lernte er einen andern Psychologen kennen; denn sie sind jetzt nicht mehr so selten, wie ehedem. Sie kamen sogleich auf ihr Lieblingsgespräch, und Winkler versprach unserm Psychologen zu einer äußerst interessanten Bekanntschaft zu verhelfen. Es lebe nämlich ein Mann in der Stadt, der in einem gewissen Grade toll zu nennen sei, und doch übrigens dabei so vernünftig, wie alle andre Menschen.

248 Sie besuchten ihn noch an demselben Tage. Der Tolle saß und arbeitete; denn er war ein Geschäftsmann, und es hätte sich keiner dürfen merken lassen, daß man ihn für einen Tollen ansah. Er stand auf und bewillkommte die Eintretenden, und ließ sich den Psychologen vorstellen: denn Winkler war sein guter Freund und besuchte ihn häufig. Man setzte sich, und der Tolle sprach so gesetzt und vernünftig, daß der Psycholog beinah eingeschlafen wäre.

Winkler suchte wie ein geschickter Steuermann die Unterredung zu lenken, und es gelang ihm endlich, den Tollen auf den Punkt zu bringen, auf dem er wirklich toll erschien.

Ich will Ihnen die wunderbare Geschichte erzählen, sagte der Tolle, und stellte zwei Stühle vor sich hin; er maß es sehr genau ab, wie sie neben einander stehn mußten, und der Psycholog, der den Zusammenhang der Stühle mit der Erzählung nicht begreifen konnte, fing an, sich eine reiche Ernte von Beobachtungen zu versprechen.

Es war im Herbst, fing der Tolle an, jetzt mögen es ungefähr zehn Jahre sein, daß ich Briefe erhielt, daß einer meiner besten Freunde, der dreißig Meilen von hier wohnte, sehr gefährlich krank liege, daß man an seinem Aufkommen fast verzweifle. Ich war Tag und Nacht bekümmert, und fürchtete an jedem Posttage, die Nachricht seines Todes zu erhalten. Die Briefe blieben wieder aus, und wie es den Menschen oft geht, über dringende Geschäfte vergaß ich meinen Freund etwas mehr. An einem Morgen pochte es an meiner Thür; sie öffnete sich, und mein krank geglaubter Freund trat herein, frisch und 249 gesund. Ich eile ihm in die Arme, ich weiß mich vor Freuden nicht zu lassen, und er thut kalt und befremdet; er giebt mir einen Brief und verläßt mich bald darauf, weil er weiter reisen müsse. Ich konnte ihn und mich nicht begreifen; als er fort ist, eröffne ich den Brief – und nun denken Sie sich mein Entsetzen! – er enthielt nichts anders, als die Nachricht, daß eben dieser Mensch endlich nach einer langwierigen Krankheit gestorben sei. Ich wußte mich durchaus nicht zu fassen, ich war betäubt, und alle meine Ideen verwirrten sich. Ein Schwindel nach dem andern zog durch meinen Kopf.

Mein Bedienter war ausgegangen und kam zurück – er hatte natürlicherweise Niemand gesehn, keiner im Hause hatte jemand bemerkt, der zu mir gekommen; der Briefträger wollte von keinem Briefe wissen, den er mir gebracht hätte, denn ich fiel darauf, daß alles übrige, außer dem Briefe, den ich immer in der Hand hielt, nur meine Imagination sein könne.

Sehn Sie, hier stand der Stuhl, auf dem ich gesessen habe, so neben mir saß mein Freund. Ich wußte recht gut, daß ich die Stühle in meiner Stube sonst nie so stelle, weil nichts das Gemüth so verwirrt, als ein unordentliches Zimmer; am Morgen war zwar der Barbier da gewesen, der den Stuhl auch so neben mich gestellt hatte, aber er hatte ihn wieder auf die Seite gesetzt, wie er gewöhnlich zu thun pflegt.

Konnte er es an diesem Tage nicht vergessen haben? fiel der Psychologe ein.

Ich glaubte es auch, antwortete der Tolle; allein wie kam der Brief in meine Hand? Ich will Ihnen alles 250 zugeben und diese Frage bleibt immer noch unbeantwortet. Sie glauben nicht, wie ich alles mögliche aufgeboten habe, um mich zu beruhigen; aber es war umsonst, so, daß ich gezwungen bin, zu glauben, ich habe damals ein Gespenst gesehn.

Ich würde noch immer zweifeln, sagte der Psycholog.

Das thue ich auch, antwortete der Tolle, und das ist eben das Quälendste bei der Sache, so oft ich daran zurückdenke, denn wäre ich vollkommen überzeugt, so wäre ich ruhig; allein dies ewige Schwanken hin und her, dieses unaufhörliche Zweifeln versetzt mich zuweilen in einen Zustand, der der Verrücktheit nicht unähnlich ist.

Man trennte sich, und der Psycholog ging nach Hause. Wie bescheiden dieser Mann von sich denkt, sagte er zu sich selber; es ist überhaupt merkwürdig, wie die beiden äußern Enden der Tollheit der gesunden Vernunft so ganz ähnlich sehn, und wie die Tollheit nur in der Mitte eigentlich Tollheit zu nennen ist, und doch kann man auf den Linien die Punkte nicht auffinden, wo man sagen könnte: hier hebt der Wahnsinn an.

Sein Kopf war ganz verwirrt, denn ein Verrückter, der über seinen Zustand so billig gedacht hätte, war ihm noch nicht vorgekommen. Er hätte ihn so gern für vernünftig gehalten, aber die Geschichte mit dem Gespenste, und daß er zu seiner Erzählung immer die beiden Stühle nöthig hatte, machte es ihm unmöglich.

Als der Psycholog im Wirthshause ankam, erzählte er den ganzen Vorfall dem Reisenden, der darüber 251 etwas nachdenklich wurde. – Und was sagen Sie dazu? schloß der Psycholog; es ist doch nicht anders möglich, als daß alles doch nur Imagination gewesen sei.

Er kann den Menschen aber vielleicht wirklich gesehn haben, antwortete der Reisende.

Wie? rief der Psycholog, und sah seinen Gefährten an, den er nach dieser Aeußerung selber für einen würdigen Gegenstand der Beobachtung halten mußte.

Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen, sagte der Reisende. Es sind zehn Jahre, als ich durch diese Stadt reiste, auf der letzten Station erhielt ich von einem Unbekannten einen Brief, den ich hier abgeben sollte; er hatte selbst gedacht, hieher zu reisen, aber ein Zufall nöthigte ihn, seinen Weg zu verändern. Ich frage den Mann aus, an den der Brief adressirt ist, denn ich hatte Eil, weil ich gleich weiter mußte; ich öffne die Thür und ich sehe einen ganz fremden Menschen; aber er eilt sogleich auf mich zu und umarmt mich herzlich, er freut sich unendlich und wir setzen uns. Ich war in der peinlichsten Lage, weil ich glauben mußte, mich bei einem tollen Menschen zu befinden; ich eile fort; er will mich nicht fortlassen, und ich bin froh, als ich das Haus erst wieder hinter mir sehe.

Wenn Sie dem Gestorbenen ähnlich sehn, rief der Psycholog, so ist Niemand anders, als Sie das Gespenst!

Allerdings, sagte jener.

Eine Auflösung, die die Psychologie niemals zu Stande bringen könnte, merkte der Psycholog an.

253 Beide Reisenden gingen zu Herrn Winkler, man besuchte den Tollen noch einmal; alles klärte sich so auf, wie es der Reisende vermuthet hatte. Der Tolle gestand, daß der Reisende seinem gestorbnen Freunde noch jetzt sehr ähnlich sehe. –

Der Psycholog setzte sich nieder, diese Geschichte aufzuzeichnen, verlor das Blatt auf einer Station, und so fiel es in meine Hände.

 


 


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