Ludwig Tieck
Liebeszauber
Ludwig Tieck

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Er wußte nicht, wie er fortgekommen war; er fand sich allein, und eilte mit wankenden Schritten in den Wald. Die dichteste einsamste Stelle suchte er auf, und warf sich auf einen Rasenhügel nieder, indem er den ausbrechenden Strom seiner Tränen nicht mehr zurückhielt. »Mir ekelt das Leben!« schluchzte er in tiefer Bewegung; »ich kann nicht froh und glücklich sein, ich will es nicht! Empfange mich bald, du freundlicher Boden, verbirg mich in deinen kühlen Armen vor den wilden Tieren, die sich Menschen nennen! O Gott im Himmel, wie verdien ich es, daß ich auf Daunen ruhe und Seide trage, daß mir die Traube ihr kostbarstes Blut spendet, und alles mit Ehre und Liebe dringend anbietet und darbringt? Dieser Arme ist besser und edler als ich, und das Elend ist seine Amme, und Hohn und giftiger Spott sein Glückwunsch. Sündlich dünkt mir jeder Leckerbissen, den ich genieße, jeder Trunk aus geschaffenem Glase, mein Ruhen auf weichen Betten, das Tragen von Gold und Geschmeide, da die Welt viel tausendmal tausend Unglückliche umherjagt, die nach dem weggeworfenen vertrockneten Brode hungern, die nicht wissen, was Labsal ist. O jetzt versteh ich euch, ihr frommen Heiligen, ihr Verschmähten, ihr Verhöhnten, die ihr alles, bis auf euer Gewand, der Armut ausstreutet, einen Sack um eure Lenden gürtetet, und selbst als Bettler die Schmähungen und Fußstöße erdulden wolltet, mit denen roher Übermut und reiche Schwelgerei das Elend von ihren Tafeln weisen, selbst elend wurdet ihr, um nur diese Sünde des Überflusses von euch zu werfen.«

Alle Gebilde der Welt schwankten wie ein Nebel vor seinen Augen! er nahm sich vor, die Verstoßenen als seine Brüder anzusehn, und sich von den Glücklichen zu entfernen. Lange hatte man schon im Saale seiner zur Trauung gewartet, die Braut war in Sorge, die Eltern suchten ihn im Garten und Park: endlich kam er ausgeweint und leichter zurück, und die feierliche Handlung ward vollzogen.

Man begab sich aus dem untern Saal nach der offnen Halle, um sich zu Tische zu setzen. Braut und Bräutigam gingen voran, und die übrigen folgten im Zuge; Roderich bot seinen Arm einem jungen Mädchen, die munter und geschwätzig war. »Warum nur die Bräute immer weinen und bei der Trauung so ernsthaft aussehn«, sagte diese, indem sie zur Galerie hinaufstiegen.

»Weil sie in diesem Augenblick am lebhaftesten von der Wichtigkeit und dem Geheimnisvollen des Lebens durchdrungen werden«, antwortete Roderich.

»Aber unsre Braut«, fuhr jene fort, »übertrifft noch an Feierlichkeit alle, die ich jemals gesehn habe; sie ist überhaupt immer schwermütig, man sieht sie nie recht heiter lachen.«

»Dies macht ihrem Herzen um so mehr Ehre«, antwortete Roderich, gegen seine Gewohnheit verstimmt. »Sie wissen vielleicht nicht, mein Fräulein, daß die Braut vor einigen Jahren ein allerliebstes verwaistes Kind, ein Mädchen, zu sich genommen hatte, um es zu erziehn. Dieser Kleinen widmete sie alle ihre Zeit, und die Liebe des zarten Geschöpfes war ihr süßester Lohn. Dieses Mädchen war sieben Jahr alt geworden, als sie sich auf einem Spaziergange in der Stadt verlor, und aller angewandten Mühe ungeachtet, noch nicht wieder hat aufgefunden werden können. Diesen Unfall hat sich das edle Wesen so zu Gemüt gezogen, daß sie seitdem an einer stillen Melancholie leidet, und durch nichts von dieser Sehnsucht nach ihrer kleinen Gespielin kann abgezogen werden.«

»Wahrhaftig, recht interessant!« sagte das Fräulein; »das kann sich in der Zukunft recht romantisch entwickeln, und zum angenehmsten Gedichte Gelegenheit geben.«

Man ordnete sich an der Tafel; Braut und Bräutigam nahmen die Mitte ein, und sahen in die heitere Landschaft hinaus. Man schwatzte und trank Gesundheiten, die munterste Laune herrschte; die Eltern der Braut waren ganz glücklich, nur der Bräutigam war still und in sich gekehrt, genoß nur wenig, und nahm an den Gesprächen keinen Anteil. Er erschrak, als sich musikalische Töne durch die Luft von oben herniederwarfen; doch beruhigte er sich wieder, da es sanfte Hörnertöne blieben, die angenehm über die Gebüsche hinwegrauschten, sich durch den Park zogen, und am fernen Berge verhallten. Roderich hatte sie auf die Galerie über die Speisenden gestellt, und Emil war mit dieser Einrichtung zufrieden. Gegen das Ende der Mahlzeit ließ er seinen Haushofmeister kommen, und sagte zur Braut gewendet: »Liebe Freundin, laß auch die Armut an unserm Überflusse teilnehmen.« Er befahl hierauf, eine Anzahl Flaschen Wein, Gebackenes, und verschiedene Gerichte in reichlichen Portionen dem armen Brautpaar hinüberzusenden, damit ihnen dieser Tag auch ein Freudentag sein könne, dessen sie sich nachher gern erinnern möchten. »Sieh, Freund«, rief Roderich aus, »wie schön alles in der Welt zusammenhängt! Mein unnützes Umtreiben und Schwatzen, das du so oft an mir tadelst, hat doch nun diese gute Handlung veranlaßt.« Viele wollten dem Wirte über sein Mitleid und gutes Herz etwas Artiges sagen, und das Fräulein sprach von schöner Gesinnung und Edelmut. »O schweigen wir!« rief Emil zornig: »es ist keine gute Handlung, ja überhaupt keine Handlung, es ist nichts! Wenn Schwalben und Hänflinge sich von den weggeworfenen Brosamen dieses Überflusses nähren, und sie zu ihren Jungen in die Nester tragen, sollte ich nicht eines armen Mitbruders gedenken, der mein bedarf? Wenn ich meinem Herzen folgen dürfte, so würdet ihr mich ebensogut wie manchen andern verlachen und verspotten, der in die Wüste zog, um nichts mehr von der Welt und ihrem Edelmut zu erfahren.«

Man schwieg, und Roderich erkannte in den glühenden Augen seines Freundes den heftigsten Unwillen; er besorgte, daß er sich in seiner Verstimmung noch mehr vergessen möchte, und suchte schnell das Gespräch auf andere Gegenstände zu lenken. Doch Emil war unruhig und zerstreut geworden; hauptsächlich wendeten sich seine Blicke oft nach der obersten Galerie, auf welcher die Bedienten, die das letzte Stockwerk bewohnten, vielerlei zu schaffen hatten. »Wer ist die widerliche Alte, die dort so geschäftig ist, und so oft in ihrem grauen Mantel wiederkommt?« fragte er endlich. »Sie gehört zu meiner Bedienung«, sagte die Braut; »sie soll die Aufsicht über die Kammerjungfern und jüngern Mägde führen.« »Wie kannst du solche Häßlichkeit in deiner Nähe dulden?« erwiderte Emil. »Laß sie«, antwortete die junge Frau, »wollen die Häßlichen doch auch leben, und da sie gut und redlich ist, kann sie uns von großem Nutzen sein.«

Man erhob sich von der Tafel, und alles umgab den neuen Gatten, wünschte nochmals Glück, und drängte dann mit Bitten um die Erlaubnis zum Ball. Die Braut umarmte ihn äußerst freundlich und sagte: »Meine erste Bitte, Geliebter, wirst du mir nicht abschlagen, denn wir haben uns alle darauf gefreut: Ich habe so lange nicht getanzt, und du selbst hast mich noch niemals tanzen sehn. Bist du denn gar nicht neugierig darauf, wie ich mich in dieser Bewegung ausnehme?«

»So heiter«, sagte Emil, »habe ich dich noch niemals gesehn. Ich will kein Störer eurer Freude sein, macht, was ihr wollt; nur verlange keiner von mir, daß ich mich selbst mit linkischen Sprüngen lächerlich machen soll.«

»Wenn du ein schlechter Tänzer bist«, sagte sie lachend, »so kannst du sicher sein, daß dich jedermann gern in Ruhe lassen wird.« Die Braut entfernte sich hierauf, um sich umzuziehn und ihr Ballkleid anzulegen.

»Sie weiß es nicht«, sagte Emil zu Roderich, mit dem er sich entfernte, »daß ich aus einem andern Zimmer in das ihrige durch eine verborgene Tür kommen kann, ich werde sie beim Umkleiden überraschen.«

Als Emil fortgegangen war, und viele der Damen sich auch entfernt hatten, um die zum Tanz nötigen Veränderungen des Putzes zu treffen, nahm Roderich die jüngeren Leute beiseit und führte sie auf sein Zimmer. »Es wird schon Abend«, sagte er hier, »bald ist es finster; jetzt geschwind jeder in seine Verkleidung, um diese Nacht recht bunt und toll zu verschwärmen. Was ihr nur ersinnen könnt; geniert euch nicht, je ärger, je besser! J e scheußlicher die Fratzen sind, die ihr aus euch hervorbringt, je mehr will ich euch loben. Da muß es keinen so widerlichen Höcker, keinen so ungestalten Bauch, keine so widersinnige Kleidung geben, die nicht heute paradiert. Eine Hochzeit ist eine so wundersame Begebenheit, ein ganz neuer ungewohnter Zustand wird den Verheirateten so plötzlich wie ein Märchen über den Hals geworfen, daß man dieses Fest nicht verwirrt und unklug genug anfangen kann, um nur irgend für die Eheleute die plötzliche Veränderung zu motivieren, so daß sie wie in einem phantastischen Traum in die neue Lage hinüberschwimmen, und darum laßt uns nur recht in diese Nacht hineinwüten, und nehmt keine Einrede von denen an, die sich verständig stellen möchten.«

»Sei ohne Sorge«, sagte Anderson, »wir haben einen großen Koffer voll Masken und toller bunter Kleidungsstücke aus der Stadt mitgebracht, du wirst dich selbst darüber verwundern.«

»Aber seht her«, sagte Roderich, »was ich von meinem Schneider eingekauft habe, der diesen kostbaren Schatz schon in Läppchen verschneiden wollte! Er hat diese Tracht von einer alten Gevatterin erhandelt, die damit gewiß bei Luzifer auf dem Blocksberge Gala gemacht hat. Seht dieses scharlachrote Mieder, mit diesen goldenen Tressen und Franzen, und diese goldglänzende Haube, die mir unendlich ehrwürdig stehen muß, dazu nehm ich diesen grünseidnen Rock mit safrangelbem Besatz und diese scheußliche Maske, und führe nachher als altes Weib den ganzen Chor der Karikaturen in das Schlafzimmer. Macht, daß ihr fertig werdet! wir wollen dann feierlich die junge Frau abholen.«

Die Hörner musizierten noch, die Gesellschaft wandelte im Garten, oder saß vor dem Hause. Die Sonne war hinter trüben Wolken untergegangen, und die Gegend lag im grauen Dämmer, als plötzlich unter der Wolkendecke der scheidende Strahl noch einmal hervorbrach, und rings die Gegend, vorzüglich aber das Gebäude mit seinen Gängen, Säulen und Blumengewinden, wie mit rotem Blute besprengte. Da sahen die Eltern der Braut, und die übrigen Zuschauer den abenteuerlichsten Zug nach dem obern Corredor schweben: Roderich als die rote Alte voran, und ihr nachfolgend Bucklichte, dickbauchige Fratzen, ungeheure Perucken, Tartaglias, Policinells und gespenstische Pierrots, weibliche Figuren in ausgespannten Reifröcken und ellenhohen Frisuren, die widerwärtigsten Gestalten, alle wie aus einem ängstlichen Traum. Sie zogen gaukelnd und sich drehend und wackelnd, trippelnd und sich brüstend über den Gang, und verschwanden dann in eine der Türen. Nur wenige der Zuschauer waren zum Lachen gekommen, so hatte sie der seltsamste Anblick überrascht. Plötzlich brach ein gellender Schrei aus den innern Zimmern, und hervor stürzte in das blutige Abendrot die bleiche Braut, im weißen kurzen Kleide, um welches Blumenranken flatterten; der schöne Busen ganz frei, die Fülle der Locken in Lüften schwebend. Wie wahnsinnig, die Augen rollend, das Gesicht entstellt, stürzte sie über die Galerie, und fand in ihrer Angst verblindet keine Tür und Treppe, und gleich darauf, ihr nachrennend, Emil, den blanken türkischen Dolch in hoch erhobener Faust. Jetzt war sie am Ende des Ganges, sie konnte nicht weiter, er erreichte sie. Die maskierten Freunde und die graue Alte waren ihm nachgestürzt. Aber schon hatte er wütend ihre Brust durchbohrt, und den weißen Hals durchschnitten, ihr Blut strömte im Glanz des Abends. Die Alte hatte sich mit ihm umfaßt, ihn zurückzureißen; kämpfend schleuderte er sich mit ihr über das Geländer, und beide fielen zerschmettert zu den Füßen der Verwandten nieder, die mit stummem Entsetzen der blutigen Szene zugeschaut hatten. Oben und im Hofe, oder von den Galerien und Treppen heruntereilend, standen und rannten die scheußlichen Larven in mannigfaltigen Gruppen, höllischen Dämonen ähnlich.

Roderich nahm den Sterbenden in seine Arme. Mit dem Dolche spielend hatte er ihn im Zimmer seiner Gattin gefunden. Sie war fast angekleidet bei seinem Eintreten; beim Anblick des roten widrigen Kleides hatte sich seine Erinnerung belebt, das Schreckbild jener Nacht war vor seine Sinne getreten; knirschend war er auf die zitternde, fliehende Braut zugesprungen, um den Mord und ihr teuflisches Kunststück zu bestrafen. Die Alte bestätigte sterbend den verübten Frevel, und das ganze Haus war plötzlich in Leid, Trauer und Entsetzen verwandelt worden.


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