Ludwig Tieck
Der Aufruhr in den Cevennen
Ludwig Tieck

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Einleitung des Herausgebers.

Nachdem sich Tieck 1825 im »Dichterleben« mit so großem schriftstellerischen Erfolg von der modern-sozialen Erzählung zur geschichtlichen Künstlernovelle gewandt hatte, überraschte er schon im nächsten Jahre die Leserwelt durch seine erste eigentlich historische Novelle, den »Aufruhr in den Cevennen«, dessen Handlung ins Jahr 1703 fällt. Wie er selbst im »Vorwort« berichtet, war er schon 1806 auf den Stoff gekommen und hatte 1820 die Ausarbeitung begonnen. Daß der »erste Abschnitt« schon in der ersten Hälfte des nächsten Jahres fertig war, beweist eine Äußerung Malsburgs vom 7. Juni 1821:»Briefe an Tieck«, Bd. 2, S. 299: »Jetzt mag er (Edmund) Kamisard sein und wüten, wie er will, ich liebe ihn doch, ja, ich glaube ihn und Sie nun erst zu begreifen, seit er ein Kamisard geworden ist; denn nun bleibt er es nicht und wird noch viel lieber als zuvor.« aber erst fünf Jahre später beendete er, nach den sorgfältigsten Vorstudien, und nachdem besonders 1822, das Novellenjahr, die Dichtung gefördert hatte, im Juni 1826 »den ersten und zweiten Abschnitt« der auf vier Abschnitte berechneten Erzählung, die in demselben Jahre bei G. Reimer in Berlin veröffentlicht wurden.Ein neuer Originalabdruck im 10. Band der »Gesammelten Novellen« (26. Band der »Schriften«), Berlin, Reimer, 1854, erschien erst nach des Dichters Tode Die spruchfähigsten Kunstrichter waren darin einig, daß hier der Anfang einer Dichtung vorliege, die, wenn die zweite Hälfte der ersten entspräche, zum Vollendetsten und Gehaltvollsten gehören werde, was nicht nur die deutsche, sondern alle Poesie auf dem Gebiete der geschichtlichen Erzählung geleistet habe. Leider aber ist diese zweite Hälfte trotz der dringendsten Bitten und Mahnungen von allen Seiten niemals erschienen, obgleich der Dichter sie im Geiste schon völlig durchgearbeitet hatte und noch im letzten Jahrzehnt seines Lebens niederzuschreiben beabsichtigte. Haben die aufs höchste gespannten Erwartungen seiner Verehrer ihm Mut und Unbefangenheit zur Vollendung geraubt, oder fehlte es nur am energischen Entschluß, kurz, »Der Aufruhr in den Cevennen« blieb ein Torso. »Stets hat man es mit Recht am meisten bedauert«, sagt Köpke,Ludwig Tieck, Bd. 2, S. 158 f. »daß er gerade die Novelle, in der die Novelle über sich selbst hinausgeht und zu einem ebenso tiefsinnigen als großartigen historischen Gemälde sich erhebt, nicht zum Abschluß geführt habe. Es ging ihm auch hier wie öfter; die günstige Konstellation, die er abwartete, in der seine Stimmung mit den Umständen zusammentreffen sollte, erschien nicht. Später bedauerte er oft, daß er nicht zur Vollendung gekommen sei, da er den Schluß bei sich ganz durchgearbeitet habe. Er hatte die weitere Entwickelung der Fabel im Kopfe fertig, und bisweilen sprach er davon in allgemeinen Andeutungen. Der alte Parlamentsrat Beauvais, Edmunds Vater, wird in seinem Zufluchtsort im Gebirge durch den humoristischen Musikus (Gherard Dubois) entdeckt, der sich rühmt, ihn durch seine geheime Wissenschaft erkannt zu haben, während ihn der Hund Hektor auf die Spur des Verfolgten geleitet hat. Der alte Beauvais wird gefesselt von den königlichen Truppen fortgeführt, und es ergibt sich Gelegenheit, die Grausamkeit des Marschalls Montrevel und der Verfolger in ihrem ganzen Umfang noch einmal zu schildern. Edmund beschließt, seinen Vater mit Hilfe der Genossen zu befreien. Dies geschieht bei jener geheimnisvollen Esche, von der der Jäger Favart im Anfang erzählt. Hier hat einst in den Zeiten der ersten Religionskämpfe ein hugenottisch gesinnter Sohn seinen altgläubigen Vater durch einen Schuß getötet. Dieser hatte flüchtend den Baum erstiegen und stürzte nun hinab auf den Sohn, der über seine That wahnsinnig wurde. An derselben Stelle befreit jetzt der Hugenotte Edmund seinen Vater; der Baum ist entsühnt. Edmund macht sich von seiner Partei los, der er innerlich nicht mehr ganz angehört; er flieht mit Vater und Schwester nach Genf; Christine (die als Jüngling verkleidet unter dem Namen Martin sich der Familie ihres Geliebten angeschlossen hat) folgt ihnen. An die Stelle des grausamen (und unfähigen) Montrevel tritt (dem geschichtlichen Verlauf der Begebenheiten gemäß, der Marschall Claude Louis Hector, Herzog von) Villars,1653–1734 der (1704) den Abschluß dieser Bewegungen herbeiführt. Dies ungefähr sollte der Inhalt des dritten und vierten Abschnitts sein.« Über die Grundideen, den leitenden Faden, an dem die ganze tiefsinnige Erfindung sich aufreiht, gibt derselbe GewährsmannA. a. O. Bd. 2, S. 50 f. nach Mitteilungen des Dichters selbst folgende wichtige Aufschlüsse: »Das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen war der Punkt, auf den alles ankam. Früher hatte er den Ausdruck in der Legende und Mystik gefunden. Auch jetzt war er weit entfernt, Wunder und Geheimnis anzugreifen, wie man ihm schuld gab; vielmehr faßte er es tiefer und unmittelbarer auf. Das Gesetz, von dessen scheinbaren Ausnahmen wir als von einem Wunder sprechen, ist selbst das Wunder, hier liegt das Geheimnis, es umgibt uns, in ihm leben wir, aber wir nehmen es nicht wahr. Darum kann und soll die vereinzelte Thatsache eines Wunders niemals zum ausschließlichen Mittelpunkt des religiösen Bewußtseins oder Bedürfnisses gemacht werden. Die Offenbarung bedarf dessen nicht, und die unruhige Wundersucht, welche immer nach neuen Bestätigungen des Ewigen sucht, ist am Ende Irreligiosität oder Schwärmerei. Das höchste aller Wunder aber begibt sich in dem Menschen selbst, wenn das Herz des Bereuenden oder Gleichgültigen sich unwiderstehlich zu Gott hingezogen fühlt, denn hier geht der Schöpfungsprozeß zum zweitenmal vor sich, in dieser Wiedergeburt wird aus nichts etwas geschaffen. – Der Mensch ist ewigen Ursprungs, aber das Böse ist in ihn eingedrungen, es ist die Unkraft, der Ungrund, das reale Nichts . . . Ohne die Offenbarung und ihre Aufnahme gibt es keinen Sinn im Tiefsinn, keinen Geist in der Geschichte, keinen Trost in der Natur, keinen Scherz, keine Kunst, keine Liebe. Er, der Quell und Keim aller Liebe ist, kann sich dem Herzen nicht entziehen, das ihn mit seinen heiligsten Kräften sucht und ihm entgegenstrebt. Doch die höchste Entzückung kann nicht gleichmäßig fortdauern; der gewonnene Besitz wird durch den Zweifel angefochten, er scheint sich uns wieder zu entziehen, das ist die Schwäche und Beschränktheit der menschlichen Natur. Aber der Zweifel ist der Diener des Glaubens; wer nie gezweifelt hat, wird auch nicht in vollem Sinne glauben können. Der Sichere wird nur um so eher zu Falle kommen. Wer vor der in Entzückung erkannten Wahrheit nicht in Ehrfurcht zurücktritt, wird in geistiger Schwelgerei untergehen oder sich zu fanatischer Verfolgungssucht verhärten. Die abschreckendsten Verzerrungen treten aber da hervor, wo die höchsten göttlichen Erhebungen der nichtigen Leidenschaft dennoch verfallen und sich mit den dunkeln Naturkräften und dem dämonischen Nichts verbinden. Hier entsteht wilde Schwärmerei. Jede Schwärmerei aber ist die Zwillingsschwester der ihr scheinbar unähnlichsten, und die ewige Wahrheit wird herabgezogen und entweiht. Vor diesen Verirrungen bewahrt nur Demut, Entsagung, einfacher Wandel und Gebet, Das Christentum aber in seiner unendlichen Milde weist kein wahres Bedürfnis und keine wahre Sehnsucht ab. Wie es ein Unendliches und Allgemeines ist, so ist es auch für jeden ein Besonderes; darin liegt seine Freiheit. Beschränktheit ist es, seinen ganzen tiefen Inhalt auf eine Silbe stellen und diese Silbe aller Welt aufdrängen zu wollen, und Profanation des Heiligen, es unaufhörlich im Munde zu haben. Es gibt viele Wege, die zu Gott hinführen.« Wenn man diese Gedanken sich vergegenwärtigt und sich fragt, ob es Tieck gelungen ist, sie dichterisch zu klarer, faßlicher Entwickelung und Darstellung zu bringen, so erscheint einem Köpkes Ansicht berechtigt, daß in gewissem höhern Sinne das Werk in sich schon jetzt vollendet und abgeschlossen und eben deshalb nicht zu einer äußern Fortsetzung gekommen sei; dennA. a. O., Bd. 2, S. 159 f. »die verschiedenen Punkte, durch welche das religiöse Bewußtsein, der Glaube, sich hindurch bewegen kann, sind alle berührt; vom Atheismus bis zur schwärmerischen Vision haben alle Formen ihre Darstellung gefunden. Edmund erscheint zuerst als katholischer Fanatiker, der außerhalb seiner uralt historischen Kirche kein Heil sieht und die Unterwerfung des Glaubensbedürfnisses und Gewissens unter ihre unwandelbaren Gesetze erzwingen will. Er schlägt um und wird kamisardischer Schwärmer; nun findet er das Heil allein in den Visionen und Offenbarungen, die ihm persönlich zuteil werden. An die Stelle der historisch-gläubigen Starrheit tritt schwärmerische Zerfahrenheit, aber er bleibt ein religiöser Verfolger, nur von dem andern Extrem geht er aus. Da lernt er durch den alten GeistlichenDaß der Dichter durch den Mund des würdigen Watelet seine eigenen religiösen Überzeugungen ausspricht, ergibt sich aus der in allem Wesentlichen übereinstimmenden innern Entwickelung Tiecks und des Priesters, wie aus den oben citierten Erinnerungen Köpkes und manchen Bekenntnissen in den Briefen an Solger. das milde und versöhnende Christentum kennen, das Christentum der That, das über den Gegensätzen steht; er ahnt, daß er aus einem schweren Irrtum in den andern verfallen sei, er wendet sich innerlich von seinen neuen Glaubensgenossen ab, und auf jenen Weg des Friedens und der Versöhnung fühlt er sich hingezogen. Soweit liegt die Entwickelung in dem, was Tieck gegeben hat, klar und deutlich vor. Sollte darin nicht ein wesentlicher innerer Abschluß erkennbar sein?« Freilich möchte man wünschen, daß der Dichter nun eben dieses wahre Christentum der That auch an der Hauptperson zur greifbaren Erscheinung gebracht hätte, indem er in Edmunds weitern Handlungen und Schicksalen es als den nachhaltigen, heilsamen Impuls siegreich wirken ließ. Auch ist es dem Verfasser so völlig gelungen, uns die Familie des trefflichen Beauvais und noch manche andre Person – so vor allem den mit prachtvollem Humor gezeichneten Arzt Vila – menschlich lieb zu machen, daß wir nur ungern von ihnen Abschied nehmen, ohne sie bis zur völligen Entscheidung ihrer Schicksale begleiten zu dürfen. Die Wünsche nach Vollendung der Novelle können deshalb nicht wundernehmen. Im Hinblick auf seinen in Frömmelei und abergläubischer Mystik verkommenen Bruder Friedrich Schlegel wie auf die religiöse Reaktion, in die sich die meisten Romantiker verrannt hatten, schrieb A. W. Schlegel am 30. März 1828 an Tieck: »Vor allen Dingen ermahne ich Dich, bitte Dich, beschwöre Dich, Deine ›Cevennen‹ zu vollenden. Es ist nicht nur ein hinreißendes Werk, sondern auch in den jetzigen Zeitläufen eine männliche Handlung.« Immermann, der berühmte Übersetzer Gries, der edle Schleiermacher und unzählige andre baten und mahnten ebenfalls, alle leider vergebens.

Die teilweise gekünstelten Wortverdrehungen der Frau Barbe, einiges Altkluge in den Reden der kleinen Eveline und den etwas sentimentalen Schluß möchte man vielleicht aus dem »Aufruhr« hinwegwünschen. Daß aber im großen und ganzen auch, wenn man vom geistigen, sittlich-religiösen Gehalt ganz absehen will, die Novelle, lediglich vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, ein Meisterwerk sei, erkannte z. B. Wilibald Alexis, selbst ein bedeutender Künstler im historischen Roman, wenn er bemerkte,Vgl. A. Stahr, »Kleine Schriften«, Bd. 1, S. 306 Tieck scheine das Geheimnis gefunden zu haben, wie man die Geschichte im Roman dichterisch behandeln müsse, und neuerdings der besonnene Minor,»Akademische Blätter«, I, S. 160. wenn er gegen den Schluß seiner Besprechung sagt: »Die mannigfaltigen, sich kreuzenden Motive weiß Tieck trefflich zu entwickeln; geschichtliches Pathos wird glänzend aufgeboten; die Charakteristik ist meisterhaft.« Die Erzählung, soweit sie den Aufruhr selbst betrifft (denn die Erlebnisse Edmunds und seiner Familie sind freie Erfindung), hält sich mit großer Gewissenhaftigkeit an den historischen Verlauf der Begebenheiten. Die der Geschichte angehörenden Personen, wie die Kamisardenführer Cavalier, Catinat, Roland, Ravanel, Mazel u. a., ebenso wie die Führer der Gegenpartei, Basville, Montrevel, Julien, sind den Quellen gemäß, wenn auch natürlich mit künstlerischer Freiheit gezeichnet. Und wie der Dichter der historischen Wahrheit nicht nur im äußern, sondern auch im höchsten innerlichen Sinne bewundernswürdig treu bleibt, mag man dem Lobe Joseph von Hormayrs entnehmen, der am 20. November 1826 an Tieck schrieb: »Da ich selbst den Tirolerkrieg von 1809 geleitet habe und den Gebirgskrieg und den Volkskrieg genau kenne, mögen Sie auch die Steigerung des Eindruckes ermessen, den die ungeheure psychologische Wahrheit, die grandiose Anordnung des Ganzen, die präzise Charakteristik, die hohe Ruhe in der beständigen Unruhe, das Unbewegliche im ewig Beweglichen auf mich gemacht haben. Ich weiß diesen Eindruck mit nichts zu vergleichen, seit langen Jahren in unsrer wahrlich verhängnisreichen Zeit.«


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